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Mit diesem Buch schlagen die Autorinnen und Autoren einen Bogen zwischen bewährten EMDR-Techniken und neuen Entwicklungen – und sie wollen Lust wecken, die Ansätze in die eigene Behandlungsmethode zu integrieren Seit den 1990er-Jahren haben sich die Einsatzfelder für EMDR stark erweitert. Inzwischen werden u.a. auch Phobien, Depressionen und psychosomatische Erkrankungen mit der Methode behandelt. Wie bei einem Trauma kann es nämlich auch hier dysfunktional gespeicherte Erlebnisse geben. Doch neue Einsatzmöglichkeiten erfordern auch Veränderungen des EMDR-Ablaufschemas. Deshalb enthält dieser Band neben Beschreibungen lang erprobter EMDR-Techniken auch Beispiele für neue Vorgehensweisen. Mit Beiträgen von: Lucien Burkhardt, Raimund Dörr, Esther Ebner, Franz Ebner, Dagmar Eckers, Tanos Freiha, Heike Gerhardt, Arne Hofmann, Michael Hase, Helge Höllmer, Hanne Hummel, Dorothee Lansch, Maria Lehnung, Eva Münker-Kramer, Gisela Roth
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Seitenzahl: 671
Veröffentlichungsjahr: 2016
Christine Rost (Hrsg.)EMDR zwischen Struktur und Kreativität
Mit diesem Buch schlagen die Autorinnen und Autoren einen Bogen zwischen bewährten EMDR-Techniken und neuen Entwicklungen – und sie wollen Lust wecken, die Ansätze in die eigene Behandlungsmethode zu integrieren.
Seit den 1990er-Jahren haben sich die Einsatzfelder für EMDR stark erweitert. Inzwischen werden u. a. auch Phobien, Depressionen und psychosomatische Erkrankungen mit der Methode behandelt. Wie bei einem Trauma kann es nämlich auch hier dysfunktional gespeicherte Erlebnisse geben. Doch neue Einsatzmöglichkeiten erfordern auch Veränderungen des EMDR-Ablaufschemas. Deshalb enthält dieser Band neben Beschreibungen lang erprobter EMDR-Techniken auch Beispiele für neue Vorgehensweisen.
Mit Beiträgen von: Lucien Burkhardt, Raimund Dörr, Esther Ebner, Franz Ebner, Dagmar Eckers, Tanos Freiha, Heike Gerhardt, Arne Hofmann, Michael Hase, Helge Höllmer, Hanne Hummel, Dorothee Lansch, Maria Lehnung, Eva Münker-Kramer, Gisela Roth
Dr. med. Christine Rost, Fachärztin für Gynäkologie und Geburtshilfe, Fachärztin für Psychotherapeutische Medizin. EMDR-Trainerin am EMDR-Institut Deutschland, Traumatherapeutin und Ausbilderin der DeGPT, Mitbegründerin des Zentrums für Psychotraumatologie Frankfurt, niedergelassen als Psychotherapeutin in eigener Praxis.
Copyright: © Junfermann Verlag, Paderborn 2016
Coverfoto: © Barbara-Maria Damrau – Photocase
Covergestaltung / Reihenentwurf: Christian Tschepp
Alle Rechte vorbehalten.
Erscheinungsdatum dieser eBook-Ausgabe: 2016
Satz & Digitalisierung: JUNFERMANN Druck & Service, Paderborn
ISBN der Printausgabe: 978-3-95571-456-7
ISBN dieses E-Books: 978-3-95571-457-4 (EPUB), 978-3-95571-459-8 (PDF), 978-3-95571-458-1 (MOBI).
Warum dieser Titel: EMDR zwischen Struktur und Kreativität? Für mich stehen diese Begriffe nicht für Gegensätze, sondern für Zustände, die sich gegenseitig bedingen und beeinflussen. Struktur ohne Kreativität erstarrt und Kreativität ohne Struktur kann im Chaos enden.
EMDR, eine noch junge Psychotherapiemethode mit einer jedoch bereits erstaunlichen Entwicklung, hat eine gut durchdachte Struktur für die Behandlung von Traumafolgestörungen entwickelt: die acht Phasen und das Standardprotokoll. In vielen kontrollierten Studien konnte ihre Wirksamkeit für PTBS nachgewiesen werden. Allerdings wurde EMDR nie ausschließlich für die Behandlung von PTBS benutzt. Francine Shapiro sprach von Anfang an von „Big-T Trauma“ und „small-t trauma“, also von klassischen Traumasituationen und Belastungen, die zu ähnliche Störungen in der Verarbeitung und dadurch zu einer intrinsischen Speicherung führen können. Solche „pathogenen“ Erinnerungen sind die Ursache für viele psychische Störungen. Durch EMDR wollen wir nachträglich die Verarbeitung dieser intrinsisch gespeicherten Erinnerungen anregen.
Nach Shapiro aktiviert EMDR im Gehirn das AIP (adaptive information processing model), also die gehirneigene Verarbeitung, die neue Informationen aufnimmt und mit bekannten Inhalten verknüpft und integriert und damit die assoziierten Affekte auf ein für die Gegenwart akzeptables Maß reduzieren kann. Wenn es uns gelingt, durch die Fokussierung auf die wichtigsten Aspekte der belastenden Erinnerung (Phase 3) und die Durchführung der bilateralen Stimulation (schnelle Augenbewegungen) das AIP zu aktivieren, dann erleben wir eine beschleunigte Verarbeitung, die ausgesprochen kreativ sein kann, mit neuen Erkenntnissen und Verknüpfungen mit anderen Erinnerungen, die vorher nicht immer bewusst waren; mit imaginativen Lösungsmöglichkeiten und / oder Veränderungen in der emotionalen Reaktion sowie in der Körperwahrnehmung. Keine EMDR-Sitzung verläuft wie die andere, selbst bei ein und demselben Patienten nicht. Wir steuern nicht, sondern schaffen nur die passenden Rahmenbedingungen – und zwar mit unserer Struktur, in der der Prozess sich dann (von uns) möglichst ungestört entwickeln kann. Im Prozess der Verarbeitung erleben wir beim EMDR also eine enorme Kreativität.
Die Struktur des EMDR-Ablaufschemas (Phase 3–7) wurde über die Jahre feingeschliffen und an die Erfahrungen angepasst, die den Prozess möglichst optimal unterstützen. Dadurch hat es immer wieder kleine Veränderungen im Ablauf gegeben. Die Struktur wurde also verändert durch die Erfahrungen. Die größte Veränderung erfolgte am Anfang, in der Entwicklung von EMD, bei dem noch das reine Desensibilisieren im Vordergrund stand, zum EMDR, bei dem die Aspekte des Verarbeitens und der kognitiven Umstrukturierung dazukamen. Spannenderweise wird inzwischen auch EMD wieder eingesetzt, und zwar dann, wenn es durch die Anzahl der traumatischen Situationen hilfreich erscheint, sich nur auf ein Ereignis zu konzentrieren und die assoziativen Verbindungen zu unterbinden (siehe Kapitel 11: EMDR-Protokolle nach kurz zurückliegenden Traumatisierungen). Und es gibt Übergänge zwischen beiden Formen, das EMDr, bei dem etwas assoziatives Prozessieren zugelassen wird, wenn es hilfreich wirkt. Wenn die emotionale Belastung zu groß erscheint, kann es aber auch gestoppt werden (siehe im gleichen Kapitel).
Bereits hier wird deutlich, dass die Struktur von EMDR an Krankheitsbilder und äußere Bedingungen (z. B. für den Einsatz in der Notaufnahme oder bei Gruppen) angepasst werden muss und kann. Deswegen haben sich Protokolle für verschiedene Krankheitsbilder und Patientengruppen entwickelt und einige davon stellen wir in diesem Buch vor, z. B. für Depression, Akuttrauma, psychosomatische Erkrankungen, für die Arbeit mit jugendlichen Diabetikern, für transgenerationelle Traumatisierung und dissoziative Erkrankungen sowie Veränderungen im Ablaufschema für die Arbeit an Symptomen wie Triggern bei dissoziativen Patientinnen oder an Albträumen. Bei manchen Anwendungen laufen Studien, aber nicht bei allen ist die Studienlage bereits ausreichend, um ihre Wirksamkeit nachzuweisen.
Aber es gibt viele Erfahrungen von Kolleginnen und Kollegen. Durch die Veröffentlichung wollen wir – in guter EMDR-Tradition – weiter Forschung anregen, die wir dringend brauchen. So wurde EMDR von der WHO 2013 anerkannt für die Behandlung von PTBS bei Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen, aber noch nicht für den Einsatz bei Akuttrauma, weil da die Studienlage noch nicht ausreicht. Und auch der Gemeinsame Bundesausschuss der Kostenträger und Leistungsanbieter (GBA) hat EMDR 2014 bisher nur für die Behandlung von PTBS und auch nur bei Erwachsenen, und nicht bei Kindern und Jugendlichen zugelassen. Also bitte weiterforschen!
Ein Teil der Beiträge in diesem Buch widmet sich der Darstellung der Struktur von EMDR, der Methode, der Behandlungsplanung, dem Standardprotokoll und dem umgedrehten Standardprotokoll. Dabei wird nicht nur der Ablauf, sondern auch unser Verständnis für das Vorgehen erläutert.
Wir stellen auch einige der Techniken vor, die sich im EMDR entwickelt haben. Ein Teil wird in der Phase der 2, der Vorbereitung und Stabilisierung, genutzt. Manche können wir in das EMDR-Ablaufschema integrieren, wenn der Prozess nicht problemlos läuft und unsere Kompetenz als Therapeutinnen gefragt ist und damit auch unsere Kreativität im Begleiten, Strukturieren und Unterstützen, z. B. durch das Einweben in der Phase 4.
Und wir stellen vor, wie EMDR gut in andere Methoden (z. B. Tiefenpsychologie, Verhaltenstherapie, Coaching) integriert oder auch kreativ an Bedürfnisse angepasst und verändert werden kann, z. B. durch die Kombination mit dem Malen (Vier-Felder-Technik) oder der Sandspieltherapie und der Entwicklung von Geschichten zum traumatischen Erleben, sowohl bei Kindern wie Erwachsenen, um mehr Distanz zum Ereignis zu schaffen. Uns war dabei immer wichtig, auch zu erklären, warum vom normalen Ablaufschema abgewichen wurde. Kreative Veränderungen sind kein Selbstzweck, sondern sollen hilfreich sein und die Menschen da abholen, wo sie sich befinden.
