Liv im Lügenland - Holger Kiefer - E-Book

Liv im Lügenland E-Book

Holger Kiefer

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Beschreibung

Liv Rugel, eine alleinstehende, kinderlose, einundvierzigjährige Frau begibt sich mit Lumlee, einem Jack-Russell-Terrier, auf eine Wanderung durch verschiedene Länder, deren Namen nicht existieren, die aber an reale Länder erinnern. Sie begegnet einzelnen Menschen und Bevölkerungen, die sich durch bestimmte Lügen und Ungerechtigkeiten auszeichnen. Nachdem Liv und Lumlee immer wieder weiterziehen, weil sie in diesen Ländern nicht länger leben möchten, erreichen sie endlich ein Land, in dem sie sich wohlfühlen und bleiben wollen.

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für Lumlee

Dass mir der Hund das Liebste sei,

sagst du, o Mensch, sei Sünde.

Der Hund blieb mir im Sturme treu,

der Mensch nicht mal im Winde.

(Franz von Assisi)

„Die Wahrheit ist schwach unter den Menschen.“

Holger Kiefer

Liv im Lügenland

© 2021 Holger Kiefer

Autor: Holger Kiefer

Verlag & Druck: tredition GmbH

Halenreie 40-44

22359 Hamburg

978-3-347-29400-4 (Paperback)

978-3-347-29401-1 (Hardcover)

978-3-347-29402-8 (e-Book)

Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages und des Autors unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.

Inhalt

Kapitel 1 – Täuschland

Kapitel 2 – Drei Träume unterwegs

Kapitel 3 – Stussland

Kapitel 4 – Schwindeleiz

Kapitel 5 – Östmärreich

Kapitel 6 – Lugonien

Kapitel 7 – Trugatien

Kapitel 8 – Angekommen

Kapitel 1 – Täuschland

Menschen sind Lügner. In der Biologie würde man diese Tierart als homo mendax bezeichnen – als den lügenden Menschen. Um zu diesem Schluss zu kommen, muss man sie weder erst zwanzig Jahre kennen gelernt haben noch einer ihrer Götter sein. Die Lüge und der Mensch sind auf gleiche Art miteinander verbunden wie die Änderung der Hautfarbe mit dem Chamäleon oder Form und Farbe der Wandelnden Blätter, die zu keiner Pflanze gehören.

Warum Menschen lügen, ist schnell beantwortet: Sie wollen sich in ein positiveres Licht rücken, haben Angst vor Konsequenzen, sind feige und scheuen die Verantwortung, vertragen die Wahrheit nicht, verfügen über falsche beziehungsweise keine Informationen oder sind von allen sechs Schwächen gleichzeitig befallen wie ein gestorbener Patient mit multiplen Vorerkrankungen.

Die Fakten zu diesem Reisebericht wurden von mir – Liv Rugel – in verschiedenen Ländern während meines einundvierzigsten Lebensjahres zusammengetragen und verwertet. Bei den Erlebnissen wurde ich von meinem treuen Freund Lumlee begleitet, einem Jack-Russell-Terrier, an dem ich neben seiner sprichwörtlichen Treue auch seinen Mut, seine Ehrlichkeit und seine Ausdauer bewundere. Dass ich mir als Frau diesen Reisebegleiter auswählte, hängt damit zusammen, dass ich seine Eigenschaften bei keinem Menschen gefunden habe, weder bei einem Mann noch bei einer Frau. Und da diese Eigenschaften nicht nur im alltäglichen Leben, sondern besonders auf einer Reise eine wichtige Rolle spielen, machte ich Lumlee, nachdem ich ihn kennen gelernt hatte, ohne Umschweife zu meinem einzigen Vertrauten. Aber auch er schien mich zu mögen und mir zu vertrauen; das bewiesen einige Situationen, von denen ich noch berichten werde.

Wir hatten keinen genauen Plan gemacht, welche Route wir nehmen wollten oder sollten. Ich packte meinen Rucksack und steckte ein paar seiner Lieblingswürste ein. Alles andere, was wir bräuchten, bekämen wir unterwegs. Ich hatte Geld gespart und auch vor, eventuell an einigen Orten zu arbeiten, wenn es knapp werden sollte. Denn bei der Arbeit lernt man die Menschen anders kennen als am Strand oder in der Kneipe. Außerdem bekommt man Geld, das man gleich wieder ausgeben kann ohne die Reisekasse anzufressen – weder Lumlee noch ich. Und es begab sich auch so; manchmal in recht ungewöhnlicher Weise, die sowohl Lumlee als auch mich überraschte. Aber dazu, wenn es so weit ist.

Wir gingen die erste Etappe zu Fuß, denn bis ins nächste Land war es nicht weit. Innerhalb eines Tages erreichten wir die Grenze und überschritten sie bei Sonnenuntergang. Wir hatten Täuschland erreicht und waren froh, einen sehr gemütlichen Gasthof gefunden zu haben, der idyllisch vor einem See lag und auch über eine Pferdekoppel verfügte. Das bedeutete: Ein tierfreundliches Wirtepaar, das keine Stöckelschuhe trug und die Nase rümpfte, wenn Lumlee ohne zu fragen an die alte Eiche im Hof pinkelte. Abgesehen davon konnten wir auch mit gleichgesinnten Gästen rechnen, die auch nur ohne jeglichen Stress ausruhen und sich über nichts aufregen wollten. Sonnenbebrillte und Dumpfbraungegrillte gab es hier nicht. Das war ein gutes Omen und ein gelungener Tag, der auf Ähnliches hoffen ließ. Wir waren bei Sonnenschein und milden Temperaturen gewandert, hatten uns über verschiedene Dinge gefreut, Rast eingelegt und andere Reisende getroffen, von denen Lumlee – ich habe es genau gesehen – die eine oder andere auch mal schnell hinter einem Strauch beglückt hat. Ich hoffe nur, dass die Besitzer, wie sie sich nennen, keine Panik-Attacke erleiden, wenn ihr Hündchen einen dickeren Bauch bekommt.

Da war auch schon die erste Lüge: Menschen besitzen Hunde nicht, auch wenn sie sie kaufen und es behaupten. Ich gäbe mich nie als Lumlees Besitzerin aus – natürlich nur vor dem Gesetz. Wir waren Partner, Reisegenossen, Mitbewohner, Freunde, Vertraute. Und einen Vertrauten oder Freund besitzt man ja auch nicht. Oder fragt jemand: „Wie viele Freunde oder Kinder besitzen Sie?“ Nein. Man fragt: „Wie viele Freunde haben Sie?“ und ‚haben‘ ist nicht ‚besitzen‘, auch wenn das viele glauben und verwechseln. Ich sage vielleicht: „Das ist mein Hund.“ Oder „Das ist mein Kind.“ Aber es ist nicht mein Besitz. Und dann stellt sich die Frage: Was darf ich machen? Wozu habe ich das Recht?

Ich habe meinen Vater immer dafür geliebt, dass er mich ausprobieren ließ. Und ich habe meine Mutter immer dafür gehasst, dass sie mir vorschreiben wollte, was ich zu tun hatte.

Die nächste Lüge: „Ich liebe dich. Ich möchte nicht, dass dir etwas passiert. Ich möchte nicht, dass dir die gleichen Fehler widerfahren wie mir. Ich möchte, dass du glücklich wirst.“ Das Problem an der Sache ist nur: Viel zu viel ‚ich‘ (Mutter) und viel zu wenig ‚du‘ (Tochter/Sohn). Die zweite Person fast immer nur als Objekt, nie als selbst handelndes Subjekt. Das egoistische Subjekt immer nur die Mutter. Mein Mann, mein Sohn, meine Tochter, mein Hund, mein Auto, meine Gefühle, mein Leben – mein, meine, mein (hier wirklich als besitzanzeigendes Pronomen gemeint). Zum Glück lebt meine Mutter nicht mehr. ‚Mein Begräbnis‘ war das letzte, worüber sie sich Gedanken machen konnte. „Mein Wille geschehe!“ Und ja: Es war auch dein Wille, der geschah, Mutter – dein letzter.

Aber Lumlee und ich denken anders, Mutter. Er bleibt, so lange er will oder kann. Und ich bleibe, so lange ich will oder kann. Er bei mir. Ich bei ihm. Wir zusammen. Oder getrennt mit anderen. Oder allein. Wie auch immer: Ich liebe meinen Vater – und Lumlee.

Zurück zur Wirtschaft in Obertäuschland! Als wir ankamen und vor der Tür standen, las ich auf dem Holzschild über dem Eingang: „Das Leben ist kurz. Genießen Sie es bei uns! – Herzlich willkommen!“ Vielleicht sollte man diesen Spruch nicht gleich als Lüge abtun; er verrät jedoch eine gewisse Dummheit der Menschen, die ihn aussprechen.

Mein Leben kommt mir mit Anfang vierzig schon ewigwährend vor. Wenn ich an meine frühe Jugend zurückdenke, glaube ich fast mit einer Zeitmaschine im Mittelalter gelandet zu sein: Konfirmationsunterricht, kleinbürgerliche Nachbarschaftsstreite, Fremdenhass und ein überholtes Schulsystem – Fehlinformationen, wohin man blickte. Und wenn ich gar an meine Kindheit denke, kommt es mir vor, als lebte ich bereits zwanzigtausend Jahre. Was habe ich nicht alles gemacht und erlebt! Dreißig Jahre Ausbildung, genauso viele Auslandsreisen, sechs Sprachen angeeignet, genauso viele Sportarten intensiv betrieben, Schach und drei Instrumente spielen gelernt, drei Haupt- und fünf Nebenjobs gehabt, genauso viele längere respektive kürzere Beziehungen verlebt und viel zu viele Menschen kennen gelernt und neben den nützlichen auch viel zu viele unnütze Bücher gelesen, fünfhundert Briefe und ebenso viele Gedichte geschrieben. Und in den vergangenen Monaten hatte ich immer häufiger auch das Gefühl, schon viel zu viel Luft weggeatmet zu haben.

Wie viel habe ich schon gegessen und danach auch wieder ausgeschieden! Tonnen! Wie viel Handcremes und Wasser habe ich verbraucht, ganz abgesehen von all den anderen Produkten, die während meines Lebens verbraucht wurden – verbraucht werden, weil ich lebe. Wie viele Tiere mussten sterben! Ach, ich liebe Hühnchen mit krosser Haut oder ein saftiges Hüft- oder Nackensteak. Und wahrscheinlich sind auch einige Menschen dabei draufgegangen, weil sie meine Bluse herstellten und ihre Fabrik in Flammen aufging, ohne dass alle Mitarbeiterinnen gerettet werden konnten. Ach, ich liebe diese günstigen, leichten Blüschen mit Blumenmuster. Und in Afrika sind bestimmt auch schon Leute verhungert, weil ihr Fisch auf meinem Teller landete und nicht auf ihrem, da mich die Fischfänger und Fischverkäufer angelogen haben; denn der Fisch aus dem Nordatlantik stammte in Wirklichkeit von der Küste Liberias. Naja, wollen wir bei den geografischen Angaben mal nicht so pingelig sein! Schließlich sind Berlin und Paris für US-Amerikaner auch nur zwei Städte, die in dem gleichen Land liegen – nämlich in Österreich.

Aber das betrifft schon wieder andere Lügen. Ich war ja bei der Kürze des Lebens. Und das stimmt eben nicht. Das Leben ist lang genug. Man darf halt nicht nur an den Bausparvertrag und später denken, sondern an das jetzt und vielleicht noch an das Übermorgen. Und man sollte sich auf jeden Fall mit Geschichte befassen, so viel wie möglich. Denn da ich mich sehr intensiv mit Geschichte befasst habe, lernte ich mein Leben um ein Vielfaches zu verlängern. Ich habe jahrelang mit Beethoven und Mozart in Wien gewohnt, war mit den deutschen Panzerfahrern in Kursk und Charkow, habe Erasmus von Rotterdam und Luther über die Schulter geschaut, Seneca, Marc Aurel und die Spiele im Kolosseum besucht. Meine Lieben! Christen können wirklich brennen. Ich habe das Geheimnis der Zyklopen gelüftet und bin mit Magellan um Südamerika geschifft (teilweise wirkliches Sauwetter) und Vieles mehr.

Vielleicht stellt sich mir das Leben deswegen so lang dar, weil ich schon als Kind damit anfing und meine Phantasie mich in jene Zeiten versetzte und ich meine reale Umgebung vergaß. Ich habe auch nie lange auf irgendetwas gewartet, sondern die Zeit, in der ich bestimmte Wünsche noch nicht erfüllt sah, mit Lernen, Beobachten und Kreativität verbracht und so statt aktiver eine Menge passiver Erfahrung gesammelt, während andere sich vielleicht zum zehnten Mal an der Muschi gerieben oder vor dem Spiegel geschminkt haben. Während sie dummdösig von ihrem Prinzen träumten, bin ich mit König Artus durch Wälder geritten und habe Kreon zustimmend ins Ohr geflüstert.

Lumlee und ich fanden, nachdem wir durch die Tür mit diesem seltsamen Spruch gegangen waren, freundliche Aufnahme bei dem Wirtspaar. Natürlich wollten sie von Lumlee gleich Vieles wissen – von mir allerdings auch. Und während er und ich das erste große Essen nach einem anstrengenden Tag genossen, erzählte ich ein bisschen von ihm und mir, damit sie uns wohl gesonnen blieben.

Ich erkundigte mich meinerseits nach anderen Gästen, die zurzeit ihre Nächte hier verbrachten. Nach Angaben der Wirtsleute waren gerade eine Familie mit zwei Kindern aus Braunschweig, ein Pärchen aus Italien und drei Alleinreisende da – ein Deutscher, ein Pole und eine Ungarin. Ich hoffte nur, dass die Kinder stubenrein und zur Stille erzogen waren und keine Scherereien machen würden, weil ich sie sonst in dem nahen See hätte ertränken müssen. Aber wie sich am nächsten Tag herausstellte, war alles in seiner Ordnung, und nichts trübte Lumlees und meine Gewässer der Ruhe.

An einen Vorfall erinnere ich mich immer sehr schnell, wenn ich an unseren Aufenthalt in diesem Gasthof denke. Am ersten Nachmittag saß ich gerade mit den Gedanken Blaise Pascals beschäftigt auf einer der Holzbänke am See, als hinter mir ein Geschrei unter den Kindern aus Braunschweig begann. Sie schienen um irgendetwas zu streiten; ich konnte aber nicht gleich verstehen, worum es ging. Sofort war die Mutter da, um sich darum zu kümmern. Das schien mir auch richtig so. Ich hatte überhaupt keine Lust mich um die Probleme fremder Kinder zu kümmern, sondern hoffte nur auf baldiges Versiegen der Stimmen. Doch da Lumlee plötzlich aufgestanden war und in verhaltenem Trab zur Szene lief, stand ich auf, um ihn wieder zurückzuholen. Und so bekamen wir die ganze Auseinandersetzung mit.

„Amelie hat meine Schokolade eingesteckt und will sie mir nicht wiedergeben.“, klagte der kleine Leo.

„Das stimmt ja gar nicht. Leo lügt.“, sagte Amelie verteidigend.

„Lügst du etwa wieder, Leo?“, fragte die Mutter. „Du weißt doch, dass man das nicht macht.“

„Nein. Ich lüge nicht. Amelie hat meine Schokolade geklaut. Ich hatte sie in meiner Jacke. Und die hing über dem Stuhl. Als ich sie wieder anziehen wollte, war die Schokolade weg.“

Als die Mutter Lumlee sah, lenkte sie die Aufmerksamkeit auf ihn. „Vielleicht hat sie ja der kleine Hund genommen. Amelie klaut doch nicht. Sie ist deine Schwester und tut so etwas nicht. Nicht wahr, Amelie?“ Amelie nickte eifrig.

Ich wollte gerade etwas zu dieser Bemerkung sagen. Doch Lumlee schien selbst verstanden zu haben, was die böse Frau da behauptete. Er lief zu dem Mädchen und sprang mehrmals neben ihr hoch und berührte dabei jedes Mal mit seiner rechte Pfote ihre rechte Kleidtasche.

„Was soll denn das?“; fragte die Mutter empört. „Nehmen Sie Ihren Hund da weg!“

Darauf antwortete ich: „Er möchte ihnen nur etwas zeigen. Schauen Sie doch einfach mal in der Kleidtasche Ihrer Tochter nach!“

„Was?“ Die Mutter tat beleidigt, kam meinem Vorschlag aber nach, auch wenn ihre Tochter sich ein bisschen zierte. Und siehe da: Aus der Tasche kamen zwei große Schokoladekugeln zum Vorschein – eine für Amelie, eine für Leo.

„Amelie!“ Die Mutter sah ihre Tochter vorwurfsvoll an. „Ich bin enttäuscht von dir.“ Diese rannte schluchzend davon.

Lumlee war inzwischen zu mir gekommen und hatte sich neben mich gesetzt, die ihn belohnend streichelte. Leo kam seine Schokolade auswickelnd auf uns zu, hockte sich neben Lumlee und bot ihm die Hälfte seiner Kugel an. Lumlee schaute kurz zu mir auf. Ich nickte, und er nahm das Geschenk vorsichtig an.

„Du bist ein toller Hund.“, sagte Leo. „Wie heißt er denn?“

„Lumlee“, sagte ich.

„Lumlee, mein Freund.“, sagte Leo und streichelte ihn. Nach einer kurzen Weile fragte er: „Darf ich ein Stück mit ihm spazieren gehen?“

„Da musst du Lumlee fragen. Wenn er will…“

„Darf ich, Mami?“

„Die Mutter überlegte eine Weile, sah aber wohl keine kampfbeißerische Gefahr in meinem freundlichen Begleiter und gab ihr Einverständnis. Und Lumlee hatte auch nichts dagegen. So verschwanden die beiden neuen Freunde für eine knappe Stunde und gingen gemeinsam um den See herum.

Beim Abendessen saß die Familie wieder vermeintlich einträchtig um ihren Tisch herum und verhielt sich ruhig und gelassen. Alles schien besprochen und geklärt zu sein.

An diesem Abend machte ich auch die Bekanntschaft von Ildikó, der alleinreisenden Ungarin aus Sopron. Sie hatte mich nach dem Essen gefragt, ob sie sich neben mich setzen dürfe. Sie habe mich und Lumlee beobachtet und wolle uns gern kennen lernen. Und obwohl ich keinen besonderen Wert darauf lege mich mit jemandem länger zu unterhalten, ließ ich sie gewähren, denn sie schien nicht unsympathisch zu sein: etwa in meinem Alter, kurze, schwarze Haare, blaue, freundliche Augen, ein schmales, braungebranntes Gesicht und, was mich am meisten überzeugte, eine ruhige, sehr angenehme Altstimme – keine von diesen piepsigen, quietschigen oder schnarrenden Stimmen der Weiber, die mir schon auf die Nerven gehen, wenn sie nur das Maul aufmachen.

Ich sagte ihr, dass ich zumindest fünf Minuten mit Lumlee rausmüsse, aber gerne wiederkäme, um mit ihr noch einen Wein zu trinken. Sie freute sich sehr, holte ihre Tasche von ihrem Tisch herüber, setzte sich und wartete. Als ich wiederkam, stand eine Flasche Rotwein mit zwei sauberen Gläsern auf dem Tisch. Ildikó lächelte mir entgegen und schenkte ein.

„Die geht auf mich.“, sagte sie.

Nach dem Wie-woher-was-und-schön-und-toll-und-Sie-und-du-Gefasel kamen wir bald auch zu Themen, die nicht mehr allgemein und oberflächlich sind. Eines davon betraf die Entscheidung, die sie vor einem Jahr gefällt hatte, nämlich ihren Mann und ihre zwei Kinder zu verlassen, um fortan allein zu leben. Und nachdem sie über die Gründe und die Trennungsphase gesprochen hatte, fragte ich sie, wie sie sich heute fühle und ob sie bereue. Sie antwortete ohne zu zögern.

„Nein, bereuen tue ich nichts – weder, dass ich diese Kinder bekommen habe, noch, dass ich sie später verlassen habe. Was heißt verlassen? Wir sehen uns ja regelmäßig. Wir wohnen nur nicht mehr zusammen. Und sie haben das erstaunlich gut weggesteckt. Damals waren sie sechzehn und siebzehn. Heute sind sie wieder ein Jahr weiter und verstehen mich immer besser. Darüber bin ich schon sehr erleichtert. Und – ich fühle mich gut. Befreit. Ich glaube, das war eine der besten Entscheidungen meines Lebens.“ Und nach einer kurzen Pause: „Was war deine beste Entscheidung?“

Ich wartete einen Augenblick, bevor ich antwortete; doch nachgedacht hatte ich über diese Frage auch schon vorher und die Antwort darauf bereits vor langer Zeit gefunden.

„Es sind eigentlich mehrere Dinge: Zum einen die Entscheidung keine Kinder zu bekommen, zweitens die Kündigung vor fünf Jahren beziehungsweise der Wechsel in eine andere Firma, und schließlich die Anschaffung einer Viola, um mir endlich diesen Jugendtraum zu erfüllen. Und (und dabei lächelte ich besonders stark) natürlich Lumlee.“

„Ja, Lumlee, dieser süße Kerl. Klar.“ Wir blickten zu ihm hinunter und lächelten. Und Lumlee wusste, dass wir gerade von ihm sprachen, sah zu ihr hinauf und lächelte zurück. Zumindest bildete ich mir das ein. Er war schließlich ein höflicher Hund und kannte die Etikette. Das Kraulen durch Ildikós Hand genoss er sichtlich, dieser kleine Charmeur. Aber auch er war nur ein Mann. Also Vorsicht, Ildikó!, dachte ich.

Wir kamen auf das Thema ‚Kinder und Familie‘ zurück.

„Damals schien mir das alles ganz normal zu sein: Ich hatte meine Ausbildung beendet und drei Jahre als Zeichnerin gearbeitet. Mit Sandor war ich schon seit der Schulzeit zusammen. Und da war dieser Trieb. Hast du den nie verspürt? Dein Körper sagt dir immer wieder: Ich möchte befruchtet werden. Ich möchte schwanger sein. Ich möchte ein Kind austragen. Wir hatten inzwischen geheiratet und wohnten zusammen. Alles war erledigt. Was fehlte, war eigentlich nur noch ein Kind – oder zwei.“

„Ja, dieser Trieb!“, antwortete ich. „Natürlich habe ich den auch verspürt. Doch genau das war auch einer der Gründe, warum ich keine Kinder wollte. Versteh mich bitte nicht falsch, Ildikó! Aber ich wollte mich nicht von diesem ewigen Kreislauf und der Gesellschaft beherrschen lassen: als Produkt eines Triebes geboren werden, nur heranreifen, um mich selbst zu reproduzieren und die Art zu erhalten und mich zwanzig Jahre um den Nachwuchs zu kümmern.“

Ildikó sah einen Moment vor sich hin auf ihr Weinglas. Nach einer kurzen Weile überraschte sie mich: „Ja, du hast recht. Ich bin damals einfach meinem Trieb gefolgt. Ich habe nicht so gedacht wie du – zumindest damals noch nicht. Heute ist mir das vollkommen klar. Ich habe einen Großteil der vergangenen siebzehn Jahre für meine Kinder verwendet, um aus ihnen auch wirkliche Menschen zu machen. Sicherlich hätte ich sie auch früher in eine Krippe geben können. Aber ich wollte nicht zwei dieser respektlosen Nichtsnutze füttern, wie man sie heute überall sieht. Wenn ich schon Kinder hatte, sollten sie auch Respekt vor den Eltern und der Natur haben und eine Liebe zum Lernen aufbauen.“

„Und das hast du bestimmt auch geschafft, oder?“

„Ja, ich denke schon. Die beiden sind auf dem besten Weg, fleißig und freundlich.“

„Leider findet man das heutzutage nicht mehr so oft. Wenn ich mir da manche deutsche Jugendliche anschaue: schnodderige Bemerkungen zu allem und jedem, um ‚cool‘ rüberzukommen; verhöhnen ihre Eltern und benehmen sich wie Egoisten. Überhaupt scheint die Egomanie ihre neue Religion zu sein.“

„Das ist aber nicht nur in Deutschland so. In Ungarn ist es genauso, und in anderen Ländern bestimmt auch. Wenn ich dieses Geknipse überall sehe. Sie machen ständig diese Fotos von sich und dem, was sie tun, nur um es anderen zu zeigen. Sie stellen sich den ganzen Tag nur dar.“

„Sie stellen sich den ganzen Tag nur bloß. Ich würde mich in Grund und Boden schämen, wenn alle auf diese Weise sehen könnten, wie einfallslos und süchtig nach Anerkennung ich bin.“

„Ja, man kann froh sein, wenn man anders aufgewachsen ist. Und man kann als Elternteil auch froh sein, wenn aus den eigenen Kindern nicht solche oberflächlichen Deppen werden. – Deswegen habe ich mich gekümmert – und mich zurückgenommen.“

„Das ist auch bewundernswert. Da gebe ich dir völlig recht: Wenn man Kinder hat, muss man sich auch darum kümmern, und zwar richtig. Aber das war eben auch der Grund, warum ich keine wollte. Ich wollte mich nicht so viele Jahre auf ein Risikoprojekt einlassen, das trotz allem vielleicht doch danebengegangen wäre, weil wir Faktoren wie missratene Schulkameraden oder so genannte soziale Netzwerke, Internet und Drogen nicht unter Kontrolle haben. Das ist, als ob man sein ganzes Gespartes in faule Aktien steckt. Und am Ende ist alles weg.“

„Diese Angst hatte ich ständig. Das stimmt. Aber desto stärker habe ich versucht, meine Kinder zu verstehen und zu beraten. Das war manchmal wirklich Knochenarbeit und ein Geduldsspiel. Vor allem Janos hatte eine schwierige Phase, als er dreizehn war – eine unglückliche Liebe.“

„Der Arme! Das kenne ich. Aber er hat es überstanden, nicht wahr?“

„Ja, zum Glück. Er hatte schon mit sechs Jahren angefangen Klavier zu lernen. Das hat ihm Halt gegeben. Er hat in jener Zeit teilweise sechs Stunden pro Tag geübt und gespielt. Und wir haben ihn gelassen und geschwiegen. Erst nach einiger Zeit war es für mich möglich mit ihm zu sprechen. Sandor hatte die ganze Zeit den Kontakt zu unserem Sohn aufrecht erhalten – auf seine Weise.“

„Wie hat er das gemacht? Haben die beiden zusammen Sport getrieben?“

„Ja, das auch. Sie sind regelmäßig gepaddelt und haben geangelt. Aber Sandor sagte, dass sie dabei fast nie geredet hätten. Ich glaube, ausschlaggebend war ein Buch, das Sandor unserem Sohn gegeben hat. Es war eine Sammlung von Texten über unglücklich verliebte Komponisten – