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Sehnen Sie sich nach einem kraftvollen Christsein, das von Liebe geprägt ist, das Gute in Verletzlichkeit und Grenzen sieht und aus der Ruhe bei Jesus kommt? Dann nehmen Sie die Einladung an, Jesus auch an die tiefen Schichten Ihres Seins heranzulassen, falsche Muster zu durchbrechen und echte Veränderung zu erleben. Nur so kann ein tragfähiger Glaube wachsen, der Krisen nicht nur standhält, sondern sogar darin gedeiht. Wie man diesen Weg gehen und als Verantwortungsträger auch an das eigene Team weitergeben kann, beschreibt Bestsellerautor und Pastor Peter Scazzero anschaulich, packend und nachvollziehbar.
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Seitenzahl: 351
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PETER SCAZZERO
Kraftvolles Christsein leben.Tiefe Veränderung erfahren.
Deutsch von Heide Müller
Originally published in the U.S.A. under the title: Emotionally Healthy DiscipleshipCopyright © 2021 by Peter ScazzeroPublished by arrangement with The Zondervan Corporation L.L.C., a subsidiary ofHarperCollins Christian Publishing, Inc.
Titel der englischen Originalausgabe: Emotionally Healthy Discipleship© 2021 Peter ScazzeroVeröffentlicht mit freundlicher Genehmigung von The Zondervan Corporations L.L.C.,einem Imprint von HarperCollins Christian Publishing, Inc.
Kürzungen im Vergleich zur Originalausgabe erfolgten mit Genehmigung des Autors.
Neutestamentliche Bibelzitate und Psalmen folgen, wo nicht anders angegeben, dem Text derNeuen Genfer Übersetzung – Neues Testament und Psalmen.Copyright © 2011 Genfer Bibelgesellschaft. Wiedergegeben mit freundlicher Genehmigung.Alle Rechte vorbehalten.
Ferner wurden verwendet und sind wie folgt gekennzeichnet:Hfa – Hoffnung für alle®, Copyright © 1983, 1996, 2002 by Biblica, Inc.®.Verwendet mit freundlicher Genehmigung von Fontis – Brunnen Basel.LUT – Die Bibel nach Martin Luthers Übersetzung, revidiert 2017,© 2016 Deutsche Bibelgesellschaft, Stuttgart.GNB – Gute Nachricht Bibel, durchgesehene Neuausgabe,© 2018 Deutsche Bibelgesellschaft, Stuttgart.
Aus Gründen der besseren Lesbarkeit wird im Folgenden zumeist das generische Maskulinumverwendet. Die Entscheidung für diese Schreibweise beinhaltet keine Wertung. In der Sache sindnatürlich immer beide Geschlechter gemeint.
© der deutschen Ausgabe:
2022 Brunnen Verlag GmbH Gießen
Lektorat: Konstanze von der Pahlen
Umschlagmotive: Adobe Stock
Umschlaggestaltung: Jonathan Maul
Satz: DTP Brunnen
ISBN Buch 978-3-7655-3729-5
ISBN E-Book 978-3-7655-7635-5
www.brunnen-verlag.de
Allen Pastoren und Leitern auf dieser Welt,die Jesus und seiner Kirche dienen
Der schwierige Weg von kraftlosem Christsein zu tiefer Veränderung
Teil 1Wo wir in der Nachfolge stehen
Kapitel einsVier Irrtümer, die echte Nachfolge verhindern
Teil 2Die sieben Kennzeichen gesunder Nachfolge
Kapitel zweiErst sein, dann tun
Kapitel dreiDem gekreuzigten – nicht dem verwestlichten – Jesus folgen
Kapitel vierGrenzen als Gottes Geschenk annehmen
Kapitel fünfDie Schätze entdecken, die in Trauer und Verlust verborgen sind
Kapitel sechsDie Liebe zum Maß der Reife machen
Kapitel siebenDie Macht der Vergangenheit brechen
Kapitel achtAus Schwachheit und Verletzlichkeit heraus leben und leiten
Emotional gesunde Nachfolge umsetzen
Anmerkungen
Meine eigene Glaubensreise begann mit neunzehn Jahren. Ein Freund hatte mich zu einem christlichen Konzert eingeladen. Ich war so berührt, dass ich mein Leben noch am selben Abend Jesus übergab. Bald schloss ich mich der christlichen Studentenarbeit unserer Universität an und besuchte drei- bis viermal wöchentlich Bibelkreise. Ich begann, zwei bis drei Stunden am Tag in der Bibel zu lesen, erzählte freimütig das Evangelium und nahm an allen angebotenen Jüngerschaftsprogrammen teil.
Zu dieser Zeit war wohl das Wort begierig die beste Beschreibung für mich – ich war geistlich unersättlich und konnte gar nicht genug über Jesus erfahren. Ich wurde angeleitet, die Schrift zu studieren, zu beten und das Evangelium von der Gnade Gottes verständlich weiterzusagen. Auch lernte ich, wie ich meine geistlichen Gaben entdecken und einsetzen konnte, und entwickelte ein Herz für die Armen und Ausgegrenzten in der Welt.
Nach meinem Abschluss am College unterrichtete ich Englisch an einer Highschool und engagierte mich bei der InterVarsity Christian Fellowship, einer christlichen Studentenarbeit. In dieser überkonfessionellen Tätigkeit erwarb ich eine Reihe von praktischen Fähigkeiten im Dienst für Jesus und lernte Gottes Wort noch besser kennen.
Mein Hunger nach Gott ging so weit, dass ich begann, ganze Bücher der Bibel auswendig zu lernen – Epheser, Philipper, Kolosser. Aber das war noch gar nichts im Vergleich zu einem anderen Mitarbeiter dort, der alle sechzehn Kapitel des Römerbriefes im Kopf hatte!
Dieser tiefe Wissensdurst führte mich schließlich an zwei namhafte theologische Seminare der Vereinigten Staaten: Princeton und Gordon-Conwell. Die drei Jahre dort habe ich als sehr bereichernde Zeit in Erinnerung. Ich lernte Hebräisch und Griechisch, um die Bibel in ihren Originalsprachen lesen zu können, und studierte Kirchengeschichte, systematische Theologie und Hermeneutik. Es war ein ganz großes Geschenk, von den besten Theologen Nordamerikas lernen zu dürfen und herausgefordert zu werden.
Sechs Monate vor meinem Abschluss heirateten Geri und ich und zogen wenig später nach Costa Rica, um Spanisch zu lernen. Ein Jahr lang lebten wir dort bei einer Familie mit zehn Kindern. Es war ein Sprung ins kalte Wasser, denn sie sprachen genauso wenig Englisch wie wir Spanisch. Zurück in den Vereinigten Staaten gründeten wir im September 1987 unsere Gemeinde, die New Life Fellowship Church, in einem multiethnischen Viertel von New York City, in dem vorwiegend Migranten lebten.
Ich war ein begabter Leiter und Prediger, dazu ein begeisterter Evangelist und Lehrer. Ich liebte Jesus. Und ich sah mich selbst als Fels im Glauben und reifer Christ.