Ich möchte an dieser Stelle unseren Patientinnen und Patienten danken, die ihre Geschichten für die Veröffentlichung freigegeben haben. Nur durch die Fallbeispiele werden die Beiträge wirklich lebendig. Die Fallgeschichten wurden anonymisiert und häufig auch etwas verändert, um die Privatsphäre zu schützen.
Ich danke auch allen Mitautoren und -autorinnen, die sich bereiterklärt haben mitzuschreiben, und allen Kolleginnen und Kollegen, Freunden und Familienangehörigen, die uns unterstützten und Korrektur lasen. Danke auch an den Junfermann Verlag und Frau Carstensen, die uns eine so große Freiheit im Schreiben ließen und auch die Bilder ins Buch aufgenommen haben. Im Buch verwenden wir wechselnd die weibliche und die männliche Form. Bitte fühlen Sie sich immer angesprochen.
Dieses Buch wendet sich an Kolleginnen und Kollegen, die schon mit der EMDR-Ausbildung angefangen oder sie bereits abgeschlossen haben. Wir hoffen, dass die Beiträge im Buch Ihre Praxis bereichern. Für alle, die EMDR noch nicht kennen, aber neugierig genug waren, das Buch zu kaufen: Das Lesen des Buches alleine befähigt Sie nicht zum Anwenden von EMDR, aber vielleicht macht es Ihnen ja Lust auf die Ausbildung. Für das Erlernen und Verstehen von EMDR ist die in die Kurse integrierte Selbsterfahrung essenziell.
Christine RostFebruar 2016
Christine Rost
Die Grundstruktur von EMDR (Eye Movement Desensitization and Reprocessing) wurde von Francine Shapiro zwischen 1987 und 1989 entwickelt. Die Entdeckung des Phänomens beruhte auf ihrer Beobachtung, dass die Belastung von traumatischen Erinnerungen reduziert wird, wenn sich gleichzeitig die Augen schnell hin und her bewegen. Sie untersuchte diese Beobachtung zuerst an Kollegen und anschließend mit Klienten. Dabei bestätigte sich der Effekt der Desensibilisierung und Shapiro nannte die Methode anfangs EMD (Eye Movement Desensitization). Über die Erfahrung mit EMD-Behandlungen wurde aber bald deutlich, dass es nicht nur zu einer Auflösung der negativen Affekte kommt (Desensibilisierung), sondern gleichzeitig während des Durcharbeitens eine assoziative Entwicklung und damit eine kognitive Umstrukturierung stattfinden (Reprozessieren). Deshalb kam das R (Reprocessing) in den Namen: EMDR.
Aus diesen Erfahrungen entwickelte Shapiro schließlich eine manualisierte Methode mit acht Phasen (1995, 2001). Darin wird sowohl die Therapie, d. h. die Behandlungsplanung, als auch die Traumakonfrontation strukturiert. EMDR setzt auf drei Ebenen an: bei der auslösenden Erinnerung in der Vergangenheit, auf der Ebene der Symptome in der Gegenwart und bei den Befürchtungen bzw. dem Vermeidungsverhalten in Bezug auf die Zukunft. Die EMDR-Methode besteht also nicht nur aus den EMDR-Sitzungen (EMDR-Ablaufschema), sondern hilft, die gesamte Behandlung zu gestalten.
Obwohl es seit vielen Jahren Forschung zu den Wirkmechanismen von EMDR gibt, verstehen wir noch immer nicht genau, wie es wirkt. Aber erste Aussagen sind möglich. So scheinen die Augenbewegungen den Parasympathikus zu aktivieren, obwohl bei der Fokussierung auf die belastende Situation eigentlich eine Stressreaktion ausgelöst wird und damit der Sympathikus aktiviert werden müsste. Doch trotz der Konfrontation mit dem traumatischen Erleben kommt es zu einer Entspannung und die Herzfrequenz sinkt langsam ab (Sack et al. 2008).
Die Aktivierung des Parasympathikus ist noch aus einem anderen Grund wichtig. Wir sind kreativer in einem Zustand der Entspannung. Wenn wir aber eine Klientin mit einem erlebten traumatischen Ereignis konfrontieren, besteht die Gefahr, dass die Betroffene mit Übererregung reagiert und anschließend in eine Untererregung rutscht. Bei Über- und Untererregung ist aber die Lernfähigkeit blockiert (Ogden & Minton 2000). Deshalb ist es so wichtig, die Klientinnen bei der Traumakonfrontation in einem mittleren Erregungsfenster zu halten, dem sogenannten „Window of Tolerance“. Kreative Lösungen und neues Lernen finden eher auf diesem mittleren Erregungsniveau statt.
Zwei weitere Erklärungen sind:
Die Augenbewegungen des EMDR könnten einen
Orientierungsreflex
auslösen und so direkt zu einem De-Arousal und einer Desensibilisierung führen (Barrowcliff et al 2003, 2004, Armstrong & Vaughan 1994, Lipke 1992).
Die bilaterale Stimulation führe zu einem
State des „mindful observing“
(Servan Schreiber 2002). Genau dies wollen wir im EMDR erreichen: Eine Beobachterrolle soll eingenommen werden und es soll nicht zu einem Wiedererleben kommen. Aus der Sicht von hier und heute sollen die Klienten an das belastende Ereignis denken und dann wahrnehmen, was unter der bilateralen Stimulation geschieht, also beobachten. Diesen Aspekt vermitteln wir in der Aufklärung über EMDR z. B. mit der Metapher des Zugfahrens: Wir sitzen im Zug und die Landschaft zieht vorbei. In einer Untersuchung von Lee (2006) zeigte es sich, dass die schnellsten Veränderungen im EMDR bei einem „distanzierten Reprozessieren“ beobachtet werden konnten; unter einem assoziativen oder nacherlebenden Reprozessieren erfolgten die Veränderungen langsamer.
Weitere Überlegungen sind:
Die schnellen Augenbewegungen erinnerten Shapiro an den Traumschlaf (REM-Schlaf), der eine Rolle bei der Verarbeitung von neuen Informationen spielt. Und dieser REM-Schlaf ist bekannterweise bei der Posttraumatischen Belastungsstörung häufig gestört. Aber nicht nur die schnellen Augenbewegungen, sondern auch abwechselnde Berührungen oder alternierende Töne können das Reprozessieren in Gang setzen. Und bisher gibt es keine Studien, die einen Zusammenhang zwischen den Augenbewegungen beim Träumen und denen beim EMDR nachweisen.
Eine weitere Hypothese beschäftigt sich mit dem Konzept des Arbeitsgedächtnisses (Working Memory Model). Dieses wird als Netzwerk im Gehirn verstanden, was ein gewisses Maß an verbalen und visuellen Informationen erinnern kann. Bei gleichzeitiger Ablenkung, z. B. durch Zählen, Augenbewegungen oder Computerspiele (Tetris), verringert sich die Intensität des Erinnerungsbildes, wahrscheinlich weil die Erinnerung und die Ablenkung in der Repräsentanz im Arbeitsspeicher miteinander konkurrieren. Diese Hypothese würde aber nur den Aspekt der Desensibilisierung erklären, dem Nachlassen in der Intensität und Lebendigkeit von Erinnerung und Affekt. Nicht erklären würde sie den Aspekt des Reprozessierens, bei dem es zu neuen Erkenntnissen, anderen Erinnerungen und lösungsorientierten Vorstellungen kommen kann.
In Kapitel 2 setzt sich Franz Ebner mit dem neurowissenschaftlichen Erklärungsmodell von Panksepp zur Informationsverarbeitung und dessen Überschneidung mit dem AIP-Modell auseinander und diskutiert die daraus entstehenden Implikationen für EMDR.
Shapiro versteht die Entwicklung von Traumafolgestörungen als Folge einer dysfunktionell gespeicherten, fragmentierten traumatischen Erinnerung, die „eingefroren“ wird in dem Zustand, in dem sie zum Zeitpunkt des Geschehens aufgenommen wurde. Sie tritt nicht in die normalen Veränderungsprozesse ein, die sonst entstehen, wenn das Gehirn neue Information aufnimmt. Normalerweise haben wir ein Gefühl für die Zeit, die seit dem Stattfinden eines Ereignisses vergangen ist, und das Gehirn sortiert aus, was für uns emotional wichtig ist und was nicht. Auch können Details verloren gehen und die Erinnerung kann mit der Zeit blasser werden. Entsteht eine Traumafolgestörung, scheint dieser Prozess nicht stattzufinden.
Bevor die Forschung in Bezug auf die Wirkfaktoren von EMDR begann, postulierte Shapiro, dass es im Gehirn ein System geben müsse, das neue Informationen aufnehmen und selbstständig verarbeiten könne. Sie nannte dieses „Adaptive Information Processing Model“ (AIP). Durch ein lösungsorientiertes Verarbeitungssystem könnten neue Informationen im Gehirn integriert werden, ohne dass dies bewusst erfolgt. Der Prozess der „adaptiven Informationsverarbeitung“ kann einige Zeit dauern. Träumen (REM-Schlaf) scheint dabei auch eine Rolle zu spielen. So ist inzwischen bekannt, dass Menschen deutlich weniger neue Informationen erinnern, wenn sie in der Nacht nach der Informationsaufnahme nicht ausreichend lange schlafen. Die schnellen bilateralen Stimulationen (BLS), wie Augenbewegungen, Berührungen und Töne, scheinen dieses System zu aktivieren und damit die Verarbeitung auch von traumatischen Erinnerungsfragmenten anzuregen.
Mit unserem heutigen Wissenstand über die Verarbeitung von neuen Informationen kann man vereinfachend sagen, dass fast alle Informationen über die Umwelt durch Eindrücke aus den Sinnesorganen über den Thalamus zum Neokortex gelangen. Der Thalamus hat sozusagen eine Filter- und Verteilerfunktion. Er delegiert durch neuronale Erregungsschleifen die Weiterleitung der Informationsverarbeitung an andere Hirnnetzwerke. Damit scheint er eine integrative Funktion zu haben und sinnvoll verknüpfte Erinnerungen, die das Leben und Überleben erleichtern, zu initiieren. Im Hochstress, z. B. in potenziell traumatischen Situationen, ist diese Funktion aber überlastet und es kommt zu „Erinnerungssplittern“ (Defragmentation). Shapiro bezeichnete diese Form der Speicherung als dysfunktionell. Im Nachhinein (z. B. im REM-Schlaf) können diese Splitter noch „zusammengepuzzelt“ und somit integriert werden. Dies bezeichnen wir normalerweise als Verarbeitung im Gehirn und betonen im EMDR, dass es sich dabei um „Selbstheilungskräfte“ des Gehirns handelt.
Bis zu zwei Drittel aller Menschen verarbeiten nach einem potenziell traumatischen Ereignis das Erlebte selbstständig – immer auch abhängig von der Art des Ereignisses. Dieser Prozess kann bis zu sechs Monate dauern (Rothbaum 1992, siehe auch Kapitel 11). Bei einem Teil der Betroffenen scheint das AIP aber für dieses Ereignis blockiert zu bleiben. Die Verarbeitung funktioniert dann nicht mehr ohne Unterstützung. Ohne eine spezifische Psychotraumatherapie kommt es nicht mehr zu einer vollständigen Integration der dysfunktionellen Erinnerung. Wenn wir dafür EMDR einsetzen, dann betonen wir in der Aufklärung der Klienten, dass wir mit dieser Methode versuchen, Selbstheilungskräfte im Gehirn zu aktivieren (das AIP). Wenn dies gelingt, kann die Verarbeitung durch das Gehirn selbst gesteuert werden. Deshalb fordern wir die Klienten während des EMDR Prozesses auch auf, nur zu beobachten, was innerlich spontan abläuft, ohne zu versuchen, Einfluss zu nehmen.
Wenn eine traumatische Erfahrung nicht verarbeitet wird, dann sind die Erinnerungsfragmente nicht genügend in Gehirnnetzwerke (vor allem über den Thalamus s. o.) integriert und können zu unkontrollierten und unangenehmen Erregungszuständen im Gehirn und im Körper führen, z. B. in der Form von Flashbacks. Dies können wir durch MRT-Untersuchungen feststellen, indem wir überprüfen, welche Regionen im Gehirn aktiv werden, wenn z. B. das Traumaskript (Niederschrift des Ablaufs des traumatischen Geschehens) vorgelesen wird. Durch die dysfunktionelle und nicht genügend integrierte Speicherung kann es bei den Betroffenen zu sensorischen, affektiven und kognitiven Intrusionen kommen. Dies kann auch spontan oder durch Trigger ausgelöst werden, entweder im Wachzustand als Flashbacks oder beim Schlafen in Form von Albträumen. In der EMDR-Methode verstehen wir diese dysfunktionell gespeicherten Erinnerungen als Ursache von psychischen Störungen und sprechen deswegen inzwischen auch von pathogenen Erinnerungen (Hofmann 2014).
Nach einer erfolgreichen EMDR-Therapie – d. h., die PTBS-Symptomatik hat sich unter die Schwelle des Krankheitswertes reduziert – konnte in bildgebenden Verfahren eine Veränderung der Aktivität im Gehirn nachgewiesen werden. Die zuvor vermehrte Aktivität des Parietalkortex und des posterioren Cingulums zeigte sich reduziert, die Deaktivierung der frontalen Kortexareale vermindert (Jatzko et al. 2007; Pagani et al. 2013). Für die Verarbeitung scheint also die Aktivierung bestimmter Bereiche des Frontalhirns von großer Bedeutung zu sein (Denken hilft).
In einigen Untersuchungen (Bremner et al. 1995; Stein et al. 1994) zeigte es sich, dass bei schwer traumatisierten Menschen der Hippocampus im Durchschnitt kleiner war als im Durchschnitt der Bevölkerung. Und in Pilotstudien zeigten sich Hinweise darauf, dass nach erfolgreichen Psychotherapien das Volumen zunehmen kann (Bossini et al 2011, S. 2; Ehling et al. 2008, S. 307 ff.).
Die Strukturierung des EMDR-Prozesses dient letztlich dazu, auf die wichtigsten Anteile der pathogenen Erinnerung zu fokussieren, durch die bilaterale Stimulation das AIP zu aktivieren und im Gehirn die eigenen Selbstheilungskräfte möglichst ungestört ablaufen zu lassen. Durch die Auswahl der wichtigsten Anteile der pathogenen Erinnerung versuchen wir die Filterfunktion des Gehirns / Thalamus zu übernehmen und damit die Aufmerksamkeit auf das Wesentliche zu konzentrieren, um so eine Blockierung der gehirneigenen Verarbeitungsmechanismen (AIP) zu vermeiden. Während des Reprozessierens, d. h. unter der bilateralen Stimulation, kann es zu Veränderungen kommen. Diese können die Sinneseindrücke der pathogenen Erinnerung, die damit verbundenen Affekte und Körperempfindungen sowie das negativ geprägte Selbstbild (Kognitionen) betreffen. Wenn es zu Veränderungen kommt, so erfolgen diese viel schneller, als wir es normalerweise aus Therapiesitzungen gewohnt sind.
Es besteht allerdings auch die Möglichkeit, dass sich nichts verändert. Auch dies betonen wir immer in unserer Aufklärung über EMDR. EMDR ist keine Methode, die etwas erzwingen kann, sondern stellt einen Versuch dar, durch Begrenzung auf das Wesentliche und Aktivierung der Selbstheilungskräfte (AIP) eine Verarbeitung anzustoßen. Wenn unter mehrfachen bilateralen Stimulationen nichts geschieht, so hat dies einen Sinn. Vielleicht ist das Unbewusste noch nicht bereit, sich dem Thema zu stellen, oder es gibt andere, bewusstseinsnahe Gründe. Spannend ist, dass bei Nachfrage, warum nichts geschieht, die Klientinnen manchmal klar sagen können, was sie hindert, sich auf den Prozess einzulassen. Lässt sich dieser Grund beseitigen, so kommt die Verarbeitung anschließend unter erneuter bilateraler Stimulation in Gang.
Die Veränderungen während des Reprozessierens verlaufen frei und möglichst ohne Einfluss von außen. Die Nachfragen während des Durcharbeitens dienen dazu, dass wir als Therapeutinnen mitbekommen, wie der Prozess läuft. Wenn er gut läuft, dann kommentieren wir nicht (keine Deutung, keine Spiegelung) und nehmen möglichst wenig Einfluss, damit er spontan ablaufen kann. Stockt die Verarbeitung oder besteht die Gefahr, dass die Klientin emotional überfordert werden könnte, können wir mit EMDR-spezifischen Interventionen eingreifen und unterstützen. Hier ist ein achtsames, empathisches Begleiten vonseiten der Therapeutinnen wichtig und ein Wissen um die Interventionsmöglichkeiten, die es im EMDR gibt.
Die Traumakonfrontation mit EMDR ist zu Ende, wenn unter mehrfacher Stimulation der Erinnerungsreste keine neue Veränderung mehr eintritt und die Belastung auf das für heute angemessene Maß abgesunken ist.
Die Struktur der EMDR-Methode wurde von Shapiro aus praktischen Erfahrungen entwickelt und nicht über theoretische Überlegungen. Sie wurde über die Jahre durch die Verwertung von neuen Erfahrungen „feingeschliffen“, um eine möglichst optimale Aktivierung und Verarbeitung der pathogenen Erinnerung zu ermöglichen. Durch die Erfahrung aus EMDR-Therapien kam es zu kleinen Veränderungen und Umstellungen im EMDR-Ablaufschema bei der PTBS.
Es gibt also eine bewährte Struktur des Vorgehens bei der Behandlung der PTBS und auch anderer Erkrankungen, die auf dem Hintergrund von pathogenen Erinnerungen entstanden sind, wie traumabedingte Angststörungen, Phobien, Anpassungsstörungen und komplizierte Trauerreaktionen. Bei anderen Erkrankungen wie chronisch komplexer PTBS, akuter PTBS, dissoziativen Erkrankungen, chronischen Schmerzstörungen wie Phantomschmerzen und Depression kann EMDR ebenfalls eingesetzt werden, wenn die Struktur an das entsprechende Krankheitsbild angepasst wird. Wichtig ist dabei, dass wir begründen können, warum wir von der bewährten Struktur abweichen (z. B. umgedrehtes Standardprotokoll) und was wir mit dem veränderten Vorgehen erreichen wollen.
Im EMDR-Prozess erleben wir auf der anderen Seite eine enorme Kreativität in der Verarbeitung. Kein Verlauf ist wie der andere, auch nicht bei ein und demselben Klienten. Wir können nicht vorhersagen, ob die Sinneseindrücke eher blasser werden oder intensiver, ob Emotionen einfach nachlassen oder erst mal stärker werden bzw. ob es zu einem Wechsel zwischen verschiedenen Emotionen kommt. Es kann sein, dass die Vorstellungen und Bilder, die auftauchen, der Realität entsprechen oder dass sie fantasievolle Lösungsmöglichkeiten darstellen, und genauso kann der Körper sich einfach entspannen oder es kann zu deutlichen körperlichen Reaktionen kommen, bis hin zum Wiedererleben. Es kann auch zu Verknüpfungen mit Erinnerungen kommen, die ein ähnliches Thema haben (Affektbrücke, auch mit Auflösung dissoziativer Barrieren).
Im EMDR erleben wir einen unbewussten Prozess, der von außen kaum gesteuert wird. Man kann dem Gehirn gewissermaßen beim Arbeiten zuschauen. Dies ist spannend, erfordert aber auch „Vertrauen in den Prozess“ (Aussage von Arne Hofmann im Training). Und es fordert auch unsere eigene Affekttoleranz heraus, wenn wir als Therapeuten und Therapeutinnen intensive Emotionen über traumatisches Erleben begleiten.
Wir haben also auf der einen Seite eine bewährte äußere Struktur und auf der anderen Seite einen sehr kreativen inneren Prozess. Wo aber bleibt unsere eigene Kreativität im EMDR? Diese wird vor allem dann gefordert, wenn der Verarbeitungsablauf ins Stocken gerät, es also zu einer Blockade kommt. Oder auch dann, wenn der Klient durch intensive Prozesse (emotionales Reprozessieren) Gefahr läuft, in ein Wiedererleben der belastenden Situation hineinzurutschen oder die Affekttoleranz zu überschreiten. Immer dann sind wir als Therapeuten gefordert, unsere Klienten so zu unterstützen, dass es gelingt, die Verarbeitung wieder anzustoßen bzw. in eine Richtung zu lenken, die als hilfreich erlebt wird. Hier steht uns u. a. die Technik des kognitiven Einwebens zur Verfügung und in ihr können wir unsere ganze Kreativität und therapeutische Kompetenz ausleben (siehe Kapitel 7: Bewährte Techniken im EMDR).
Ziel des EMDR-Prozesses ist die Integration der pathogenen Erinnerung in das Gedächtnis sowie eine Auflösung der dadurch entstandenen Beschwerden. Die Betroffenen sollen Abstand von der Erinnerung bekommen, das Erleben in ihr Selbstbild integrieren und eine realistische Selbsteinschätzung entwickeln (kognitive Umstrukturierung – Reprozessieren). Dabei gehen die Gefühle auf das Maß zurück (Desensibilisierung), das für heute angemessen ist. Meist kann ein neutrales Empfinden erreicht werden: Man weiß noch, wie belastend oder schlimm das Ereignis früher war, spürt aber jetzt den Abstand, und auch der Körper bleibt beim Erinnern entspannt. Manchmal bleiben geringe Restbelastungen. Sind sie angemessen, können wir sie durch EMDR nicht auflösen. Selbst unter mehrfacher Stimulation kommt es dann zu keiner Veränderung in der Wahrnehmung der ursprünglichen Erinnerung.
Ob die Verarbeitung erfolgreich war, zeigt sich letztlich in einer Veränderung im Alltag. Beschwerden, die mit der pathogenen Erinnerung verbunden waren, sollten verschwinden und neue adaptierte Reaktionen entwickelt werden: „This integration alters the way the clients experience these memories, allowing them to acquire new skills and develop more adaptive characteristic response patterns” (Shapiro 2011, S. 197).
Da wir aber mit sehr unterschiedlichen Menschen über einzigartige Erinnerungen und in sehr verschiedenen Settings arbeiten, haben sich neben dem Standard- EMDR-Ablaufschema inzwischen auch andere Techniken und Protokolle entwickelt, bei denen Formen bilateraler Stimulation genutzt werden, z. B. Techniken zur Ressourcenaktivierung (Rost 2008, 2014). Außerdem gibt es verschiedene Protokolle im Akutbereich (siehe Kapitel 11: EMDR-Protokolle nach kurz zurückliegenden Traumatisierungen).
Idealerweise sollten all diese Veränderungen auch über Studien auf ihre Wirksamkeit hin überprüft werden. Untersucht werden sollte auch, ob durch den Einsatz der bilateralen Stimulation bzw. durch die Veränderung des Standardprotokolls die Wirkung tatsächlich verbessert wird.
Teilweise wurden Veränderungen im Ablauf zumindest in einzelnen Studien erforscht. Bei vielen der neuen Techniken liegen aber bisher nur klinische Erfahrungen vor. In diesem Buch finden sich neue Techniken, die entweder durch Studien belegt sind (wie z. B. die Vier-Felder-Technik) oder bei denen eine breite klinische Erfahrung aufseiten des Mitarbeiterteams des EMDR-Instituts Deutschland vorliegt. Diese Techniken haben wir teilweise in den zweiten Teil der EMDR-Ausbildung (Fortgeschrittenen-Seminar) aufgenommen, z. B. das umgedrehte Standardprotokoll und die CIPOS-Technik. Dieses Buch möchte durch die Verschriftlichung und Veröffentlichung der Techniken dazu beitragen, dass noch mehr Forschung in diesem Bereich erfolgen kann.
Literatur
Armstrong, N. & Vaughan, K. (1994): An orientating response model for EMDR. Paper presented at the meeting of the New South Wales Behaviour Therapy Interest Group, Sidney, Australia.
Barrowcliff A. L.; Gray N. S.; MacCulloch S.; Freeman T. C. & MacCulloch M.J. (2003): Horizontal rhythmical eye movements consistently diminish the arousal provoked by audiotory stimuli. British Journal of Clinical Psychology, 42, S. 289–302.
Barrowcliff, A. L., Gray, N. S., Freeman, T. C. A. & MacCulloch, M. J. (2004): „Eye movements reduce the vividness, emotional valance and electrodermal arousal associated with negative autobiographical memories“, Journal of Forensic Psychiatry and Psychology, Vol. 15, No. 2, S. 325-345.
Bossini, L. et al (2011): EMDR Treatment for Posttraumatic Stress Disorder, with Focus on Hippocampal Volumes: A Pilot Study. Journal of Neuropsychiatry & Clinical Neurosciences, Vol. 23: 2.
Bremner, J. D.; Randall, P.; Scott, T. M.; Bronen, R. A.; Seibyl, J. P.; Southwick, S. M.; Delaney, R. C.; McCarthy, G.; Charney, D. S. & Innis, R. B. (1995): MRI-based Measurement of Hippocampal Volume in Patients with Combat-related Posttraumatic Stress Disorder. Psychiatry, Vol. 152, S. 973–981.
Ehling, T.; Niejnhuis, E. R. S.; Krikke, A. P.: Volume of Discrete Brain Structures in Complex Dissociative Disorders: Preliminary Findings. Progress in Brain Research, Vol. 167, S. 307–310.
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Lipke H & Brodkin A. (1992): Brief case studies of eye movement desensitization and reprocessing with chronic post-traumatic stress disorder. Psychotherapy 1992; 29, S. 591–595
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Rost, C. (2008, 2014): Ressourcenarbeit mit EMDR: Vom Überleben zum Leben. Bewährte Techniken im Überblick. Paderborn: Junfermann.
Rothbaum, B. O. (1992): How does EMDR work? Behavior Therapist, Vol. 15: 34.
Sack, M. et al (2008): Psychophysiological Changes during EMDR and Treatment Outcome. Journal of EMDR Practice and Research, Vol. 2 (4).
Servan-Schreiber, D. (2002): Eye Movement Desensitization and Reprocessing Psychotherapy: A Model For Integrative Medicine. Alternative Therapies, Vol. 8, No. 4, S. 100–103.
Shapiro, F. (1995, 2001): Eye Movement Desensitization and Reprocessing – Basic , Protocols and Procedures. New York: Guilford Press. Deutsche Übersetzung: EMDR – Grundlagen und Praxis. Handbuch zur Behandlung traumatisierter Menschen (1998, 2012). Paderborn: Junfermann.
Shapiro, F. & Laliotis, D. (2011): EMDR and the Adaptive Information Processing Model: Integrative Treatment and Case Conceptualization. Clinical Social Work Journal., Vol. 39, S. 191–200.
Stein, M. B.; Hannah, C.; Koverola, C.; Yehuda, R.; Torchia, M.; & McClarty, B. (1994): Neuroanatomical and Neuroendocrine Correlates in Adulthood of Severe Sexual Abuse in Childhood. Wissenschaftliche Abhandlung, die auf dem 33. Treffen des American College of Neuropsychopharmacology, San Juan, präsentiert wurde.
Franz Ebner
Affekte spielen im EMDR eine wichtige und zentrale Rolle. Ein typischer klassisch verlaufender EMDR-Prozess bei einem Ereignis, das ein Typ-A-Kriterium für die klassische PTBS darstellt, ist gut vorhersehbar. Normalerweise nehmen Belastung und Intensität der Affekte ab und es entsteht eine Distanz zur Erinnerung mit Beruhigung im Hier und Jetzt.
Bei der Durcharbeitung einer Trauerreaktion nach einem Todesfall eines nahestehenden Angehörigen hingegen wird bei der Fokussierung des Ereignisses normalerweise der Affekt der Trauer zunächst verstärkt. Diese deutliche Trauerreaktion bleibt eventuell auch über die ersten beiden Sitzungen hinaus im Alltag im Sinne des Nachprozessierens verstärkt, bis es zu einer Entlastung kommen kann und zum Auftauchen von positiven Erinnerungen und / oder zu dem Gefühl der positiven Verbundenheit mit dem Verstorbenen. Deshalb taucht auch in der Supervision von Kolleginnen häufig als Frage auf, ob man etwas falsch gemacht habe, da nicht die relativ schnelle Distanzierung der Belastung, sondern eine Verstärkung des Traueraffekts aufgetreten sei. Nach meiner langen klinischen Erfahrung als Therapeut und Supervisor und dem Austausch mit erfahrenen Kollegen ist dieser Verlauf bei schwerwiegenderen Verlusterlebnissen aber absolut normal. Bestätigt wird dies nur durch eine einzige Studie über die Behandlung von Trauerfällen mit EMDR von Julie Sprang (2001, S. 300 ff.), die vor allem bei der Darstellung der Stärke der Symptomatik nach den ersten ein bis drei Sitzungen teilweise eine Zunahme der Symptome zeigt, bevor es dann zu einer deutlichen Symptomreduzierung kommt.
In diesem Beitrag soll ein Erklärungsmodell für dieses und auch für andere Phänomene dargestellt werden. Es werden klinische Schlussfolgerungen gezogen für den Umgang damit in der Patientenbehandlung und kreative Gedanken aus der therapeutischen Werkstatt niedergeschrieben.
Definition von Affekt
Das Wörterbuch der Psychotherapie (Ciompi 2000, S. 7 f.) definiert im Kapitel über „Affektlogik“ Affekte so: „Affekte sind (als Oberbegriff von Begriffen wie Emotion, Gefühl, Stimmung, Befindlichkeit etc.) definiert als kurz- oder lang dauernde, bewusste oder unbewusste psychophysische Gestimmtheiten, die mit spezifischen neurobiologischen, hormonalen, vegetativen, verhaltensmäßigen und (eventuell) auch mimisch-expressiven und subjektiven Erscheinungen einhergehen.“ Den von ihm kreierten Begriff „Affektlogik“ definiert Ciompi folgendermaßen: Sie „geht von der Annahme aus, dass emotionale und kognitive Komponenten (oder Fühlen und Denken, Affekte und Logik) in sämtlichen psychischen Leistungen obligat zusammenwirken. Dies impliziert sowohl eine immanente „Logik der Affekte“’ wie auch eine Mitbeteiligung von Affekten an kognitiven Operationen aller Art, mit Einschluss von Abstraktion und Logik.“ Nun ist über ein Affektmodell von Tieren diese Hypothese des erfahrenen Klinikers Ciompi wieder aktuell geworden.
Ein neurowissenschaftliches Erklärungsmodell: die emotionalen Aktionssysteme
Der Wissenschaftler Jaak Panksepp hat sich sein Leben lang mit der Neurowissenschaft der Affekte und Affektsysteme beschäftigt und in Tierversuchen emotionale Reaktionen und deren Verankerung vor allem in subkortikalen tief liegenden Strukturen des Gehirns von Säugetieren erforscht. Ein wesentliches Ergebnis war die Ähnlichkeit dieser Reaktionen in den Hirnstrukturen und im Verhalten über alle Spezies hinweg. Er beschreibt das Modell eines emotionalen Aktionssystems in seinem neusten Buch „The Archaeology of Mind“ (Panksepp & Biven 2012) folgendermaßen:
Es gibt zunächst einen spezifischen Input in das Aktionssystem, z. B. einen sehr lauten Knall, Brandgeruch oder eine geliebte Person geht weg oder stirbt (Trennung, Tod). Es gibt also einen unkonditionierten Reiz für dieses jeweilige System.
Es folgen verschiedene spezifische Reaktionen im Körper, meist als autonom-viszerale Outputs und instinktive Verhaltensweisen, z. B. die Ohren zuhalten, den Kopf wegdrehen, schnüffeln, Trauerreaktion mit Weinen und Bindungsschrei als unkonditionierte Reaktionen.
Andere in der aktuellen Situation erhältliche Reize werden gebahnt und überprüft. Diese Kontextreize können konditioniert werden als konditionierter Stimulus, klassisch oder operant. Dieser kann dann konditionierte andere Aktionssysteme und Reaktionen auslösen. Diese Rückkopplung auf unterer Ebene dient als erste Kontrolle der Wichtigkeit des Reizes – der Knall war z. B. ein Silvesterkracher oder Brandgeruch kommt vom Lagerfeuer im Garten –, dient also oft der Beruhigung. Die Rückkopplung kann aber auch andere emotionale Systeme aktivieren und alarmieren, z. B. dass ein Haus brennt. Oder: Bei kleinen Kindern führt das Verschwinden der Mutter aus einem Raum zu Trennungsstress. Normalerweise gibt es einen herausragenden Reiz, dem nachgegeben wird, vor allem wenn Belohnung oder Bestrafung in Aussicht steht. – Vielleicht finden Sie es jetzt gerade interessant, dies zu lesen. Wenn aber im nächsten Moment das Handy klingelt und ihr Partner anruft, ist Ihnen das (hoffentlich) wichtiger.
Die emotionale Reaktion überdauert den Stimulus und „kreist“ zunächst weiter als Erregung des Systems über die Aktivierung durch den Stimulus hinaus, wobei Inputs und Gedanken aus höheren kortikalen Ebenen, vor allem aus dem Frontalhirn, die Emotion hemmen oder verstärken können (ältere Kinder können Trennungen normalerweise länger aushalten als jüngere).
Emotionale Aktionssysteme können aber eindeutig die übergeordneten Reaktionen kontrollieren und modifizieren, sodass bei einer PTBS durch einen Wohnungsbrand oder Ähnliches jeder Brandgeruch, auch der vom Lagerfeuer nebenan, eine sehr starke Angstreaktion auslösen kann. Auch häufige inadäquate Trennungssituationen in der Kindheit können zu grundsätzlichen Trennungsängsten im Erwachsenenalter führen.
Die gesamte Aktion des Systems wird schließlich als Affekt bezeichnet. Der Affekt ist somit eine Auswirkung der neuronalen Erregung des gesamten Aktionssystems auf mehreren Ebenen, mit auslösenden und hemmenden neuronalen Reaktionen.
Jedes der Systeme hat ein Ziel, z. B. Sicherheit erreichen, Bindung herstellen, Ressourcen in der Umwelt finden wie Nahrung, Wasser oder Helfer. Ist es erreicht, wird die Aktivität des Aktionssystems reduziert.
Die drei Ebenen von affektiven Prozessen der emotionalen Aktionssysteme im Gehirn (modifiziert nach Panksepp & Biven 2012)
Primärprozesse mit ursprünglichen Basisaffekten:
Homöostatische Affekte wie Hunger und Durst
Sensorische Affekte (z. B. Schmerz, Ekel), die Lust / Unlust hervorrufen
Emotionale Affekte als emotionale Aktionssysteme (s. o.)
Lokalisation: tief subkortial bis ins Stammhirn und nach oben bis ins untere limbische System
Sekundärprozesse mit emotionalem Lernen über Basalganglienreaktion auf Situationen aus der Umwelt:
Klassische Konditionierung (z. B. Furcht, über die Amygdala)
Operante Konditionierung (z. B. Suchtverhalten, über den Nucleus Accumbens)
Emotional bedingte Verhaltensgewohnheiten (meist unbewusst, Striatum)
Lokalisation: zum Großteil im oberen limbischen System
Tertiärprozess der Affekte und neokortikale Wahrnehmungsfunktionen:
Kognitive exekutive Funktionen wie Gedanken und Planung (Frontalhirn)
Emotionales Nachsinnen und Regulieren (mediales Frontalhirn)
„Freier Wille“ in den höheren Funktionen des Arbeitsgedächtnisses
Lokalisation: zum Großteil im Neocortex
Diese eng zusammenhängenden neuralen Kreisläufe kann man sich nach Panksepp ungefähr so vorstellen:
Abbildung 1: Drei Ebenen von affektiven Prozessen (abgewandelt nach Panksepp & Biven 2012)
Die Verschachtelung der verschiedenen Ebenen der Prozesse der Aktionssysteme
Zwischen diesen drei Ebenen der Aktionssysteme im Gehirn gibt es zwei zirkuläre Kreisläufe. Der erste geht vom Thalamus nach unten und verknüpft durch Konditionierungen zwischen erster und zweiter Ebene die ursprünglichen instinktiven Emotionen mit Umweltreizen. Der zweite Kreislauf läuft vom Thalamus aus in den Neocortex und zurück. Dieser ist kognitiv durch Gedanken und Überlegungen geprägt und über das Arbeitsgedächtnis dem Bewusstsein zugänglich. Typischerweise sind die sogenannten Top-down-Verbindungen weniger stark wirksam als die Bottom-up-Signale. Phylogenetisch ältere und tiefere Hirnstrukturen üben grundsätzlich einen stärkeren Einfluss auf die Gesamtreaktion aus. Panksepp selbst betont, dass auch die Tertiärprozesse des Neocortex auf Aktivierungsschleifen durch die Basalganglien zum Thalamus und zurück zum Neocortex zurückzuführen sind, bevor Gedanken und Verhalten sich als durchdacht und entschieden zeigen. Die primären Prozesse müssen also in die sekundären und dann wieder in die tertiären integriert werden und der „freie Wille“ und die Planung sind nicht unabhängig.
Panksepp & Biven (2012) und Northoff et al. (2011) stellen sich dies etwa so vor: An unterster Stelle steht der Primärprozess mit den Emotionen, also den „Rohaffekten“, die tief subkortikal lokalisiert sind. Bottom-up kommt es zur Entwicklung und Prägung der Affekte mit der Umwelt, also ein basaler Lernprozess für den besseren Umgang mit den Affektzuständen zum besseren Überleben.
Im Sekundärprozess steht das Erlernen des angepassten Umgangs mit den Emotionen in der Umwelt im Vordergrund, was als integrative Leistung wohl hauptsächlich in den höheren limbischen Strukturen geschieht. Der Top-down-Prozess führt zu relativ stark konditionierten Reaktionen, die aber – wie im EMDR bekannt – „überschrieben“ und verändert werden können.
Im Tertiärprozess beeinflussen die Ergebnisse des Sekundärprozesses die Gedanken und das Nachsinnen über einen Reiz, z. B. über ein Lagerfeuer (s. o.). Damit kann der Sekundärprozess benannt und kommuniziert werden und durch kognitive Überlegungen gelenkt und auch unterdrückt werden.
Panksepp beschäftigte sich in seiner Forschung und den Veröffentlichungen fast ausschließlich mit emotionalen Aktionssystemen, also mit den emotionalen Basisaffekten. Durch langjährige Versuche, vor allem mit Elektrodenstimulation der Kernbereiche in tief liegenden subcortikalen Hirnbereichen bei Tieren, fand er die folgenden sieben abgrenzbaren emotionalen Aktionssysteme. Die Bezeichnung der Systeme nutzt Großbuchstaben, damit klar ist, dass sie jeweils das gesamte Aktionssystem als Affekt auf allen Ebenen bezeichnen.
SUCHEN
FURCHT
WUT
LUST / SEXUALITÄT
FÜRSORGE
TRAUER / PANIK
SPIELEN
Was hat der EMDR-Prozess mit den Aktionssystemen zu tun? Ich meine eine Menge und werde versuchen, meine Überlegungen im Weiteren darzustellen. In seinem Buch legt Panksepp für mich in überzeugender Weise dar, dass eine Störung der emotionalen Aktionssysteme die Grundlage fast aller psychischen Störungen ist, einschließlich der großen psychiatrischen Erkrankungen. Daraus ergeben sich auch sehr gute Erklärungsansätze für die Wirkung von Medikamenten und Aussichten auf neue auch psychotherapeutische Ansätze. Die Aktionssysteme, die am häufigsten zu psychischen Störungen führen, sind die Systeme SUCHEN und TRAUER / PANIK. Störungen des Defensivsystems, welche die Systeme FURCHT / (Todes-)Angst und WUT betreffen, findet man am ehesten bei klassischen psychischen Traumatisierungen, wie sie als Grundlage einer Posttraumatischen Belastungsstörung (PTBS) auch wieder in DSM 5 definiert sind.
Nun meine Hypothesen, was dieses neurowissenschaftliche Erklärungsmodell aus klinischer Sicht für EMDR bedeuten könnte:
Der Knoten im EMDR stellt die derzeitige Speicherung des gesamten Affektsystems im Gehirn in Verbindung mit dem Körper dar und sollte klassisch die Szene mit der deutlichsten spontanen Reaktion sein (am meisten belastend).
In Phase 3 des EMDR-Prozesses wird versucht, alle drei Ebenen der Aktionssysteme zu aktivieren, auch die primäre.
Die bilaterale Stimulation in Phase 4 kann den Knoten verändern, Handlungen können abgeschlossen und eine emotionale Balance kann wiedergefunden werden.
Die Veränderungen treten im EMDR typischerweise von unten nach oben (bottom-up) auf, die kognitive Umstrukturierung folgt meist dem Körperprozess.
Was äußerlich sichtbar und für den Patienten spürbar ist, ist eine deutliche Beruhigung. Das emotionale Aktionssystem wird nach Erreichen des Aktionsziels deaktiviert und die Erinnerung ist als mögliche Bewältigungsstrategie verfügbar.
Die verarbeitete Erinnerung führt zum Lernen von besseren Anpassungsstrategien an die Anforderungen des Alltagslebens.
Somit passt Panksepps neurowissenschaftliches Erklärungsmodell der Informationsverarbeitung im Gehirn sehr gut zu Shapiros AIP-Modell der adaptiven Informationsverarbeitung im EMDR (Shapiro 2001).
Doch nun zu den Affektsystemen und ihrer möglichen Bedeutung für die EMDR-Behandlung im Einzelnen.
Grundsätzliche Funktion und Auswirkungen im Alltag
Das System SUCHEN wird auch mit Erwartung, Belohnung, Erkundung, Exploration und Neugier beschrieben. Das Wollen und der Wille gehören dazu; exploratives Verhalten und Motivation sind Hirnfunktionen, an denen dieses System wesentlich beteiligt ist. Es gehört zu den in der Entwicklungsgeschichte mit am frühesten auftretenden emotionalen Aktionssystemen und ist auch bei den Reptilien nachweisbar.
Für das menschliche Leben und das psychische Erleben ist SUCHEN ein zentrales, alle anderen Systeme verstärkendes Aktionssystem. Es ist das System, mit dem wir nach „Glück suchen“. Das Aktionsziel ist es, neue angenehme Ressourcen in der Umwelt zu finden und Gefährliches, Schädliches und Unangenehmes zu meiden. Die zentralen Emotionen dieses Systems sind Spannung, Neugier, Interesse, Begeisterung und Verlangen nach mehr, wenn wir etwas Belohnendes erwarten. Eine schöne Beschreibung dieser Suche findet sich in dem Buch „Hector und die Suche nach dem Glück“ (Lelord 2004).
Das System kann aber auch Furcht, Zukunftsangst, verzweifeltes Suchen nach einem Ausweg hervorrufen, wenn wir etwas Unangenehmes zu vermeiden suchen oder aus einer bedrohlichen Situation herauskommen wollen. Wenn dieses System in der Aktivität heruntergeht, lassen wir los und entspannen oder wir geben auf und resignieren. In der Einleitung zu „Ressourcenarbeit mit EMDR“ (Rost 2008, 2014, S. 11 ff.) haben wir die Lösungsorientierung des Gehirns und des menschlichen Verhaltens beschrieben. Das emotionale Aktionssystem für diesen Umstand ist eindeutig das System SUCHEN. Es sucht ständig in der Umgebung nach neuen Ressourcen, wenn diese benötigt werden, und ist wesentlich an Lernvorgängen und Kreativität beteiligt. Bei der Lösungsorientierung arbeitet es eng mit dem Aktionssystem SPIELEN zusammen, welches dazu dient, das Leben interessant und lebendig zu gestalten und mit seinen höheren Hirnbereichen ihm letztlich auch einen Sinn und eine spirituelle Dimension zu geben. SUCHEN und auch SPIELEN sind wesentlich an der Identitätsbildung und am Kernselbstgefühl beteiligt.
Anatomie und neuronale Verbindungen von SUCHEN
Vom ventralen tegmentalen Areal (VTA) ziehen die Bahnen des Aktionssystems SUCHEN zu drei wesentlichen Projektionsarealen. Zum:
Medialen Vorderhirnbündel und zum lateralen Hypothalamus
Nucleus accumbens
Medialen präfrontalen Cortex über die mesolimbischen und mesokortikalen Bahnen
Dopaminerge Zellen des VTA erhalten Input von unzähligen Regionen des ganzen Gehirns. Dies bedeutet, dass sehr viele Hirnregionen ihre „Bedürfnisse“ dort anmelden können, um das SUCHEN mit Aktionen zur Befriedigung der Bedürfnisse zu beauftragen. Dies fängt mit Hunger und Durst an, geht über Wärme, Geborgenheit und Nähe zu angenehmen Menschen bis hin zu sozialer Aufmerksamkeit und Anerkennung und noch vieles mehr. Das Bedürfnis nach Sicherheit und Überleben aus dem Defensivsystem FURCHT und WUT sind die stärksten Aktivatoren; Gleiches gilt für das Bindungssystem mit TRAUER, FÜRSORGE und SEXUALITÄT. Aber auch das System SPIELEN kann seine Bedürfnisse anmelden, als Spieltrieb.
Der Output für Reaktionen dieses Systems ist vor allem für Lernvorgänge interessant. Eine ausgehende Verbindung läuft über den septalen Nucleus accumbens, der unter anderem in das periaquäduktale Grau (PAG) projiziert. Über emotionale Erregung werden externe unkonditionierte Stimuli dabei mit bestimmten Handlungsabläufen verknüpft, die dann bestimmte Konsequenzen einer Handlung im Alltag vorhersagen. Diese werden entweder in Form von erwarteter Belohnung (Attraktion: Das will ich haben!) oder erwarteter Bestrafung (Aversion: Nur weg hier, das will ich meiden!) abgespeichert. In Zukunft rufen diese Konditionierungen Verhaltensänderungen in Form von Anziehung und Vorfreude oder Ablehnung und Vermeidung hervor. Bei einem Hund wird beispielsweise der Vorgang „Herrchen geht zum Behälter mit Futter“ mit der freudigen Erwartung: „Gleich gibt es Futter!“ durch Konditionierung verknüpft. Neuronale Erregung tritt hauptsächlich während der Erwartung und nicht beim Konsum auf. Vorfreude ist also die schönste Freude.
Dopamin als „Treibstoff“ von SUCHEN
Dopamin ist der hauptsächliche „Treibstoff“ für dieses Aktionssystem. Was passiert, wenn er fehlt, zeigt sehr eindrücklich der Film „Zeit des Erwachens“. Er beschreibt die reale Geschichte an schwerstem Parkinson Erkrankten, die erstmals mit dem 1960 synthetisierten Medikament L-Dopa (einer Vorstufe von Dopamin) behandelt wurden. Die Patienten waren total verlangsamt und lethargisch, auf volle pflegerische Versorgung angewiesen. Durch L-Dopa erwachten sie zum Leben und waren für eine Zeit lang völlig gesund und lebensfroh. Dann führte L-Dopa durch Überreaktionen des dopaminergen Systems zu einer paranoiden Symptomatik und organischen Psychose und es musste wieder abgesetzt werden. Die Lethargie kam dann leider zurück. Dieser Film macht in sehr berührender Weise deutlich, wie sehr SUCHEN über Dopamin unsere grundsätzliche Verbindung zur Welt und untereinander fördert und herstellt.
Die Bedeutung des periaquäduktalen Grau (PAG)
Das PAG ist wesentlich an der Schmerzwahrnehmung und an der emotionalen Bewertung der Aktionssysteme beteiligt. Es scheint so etwas wie ein Emotionszentrum für die Affekte zu sein. Aktivierungen des dorsalen Teils des PAG rufen extreme Aversion hervor. Bahnen für FURCHT (Fluchtimpuls), WUT (kämpfen, sich wehren) und TRAUER / PANIK (enormer psychischer Schmerz) ziehen hier hindurch, während die positiven Emotionen von SUCHEN und LUST / SEXUALITÄT im vorderen Teil des PAG laufen.
Endorphine und Dynorphine
Für die positiven Emotionen und die Schmerzlinderung sind zum Großteil Endorphine mit verantwortlich. Im PAG entfalten sie eine positive Wirkung, aktivieren die Systeme SUCHEN und auch SPIELEN. Endorphine sind in großem Maß an positiven Gefühlszuständen beteiligt. Sie sind mit Oxytocin und Prolaktin die Substanzen, die den Schmerz der Trauer reduzieren und angenehmeren Gefühlen den Weg bahnen.
Weniger bekannt sind die Dynorphine, die eine aversive Reaktion auslösen, und Gefühlszustände wie Ekel, Ablehnung und Vermeidung. Bei hoher Konzentration tritt das Gefühl auf, nur weg zu wollen, sowie der Zustand und die Gedanken, es nicht aushalten zu können, verrückt zu werden und zu dissoziieren. Als Gegenspieler der Endorphine haben Dynorphine wahrscheinlich die Aufgabe, vor Gefahren zu warnen und von Schädlichem abzuhalten und zu schützen. Sie hemmen auch die Wirkung von Kokain.
Dynorphinüberschuss wird als mögliche Ursache und Bedingung einer Depression angenommen. Buprenorphin (ein künstliches Opiat) ist aktivierend am Endorphinrezeptor und blockierend am Kapparezeptor für Dynorphine und wirkt so innerhalb von Stunden antidepressiv, hat allerdings auch Suchtpotenzial und ist in Deutschland nur über Betäubungsmittelrezept erhältlich.
SUCHEN und seine Bedeutung für psychiatrische Erkrankungen und deren Behandlung
Wie schon oben erwähnt, ist SUCHEN bei vielen psychiatrischen Erkrankungen beteiligt. Ein Zusammenbruch des Systems führt zu Parkinson und Depression. Kokain und Amphetamine erhöhen Dopamin im synaptischen Spalt. Eine Überstimulation des Systems kann zu „überdrehten“ Verhaltensweisen führen, wie z. B. dazu, die Handtasche immer wieder ein- und auszuräumen – als typische, tranceartige stereotype Verhaltenswiederholung.
Bei Suchterkrankungen ist das Verlangen nach der Suchtsubstanz – das sogenannte Craving – eindeutig durch die Aktivierung des SUCHENS bedingt. Dies kann vermehrt zu Suchtrückfällen und zur Einnahme anderer Substanzen führen. Der Entzug von Amphetaminen und anderen Dopamin aktivierenden Substanzen führt zu einer längeren Unteraktivierung von SUCHEN, mit mehr oder weniger starken depressiven Verstimmungen.
Schizophrenien mit Positivsymptomen, Manien und psychotische Wahnsymptome sind zum großen Teil durch eine Überaktivierung des SUCHENS bedingt. Auch kann es dann zu wahnhaft paranoiden Verknüpfungen von zufälligen Ereignissen und Verkennungen kommen und zu einem Verlangen nach unrealistischen Zielen und Sehnsüchten. Ein Patient in der Manie berichtet z. B., er habe nun alle Zusammenhänge in der Welt auf einmal verstanden und wolle dies endlich allen mitteilen.
Eine entscheidende Entdeckung in der medikamentösen Therapie in der Psychiatrie sind bis heute die sogenannten Neuroleptika, deren Wirkung im Wesentlichen auf einer Blockade der Dopamin-Rezeptoren im Gehirn beruht, allen voran des D2-Rezeptor-Subtyps, der für psychotische Symptome wichtig zu sein scheint. Diese Dopaminantagonisten ermöglichen eine Herunterregulierung des zentralen „Motors des Gehirns“, des SUCHEN-Aktionssystems, allerdings bei einigen Erkrankungen und Patienten mit exzessiv hohen Dosen dieser Psychopharmaka und vielen Nebenwirkungen. Auch bei Depressionen scheint die Symptomatik des Nachgrübelns auf einer Überaktivierung des Dopaminsystems zu beruhen, wobei Neuroleptika helfen können. Allerdings sollte die Dosis vorsichtig angepasst werden, da sonst eine verstärkte depressive Symptomatik durch die Unteraktivierung des SUCHENS ausgelöst werden kann.
EMDR und das Aktionssystem SUCHEN
Das Aktionssystem SUCHEN hat viele Eigenschaften, die an die Aussagen von Shapiro über ein System der adaptiven Informationsverarbeitung im AIP-Modell erinnern. Meine Hypothesen als EMDR-Kliniker dazu: Im EMDR-Verarbeitungsprozess nehmen wir an, dass die Entwicklungen im Kanal immer vom „Traumapol“ zum „Ressourcenpol“ verlaufen und wir diesem Prozess nur folgen und ihn begleiten, möglichst ohne viel einzugreifen.
In den jüngsten Forschungen zu Hirnarealen, die während der EMDR-Stimulation mit Augenbewegungen aktiviert werden (Pagani et al. 2013, S. 29 ff.), zeigte sich bei der ersten EMDR-Sitzung eine vermehrte Aktivierung im medialen frontalen Cortex. Dies entspricht dem oberen Ende des SUCHEN-Systems. Die tiefer liegenden Areale sind im EEG und in anderen Verfahren bisher nicht ausreichend darstellbar. Man kann aber davon ausgehen, dass die Augenbewegungen in Phase 4 das Aktionssystem SUCHEN am Anfang der Behandlung aktivieren, während bei der letzten Sitzung in dieser Studie nach der Verarbeitung eher laterale Anteile des frontalen und temporoparietalen Cortex aktiviert sind. Dies entspricht einer vermehrten Kontrolle limbischer Areale und einer Deaktivierung des SUCHENS im Sinne einer Beruhigung, wie sie typisch ist, wenn die Bedürfnisse erfolgreich befriedigt sind und somit die Handlung abgeschlossen ist.
Verkürzt würde dies bedeuten: Durch die bilaterale Stimulation im EMDR wird das Aktionssystem SUCHEN zunächst aktiviert und im Weiteren beruhigt.
Eine Spekulation wäre auch, dass die mediale frontale Aktivierung durch Augenbewegungen beim Fokussieren von angenehmen Ressourcenszenen das Erleben der positiven Körpererinnerungen und Emotionen im limbischen System kurz aktiviert, aber bei längerer (und schnellerer?) Stimulation eine Distanzierung hervorruft.
Es wäre also denkbar, dass die Augenbewegungen zunächst die Aktivierung des emotionalen Anteils der Erinnerung fördern, danach aber – im Sinne einer Verarbeitung – eine Distanzierung und Kontrolle der Gefühlsreaktionen ermöglichen. Eine kürzlich veröffentlichte Studie aus Ulm (Herkt et al. 2014) zeigte zumindest einen Hinweis darauf, dass beim Betrachten von Ekel auslösenden Bildern bei gesunden Probanden die emotionalen Reaktionen durch bilaterale auditive Stimulation verstärkt wurden, was sich sowohl subjektiv über Fragebogen als auch objektiv über eine verstärkte Aktivierung der Amygdala nachweisen ließ.
Definition und Funktion des Defensivsystems
Die beiden Aktionssysteme FURCHT und WUT scheinen zum menschlichen Defensivsystem zu gehören (Hamm et al. 2006). Sie dienen der Bewältigung von Situationen, die mit Bedrohung von Leib und Leben einhergehen. Das Aktionsziel dieses Systems ist es, einen sicheren Ort zu finden, wo keine Bedrohung mehr ist und das Individuum beruhigt leben kann.
Das typische Gefühl bei Aktivierung des Systems FURCHT ist Angst vor einer Gefahr, die einen Vermeidungsimpuls mit Flucht auslöst. Oder sie führt zum Einfrieren und dazu, sich unter Angst nicht zu bewegen, bis die Gefahr vorbeigezogen ist. Todesangst und die Erwartung zu sterben ist bei einer Überaktivierung von FURCHT in lebensbedrohlichen Situationen ein Kern der traumatischen Erfahrung, die Grundlage einer PTBS ist. Es kommt dabei zu heftigen Vermeidungsreaktionen bezüglich der gefürchteten Situation und zu einem starken Fluchtimpuls, um der Gefahr zu entgehen und zu überleben. Gelingt dies nicht und wird der Körper von der Naturgewalt, dem Raubtier oder dem menschlichen Angreifer erfasst, kommt es zu einer Kampfreaktion mit Abwehr- und Schutzbewegungen und eventuell zu einer Aktivierung des Aktionssystems WUT, wenn das Opfer eine Chance zum Entkommen wahrnimmt. Gelingt die Befreiung, kommt es normalerweise wieder zur Flucht.
Fühlt sich das Opfer völlig chancenlos und ausgeliefert, wird es aufgeben und in Erwartung des Todes tritt ein Totstellreflex ein. Dieses Sich-Aufgeben wird bei Menschen teilweise auch als Einfrieren bezeichnet. Um aus diesem Einfrieren herauszukommen braucht es eine Flucht- und Kampfreaktion und es kommt oft zu einer Aktivierung des WUT-Systems (Levine 2012).
Zur Aktivierung von WUT kann es sowohl beim Gefühl der Überlegenheit als auch dem der Ausweglosigkeit kommen, denn Wut eröffnet eine Chance zur Flucht, wenn auch nur aus Verzweiflung. Hat sich die Person in Sicherheit gebracht, beginnt das Bindungssystem über die Aktionssysteme TRAUER / PANIK und FÜRSORGE in Aktion zu treten. Nach lebensbedrohlichen Ereignissen bleibt es für längere Zeit stärker aktiviert. Wahrscheinlich führt eine ebenfalls nach dem Trauma fortbestehende vermehrte Aktivierung des SUCHENS bei der normalen Verarbeitung einer traumatischen Erfahrung zu den intrusiven und konstriktiven Symptomen.
Anatomie und neuronale Verbindungen des Defensivsystems FURCHT und WUT
Eine Aktivierung des Systems FURCHT durch elektrische Stimulation kann auf einer zweigleisigen Bahn im limbischen System ausgelöst werden. Diese zieht von den zentralen Zonen der Amygdala über den anterioren und medialen Hypothalamus um den dritten Ventrikel herum zum periaquäduktalen Grau (PAG) im Mittelhirn. Die Aktivierung führt zu körperlichen und emotionalen Reaktionen über Sympathikus und Parasympathikus, wie schnellerer Herzschlag, Schwitzen, Zittern, Änderungen der Atmung, Schreckreaktion bis hin zum Freezing (= Einfrieren). Für dieses System gibt es wenige unkonditionierte Stimuli wie Schmerz, Lärm, Hitze, sich schnell bewegende Objekte, Raubtiere, Schlangen und Tiefe (offener Raum nach unten) oder Enge und auch eine Blockade der Atemwege. Alle externen Sinnesreize und Wahrnehmungen können über Konditionierung und andere Lernvorgänge zu Auslösern werden. Alle Tiere und auch Menschen lernen schnell und nachhaltig, in welchem Kontext der das System FURCHT aktivierende Stimulus aufgetreten ist, und suchen diese Umstände zu vermeiden.
Das WUT-System verläuft anatomisch entlang des FURCHT-Systems, von der medialen Amygdala über die kurvige Bahn der Stria terminalis und dann zum medialen Hypothalamus und zu spezifischen Arealen des PAG. Über die elektrische Stimulation an einem dieser Zentren kann WUT ausgelöst werden. Das WUT-System und das FURCHT-System sind hierarchisch organisiert. Wird das tiefste im Hirn liegende Zentrum, das PAG, zerstört, lässt sich WUT an den anderen Zentren nicht mehr auslösen. Wird der Hypothalamus ausgeschaltet, kann WUT über das PAG, nicht aber über die Amygdala ausgelöst werden. Bei Ausschalten der Amygdala kann Wut im PAG und im Hypothalamus ausgelöst werden. Dieses Überwiegen der phylogenetisch älteren und tiefer liegenden Kerngebiete ist auch beim System FURCHT gegeben. Auch ohne Beteiligung der Amygdala gibt es also Ängste, aber nicht ohne ein funktionsfähiges PAG.
Interaktionen zwischen FURCHT und WUT
WUT und FURCHT sind eng miteinander verzahnt, einerseits anatomisch, andererseits aber auch funktionell. Sie arbeiten oft wie ein Tandem und es ist nicht immer klar auszumachen, welches System gerade aktiver ist. Der normale Ablauf ist oben unter „Definition und Funktion des Defensivsystems“ beschrieben: Zunächst kommt es durch das FURCHT-System zu Flucht und Erstarrung, bei Körperkontakt, gefühlter Überlegenheit und / oder Aussichtslosigkeit mit Verzweiflung und Kampf über das System WUT folgen dann ein Einfrieren und ein Sich-Aufgeben in Erwartung des Todes. Ein in die Enge getriebenes Tier oder auch ein Mensch kann aus der Erstarrung der FURCHT heraus plötzlich angreifen, mit WUT als verzweifelte Reaktion, und um sich schlagen oder beißen, vor allem wenn man ihm zu nahe kommt. Dies kann auch im Rettungswagen passieren, wenn ein mehr oder weniger bewusstloser Patient wieder aufwacht (Levine 2012).
FURCHT und WUT und ihre Bedeutung für psychische Erkrankungen
FURCHT-Konditionierungen führen zu spezifischen Phobien, die Vermeidung nach sich ziehen. Diese können überlebensnotwendig sein, z. B. im Straßenverkehr, aber auch Krankheitswert haben, z. B.: überhaupt nicht mehr Auto fahren oder das Haus nicht mehr verlassen. Der Patient selbst erlebt die Phobie als belastend wegen der heftigen Aktivierung des Systems FURCHT.
Eine generelle Überaktivierung des FURCHT-Systems liegt sicher auch der generalisierten Angststörung zugrunde. Panikattacken im klassischen Sinne sind nicht durch das System FURCHT, sondern durch das System TRAUER / PANIK bedingt und gehören zum Bindungssystem (siehe 2.5). Allerdings gehen mit der Panikattacke primärprozesshafte körperliche Symptome einher, wie z. B. keine Luft zu bekommen oder Schmerzen in der Brust. Dieses Erleben führt dazu, dass es gefürchtet und vermieden wird. Auch die Posttraumatische Belastungsstörung ist sicher durch Reaktionen des FURCHT- und WUT-Systems mit bedingt. Allerdings ist auch sehr wahrscheinlich, dass das System SUCHEN mit seinen verzerrten Erwartungen (eine Katastrophe / der Tod steht unmittelbar bevor) die Symptomatik mit prägt, z. B. durch Flashbacks.
EMDR und das Defensivsystem FURCHT und WUT
Hier wieder meine Hypothesen als EMDR Kliniker: Der Ablauf der verschiedenen Phasen der Systeme FURCHT und WUT sind aus dem EMDR relativ vertraut. Die Patienten erleben diese Gefühle oft auch mit stärkeren körperlichen Reaktionen, und zwar in der oben beschriebenen Reihenfolge.
Ein Überfallener berichtet z. B., er habe zunächst versucht zu flüchten, dann zu kämpfen. Er wird niedergeschlagen und ist wehrlos, hat im Einfrieren das Gefühl, sich distanziert von oben zu sehen und nicht zu überleben. Dann hört er einen Passanten laut schreien und wehrt sich wieder und entkommt.
In der EMDR-Sitzung geht es im ersten Kanal um das Einfrieren mit Todesangst (FURCHT), das wieder stark erlebt wird. Es kommt zu einer Abnahme dieser Angst und Erleichterung. Spontan treten nun WUT und Aggression gegen den Täter auf, Erinnerungen an die Anzeige bei der Polizei und die Verhaftung. Nach dem Zurückgehen zum Knoten kommt ein Gefühl der TRAUER über das Geschehene auf und eine Erinnerung an die Unterstützung durch Freunde. Danach folgt eine nochmals mit Angst besetzte Erinnerung an die Gegenüberstellung mit dem Täter, die aus Zeitgründen in der Sitzung nicht mehr bearbeitet werden kann. Nach der Tresorübung und dem Aufsuchen eines Wohlfühlorts wird die Sitzung vorläufig beendet.
Dieser Ablauf ist typisch für die Aktionen und den Ablauf des Defensivsystems, welche wie üblich im EMDR nur begleitet werden. Da eine Aktivierung der Amygdala auch während der Augenbewegungen nachgewiesen werden konnte (Herkt et al. 2014), ist dieser Bereich sicher in die Verarbeitung mit einbezogen. Die starken Veränderungen während und nach den EMDR-Sitzungen scheinen mit den bisherigen Methoden eher im Bereich des Systems SUCHEN zu liegen. Tiefer liegende Strukturen des Defensivsystems sind in bildgebenden Verfahren noch nicht gut darstellbar.
Meines Erachtens ist die Erreichung des Aktionsziels für den Therapieerfolg notwendig. Das wären hier beim Defensivsystem das Überleben und die Wiederherstellung der äußeren Sicherheit und vor allem die Wahrnehmung, dass dies im Hier und Jetzt tatsächlich so ist. Das Aktionssystem SUCHEN wird so beruhigt, da es keine Lösungen mehr suchen muss, da ein Zustand der (Bedürfnis-)Befriedigung eingetreten ist. „Es war gefährlich, aber jetzt ist es vorbei und ich habe tatsächlich überlebt.“ Das kann jetzt gefühlt werden. Sicher spielt auch die Deaktivierung von FURCHT und WUT eine Rolle, welche genau, ist allerdings unklar. Die Wirksamkeit von EMDR bei PTBS ist durch diese Systeme jedenfalls sehr gut belegt.
Die Studien zu EMDR bei Angsterkrankungen haben bisher weniger gute Ergebnisse erbracht als die Studien zu PTBS. Möglicherweise ist das FURCHT-System aktiver und ungerichteter als bei der PTBS. Es könnte auch sein, dass bei Zukunftsängsten die Vermeidung der Gefühlszustände in der Konfrontation in sensu leichter ist als in vivo. Gleichzeitig ist die Eindeutigkeit des „Es ist vorbei“ nicht so greifbar. Eine andere Hypothese wäre, dass diese Ängste über das System TRAUER / PANIK mit dem Bindungssystem verbunden und deshalb mehr Sitzungen zur Bearbeitung dieser Symptomatik notwendig sind. Einzelfallberichte über Panikstörungen und vor allem über generalisierte Angststörungen legen das zumindest nahe.
Definition und Funktion des Bindungssystems
Die phylogenetische Entwicklung des Bindungssystems beginnt bei den Reptilien mit dem System LUST – SEXUALITÄT, welches der Fortpflanzung der Gene dient und durch die Mischung der Geschlechter einen Überlebensvorteil für die Art bringt. Brutpflege und Bindung an Partner gibt es bei Reptilien nicht. Alle Säugetiere hingegen haben die aus diesem Grundsystem entwickelten Systeme FÜRSORGE und TRAUER / PANIK für die Pflege des Nachwuchses, Bindung der Kinder an die Eltern und soziales Miteinander in der Gruppe, um durch Vernetzung ein besseres Überleben zu erreichen. Bei Menschen kann Sexualität durchaus romantisch als erotische Liebe nicht nur der Fortpflanzung dienen, sondern höhere Ziele haben.
In frühem Lebensalter bilden die beiden letztgenannten Systeme eindeutig in der Mutter-Kind-Bindung eine aufeinander bezogene Einheit. Der Bindungsschrei des Babys gleich nach der Geburt und in den ersten Lebensjahren kommt aus seinem angeborenen und dann früh geprägtem System PANIK / TRAUER: „Hilfe, ich bin mutterseelenalleine, verloren, einsam!“ Es aktiviert das FÜRSORGE-System der Eltern, vor allem das der Mutter. Das Aktionsziel dieser beiden aufeinander bezogenen Systeme ist die optimale Versorgung und der Schutz des Kindes sowie das Lernen neuer Fähigkeiten durch eine gegenseitige Beruhigung der Systeme. Dies fördert für die psychische Gesundheit so wichtige Emotionen wie Vertrauen, Geborgenheit und Kontaktfähigkeit und letztlich ein gemeinsames Glücksgefühl und positive Verbundenheit.
Im frühen Lebensalter ist bei Kindern PANIK sehr schnell aktivierbar, da sie äußerst hilfs- und förderungsbedürftig sind und dies direkt über den Bindungsschrei äußern. Werden diese Bedürfnisse nicht genügend befriedigt, kann es auch bei Kindern zu Trauerreaktionen bis hin zu Depressionen kommen.
In der Jugend und im jungen Erwachsenenalter sind SEXUALTÄT und romantische Liebe dominant, was im Falle einer Elternschaft mehr in FÜRSORGE übergeht. Letztere wird im Alter oft als wichtiger erlebt, in Form von Fürsorge für die Enkel, aber auch für den Partner und die Kinder. Auch die Selbstfürsorge wird dann wichtiger.
Die Aktivierung des Systems TRAUER ist die typische Reaktion eines Erwachsenen auf den Verlust von wichtigen Bezugspersonen oder anderen signifikanten Objekten oder Umständen. Häufig kommt es auch zu klinisch relevanten Panikattacken, da diese aus dem gleichen Aktionssystem stammen. Ursprünglich hieß das System nur PANIK, wurde später aber um den Zusatz TRAUER ergänzt.
Eine Mutter- bzw. Vaterschaft im Rahmen harmonischer und unterstützender Beziehungen gehört sicher zu den lohnenswertesten menschlichen Erfahrungen, mit einem Gefühl glücklicher Erfüllung. Die Schattenseite hiervon dürfte ein überforderter Elternteil sein, der nur mit Mühe und Stress den Alltag bewältigen kann und eventuell als Alleinerziehende/r wegen der Kinder noch eine konfliktreiche Beziehung zum Expartner ertragen muss.
Von Vater und Mutter bedingungslos akzeptiert und geliebt zu werden bietet dem Kind eine gute Grundlage für eine sichere Bindung an die Eltern, gibt ihm aber auch Sicherheit und Vertrauen ins Leben. Die Schattenseiten der Kindheit sind uns durch Psychotherapien mit früh traumatisierten Menschen nur zu gut bekannt. Doch ist auch die tragfähige therapeutische Beziehung eine Grundlage dafür, später Fortschritte zu machen und Vertrauen in sich und das Leben wiederzugewinnen.
Anatomie und Neurochemie des Bindungssystems
Die Neuroanatomie von LUST / SEXUALITÄT ist bei Männern und Frauen unterschiedlich. Beim Mann ist der anteriore Hypothalamus das Zentrum für Sexualität und Testosteron führt zur Ausschüttung von Vasopressin, das wesentlich zum männlichen Sexualverhalten beiträgt. Bei der Frau ist das Zentrum für die weibliche Sexualität der laterale Hypothalamus, die wesentlichen Hormone sind Östrogen und Progesteron. Diese beiden Hormone steuern die Aktivität von Oxytocin, welches wesentlich zur weiblichen Sexualität beiträgt und die Wirkung von Endorphinen verstärkt. Oxytocin fördert auch positive soziale Affekte, besonders Vertrauen und Zuversicht. Zudem fördert es eine gute Mutter-Kind-Bindung. Hier gehen die Wirkungen schon in die anderen Systeme der Bindung über.
Andere wesentliche Areale für die Sexualität sind Afferenzen (Input) von höheren frontalen und amygdaloiden Regionen und Efferenzen (Output) in das PAG. Im PAG werden letztendlich die Erfahrungen bewertet, was in der Zukunft zu Anziehung oder Aversion führt.
Die beiden anderen Systeme, PANIK / Trauer und vor allem FÜRSORGE sind evolutionär aus LUST / SEXUALITÄT entstanden. Bei Reptilien und Vögeln finden sich Peptide, die Vorläufer von Oxytocin und Vasopressin sind. Vor allem Oxytocin hat große Auswirkungen auf das FÜRSORGE-Verhalten. Frauen produzieren davon mehr als Männer, weil Östrogen die Produktion von Oxytocin fördert und die Anzahl der Rezeptoren dafür kontrolliert. Auch Prolaktin hat positive Auswirkungen auf das fürsorgliche Verhalten, nicht nur auf den Milchfluss.
Die Schlüsselzentren für FÜRSORGE sind der anteriore Hypothalamus mit dem paraventrikulären Nucleus und das dorsale präoptische Areal für die Produktion von Oxytocin; außerdem der Bettkern (Nucleus), der Stria terminalis (BNST) und der ventromediale Hypothalamus. Der BNST ist auch an Angstkonditionierung und Auswirkungen der Stressachse über CRH beteiligt. Das System hat aber noch viele andere Verbindungen, z. B. auch über das tiefe Mittelhirn und Rückenmark zu den sensorischen Nerven der Brustwarzen. Ein weiterer wichtiger Zweig des Systems FÜRSORGE zieht direkt in das dopaminerge ventrale tegmentale Areal (VTA), also in den zentralen Kern des Systems SUCHEN. Darüber werden entscheidend die mütterlichen Reaktionen auf den Bindungsschrei des Kindes aktiviert, der aus dem System PANIK/ TRAUER stammt.