Ende der Notgemeinschaften - Holger Kiefer - E-Book

Ende der Notgemeinschaften E-Book

Holger Kiefer

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Beschreibung

Ein Bekannter des Verfassers liest dessen Manuskript und ist "erschüttert". Er erkennt darin einen Menschen, "der fälschlicherweise auf diese Welt geraten war - wie ein Fisch, den man mit einer Schaufel aus dem Wasser ans Ufer wirft und ihm beim Sterben zusieht." Der Autor beschreibt die wichtigsten Stationen seines Lebens und die Situationen, auf die er trifft, teils mit überraschender Kaltschnäuzigkeit, teils mit resümierendem Stoizismus. Auf der anderen Seite bergen die Seiten einen eigenen Humor, der den Leser neben der ironischen Tragik des Inhalts auch mehrmals zum Schmunzeln oder offenen Lachen bringt. Obwohl dem Autor des Manuskripts nichts daran liegt es zu veröffentlichen, nimmt sich der Bekannte diesen Schritt vor, dessen Ergebnis nun mit diesem Buch vorliegt. Denn er ist der Ansicht, dass auch dieses spezielle Buch unter all den anderen seine Daseinsberechtigung hat. Der Verfasser ist vor kurzem gestorben; doch dessen Gedanken hält sein Bekannter für äußerst lesenswert.

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Seitenzahl: 312

Veröffentlichungsjahr: 2022

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Dabei wissen sie nicht, wie sie sich

vom Leben befreien.

(Lao-Tse)

Holger Kiefer

Ende der Notgemeinschaften

oder: Wie Alvor Selve das Glück fand

Ein Ratgeber für potentiell Unglückliche

© 2021 Holger Kiefer

978-3-347-51058-6 (Softcover) 978-3-347-51059-3 (Hardcover) 978-3-347-51060-9 (E-Book) 978-3-347-51061-6 (Großdruck)

Druck und Distribution im Auftrag des Autors: tredition GmbH, Halenreie 40-44, 22359 Hamburg, Germany

Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Für die Inhalte ist der Autor verantwortlich. Jede Verwertung ist ohne seine Zustimmung unzulässig. Die Publikation und Verbreitung erfolgen im Auftrag des Autors, zu erreichen unter: tredition GmbH, Abteilung "Impressumservice", Halenreie 40-44, 22359 Hamburg, Deutschland.

Inhalt

Vorwort

Teil 1

Überraschungen

Erste Liebe, erste Rache

Mut – Sieg und Niederlage

Von Karnickeln und Eulen

Das Leben – behalten, lassen und nehmen

Die andere Nahrung

Nachspeise

Auf den grünen Zweig

Teil 2

Die Ankunft

Lernen und verstehen

Teil 3 - Septuaginta

Checkliste

Ablenkung

Angst

Antisemitismus

Arzt

Bedürfnisse und Befriedigungen

Beruf

Demenz

Deutschsein

Eigenschaften

Erfolgszwang

Erinnerung

Erziehung

Exotismus

Familie

Frauen

Geheimdienste

Geld

Geschichte

Geschlecht

Gewalt / Angriffe

Gewissen

Glück

Gruppenzwang

Heimat

Herkunft

Hitlersyndrom

Hoffnung

Information

Integration

Kinder

Klima

Körper

Krankheit

Krieg

Leben

Liebe und Liebende

Lügen

Mitmenschen

Mode

Mutter

Nahrung

Notarzt

Notdurft

Partner

Pflege

Politiker

Prüfungen

Psychos und Psychas

Rache

Rechtssystem

Regenschirm

Religion / Götter

Rhetorik

Routine

Störenfriede

Technologie

Tod

Tradition

Vater

Vergessen

Verpflichtungen

Verwandtschaft

Viren

Voraussetzungen

Vorurteile / Verallgemeinerungen

Weltgemeinschaft

Wirtschaft

Wohngemeinschaft

Wohnung

Zeit und Zeitverschwendung

Nachwort

Vorwort

Als mein Freund Alvor starb, war er sechsundfünfzig Jahre alt geworden. Nicht so alt, denkt jetzt vielleicht der eine Leser oder die andere Leserin. Aber für Alvor war es der perfekte Zeitpunkt, wie er mir einmal sagte – Beethovenalter. Er war der Ansicht, dass ein Mensch nicht älter als sechzig zu werden braucht – werden sollte – zu werden hat. Er nannte mir immer wieder Beispiele aus der Kunst- und Kulturgeschichte, meistens Männer, die um die sechzig gestorben waren – die einen mit genau sechzig, die anderen ein paar Jahre früher oder später; und sein großes Vorbild Beethoven eben mit sechsundfünfzig. Alvor war sogar stolz darauf, im gleichen Alter wie der Komponist seiner Lieblingsmusik zu sterben. Wahrscheinlich hätte er sich deswegen sogar das Leben genommen, wäre nicht der Krebs dazwischengekommen. Aber so war er ruhig vor dem Tod, lächelte ihm zu und freute sich.

Was für ein Mensch war Alvor?

Diese Frage habe ich mir oft gestellt, die meisten Male erst nach seinem Tod. Denn wir fragen uns ja viele Dinge erst, wenn sie vorbei sind. Alvor ist jetzt fünf Jahre vorbei. Aber die Erinnerung an ihn ist sehr stark und wird es wahrscheinlich auch bleiben, solange ich noch nicht vorbei bin. Erst dann steigen wir gemeinsam ins Grab, besser: fällt unsere Asche ins Meer.

Vielleicht zunächst zu dem Namen: Alvor ist Dänisch und bedeutet „Ernst“. Dieses Attribut trifft zur Hälfte auf ihn zu. Er konnte sehr ernst sein, dachte ernsthaft über viele Dinge nach und erkannte schon sehr früh den Ernst des Lebens oder in bestimmten Situationen auch den Ernst der Lage. Aber die andere Hälfte war geprägt von Glückseligkeit, Zufriedenheit und Vorfreude auf alles Neue. (Vielleicht kommt daher auch seine Gelassenheit dem Tod gegenüber). Er beschäftigte sich zum Beispiel insgesamt mit vierzehn Sprachen. Er wollte sie verstehen und fand allein darin Befriedigung, sich am Wochenende, wenn er Zeit hatte, ein oder zwei Stunden damit zu beschäftigen. Auf diese Weise kam er natürlich nicht dazu all diese Sprachen auch zu sprechen. Doch darauf kam es ihm auch nicht an. Er lernte nicht für den Urlaub oder den Beruf, geschweige denn für eine Prüfung. Es machte ihm einfach nur Freude, einen Text in einer anderen Sprache entziffern und verstehen zu können, als wäre es ein geheimer Code oder eine verbotene Information, die er enträtselte. Die romanischen Sprachen konnte er allerdings sprechen. Er hatte sie sechs Jahre lang intensiv studiert und bei Auslandsaufenthalten immer wieder trainiert und seine Kenntnisse verbessert, so dass seine jeweiligen Gesprächspartner erstaunt waren und ihn für seine Fähigkeiten und Ausdrucksweise ehrlich lobten. Außerdem sprach er noch Dänisch (das meinte er seinem Namen schuldig zu sein) und natürlich Englisch. Doch im Ungarischen oder Litauischen kam er nicht so weit. Aber wie gesagt: Er wollte auch nicht unbedingt weit kommen, sondern genoss allein das angsame Wandeln auf dem langen Weg des Lernens.

In seinem zweiten Vornamen Selve steckt das deutsche ‚selbst‘. Er war überzeugt, dass er das Wichtigste – und hierbei vor allem das Glück – nur selbst und allein erreichen konnte. Verheiratet war er nie, und Kinder hatte er auch nicht. Zumindest betonte er immer, dass er von keinem Kind wisse, aber natürlich auch nicht ausschließen könne, dass die eine oder andere Julia die Frucht ihrer Liebe ausgetragen hätte ohne ihm etwas davon zu sagen. Er beließ es auch dabei, denn er wollte mit Kindern nichts zu tun haben. Sie waren für ihn Störenfriede, Nervensägen und Ablenkungsmanöver, die er sich nicht leisten wollte. Er atmete auch zwanzig Jahre später noch jedes Mal auf, wenn er mir die Geschichte mit Katja erzählte, die von ihm schwanger geworden war, sich aber im zweiten Monat dazu entschlossen hatte, die Schwangerschaft abzubrechen. „Schwein gehabt.“, sagte er jedes Mal am Schluss und nahm einen großen Schluck Whiskey. Aber auch hier zeigten sich die zwei Seiten seines Charakters. Er mochte Kinder nämlich auch, aber eben nur die Kinder, die ihn nicht nervten – zum Beispiel die Tochter seines langjährigen Nachbarn, die er kennen gelernt hatte, als sie acht war. Lisa war ein ruhiges Mädchen, das ihn freundlich grüßte. Das war schon fast alles. Traurig eigentlich, dass man von ihr wie von einer Ausnahme sprechen muss. Mit acht Jahren war sie auch noch nicht hübsch. Sie entwickelte sich erst im Laufe der Pubertät und darüber hinaus zu einer attraktiven jungen Frau, in die er sich, glaube ich, auch verliebt hatte. Aber zugegeben hat er es mir gegenüber nie. Er sagte, wenn ich ihn darauf ansprach: „Nein. Ich liebe sie nicht. Das ist Lisa, die Tochter meines Nachbarn, die ich kenne, seit sie ein Kind war. Sie ist jetzt eine sehr nette und schöne Frau. Aber unser Verhältnis ist rein nachbarschaftlich. Und so etwas sollte man auch nicht aus niederen Beweggründen kaputt machen.“

„Vielleicht ist es eine platonische Liebe?“, fragte ich schmunzelnd.

Daraufhin zogen sich seine Augenbrauen zusammen, und er dachte ein paar Sekunden lang nach – ernsthaft, wie ich schon erwähnte, bis er antwortete: „Nein. Ich glaube nicht. Vielleicht hat das etwas mit der Liebe eines Vaters zu seiner Tochter zu tun – oder mit der eines Onkels zu seiner Nichte, oder mit der eines Großvaters zu seiner Enkelin. Ich mochte sie vom ersten Augenblick an. Und das habe ich auch sehr selten erlebt. Aber es hat nichts mit Erektion oder Eroberung, Verschmelzung oder Befriedigung zu tun. Es handelt sich um die vierte Variante, warum ein Mann eine Frau mag.“

„Die vierte Variante?“, fragte ich nach.

„Ja, die vierte. Die erste ist Sexpartnerin – also Lebensgefährtin / Ehefrau oder Prostituierte. Die zweite ist Beraterin – also Freundin oder Kollegin. Die dritte ist Verwandte – also Schwester oder Mutter. Die vierte ist Lisa.“

„Und was ist Lisa für dich?“

Er dachte wieder ein paar Sekunden nach. „Lisa ist Lisa. Punkt.“

Ich wollte nicht weiter nachbohren und gab mich damit zufrieden, dass er sie auf irgendeine Weise wohl doch lieben würde. Und schließlich gibt es ja auch die vielen verschiedenen Varianten zwischen Schwester, Sexpartnerin und Beraterin und was noch alles gepaart und gemischt werden kann. Aber es war auch nicht meine Aufgabe ihn zu bedrängen und zu einer Definition zu zwingen.

Er mochte aber nicht nur Lisa. Er erzählte mir einmal von dem Sohn seines zweiten Bruders, der still und lernbegierig war und ihn, wenn sie sich trafen, um Rat fragte oder ihm eine Frage stellte, die er sich selbst nicht beantworten konnte. Solche Kinder mochte Alvor. Wahrscheinlich mochte er sie, weil er das Wissen und das Lernen mochte; und weil diese Kinder nicht durch Geschrei und Lärmen auf die Nerven gehen. Man kann auch Fußball spielen, ohne prollige und laute Kommentare zu äußern.

Als Mitarbeiter war er wohl ein angenehmer Zeitgenosse. Ich konnte ein paar Kollegen und Kolleginnen bei einem Feierabendbier oder einem zufälligen Treffen in der Stadt oder auf einer Party kennen lernen. Sie benahmen sich alle sehr zugetan und sprachen auch in seiner Abwesenheit, ohne zu wissen, dass ich alles hören konnte, nur positiv von ihm. Und so, wie ich ihn kannte, war das auch nicht verwunderlich. Warum sollte er dort auch anders sein als in meiner Gegenwart, wenn wir allein waren? Er galt als hilfsbereit, zuverlässig, geduldig und ausgeglichen – ein angenehmer Kollege eben.

Irgendwann – wir kannten uns bestimmt schon acht oder vielleicht zehn Jahre – gab er mir das Typoskript einer seiner Erzählungen mit den Worten: „Ich habe da etwas geschrieben. Ich würde mich wirklich freuen, wenn du es liest und mir deine ehrliche Meinung sagst.“

Ich war völlig erstaunt, nicht nur, weil es ein ganz neuer Aspekt war, den ich an ihm noch nicht kannte, sondern auch darüber, dass er das Vertrauen in mich setzte, diese Sache beurteilen zu können. Er hatte in den ersten Jahren unserer Bekanntschaft das Wort „Schreiben“ nie erwähnt. Es schien etwas gewesen zu sein, was er für sich behalten wollte – was er vielleicht als zu fragil einschätzte, um es dem Angriff eines Mitmenschen auszusetzen – selbst mir. Allein die Tatsache, dass er etwa zehn Jahre brauchte, um es mir zu zeigen, ist ein deutliches Indiz für sein Zögern! Ich fühlte mich sehr geehrt und war mir meiner Verantwortung bewusst.

Ich nahm die Seiten ehrfürchtig entgegen, wusste ich doch sofort, welchen Vertrauensbeweis er mir damit erbrachte. Wir verbrachten diesen Abend – ich weiß es noch genau – drei Flaschen Burgunder trinkend in seiner Wohnung, hörten nicht nur Beethoven, sondern auch Rachmaninoff und Grieg und sprachen über verschiedene Dinge – Politik, Liebe, Flüchtlinge, Ereignisse aus dem Berufsalltag und auch Situationen aus den Biographien der Komponisten, die wir hörten. Aber ich kann mich noch sehr genau daran erinnern, dass ich mindestens dreiunddreißig Mal auf den Packen Papier auf dem Beistelltisch sah, der seine Erzählung enthielt.

Nach fünf gemeinsamen Stunden verabschiedete ich mich – wie fast immer, wenn wir den Abend zusammen verbrachten, gegen halb zwei Uhr morgens und ging etwas müde, aber ungewohnt neugierig nach Haus. Ich sagte mir, dass ich die Geschichte auch in Ruhe am Wochenende lesen könne oder viel später; denn er hatte mir keine Frist gesetzt; im Gegenteil: Sagte nur: „Lies sie irgendwann, wenn du Zeit, Lust und Muße dazu hast! Das Leben ist lang genug. Es eilt nicht.“

Ich las sie, kaum zu Hause angekommen, in der gleichen Nacht noch durch – immerhin sechzig eng beschriebene DIN A4-Seiten – und war … erschüttert. Ich denke, das ist der richtige Ausdruck. Ich weiß noch, dass mir am Schluss – der Morgen graute bereits und meine Augen taten weh – Tränen über die Wangen flossen, bevor ich im Sessel einschlief. Es war nicht die Geschichte, die mich rührte oder tragisch geschrieben war. Es war die Tatsache, dass ich in und zwischen den Zeilen einen Menschen erkannte, der fälschlicherweise auf diese Welt geraten war – wie ein Fisch, den man mit einer Schaufel aus dem Wasser ans Ufer wirft und ihm beim Sterben zusieht. Am Anfang versucht er noch Sauerstoff durch seine Kiemen in seinen Körper zu ziehen; doch werden die Bewegungen schnell langsamer, bis sie nur noch sporadisch erfolgen und schließlich ganz aufhören – die Augen gebrochen und der Körper leblos.

Ich möchte jetzt über Alvor nichts weiter schreiben. Aber aufgrund dessen, was ich über ihn geschrieben habe, soll dem Leser seiner letzten Erzählung klar sein, warum ich es auf mich genommen habe, sie zu veröffentlichen. Ich weiß nicht, ob Alvor es gewollt hätte, dass ich seine letzte Erzählung veröffentliche. (Es wurde übrigens nie etwas von ihm veröffentlicht.) Auch darüber haben wir uns später unterhalten: Schreiben, Veröffentlichen, Lesungen, Vorträge, Gastprofessuren, Autogrammstunden, das Leben als Schriftsteller, runde Häuser auf einsamen Inseln.

Nun befinde ich mich in dem Zwiespalt ein Freund zu sein oder einen Kameraden zu verraten. Doch nach allem, was ich über Alvor weiß, mit ihm erlebt und besprochen habe, bin ich zu der ewig zweifelnden Überzeugung gekommen, dass ich diesen Schritt gehe und seine letzte Erzählung einem Publikum zugänglich mache, weil ich es für meine Pflicht als Freund halte – weil ich diese Erzählung für augenöffnend halte – weil ich Alvor für seine Natur und seinen Charakter geliebt habe – weil ich diese Erzählung nicht verschweigen möchte (was er konnte) – weil die Menschen, die es interessiert, sie lesen sollen – egal, was sie dabei denken und empfinden – weil das das Wesen der Literatur ist: Jemand schreibt und andere lesen es. Alvor ist vorbei und gegangen. Und ich brauche auch nicht mehr lange. Und wenn ich es jetzt nicht tue, wird es niemand jemals mehr tun können. Es sind schon zu viele Schriften aus verschiedenen Gründen untergegangen. Alvor wäre das egal gewesen. Aber mir ist das nicht egal. Ich möchte nicht sterben ohne diesen Schritt getan zu haben.

Deshalb wünsche ich jedem Leser, der auf diese Erzählung stößt, das, was man jedem Leser wünschen kann, der auf etwas Außerordentliches trifft: Erfreue dich an deiner Entdeckung! Und wisse, dass du nicht allein bist auf dieser Welt, auch wenn es oft so aussieht!

Teil 1

Überraschungen

Ich wurde nicht gefragt.

Es begab sich aber zu der Zeit, als ein schnellstes Spermium meines Vaters mit einer wie zufällig am Wegesrand dastehend wartenden Eizelle meiner Mutter verschmolz. Und schon ging die ganze Scheiße los.

Ich begann mich zu teilen. Und die beiden ersten Zellen sahen sich gegenseitig etwas blöd und überrascht an, nachdem sie sich entdeckt hatten – die erste Notgemeinschaft. Seitdem kämpfe ich mit den Allüren eines schizophrenen Zwei-Seelen-wohnen-ach-in-meiner-Brust-Opfers. Ich wurde hineingespült in eine Welt, die ich mir nicht ausgesucht hatte. So viel Lärm, so viel blendendes Licht, so viele Auseinandersetzungen und Probleme – das hatte ich mir anders vorgestellt.

Ich wollte zurück. Aber ein Zurück gab es nicht; und zu einer eidesstattlichen Erklärung fehlte mir die juristische Selbstbestimmung – und außerdem noch eine Hand, mit der ich hätte unterschreiben können. Schreiben hatte ich auch noch nicht gelernt. Also alles in allem ein sinnfreies Unterfangen.

Ich teilte mich brav weiter und wuchs langsam heran, bekam an der Ausgabe die vorgesehene Ausrüstung, die ich neugierig begutachtete und mich dabei fragte, wozu man diese Dinge verwenden könnte. Da war zum Beispiel dieses große, dunkelrote Organ – Leber nennen sie es, das da an meine rechte, untere Seite gepappt wurde und sofort seine Arbeit aufnahm. Ich schaute eine Weile zu, wandte mich aber kurz darauf andern Dingen zu. Schließlich betrachtet man selbst einen Regenbogen nicht länger als fünfzehn Minuten. Es sollte noch viele Jahre dauern, bis ich den Wert dieses Werkzeugs erkennen und ihm für seine enormen Dienste dankbar sein würde.

Am lustigsten fand ich aber die Aushändigung von Augen und Ohren. Endlich konnte man hier in dem ganzen Brei etwas erkennen, auch wenn es nicht mit der Klarheit geschah, mit der ich später draußen in die Welt schaute. Und endlich konnte ich auch etwas mit den Ohren vernehmen. Endlich nicht mehr in diesem lautlosen Dunkel umherschweben und nur die sanften Stöße auf der Haut wahrnehmen, sondern endlich sehen und hören.

Ich stellte mir jetzt schon die hübschen Mädchen vor, die an mir vorübergehen und mich verschämt und verschmitzt anlächeln würden. Woher das kam, weiß ich auch heute noch nicht. Es war einfach da – wie vorprogrammiert. Und ich begann, die Stimmen meiner Eltern zu hören, wobei ich schon früh feststellte, dass meine Mutter eine Menge mehr von sich gab als mein Vater. Sie quatschte mit allen möglichen Leuten, die vorbeischauten und etwas mitbrachten oder sich einfach nur so erkundigen wollten, wie es ihr ginge. Mein Vater war da eher der schweigende Genießer. Er sprach wenig. Antwortete nur, wenn er gefragt wurde und schien die wenige freie Zeit, die ihm zur Verfügung stand, mit stillem Lesen oder Musikhören zu verbringen.

Und das war das Beste, was mir in meinem ganzen Leben passiert ist: Er hörte Platten mit Musik von Mozart, Bruch, Mendelssohn und Beethoven. Da er selbst in seiner Jugend Violine spielen gelernt hatte, hörten wir natürlich vorzugsweise Streichmusik. Aber es mischte sich auch mal eine Schubert-Sinfonie oder ein Händel-Chor unter die Leute. Und so kam ich bereits sehr früh in den Genuss dieser besonderen Art der Kontemplation, wofür ich meinem Vater ewig dankbar sein sollte – naja: Ewig eben nur, solange ich lebe. Da hört die Ewigkeit auch schon wieder auf.

Aber ich war bei den Organen und dem ganzen Klumpatsch, der mir überreicht wurde, und den ich nun eine ziemlich lange Zeit mit mir herumtragen sollte. Die nächsten Notgemeinschaften also, die ich mir nicht ausgesucht hatte. Ein Herz, das unablässig Radau machte und überhaupt nicht mehr aufhörte, das Blut durch meinen Körper zu pumpen und dabei ein Rauschen erzeugte, das sich anhörte, als würde jemand direkt über meiner Schädeldecke im ruhigsten Moment einer stillen Nacht die Dusche aufdrehen und in den nächsten sieben Monaten nicht mehr darunter hervorkommen – die Sau.

Als Weiteres ein Magen, der mir am komischsten vorkam. Ich wusste noch nicht, wofür er da sein sollte. Aber er machte schon so seltsame Bewegungen, als ob er mir irgendetwas mitteilen wollte – nach dem Motto: Spiel mit mir oder schenk mir was! Aber lass mich nicht allein!

Und ganz attraktiv, aber genauso rätselhaft wie der Magen präsentierte sich mir etwas am unteren Rand meines Rumpfes – da, wo die Beine beginnen. Ganz undurchschaubar war mir die Existenz dieses Zipfels, der da nur so herumzuhängen schien wie ein Jugendlicher, der vor der Disko auch nur abhängt, weil er nichts Besseres zu unternehmen weiß. Ich sprach ihn an und schüttelte ihn ein paar Mal, nachdem er keine Antwort gegeben hatte. Aber nichts. Null Reaktion. Er pendelte nach meinen Attacken ein paar Male hin und her und nahm wieder seine herumhängende, abhängende Position ein. So ein arrogantes Arschloch, dachte ich. Aber vielleicht ist er auch noch nicht fertig und braucht noch ein bisschen Zeit. Vielleicht wachsen ihm ja auch noch ein paar Ohren und Augen. Er könnte mich sehen und erkennen und vielleicht auch mit mir sprechen. Also ließ ich ihn in Ruhe und wartete ab. Später stellte sich heraus, dass dieser Kamerad überhaupt nicht die lasche Pflaume war, als die er im frühen Stadium auf mich wirkte. Im Gegenteil: Er entpuppte sich zu einem der reghaftesten Mitglieder meiner körperlichen Notgemeinschaft und hielt mich viele Jahre auf Trab – ohne mich zu fragen, ohne auf mich Rücksicht zu nehmen, und ohne die Konsequenzen zu bedenken, die aus seinem Handeln entstehen konnten.

So. Und irgendwann war es so weit. Der große Moment. Ich bewegte mich automatisch durch die Gebärmutter in Richtung Ausgang, von dem ich vorher noch gar keine Ahnung hatte. Ich rutschte und pflutschte an glatten und feuchten Höhlenwänden entlang und sah auch bald schon die Öffnung, die das Tor zur Welt bedeuten sollte. Und – ta-taa!! Da war ich also: Ein nasses, zerknittertes Häuflein Elend, das die Augen zusammenkniff und übelgelaunt aus der Wäsche geschaut hätte, wenn ich welche angehabt hätte. So schaute ich nur übelgelaunt. Aber so lassen sie einen eben auf die Straße: Nackt und hilflos der großen, weiten Welt überlassen. Und vor allem: Ohne mich zu fragen. Eine Unverschämtheit!

Nach zwei Tagen Gewöhnungsphase, die sie mir zugestanden hatten, transportierte man mich vom Krankenhaus in ein gerade fertig gebautes, alleinstehendes Haus in einem Dorf in Norddeutschland. Dort warteten sechs neue Personen, die mich alle ziemlich neugierig und aufdringlich anschauten, als ob ich Scheiße auf dem Kopf hätte oder mir Gras aus den Taschen wachsen würde. Mein Vater hielt mich kurz auf dem Arm, gab mich aber schnell wieder ab, weil er Hunger hatte und das Essen auf dem Tisch stand. Als Nächstes kam meine Schwester dran, die als Älteste das Vorrecht genoss, mich von den Geschwistern als Erste zu halten. Ihr folgten meine drei Brüder – jeder einzeln. Von einem wurde ich zum anderen weitergereicht; und erst als ich zu verstehen gab, dass mich dieses ganze Bäumchen-wechsel-dich-Getue, um es deutlich zu sagen, ankotzte, legte mich meine Mutter, nachdem sie mich gesäubert hatte, in die parat stehende Wiege ab, wo ich erst einmal durchatmete, die Augen schloss und sofort in Schlaf verfiel – dem zweitschönsten Zustand nach dem Nichts.

Die nächste Notgemeinschaft, dachte ich. Familie nennen sie es. Natürlich hatte mich auch hier niemand gefragt. Es wurde einfach davon ausgegangen, dass ich gerne Teil dieser Sippe werden wollte; und wenn nicht gern, so mich doch zumindest schnell an sie gewöhnen würde. Das tat ich allerdings auch. Denn es hilft ja nichts, sich dagegen aufzulehnen, geschweige denn wegen einer solchen Lappalie eine Revolution anzetteln zu wollen. „Aussitzen“ war die Devise. Damit lässt sich so manches Problem lösen.

Und jetzt kann ich mich auch vorstellen. Denn meine Sippe hatte mich ein paar Wochen nach der Geburt taufen lassen. Dazu gingen sie mit mir in eine düstere, kalte Halle in der nahegelegenen Kleinstadt, in der am Ende des Raumes ein angsteinflößendes Becken stand. Mir war nicht wohl in meiner Haut. Denn erstens mochte ich dieses Verlies nicht, in das sie mich schleppten. Und zweitens hörte ich Worte wie „Altar“ und „Blut“, sah einen zu Tode gefolterten Menschen an der Wand hängen und erwartete im nächsten Moment den leibhaftigen Abraham mit seinem Schlachtemesser, der mir an die Gurgel wollte. Ich schrie.

Die anderen lächelten nur, was mir ihre Kaltblütigkeit vor Augen führte. Der Abraham nahm mit einer Kelle Wasser aus dem Becken und goss mir davon ein bisschen auf meine Stirn. „Was soll das denn?“, hätte ich ihn gefragt, wenn ich schon hätte sprechen können. Aber ich verkniff es mir und ließ es über mich ergehen. Er stammelte noch ein paar Worte, unter denen sich auch die für mich wichtigen befanden – meine Vornamen: Alvor Selve. Wer sich das ausgedacht hatte, wusste ich nicht. Aber wahrscheinlich waren meine Eltern nicht ganz unbeteiligt an der Sache. Wie kamen sie bloß auf diesen Namen? Welcher Schalk hatte sie da geritten? Welche Schicksalskräfte waren hier am Werke gewesen? Sei es drum! Sie hatten mir diesen Namen verpasst, und ich musste mit der nächsten Notgemeinschaft umzugehen lernen – weiter lernen zu akzeptieren, zu erdulden, jede Schmach zu ertragen und trotzdem meinen Stolz nicht zu verlieren. Wie beneidete ich den Sohn von G.W. Leibniz, der kurz nach der Geburt gestorben war, und dessen Intelligenz von seinem Vater daraufhin gelobt wurde, weil er die Welt schon erkannt hatte, ohne sie länger betrachten zu müssen, und das Leben in ihr als nicht lebenswert empfand und sich wieder verabschiedete. Aber mir waren die Mittel dazu nicht gegeben. Ich wusste noch nicht, wo der Schalter war. Aber ich nahm mir ab diesem Moment vor ihn zu suchen. Für den Fall der Fälle. Für den Notfall. Man weiß ja nie.

Ein Vorfall in dieser Richtung ereignete sich dann aber doch in meinem dritten Monat: Ich bekam Pseudokrupp und musste plötzlich in kürzester Zeit ins Krankenhaus gerast werden, weil ich zu ersticken drohte. Wahrscheinlich hatte ich intensiver über das Schicksal von Leibniz‘ Sohn nachgedacht und wollte es einfach mal ausprobieren. Hätte auch klappen können. Aber Eltern und Ärzte waren schneller – dieses Mal. Alle kamen mit einem Schrecken davon, und es ging normal weiter, als ob nichts gewesen wäre.

Die nächsten vier Jahre verliefen gar nicht mal so schlecht. Ich war von der Arbeit befreit, musste auch im Haus nicht viel helfen – dazu waren die Älteren verdonnert, sondern hatte nichts Anderes zu tun als gesund zu bleiben und zu wachsen. Ich konnte also ungestört meinen Lüsten frönen, die neben permanentem Fressen und Schlafen im Spielen bestanden. Manchmal beschäftigte sich der nächstältere Bruder mit mir, da wir zeitweise die gleichen Interessen hatten wie zum Beispiel Autos oder Lego. Doch da er mit weitaus weniger Geduld geboren worden war als ich, entfernte er sich bald wieder und ließ mich allein weiterfahren und bauen. Ich war ihm deswegen nicht böse. Schon damals war die Anlage in mir sehr ausgeprägt, am liebsten allein zu sein. Wahrscheinlich lag es daran, dass ich noch während meiner Entwicklung als Embryo das „Lasst mich allein“ von Antonin Dvořak gehört und es mir ausnehmend gut gefallen hatte. Es war mir damals schon aufgefallen, dass ich die Zeit am besten genießen konnte, wenn niemand neben mir war, der durch sein Gequatsche oder anderes Generve meine Ruhe und Konzentration störte. Ich konnte meinen Gedanken nachhängen, sorgsam über philosophische Probleme nachdenken und die Stille genießen, die ein Kind des Geistes braucht.

Ich hatte das erkannt, aber meine Eltern nicht. Einen Monat vor meinem vierten Geburtstag steckten sie mich in den Kindergarten, in dem auch schon mein nächstälterer Bruder seit einem Jahr vormittags weilte. Unabhängig davon, ob diese Bazillenzentrale und Einrichtung zur Gleichschaltung des Nachwuchses sich positiv oder negativ auf einen intelligenten Menschen auswirkt, rebellierte ich. Ich wollte nicht mit den anderen Kindern spielen. Ich wollte nicht am gemeinsamen Essen teilnehmen. Ich wollte nicht gehorchen. Und da ich dies nur durch bockige Bewegungslosigkeit zum Ausdruck bringen konnte, wurde beschlossen mich wieder nach Hause zu holen, nachdem eine Erzieherin, die damals noch Kindergärtnerin geschimpft wurde, meiner Mutter den Kommentar mit auf den Weg gab, dass ich ja ein ziemlich verwöhntes Einzelkind sei. Sie wusste nicht, dass ich vier ältere Geschwister hatte. Daher hätte sie lieber nichts sagen sollen. Denn Schweigen war schon nach meiner damaligen Überzeugung der goldene Weg. Und wenn sie schon etwas äußern musste (sie war ja eine Frau), hätte sie sagen müssen: „Ihr Sohn ist philosophisch veranlagt und hat Kontemplation nötiger als das wilde Geschrei, wie es bei uns hier herrscht.“ In diesem Fall hätte sie ihrem Berufsstand alle Ehre gemacht. Aber dazu war sie nicht in der Lage. Vielleicht schwänzte sie auch einen anderen Beruf. Wer weiß das schon? Man steckt in diesen Leuten ja nicht drin. Das wollte ich auch gar nicht. So gut sah sie nun auch wieder nicht aus.

Daher ist es vielleicht auch verständlich, dass ich von meiner Kindergartenzeit, die sich um ein Jahr verzögerte, auch keine andere Erinnerung bewahrt habe als die sinnlose Fingerfarbenschmiererei, die wir an den großen Fenstern veranstalteten, die zur Straße hinausgingen – und dass ich das, was die Kinder dort lernen sollten wie zum Beispiel eine Schlaufe binden, bereits beherrschte und mich zusätzlich langweilte. Und durch ein Foto, das wie viele Fotos so unsägliche Momente festhält, weiß ich, dass ich mich auf einer Karnevalsfeier äußerst unwohl fühlte, weil ich verkleidet dorthin gehen musste und als Cowboy eine dementsprechend unsägliche Figur abgab: den Rücken gebeugt, das Gesicht errötet und hasserfüllte Blicke auf meine Betreuerin abschießend, die das Foto schoss. So feuerten wir gegenseitig aufeinander wie im besten Duell.

Damals schon freute ich mich, wenn eine Sache zu Ende ging. Die Sehnsucht so vieler Menschen nach früheren Zeiten wie Kindheit oder Studium kann ich nicht nachvollziehen. Nur Idioten können sich zu einer Zeit zurücksehnen, in der sie unwissend waren und blöd irgendwelchen Befehlen der Eltern oder Professoren gehorchten. Das liegt vielleicht im Genom der deutschen Bevölkerung, dass sie lieber dient als sich selbst zu beherrschen lernt. Ich hatte zu der Zeit bereits ein anderes Bewusstsein entwickelt. Und als das letzte Mal die Tür dieser Anstalt hinter mir ins Schloss fiel, atmetet ich auf und sehnte mich dem Neuen entgegen. Adressen tauschte ich keine aus, denn von den Nasen, die mir ihre Gesellschaft aufgedrängt hatten, wollte ich keine wiedersehen. Zum Glück gab es damals auch noch keine Handys, die die Speicherung von Telefonnummern idiotensicher machten. Wenn mich irgend so ein Gör ansprach, sagte ich nur, dass ich noch Termine hätte und mich melden würde. Dazu lächelte ich kurz und nahm aber sofort wieder eine ernste Haltung ein, um keine weiteren Fragen aufkommen zu lassen. Ich wollte das alles einfach nur hinter mir lassen und so schnell wie möglich vergessen – ad acta legen, wie der reife Kindergartenabgänger sagt.

Erste Liebe, erste Rache

Danach begann etwas, was mich einmal wirklich weiterbrachte. Ich betrat den Pfad des Wissens und konnte endlich mit etwas anfangen, was mich für den Rest meines Lebens begeistern sollte. Es war natürlich nicht die Schule als Institution. In dieser Hinsicht erkannte ich sehr schnell, dass hier auch nur wieder das gleiche Schafescheren vonstattenging wie schon im Kindergarten. Nein. Es war die Eröffnung der Möglichkeiten, sich in allen erdenklichen Disziplinen auszutoben und Vorlieben zu entdecken. Die Welt des Wissens und Denkens vergrößerte sich auf einmal bis ins Unermessliche. Es gab so viel Neues zu lernen und zu sehen, zu bestaunen und zu begreifen, dass mir schier das Herz überging. Und das war auch der Grund, warum ich weniger unter der Notgemeinschaft litt als im Kindergarten oder in der Familie. Natürlich war ich auch hier wieder einer Mischpoche ausgeliefert, die ich mir nicht selbst ausgesucht hatte. Aber das tangierte mich ziemlich schnell nur noch peripher, da der Magnetismus des Lernstoffs alles Unangenehme wie eine sämtliche Dinge überschwemmende Flutwelle überdeckte und verschlang. Selbst der Wangenkuss eines in mich verliebten weiblichen Objekts ließ mich nicht schwanken, sondern den Vorfall schon in der nächsten Sekunde mit der linken Hand wegwischen.

Was mich aber schon störte, war die Langsamkeit, zu der wir schnelleren verdammt wurden. Die Notgemeinschaft des Klassenverbandes brachte es mit sich, dass wir immer da gebremst wurden, wo die anderen nicht mitkamen. Auf die Dauer nervte das und führte dazu, dass wir uns entweder gegenseitig ablenkten oder einzeln mit etwas beschäftigten, was nicht zum Lehrstoff des Unterrichts gehörte. Damals empfand ich diese Situation noch als störend. Heute weiß ich, dass es auch Vorteile hat; denn man kann andere Sachen erledigen, die man nicht auf den Nachmittag zu schieben braucht. Man kann etwas Neues für sich entdecken und mehr erfahren als die Langsamen. Man kann auch seinen Gedanken nachhängen, solange die anderen noch in der Aufgabenbewältigung stecken, die man bereits abgeschlossen hat. Daher bin ich heute sehr zufrieden mit diesem Umstand. Ich habe im Laufe meiner Schul- und Studienzeit eine Menge Dinge entdeckt, die den meisten anderen bis heute verborgen geblieben sind. Und ich habe die Möglichkeit gehabt, noch mehr zu lesen, mehr zu lernen, mich mit noch mehr Fragen zu beschäftigen.

Diese Tatsache ist insofern von Belang, da es mir nach dem Schock durch die Notgemeinschaften zeigte, dass es auch eine Welt der Wahl und des Ablehnens gibt – also neben der Schule und der Familie eine Parallelwelt, in der es nur mich und das andere gab, also keine Person, die mir reinredete, mich störte oder einen Kompromiss verlangte. Denn jeder Kompromiss ist faul und stinkt.

Das betrifft an erster Stelle den Bereich der Musik. Ich hatte schon erwähnt, dass zu den ersten Dingen, die ich mit meinen erworbenen Ohren vernehmen konnte, Kompositionen von Beethoven und Mendelssohn gehörten. Nun drückte man mir eine Sopranflöte in die Hand und ließ mich probieren. Ich probierte, bestand und siegte. Von diesem Zeitpunkt ab flötete ich durch meine gesamte Schulzeit, wann immer es mir passte und was immer ich gerade spielen wollte. Bach und Händel hatten da immens vorgearbeitet, so dass die Auswahl unermesslich schien. Es kamen später auch Alt- und Querflöte sowie Klavier hinzu, auf dem ich mich noch auf andere Weise austoben konnte.

Was allerdings auch wieder dazu kam, waren neue Notgemeinschaften. Und die Querflöten- und Klavierlehrerinnen überlebte ich nur – oder überlebten nur, weil ich dem Instrument zu sehr zugetan war als Medium, um in die andere Welt zu kommen. Hätte diese Anziehung nachgelassen, hätte es mindestens eine Leiche gegeben. Aber auch das hatte ich inzwischen gelernt: Alles hat einmal ein Ende. Und wenn man schon in frühester Embryonalphase seine Ausdauer und Geduld trainiert, erscheinen einem die späteren Herausforderungen als Kinderspiel, auch wenn es manchmal ein paar Jahre dauert, bis ein unbefriedigender Zustand wie die Schulzeit stirbt. Aber wie schon geschrieben: Flöte und Klavier konnte ich mir aussuchen. Und niemand zwang mich, damit weiterzumachen. Es waren keine Notgemeinschaften. Es sind Möglichkeiten, durch die ich immer wieder hinüberreisen kann, wenn mir wieder einmal diese eine Welt zu öde und nichtssagend erscheint.

Und was noch mit dem Eintritt in die Grundschule einherging, war die Bekanntschaft mit einem braunen Hundewelpen, den wir von einer Nachbarin bekamen, weil sie zu viele davon hatte. Wir wurden gefragt und entschieden uns dafür. Eigentlich sollten sich alle Kinder um den neuen Mitbewohner kümmern. Aber es stellte sich schon nach wenigen Wochen heraus, dass ich der einzige bleiben sollte, der regelmäßig mit ihm spazieren ging oder im Garten spielte. Es war der Anfang einer wunderbaren Freundschaft – der einzigen, die ich in meinem Leben haben sollte. Denn nachdem Tro – diesen Namen hatte ich dem Hund gegeben – gestorben war, suchte ich mir keinen neuen mehr. Zum einen lebte ich nach seinem Tod in großen Städten und arbeitete fast den ganzen Tag, so dass er die meiste Zeit alleine gewesen wäre, und ich ihm auch das Stadtleben nicht zumuten wollte. Zum anderen waren Menschen und andere Tiere nicht in der Lage, einer wahren Freundschaft gerecht zu werden – abgesehen vielleicht von einem Pferd. Aber die Erfahrung hatte ich nie gemacht.

Was übrigens auch schön an der Ausdauer und Geduld ist, zeigte mir ein Vorfall auf dem Schulhof. Als Achtjährigem wurde mir einmal auf einer Geburtstagsfeier eines Nachbarjungen von dessen Cousin ein Schlag in die Magengrube verpasst. Warum er das tat, weiß ich bis heute nicht. Wahrscheinlich war er auf irgendetwas eifersüchtig und schlug ohne Vorwarnung zu, weshalb ich den Schlag auch in keiner Weise abwehren oder abmildern konnte. Ich lief verstört nach Hause und wollte auch nicht mehr zurück auf die Feier. Zwei Jahre später ergab sich die Gelegenheit, ihn zur Rede zu stellen. Er leugnete und lachte nur. So etwas mochte ich noch nie.

Ich war inzwischen aber um einiges gewachsen und hatte angefangen meinen Körper zu trainieren, so dass ich meinem um ein Jahr älteren Widersacher nun ebenbürtig war. Da ich keine Lust hatte, mit ihm lange zu diskutieren, schlug ich ihm einfach ein paar Male ins Gesicht und in den Magen, bis er blutend auf den Boden sank und wimmerte. Seltsamerweise machte er keine Anstalten sich zu wehren. Zumindest nahm ich seine schwachen Armbewegungen nicht als Abwehr, geschweige denn Kampfposition, wahr. Er rief auch nicht nach einem Lehrer. Und es kam auch keiner. So dachte ich nur: Ende gut, alles gut. Ich hatte mich gerächt. Und er hatte verstanden.

Am Ende der Grundschule, also in der vierten Klasse, lernte ich – zum Glück erst einmal nur für kurze Zeit – eine Notgemeinschaft kennen, die mir später noch viele Unannehmlichkeiten, viel Kopfzerbrechen und noch mehr Herzschmerz bereiten sollte. Die Notgemeinschaft hieß Hormone. Und der erste Herzschmerz hieß Katrin, Katrin Bruse.

Was zieht einen Jungen von zehn Jahren an einem gleichaltrigen Mädchen an? Ich bin mir auch heute noch nicht sicher. Aber es musste etwas sein, was andere Mädchen nicht haben. Sonst wäre er ja von allen Mädchen angezogen. Gut: Solche Jungen gibt es auch. Das scheint mir aber eher krankhaft zu sein und auf Dauer auch mächtig auf die Eier zu gehen, wenn man pausenlos begatten möchte. Bei mir war es eben nur Katrin. Vielleicht war es ihr Gesicht, das mich ansprach. Denn das Gesicht hatten andere nicht. Wahrscheinlich war es auch ihre ruhige und zurückgezogene Art, mit der sie die Dinge anging und alles erlebte. Sie wohnte mit ihrer Mutter und ihrer Großmutter außerhalb des Ortes in einem allein stehenden Haus am Waldrand. Die anderen Dorfbewohner nahmen daher auch keinen Kontakt zu ihnen auf und erzählten sich nur Geschichten, die irgendjemand erfand, wenn man sich sonst nichts zu erzählen hatte. Das war ja alles noch zu einer Zeit, in der die Leute sich noch nicht von ihrem eigenen Zeiteisen hetzen ließen – so wie heute, da fast alle meinen, immer etwas zu tun haben zu müssen, um vor sich selbst als etwas zu gelten. Das Gute daran ist allerdings, dass die Leute daher auch nicht mehr so viel Zeit haben, Gerüchte über andere zu ersinnen und zu verbreiten. Die Nachbarn sind einfach egal geworden, weil es immer etwas Dringenderes gibt als sich das Maul zu zerreißen – entweder das Fitnessstudio auf dem Programm steht oder der eingeredete Sexualtrieb auf einer Ü30-Party ausgelebt werden muss.

Wie gesagt: Ihre ruhige Art unterschied sie von den anderen Mädchen, die nur mädchenhaft herumkicherten und sich über ihre Hanny-Nanny-Geschichten austauschten. Ich erkannte ein bisschen von mir in ihr, was uns bekanntlich anzieht; und so möchte ein Geselle gern in der Nähe einer Gesellin sein, wenn er etwas Gleiches in ihr entdeckt. Wir sahen uns nachmittags allerdings nicht oft. Wenn der Unterricht vorbei war, fuhren wir noch gemeinsam mit dem Schulbus nach Hause. Ich stieg zwei Stationen vor ihr aus, ging zum Mittagessen nach Hause, machte meine Hausaufgaben und verschwand entweder zum Handballtraining oder ging mit Tro über die Felder am Rande des Dorfes, ließ mir dabei Zeit und las unterwegs meistens ein Buch, während Tro nach fiktiven Mäusen grub oder die Krähen auf dem Acker jagte. Seltsamerweise ist mir nie der Gedanke gekommen, dass ich Katrin hätte besuchen können. Ich fühlte mich mit Tro in meiner Nähe zufrieden. Natürlich dachte ich regelmäßig an sie, stellte mir vor, was sie gerade machen würde und freute mich auf den nächsten Tag, an dem ich sie in der Schule wiedersehen würde. Aber ein spontaner Besuch entsprach damals nicht meinem Naturell. Und auf eine Einladung ihrerseits konnte ich ewig warten. Sie traf sich nie mit anderen – warum auch immer. Wie sollte ich da erwarten, dass sie mich ansprechen würde?

Allerdings erschien sie eines Tages – es war Winter – an unserer Haustür. Ich hatte auf ihr Klingeln hin geöffnet und blickte überrascht in ihr