Welch ein Irrtum!
Zu unserem ersten Gottesdienst kamen nur ganz wenige Besucher, aber Gott bewegte in der Anfangszeit viel und unsere Gemeinde wuchs schnell. Da ich nun Spanisch sprach, begannen wir im dritten Jahr auch eine spanischsprachige Arbeit. Am Ende des sechsten Jahres war der englischsprachige Zweig auf etwa 400 Glieder angewachsen, der spanischsprachige auf 250.
Wir durften damals eine Menge lernen über Gebet und Fasten, Krankenheilung, den Kampf gegen gottfeindliche Mächte, die Gaben des Heiligen Geistes und das Hören auf Gottes Stimme. Hunderte von Menschen kamen zum persönlichen Glauben an Christus. Sie entdeckten neue, kreative Möglichkeiten, den Armen zu dienen. Wir schulten neue verantwortliche Mitarbeiter, gründeten zahlreiche Kleingruppen, betrieben eine Suppenküche für Obdachlose und halfen bei anderen Gemeindegründungen.
Aber unter der Oberfläche stand es nicht zum Besten.
Insbesondere in Konflikten traten in unserem Miteinander immer wieder dieselben unreifen, kindischen Verhaltensweisen zutage. So entschlossen wir auch waren, rassische, wirtschaftliche und kulturelle Gräben zu überbrücken – wir waren nicht fähig, schwierige Gespräche zu führen, und dies drohte unsere Gemeinschaft zu zerstören. Besonders befremdlich war jedoch die Diskrepanz, die bei manchen Säulen der Gemeinde zu beobachten war: Einerseits brannten sie für Gott; andererseits wirkten sie nach außen hin verurteilend, unsicher und lieblos.
Was ich damals nicht erkannte: Viele Dinge, mit denen wir als Gemeinde zu kämpfen hatten, waren ein Spiegel meiner persönlichen inneren Kämpfe, meiner eigenen Unreife. Meine oberflächliche Art der Nachfolge zeigte sich nun auch bei denen, für die ich Verantwortung trug.
Die Gemeinde war zwar attraktiv, ihre Leitung aber eine undankbare Aufgabe – besonders für Geri und mich. Es gab eine hohe Fluktuation unter den Haupt- und Ehrenamtlichen, noch dadurch verschärft, dass in New York City zu dieser Zeit zahlreiche neue Gemeinden entstanden. Wir sahen unsere Schwierigkeiten aber auch als Anfechtungen durch gottfeindliche Mächte. Manche versuchten, die Situation herunterzuspielen. Solche Probleme seien in jeder großen Organisation und jedem Unternehmen ganz natürlich. Aber wir waren kein Unternehmen. Wir waren eine Gemeinde.
Tief im Herzen wussten Geri und ich, dass etwas nicht stimmte. Wir waren zunehmend niedergeschlagen und empfanden die Gemeindeleitung als schwere Last. Mit einer großartigen Arbeit gewannen wir die ganze Welt für Gott, verloren dabei aber unsere Seelen (siehe Markus 8,36).
Etwas lief grundlegend schief. Insgeheim träumte ich schon vom Ruhestand – mit Mitte dreißig! Trotz ständiger geistlicher Selbstprüfung – da war weder Untreue noch Unversöhnlichkeit noch Begierde festzustellen – konnte ich die Ursache meiner Freudlosigkeit nicht ausmachen.
Als 1993/94 unser spanischsprachiger Gemeindezweig eine Spaltung erlebte und scheinbar tragfähige Beziehungen plötzlich zerbrachen, zog es mir den Boden unter den Füßen weg. Nie werde ich vergessen, wie ich an einem Sonntagnachmittag in den spanischsprachigen Gottesdienst kam und zweihundert Leute fehlten. Gerade einmal fünfzig waren versammelt. Die anderen hatten sich einem unserer spanischsprachigen Pastoren angeschlossen, um mit ihm eine eigene Gemeinde zu gründen. Ich war tief erschüttert.
In den nächsten Wochen wurden die verbliebenen Glieder telefonisch bedrängt, das Haus Sauls (meine Leitung) zu verlassen und zum Haus Davids (die neue Sache, die Gott tat) überzugehen. Menschen, die ich in den vergangenen Jahren zu Christus geführt und als Pastor betreut hatte, waren auf einmal weg. Viele von ihnen würde ich nie wiedersehen.
Mit einem Mal wurde mir bewusst, dass ich ein Doppelleben führte. Nach außen hin versuchte ich, den verunsicherten Menschen, die bei New Life geblieben waren, wieder Mut zuzusprechen: „Ist es nicht erstaunlich, wie Gott unsere Sünden gebraucht, um sein Reich zu bauen? Nun haben wir zwei Gemeinden statt einer“, verkündete ich. „Jetzt können noch mehr Menschen in eine persönliche Beziehung zu Jesus kommen. Wenn sich jemand von euch dieser neuen Gemeinde anschließen möchte, dann wünsche ich ihm von Herzen Gottes Segen.“
Welch eine Lüge!
Um jeden Preis wollte ich wie Jesus sein (zumindest wie der Jesus, den ich mir vorstellte), ohne zu merken, wie ich dabei an Leib und Seele Schaden nahm.
In meinem Inneren war ich tief verletzt und wütend. Diese Gefühle steigerten sich allmählich bis zum Hass. In meinem Herzen war kein Platz für Vergebung. Ich war voller Zorn, den ich nicht loswerden konnte.
Wenn ich allein im Auto saß, löste oft schon der bloße Gedanke an das, was geschehen war, und an den Pastor, der die Spaltung herbeigeführt hatte, eine unbändige Wut aus, die mir auf den Magen schlug und sich innerhalb von Sekunden in lauten Flüchen Luft machte: „Du bist so ein @#&%!“ und „Du bist ein Voll*#%!“
„Wie konnte ich nur Pastor werden? Das war die dümmste Entscheidung meines Lebens“, schrie ich zu Gott im Gebet.
Verzweifelt suchte ich nach Hilfe. Schließlich empfahl mir ein befreundeter Pastor einen christlichen Therapeuten. Im März 1994 hatten Geri und ich dort unseren ersten Termin.
Ich fühlte mich total gedemütigt, wie ein Schuljunge, der zum Direktor zitiert wird. Am liebsten wäre ich weggelaufen. „Therapie ist was für verkorkste Leute“, warf ich Gott vor. „Nichts für mich. So gestört bin ich nicht!“
Das Innehalten und Nachdenken über den Zustand meiner Seele war beängstigend und befreiend zugleich. Damals führte ich meine Probleme vor allem auf das hektische, nervenaufreibende Großstadtleben zurück. Ich schob die Schuld auf alles Mögliche: auf unsere Lebenssituation im Stadtteil Queens, meinen Beruf, unsere vier kleinen Kinder, Geri, gottfeindliche Mächte, andere aus dem Leitungsteam, mangelnde Fürbitte der Gemeinde, sogar auf unser Auto (es war in drei Monaten sieben Mal aufgebrochen worden). Jedes Mal war ich mir sicher, endlich das Grundproblem erkannt zu haben.
Weit gefehlt! Denn das Grundproblem lag tief in mir. Aber dies konnte – oder wollte – ich mir damals noch nicht eingestehen.
Die nächsten zwei Jahre waren wie ein unaufhaltsamer Fall in einen Abgrund. Mir war, als würde ich ins Bodenlose stürzen. Ich schrie zu Gott um Veränderung. Doch der Himmel schien für meine Hilferufe verschlossen zu sein.
Es sollte noch schlimmer kommen.
Ich predigte zwar nach wie vor jede Woche und war weiterhin leitender Pastor, aber mein Vertrauen in meine Führungskompetenz war durch die Spaltung der spanischen Gemeinde gründlich erschüttert worden. Deshalb stellte ich zusätzliche Mitarbeiter ein und gab Leitungsaufgaben an sie ab. Hatte ich nicht kläglich versagt? In der Überzeugung, dass sie es sicher besser könnten, überließ ich ihnen den Wiederaufbau der Gemeinde.
Ich besuchte Leitungskonferenzen, um zu lernen, gegen alle gottfeindlichen Kräfte aufzustehen und eine ganze Stadt für Gott zu erreichen. Ich fuhr zu „Ermutigungstreffen“ in andere Gemeinden. Wenn es einen Weg gab, mich mehr von Gott erfüllen zu lassen, wollte ich ihn finden. Ich nahm sogar an einer prophetischen Konferenz in einem anderen Bundesstaat teil und erhielt dort eine Reihe von aufrichtenden persönlichen Prophezeiungen. Ich intensivierte die frühmorgendlichen Gebetstreffen bei New Life. Ich wies Dämonen zurück, die mein Leben zerstören wollten. Ich betete um Erweckung. Ich suchte Rat bei zahlreichen landesweit bekannten Gemeindeleitern.
Und tatsächlich hatte ich das Gefühl, Fortschritte zu machen. Es mochte nach außen hin noch nicht sichtbar sein, aber es bewegte sich etwas. Das dachte ich zumindest. Für Geri jedoch hatte sich seit Beginn unserer Ehe nichts verändert – sie war unglücklich.
In der zweiten Januarwoche 1996 verkündete mir meine Frau, sie werde der Gemeinde den Rücken kehren. Sie sei es leid, unsere vier Kinder quasi allein großzuziehen, und habe genug von den ständigen Krisen in der Gemeinde. Ruhig und gefasst erklärte sie: „Ich verlasse unsere Gemeinde. Sie bringt mir kein neues Leben, sie bringt mich um.“1
Nun war ich am absoluten Tiefpunkt angekommen. Ich informierte unsere Ältesten über meine erneute Krise. Sie rieten Geri und mir zu einer intensiven Auszeit, in der wir mit professioneller Hilfe versuchen sollten, unser Problem zu lösen.
Nach einigen Wochen fuhren wir in ein christliches Beratungszentrum. Es war unsere Hoffnung, den Druck, der auf uns lastete, für ein paar Tage hinter uns lassen zu können und dadurch eine objektivere Sicht auf die Gemeinde zu gewinnen. Ich hoffte, Gott würde Geri heilen; Geri hoffte, Gott würde die Gemeinde heilen; wir beide hofften, die schmerzliche Situation möglichst schnell zu überwinden.
Die folgende Woche verbrachten wir mit zwei Beratern. Diese kleine, zeitlich begrenzte christliche Gemeinschaft bot uns einen geschützten Rahmen, in dem wir es endlich wagten, unsere verborgenen Gefühle voreinander auszusprechen.
Was wir nicht erwartet hätten, war eine authentische geistliche Erfahrung mit Gott. Für mich begann es höchst seltsam. Geri und ich hatten uns bis spät am Abend unterhalten, bevor wir schlafen gegangen waren. Gegen zwei Uhr nachts weckte sie mich, stellte sich aufs Bett und begann, Klartext zu reden. Mit wenigen gewählten Worten offenbarte sie mir schonungslos, wie es ihr mit mir, unserer Ehe und der Gemeinde wirklich erging.
So schmerzhaft Geris Ausbruch war – er war eine befreiende Erfahrung für uns beide. Denn sie hatte endlich die dicke geistliche Fassade des „Gutseins“ niedergerissen, die sie davon abgehalten hatte, der Wahrheit über unsere Ehe und unser Leben ins Gesicht zu sehen.
Ich hörte zu.
Sie hörte zu.
Gemeinsam betrachteten wir das Leben unserer Eltern und ihre Ehen. Ich schaute ehrlich auf unsere Gemeinde, die New Life Fellowship. Unübersehbar zeigten sich dort die wunden Punkte aus meiner Ursprungsfamilie.
Keiner von uns hatte sich je solche Gefühle gestattet.
Wir entdeckten, dass unser Glaubensleben, das wir für authentisch gehalten hatten, äußerst oberflächlich war. Obwohl wir beide schon über siebzehn Jahre Christen waren, hatte der Glaube, den wir kannten und praktizierten, unsere Persönlichkeit nur äußerlich erfasst. Angesichts meiner umfassenden Ausbildung und meiner Erfahrung mit dem Gebet und der Bibel war es für mich geradezu ein Schock zu erkennen, dass ganze Schichten meines Lebens nie von Gott erreicht worden waren.
Wie konnte das sein? Ich hatte alles getan, was mir Pastoren und Leiter über die Nachfolge Jesu beigebracht hatten. Ich war treu, hingegeben und höchst engagiert. Ich glaubte an die Kraft Gottes, sein Wort, das Gebet und die Gaben des Heiligen Geistes. Wie kam es, dass ich auf meinem Weg mit Jesus in meinem persönlichen Leben, in meiner Ehe und in meinem Dienst in einer Sackgasse gelandet war? Wo blieb die mächtige, verändernde Kraft Gottes?
Mir kam es so vor, als wäre in diesem Moment etwas in mir gestorben – in meinem persönlichen Glauben und in meiner Rolle als leitender Pastor. Aber diese Erfahrung, die mir zunächst wie das Ende erschien, erwies sich stattdessen als Beginn. Auf der Reise, die damals ihren Anfang nahm, sollten wir eine ganz neue Beziehung zu Gott entdecken, die unser Leben, unsere Ehe, unsere Familie, unsere Gemeinde und Tausende anderer Gemeinden auf der ganzen Welt verändern würde.
Ich erkannte, dass das Problem nicht der christliche Glaube an sich war, sondern vielmehr die Art, wie wir im Glauben angeleitet worden waren und anderen den Glauben vermittelten.
Ich habe von meinem Schwiegersohn Brett eine Menge über das Maurerhandwerk gelernt. Er hat seine Ausbildung in einem der ältesten Handwerke der Welt vor fünf Jahren als Lehrling unter einem erfahrenen Maurermeister aufgenommen und erst vor Kurzem seine Gesellenprüfung abgelegt. Bis er einmal selbst Meister ist, könnten gut und gern noch weitere sieben Jahre oder mehr vergehen!
Wenn man bedenkt, wie lang und kostspielig der Weg vom Lehrling über den Gesellen zum Meister ist, dann ist es nicht verwunderlich, dass es in diesem Handwerk relativ wenige Meister gibt. Aber ein Bauwerk, das von Meisterhand aus massiven Steinen erbaut ist, kann Tausende von Jahren überstehen, selbst bei extremen Wetterbedingungen. Wir sehen das an den Pyramiden in Ägypten, an mittelalterlichen Burgen und an solide gebauten Stein-Bauernhäusern der Neuzeit.
Doch das Bauen mit Naturstein ist teuer. Schon allein der Abbau und Transport, das Schneiden und Behauen der Steine sind sehr zeitaufwendig und kostspielig. Zudem ist auf der Baustelle die Fachkompetenz eines Maurermeisters unverzichtbar. Kein Wunder, dass die Bauindustrie mit den Jahren billigere Alternativen entwickelt hat. Da die Leute jedoch auf die Optik echter Steine Wert legen, arbeiten Bauunternehmen oft mit Fassadenverkleidungen.
Es gibt zwei grundlegende Arten der Verkleidung – Naturstein und Kunststein.
Natursteinverkleidungen bestehen aus leichten, nur 2 bis 12 Zentimeter dicken geschnittenen Steinplatten, die auf die Außenwand eines Gebäudes aufgebracht werden. Geri und ich haben kürzlich eine kleine Fläche rund um unseren Hauseingang mit Stein verkleiden lassen. Es sieht echt aus und fühlt sich auch so an – wie massive Steine mit tragender Funktion. Die Leute sind beeindruckt. Dabei ist es nur eine dünne Steinverkleidung, die von Handwerkern ohne jegliche Maurererfahrung angebracht wurde.
Kunststeinverkleidungen hingegen bestehen aus industriell hergestellten Materialien wie Zement. Optik und Oberflächenstruktur echter Steine werden nachgeahmt, jedoch ohne die hohen Kosten einer Natursteinverkleidung (und erst recht eines ganzen Hauses aus massivem Naturstein). Kunststeinverkleidungen lassen sich schnell und einfach anbringen. Es gibt sogar Bausätze für Heimwerker. Schauen Sie sich einfach ein You-Tube-Video an und schon können Sie loslegen.
An dieser Stelle mögen Sie sich fragen, warum ich mich so ausführlich über Mauerwerk und Verkleidungen auslasse. Die Antwort ist einfach: Die Art, wie Nachfolge heute in unseren Gemeinden gelebt wird, gleicht oft einer geistlichen Fassadenverkleidung.
Oberflächlich gesehen sieht alles echt aus. Die Gemeindeglieder sind lebensfroh und optimistisch, erfüllt von dem Glauben, dass Jesus sie durch Krisen und Täler führt. Berührende Anbetungslieder und ansprechend aufbereitete Botschaften richten sie geistlich auf. Gläubige geben bewegende Zeugnisse. Wir sorgen für eine warme, einladende Atmosphäre in unseren Kleingruppen und bei Wochenendfreizeiten und alle haben das Gefühl, gemeinsam mit Gott zu neuen Ufern unterwegs zu sein.
Das Problem ist, dass all dies mit dem massiven, tragenden Stein der Nachfolge, wie Jesus sie gemeint hat, wenig zu tun hat. Nach außen hin scheint unser Glaube schweren Stürmen und dem Test der Zeit widerstehen zu können, aber das ist eine Täuschung. Ja, viele von uns nehmen am Gottesdienst teil, hören aufmerksam den Predigten zu und besuchen Kleingruppen. Wir dienen oft treu in verschiedenen Bereichen und spenden großzügig. Und doch bleibt unsere Verwandlung in Christus Fassade, wie eine dünne Verkleidung auf einem Leben, das unter der Oberfläche noch nicht berührt worden ist.
Christliche Fassade ist eine gute Beschreibung für die ersten siebzehn Jahre meines Lebens als Jesus-Nachfolger. Nach außen sah alles tadellos aus. Tatsächlich jedoch bestanden gewaltige Defizite in meiner Nachfolge und meiner Art, die Gemeinde zu leiten. Das fiel eine Zeit lang kaum auf, weil meine Gaben und mein Eifer viel von dem überdeckten, was unter der Oberfläche fehlte. Aber schon bald sollten mein eigenes Glaubensleben und das unserer Gemeinde schonungslos als dünne Verkleidung entlarvt werden.
Emotional gesunde Nachfolge ermutigt dazu, die Fassade unseres oberflächlichen Christseins einzureißen und zu einem echten, ganzheitlichen Glauben zu finden, der trägt wie massiver Stein.
Zugegeben, der Prozess ist anstrengend, aufwendig und kostspielig. Aber wie beim Bauen mit Naturstein entsteht etwas sehr Widerstandsfähiges.
In ihrem Kern ist unser Modell der emotional gesunden Nachfolge eine biblische Theologie, die jeden Bereich einer Gemeinde, christlichen Arbeit oder Organisation erfasst. Diese Art gelebten Glaubens hält selbst starken Stürmen stand, sodass Menschen auch inmitten von Krisen und Umbrüchen wachsen und reifen können. Genauer gesagt: Emotional gesunde Nachfolge …
•entschleunigt unser Leben, sodass wir inmitten der Hektik und Ablenkung des Alltags in einer tiefen persönlichen Beziehung zu Jesus leben können.
•bietet Richtlinien, um zu erkennen, wie stark die Werte und Ziele unserer westlichen Kultur dem radikalen Aufruf Jesu entgegenstehen, uns selbst zu verleugnen, unser Kreuz auf uns zu nehmen und ihm zu folgen.
•ermöglicht es, Grenzen als Geschenk von Gott anzunehmen, statt dagegen anzukämpfen.
•klammert in der Nachfolge Jesu Traurigkeit und Verlust nicht aus. Dadurch verpassen wir nicht mehr die Schätze, die Gott darin verborgen hat.
•bietet klare Kriterien, um unsere geistliche Reife an unserer zunehmenden Liebesfähigkeit zu messen.
•bringt unsere Herkunftsfamilie und unsere persönliche Geschichte in Zusammenhang mit unserer Nachfolge heute. Wir tun nicht mehr so, als könnten wir eingefahrene Muster und Traumata aus der Vergangenheit im Handumdrehen heilen.
•sieht in unserer Schwäche und Verwundbarkeit einen Schlüssel zu Gottes Kraft, aus der seine Liebe in die Welt fließen kann.
Unser Ziel ist es, von einem traditionellen hin zu einem transformativen, das heißt einem umgestaltenden Nachfolgemodell zu gelangen, das Menschen tiefe Veränderung erleben lässt. Die folgende Grafik veranschaulicht den Unterschied zwischen den beiden Modellen.
© 2020 EH Discipleship
Wir haben dieses transformative Modell (das wir emotional gesunde Nachfolge nennen) schon vor Jahrzehnten eingeführt und seither ständig weiterentwickelt. Unsere Gemeinde dient uns dabei als fruchtbarer Boden, auf dem wir es praktizieren und verfeinern können. Hier muss es sich immer wieder bewähren. Denn es ist keine kleine Aufgabe, in einer Gemeinschaft mit Menschen aus mehr als fünfundsiebzig Nationen Brücken zu bauen über Ethnie, Klasse und Geschlecht hinweg.
Wir sind sehr dankbar, dass wir schon Tausenden von Gemeinden in Nordamerika und auf der ganzen Welt emotional gesunde Nachfolge nahebringen durften. Wertvolle Einsichten und Rückmeldungen aus unterschiedlichsten Umfeldern haben das, was Sie auf den folgenden Seiten lesen werden, beeinflusst, differenziert und präzisiert.
Meine Hoffnung beim Schreiben dieses Buches ist, dass Sie es wagen, anders zu bauen – sowohl persönlich als auch in Ihrer Gemeinde. Emotional gesunde Nachfolge bietet eine neue Sichtweise, einen Paradigmenwechsel, eine Vision, um gegen den Strom der Zeit eine geistliche Kultur aufzubauen, die jeden Aspekt des Gemeinde- und Gemeinschaftslebens erfasst – Leitung und Teamentwicklung, Ehe- und Singlearbeit, Erziehung, Verkündigung, Kleingruppen, Gottesdienst, Jugend- und Kinderarbeit, Zurüstung, Verwaltung, Öffentlichkeitsarbeit und vieles mehr.
Machen wir uns keine Illusionen. Die Umsetzung ist auf jeden Fall eine Herausforderung. Sie braucht viel Zeit und ist unweigerlich mit Schmerzen verbunden. Aber seien Sie gewiss: Diese Reise mit Jesus wird zu einer solch bereichernden Erfahrung werden, dass Sie sich nie mehr mit einer christlichen Fassade zufriedengeben wollen.
Als ich dieses Buch schrieb, hatte ich auf jeder Seite Sie im Blick. Was immer Ihre Rolle in Ihrer Gemeinde oder in Ihrem Werk sein mag – ob Sie für viele Menschen Verantwortung tragen oder für eine kleine Gruppe, ob Sie mit Kindern, Jugendlichen oder Erwachsenen arbeiten, ob Sie haupt- oder ehrenamtlich engagiert sind –, ich stellte mir beim Schreiben vor, dass Sie mir an meinem Schreibtisch bei einer Tasse Kaffee gegenübersäßen. Ich liebe die Kirche und weiß, mit welchen Schwierigkeiten und Herausforderungen Leitungsaufgaben in der heutigen Welt verbunden sind.
Es ist meine Hoffnung, dass Sie und Ihr Team beim Lesen geistlich, theologisch und emotional angeregt und gestärkt werden.
Die Kapitel in diesem Buch sind in zwei Teile gegliedert:
Teil 1: Wo wir in der Nachfolge stehen
Teil 2: Die sieben Kennzeichen emotional gesunder Nachfolge
In Teil 1 werden wir vier Hauptursachen kraftloser Nachfolge herausarbeiten: Wir nehmen emotionale Unreife hin; wir stellen unser Tun für Gott über unser Sein vor Gott; wir lassen das reiche Erbe der Kirchengeschichte außer Acht und wir haben ein falsches Verständnis von Erfolg.
Sie werden auch Gelegenheit haben, online einen Test zur Beurteilung Ihrer emotionalen bzw. geistlichen Reife durchzuführen. Dadurch können Sie besser einschätzen, wo Sie momentan in der Nachfolge Jesu stehen.
In Teil 2 werden wir die sieben Kennzeichen emotional gesunder Nachfolge untersuchen: Erst sein, dann tun; dem gekreuzigten – nicht dem verwestlichten – Jesus folgen; Grenzen als Gottes Geschenk annehmen; die Schätze entdecken, die in Schmerz und Verlust verborgen sind; die Liebe zum wichtigsten Maßstab der Reife machen; die Macht der Vergangenheit brechen; Leiten aus Schwäche und Verletzlichkeit heraus.
Wenn wir tief veränderte Christen mit Multiplikationspotenzial werden möchten, dann müssen diese theologischen Wirklichkeiten Teil unseres Lebens und unserer Gemeindekultur werden. Dazu werde ich Ihnen eine Strategie vorstellen, die Ihnen dabei hilft, emotional gesunde Nachfolge umzusetzen – zuerst bei sich selbst und in Ihrem Team, dann auch in der ganzen Gemeinde.
Ich empfehle Ihnen, langsam zu lesen. Lassen Sie es zu, dass das Buch Sie liest. Mit anderen Worten: Bitten Sie den Heiligen Geist, Ihnen eine Vision davon zu schenken, wie Ihre Gemeinde oder Ihre christliche Arbeit ein Ort der Verwandlung sein und an Christi Auftrag teilhaben kann, das Evangelium in die Welt zu tragen. Halten Sie inne und hören Sie auf Gottes Stimme. Vielleicht möchten Sie Tagebuch führen. Und vor allem: Reagieren Sie auf die Einladungen, die Gott auf dem Weg an Sie richtet. Nutzen Sie auch gern den Begleitkurs für Kleingruppen, den es zu diesem Buch gibt.2
Es ist mein Gebet, dass Gott Ihnen auf der Reise durch diese Seiten ganz neu begegnet. Möge er Sie ausrüsten, Ihren Dienst als persönlich veränderte Menschen zu tun, sodass die Erde voll werde „von Erkenntnis der Ehre des HERRN, wie Wasser das Meer bedeckt“ (Habakuk 2,14 LUT).
In seinem Bestseller Der Mann, der seine Frau mit einem Hut verwechselte erzählt Oliver Sachs die Geschichte einer Frau, die jahrzehntelang in einem Familiensystem lebte, das sie blockierte und unreif bleiben ließ.1
Madeleine kam 1980 im Alter von sechzig Jahren in das St. Benedict’s Hospital. Sie war blind und mit einer zerebralen Kinderlähmung auf die Welt gekommen. Ihr ganzes Leben lang war sie von ihrer Familie beschützt, umsorgt und behütet worden. Was Sacks, ihren betreuenden Neurologen, besonders erschütterte, war, dass sie außergewöhnlich intelligent war. Sie sprach frei und eloquent, konnte aber nichts mit ihren Händen tun.
„‚Sie haben außerordentlich viel gelesen‘, sagte [er], ‚Sie beherrschen die Blindenschrift wohl sehr gut?‘
‚Nein, überhaupt nicht‘, antwortete sie. ‚Ich lasse mir alles von anderen Leuten vorlesen … In Blindenschrift kann ich kein einziges Wort entziffern. Ich kann mit meinen Händen überhaupt nichts anfangen. Sie sind völlig nutzlos.‘
Sie hielt sie verächtlich hoch. ‚Nutzlose, überflüssige Teigklumpen – sie fühlen sich nicht einmal so an, als gehörten sie mir.‘“
Dies erschien Sacks sonderbar. Er dachte sich: „Eine zerebrale Kinderlähmung ergreift normalerweise nicht die Hände … Ihre Hände hätten eigentlich völlig normale Hände sein müssen – und doch waren sie es nicht. Konnte es sein, dass sie funktionslos – ‚nutzlos‘ – waren, weil sie sie nie gebraucht hatte? … War ihr stets alles abgenommen worden, sodass es nicht zu einer normalen Entwicklung der Hände hatte kommen können?“
Madeleine konnte sich nicht erinnern, jemals ihre Hände gebraucht zu haben. Denn Sacks schreibt: „Sie hatte nie selbst gegessen, war nie allein auf die Toilette gegangen, hatte sich nie selbst etwas genommen.“
Sie lebte sechzig Jahre wie ein Mensch ohne Hände.
Das brachte Sacks auf die Idee, ein Experiment zu wagen: Er wies das Pflegepersonal an, Madeleine das Essen zu bringen, es jedoch scheinbar versehentlich ein Stückchen außerhalb ihrer Reichweite hinzustellen.
Er schreibt: „Und eines Tages geschah etwas, was noch nie zuvor geschehen war: Anstatt passiv und ergeben zu warten, streckte sie hungrig und ungeduldig den Arm aus, tastete auf dem Tisch umher, spürte einen Teigkringel auf und führte ihn zum Mund. Dies war das erste Mal in sechzig Jahren, dass sie ihre Hände gebrauchte – ihre erste manuelle Handlung.“
Von da an machte Madeleine schnelle Fortschritte. Sie streckte ihre Hände aus, um die ganze Welt zu berühren, und betastete verschiedene Nahrungsmittel, Behälter und Werkzeuge. Sie bat um Ton und fing an, Modelle und Skulpturen zu formen und menschliche Gesichter und Gestalten zu erforschen.
Über ihre Hände schreibt Sacks: „Man spürte, dass dies nicht die tastenden Hände irgendeiner blinden Frau waren, sondern die einer blinden Künstlerin, eines reflektierenden, schöpferischen Geistes, der sich der ganzen sinnlichen und spirituellen Realität der Welt gerade erst geöffnet hatte.“
Madeleines Kunst entwickelte sich so weit, dass sie innerhalb eines Jahres in der Region als „die blinde Bildhauerin von St. Benedict’s“ bekannt wurde.
Wer hätte gedacht, dass im Inneren dieser Sechzigjährigen eine so erstaunliche Persönlichkeit und eine solch große Künstlerin steckte? Im Körper einer Frau, die nicht nur an vielfältigen physischen Einschränkungen gelitten hatte, sondern auch „behindert“ worden war – ausgerechnet von denen, die dachten, sie würden für sie sorgen.
Dies ist eine beeindruckende Geschichte. Sie zeigt aber auch eine beunruhigende Dynamik, die auf ganz ähnliche Weise in unseren Gemeinden zu beobachten ist. Allzu viele Christen sind in ihrer Nachfolge so sehr „behütet“ worden, dass sie geistlich nahezu „behindert“ sind. Deshalb übernehmen sie unkritisch einen Glauben, der Freiheit und Fülle in Jesus verspricht, ohne zu merken, wie gefangen sie bleiben und wie unbiblisch sie mit sich selbst und anderen umgehen. Darauf angesprochen, zucken sie mit den Schultern, als wollten sie sagen: „Daran kann ich ja doch nichts ändern. So bin ich eben.“
Dieses Problem, das ich als kraftlose Nachfolge bezeichne, ist nicht neu, aber es ist heute schwerwiegender als noch vor Jahren.2
Das soll nicht heißen, dass es keine Versuche gegeben hätte, dieser Dynamik entgegenzuwirken. In meiner Arbeit mit Gemeinden auf der ganzen Welt habe ich durchaus viele ermutigende Bemühungen erlebt, diese notvolle Situation anzugehen – Gebetsversammlungen für Erweckung, bewusst gestaltetes Gemeindeleben, Wiederhinwendung zur Bibel, größere Anstrengungen im Kampf gegen gottfeindliche Mächte, begeisternde Gottesdienste, Wiederentdeckung der übernatürlichen Kraft Gottes, verstärktes Engagement für die Armen und Ausgegrenzten und vieles mehr.
All dies ist wertvoll. Aber nichts davon geht wirklich auf die grundlegende Frage ein: Welche fundamentalen Irrtümer verhindern echte, ernsthafte Nachfolge und halten Menschen davon ab, geistlich zu reifen?
Mit anderen Worten: Was läuft in unseren Gemeinden systematisch schief, sodass Menschen im Stadium geistlicher Unreife stecken bleiben? In den letzten fünfundzwanzig Jahren hatte ich reichlich Gelegenheit, lange und intensiv über diese Frage nachzudenken – in meiner Tätigkeit als leitender Pastor einer Ortsgemeinde und in meiner weltweiten Arbeit mit verschiedenen Konfessionen und Bewegungen in städtischen, vorstädtischen und ländlichen Gebieten über rassische, kulturelle und wirtschaftliche Grenzen hinweg. In diesem Prozess bin ich zu der Überzeugung gelangt: Wenn wir Menschen zu einem tragfähigen, tiefen Glauben führen möchten, müssen wir vier fundamentale Irrtümer korrigieren:
1.Wir nehmen emotionale Unreife hin.
2.Wir stellen unser Tun für Gott über unser Sein vor Gott.
3.Wir lassen das reiche Erbe der Kirchengeschichte außer Acht.
4.Wir haben ein falsches Verständnis von Erfolg.
Es ist entscheidend, dass wir die Hintergründe und Auswirkungen eines jeden Irrtums verstehen. Warum ist das so wichtig? Wenn wir den Ernst der Lage nicht sehen, werden wir nicht ausdauernd an einer langfristigen Lösung arbeiten. Die aber ist nötig, um den weitreichenden Schaden, den diese Irrtümer in unseren Gemeinden anrichten, von Grund auf zu beheben.
Beginnen wir also bei den Wurzeln. Unsere Art, Glauben zu vermitteln, bringt allzu oft Christen hervor, die wenig von der Ganzheit, Menschlichkeit und dem Wesen Jesu widerspiegeln.3
Im Laufe der Zeit sind unsere Erwartungen an ein „geistliches Leben“ so unklar geworden, dass wir für viele krasse Widersprüche blind geworden sind:
•Wir können in der Öffentlichkeit begnadete Redner für Gott sein, aber zu Hause die Rolle eines distanzierten Ehepartners oder zornigen Elternteils einnehmen.
•Wir können in der Gemeinde mitarbeiten und trotzdem unbelehrbar, unsicher und abweisend sein.
•Wir können regelmäßig beten und fasten und gleichzeitig eine Neigung haben, andere ständig zu kritisieren, was wir als Urteilsvermögen rechtfertigen.
•Wir können Menschen „für Gott“ leiten, ohne zu merken, dass unser Hauptmotiv in Wirklichkeit ein ungesundes Bedürfnis nach Bewunderung ist.
•Wir können von der unfreundlichen Bemerkung eines Gemeindeglieds tief verletzt sein und trotzdem schweigen, weil wir Konflikte um jeden Preis vermeiden wollen.
•Wir können an unterschiedlichen Stellen in der Gemeinde mitarbeiten und dabei Groll mit uns herumtragen, da für eine gesunde Selbstfürsorge zu wenig Zeit bleibt.
•Wir können für einen großen Gemeindebereich verantwortlich sein, es dabei aber an Transparenz fehlen lassen und persönliche Schwierigkeiten oder Schwächen allein ausfechten.
All dies sind offenkundige Beispiele emotionaler Unreife, und doch sehen wir die eklatanten Widersprüche darin nicht. Wie kann das sein? Das Problem ist, dass wir die emotionale Gesundheit von der geistlichen Gesundheit abgekoppelt haben. Aber wie kommen wir darauf, dass es möglich sein könnte, geistlich reif zu sein und gleichzeitig emotional unreif zu bleiben? Die Antwort ist vielschichtig; ich möchte hier insbesondere auf zwei wichtige Gründe eingehen.
Die Liebe zu Gott und die Liebe zum Nächsten hängen untrennbar zusammen. Das hat Jesus immer wieder betont. Als er nach dem einen größten Gebot gefragt wurde, nannte Jesus zwei – liebe Gott und liebe deinen Nächsten wie dich selbst (siehe Matthäus 22,34-40).
Genauso argumentierte der Apostel Paulus in seinem ersten Brief an die Gemeinde in Korinth. Er warnte, dass ein noch so fester Glaube, eine noch so verschwenderische Großzügigkeit und noch so große geistliche Gaben ohne Liebe nichts wert sind (siehe 1. Korinther 13,1-3). Mit anderen Worten: Wenn die Menschen um uns herum uns ständig als unnahbar, kalt, unsicher, abweisend, starr oder verurteilend erleben, dann erklärt uns die Bibel für geistlich unreif.
Der radikalste Ausdruck von Jesu Lehre über die Liebe war auch einer seiner elementarsten Grundsätze: „Liebt eure Feinde, und betet für die, die euch verfolgen. … Wenn ihr nur die liebt, die euch Liebe erweisen, was für einen Lohn habt ihr dafür zu erwarten? Tun das nicht sogar Leute wie die Zolleinnehmer?“ (Matthäus 5,44.46). Für Jesus waren Feinde keine Störfaktoren im geistlichen Leben, sondern oft gerade das Werkzeug, durch das wir eine tiefere Gemeinschaft mit Gott erfahren können. Das ist einer der Gründe, warum er strenge Warnungen aussprach wie: „Verurteilt niemand, damit auch ihr nicht verurteilt werdet“ (Matthäus 7,1). Jesus wusste, dass wir uns um die schwierige Aufgabe, Menschen zu lieben, gerne herumdrücken würden.
Damit stellte Jesus die Lehre der Rabbiner aus dem ersten Jahrhundert – die die Beziehung zu Gott für viel wichtiger hielten als die Beziehung zu anderen – radikal auf den Kopf. Nach Überzeugung der Rabbiner sollte ein Mensch, der beim Beten merkte, dass ein anderer etwas gegen ihn hatte, zuerst in Ruhe sein Gebet zu Ende bringen (da Gott schließlich immer vorgehe) und sich erst dann mit der anderen Person versöhnen. Jesus kehrte diese Lehre um und sagte: „Wenn du also deine Gabe zum Altar bringst und dir dort einfällt, dass dein Bruder etwas gegen dich hat, dann lass deine Gabe dort vor dem Altar; geh und versöhne dich zuerst mit deinem Bruder! Danach komm und bring Gott deine Gabe dar“ (Matthäus 5,23-24).
Jesus lehrte und lebte selbst vor, dass unsere Liebe zu Gott an unserer Liebe zum Nächsten gemessen wird. Er war in dieser Hinsicht so eindeutig, dass es für seine Nachfolger eigentlich sonnenklar hätte sein müssen. Doch das war es nicht – genauso wenig wie für uns heute.
Leider fehlte auch mir dieses biblische Verständnis gelebter Nachfolge in der Anfangszeit meines Christseins und meiner Entwicklung zum Leiter völlig. Dass ich meine Liebe zu Gott damals nicht am Grad meiner Liebe zum Nächsten maß, behinderte mein geistliches und emotionales Wachstum in den ersten siebzehn Jahren meines Glaubenslebens entscheidend. Ich absolvierte zwar diszipliniert geistliche Übungen, aber die Menschen um mich herum (allen voran meine Frau Geri) erlebten mich beileibe nicht von Jahr zu Jahr liebevoller. Ganz im Gegenteil: Je mehr Verantwortung ich als leitender Pastor trug, desto ungeduldiger und gereizter wurde ich gegenüber denen, die anderer Meinung waren oder meine Bemühungen, Gottes Reich zu bauen, bremsen wollten.
Die meisten Christen geben dem geistlichen Aspekt Vorrang vor jedem anderen Aspekt unseres gottgegebenen Menschseins – dem körperlichen, dem emotionalen, dem sozialen und dem intellektuellen.
Diese Priorisierung des Geistlichen geht auf den griechischen Philosophen Platon zurück, der mehrere Jahrhunderte vor Christus lebte. Sein Einfluss auf zahlreiche namhafte Persönlichkeiten der Kirchengeschichte wirkt bis heute nach.4 Seine Botschaft, die später das Denken in der frühen Kirche prägte, lautete im Wesentlichen: Der Körper ist schlecht; der Geist ist gut. Mit anderen Worten: Jeder Aspekt unseres Menschseins, der nicht geistlich ist, sei zumindest verdächtig, einschließlich der Gefühle. Emotional zu sein sei, wenn nicht gerade sündhaft, so doch auf jeden Fall schlechter, als geistlich zu sein. Dieses Denken beschränkt die akzeptierte Bandbreite unseres Lebens in Gott stark auf bestimmte geistliche Praktiken wie Beten, Lesen der Heiligen Schrift, den Dienst an anderen oder den Gottesdienstbesuch.
Das Problem ist: Wir sind viel mehr als geistliche Wesen. In 1. Mose 1,26-27 steht, dass wir nach Gottes Ebenbild geschaffen sind – ganz und doch vielschichtig. Diese Ganzheit schließt natürlich den geistlichen Aspekt unseres Seins mit ein, aber genauso den körperlichen, den emotionalen, den sozialen und den intellektuellen.
FÜNF ASPEKTE DES MENSCHSEINS
Wenn wir uns nicht als ganze Menschen verstehen, sind ungesunde Entwicklungen unvermeidlich. Aus irgendeinem Grund erheben wir jedoch beharrlich den geistlichen über den emotionalen Aspekt. Im Laufe der Zeit hat dieses unbiblische Denken zu einer Sichtweise geführt, die Gefühle (besonders Traurigkeit, Angst und Wut) nicht nur als dem Geistlichen untergeordnet, sondern als widergeistlich betrachtet. In den Köpfen vieler ist das Ausblenden von Gefühlen sogar zu einer Tugend erhoben worden. Wut unterdrücken, Schmerz ignorieren, Depressionen überspielen, vor Einsamkeit weglaufen, Zweifel unterdrücken und Sexualität verneinen – all dies wird in der Gestaltung unseres geistlichen Lebens heute als durchaus vertretbar angesehen.
Viele christliche Leiter, die ich treffe, sind emotional erstarrt. Sie nehmen ihre Gefühle wenig oder gar nicht wahr. Auf die Frage, wie sie sich fühlen, verwenden sie vielleicht die Worte „Ich fühle“, aber worüber sie dann sprechen, sind eher Tatsachen oder Gedanken. Ihre Gefühle sind in einem Tiefschlaf. Körpersprache, Tonfall und Mimik deuten zwar darauf hin, dass sie Emotionen haben, diese aber dringen nicht bis ins Bewusstsein vor und können deshalb auch nicht benannt werden.
Diesen Menschen entgeht die reiche Dimension, die sich in unserer Beziehung zu Jesus eröffnet, wenn wir unsere Gefühle als wesentlichen Aspekt unseres Menschseins annehmen. In ihrem Buch The Cry of the Soul (etwa: Der Schrei der Seele) drücken der Psychologe Dan Allender und der Theologe Tremper Longman III es so aus:
Unsere Gefühle zu ignorieren heißt, der Wirklichkeit den Rücken zu kehren; das Hören auf unsere Gefühle führt uns in die Wirklichkeit hinein. Und die Wirklichkeit ist der Ort, an dem wir Gott begegnen … Gefühle sind die Sprache der Seele. Sie sind der Schrei, der dem Herzen eine Stimme gibt. … Und doch stellen wir uns oft taub – durch emotionale Verleugnung, Verdrängung oder emotionalen Rückzug. Wenn wir unsere starken Gefühle vernachlässigen, belügen wir uns selbst und lassen uns eine wunderbare Gelegenheit entgehen, Gott kennenzulernen.5
Leider betonten die Gemeinden, die mich geprägt haben, so nachdrücklich die Sündhaftigkeit meines Herzens und meiner Emotionen, dass ich es anfangs tatsächlich als Sünde empfand, wenn ich mir erlaubte zu fühlen. Ich fragte mich sogar, ob ich vielleicht Verrat am christlichen Glauben beging. Später allerdings entdeckte ich, dass ich in Wirklichkeit die unbiblischen Überzeugungen verriet, die die Kirche in puncto Gefühle entwickelt hatte.
Ich glaubte fest daran, dass Jesus sowohl ganz Gott als auch ganz Mensch war. Dennoch dachte ich selten über die Menschlichkeit Jesu nach – oder auch über meine eigene Menschlichkeit. Die Tagebucheinträge und geschriebenen Gebete aus meinen frühen Jahren als Christ und Pastor zeigen deutlich, dass der Jesus, den ich damals anbetete und dem ich folgte, gar nicht so sehr menschlich war.
Genauso wenig wie ich selbst.
Ich überging meine menschlichen Grenzen und riss mich zusammen, um mehr und mehr für Gott zu tun. Negative Gefühle wie Wut oder Depressionen betrachtete ich als gottfeindlich und verdrängte sie. Ich unterlag dem Irrtum, es sei geistlicher, den ganzen Tag mit Gebet und Bibellesen zu verbringen, als das Haus zu putzen, Geri zuzuhören, die Kinder zu wickeln oder für meinen Körper zu sorgen.
Der Jesus, den ich anbetete, war in erster Linie Gott und nicht so sehr ein menschliches Wesen. Irgendwie gingen die Geschichten, in denen Jesus seine Gefühle frei und ohne Scham ausdrückte, an mir vorbei. Er vergoss Tränen (siehe Lukas 19,41), er trauerte (siehe Markus 14,34), er war zornig (siehe Markus 3,5), er empfand Mitleid (siehe Lukas 7,13), er zeigte Erstaunen und Verwunderung (siehe Lukas 7,9).
Siebzehn Jahre ließ ich in meiner Suche nach Gott die emotionale Komponente völlig außer Acht. In dem rein geistlichen Verständnis von Nachfolge in den Gemeinden und Werken, die meinen Glauben geprägt hatten, kam dieser Aspekt nicht vor. Sie waren auch nicht dazu ausgebildet, mir in diesem Bereich zu helfen. Ich konnte noch so viele Bücher lesen und noch so viele Seminare besuchen. Solange ich den emotionalen Anteil von Gottes Ebenbild in mir nicht wahrnahm und anerkannte, würde ich noch die nächsten siebzehn oder gar fünfzig Jahre emotional ein Kleinkind bleiben. Das geistliche Fundament, auf dem ich mein Leben aufgebaut und das ich anderen vermittelt hatte, war eingebrochen. Und das ließ sich vor den Menschen, die mir nahestanden, nicht mehr verbergen.
Wenn wir haupt- oder ehrenamtlich in der Gemeinde mitarbeiten, ist es eine unserer größten Herausforderungen, unser Tun für Gott und unser Sein vor ihm in eine gesunde Balance zu bringen. In unserem Bemühen, Gott zu dienen, kommt bei den meisten von uns letztlich die Beziehung zu ihm zu kurz. Wir haben es immer eilig und wollen am liebsten jede freie Minute bestmöglich nutzen. So sind wir am Abend erschöpft von dem Versuch, unaufhörlich die Bedürfnisse anderer zu befriedigen. Und als ob wir nicht schon überlastet genug wären, füllen wir auch noch unsere „freie Zeit“ mit irgendwelchen Aktivitäten.
Einige von uns sind tatsächlich süchtig – nicht nach Drogen oder Alkohol, sondern nach dem Adrenalinrausch, etwas zu tun. Wir lesen vielleicht etwas über das Bedürfnis, uns auszuruhen und aufzutanken, aber wir befürchten, dass vieles ohne uns nicht laufen würde. Also machen wir einfach weiter. Und in diesem gehetzten und ausgelaugten Zustand haben wir wenig Zeit oder Energie übrig, um unsere Beziehung zu Gott, zu uns selbst oder zu anderen zu pflegen. Kein Wunder, dass wir in unserem Leben keine Veränderung erfahren. Denn das Einzige, was wir denen zu bieten haben, für die wir Verantwortung tragen, ist unsere oberflächliche Art, Nachfolge zu leben.
Mit der Zeit wird das Vorrecht, anderen zu dienen, stattdessen zu einer Last, die unserer eigenen Seele zunehmend Gewalt antut. Die unzähligen Bedürfnisse, die ständig auf uns einströmen, machen uns reizbar. Wir werden nachtragend und fühlen uns in unserer misslichen Lage gefangen. Gott scheint weit weg zu sein.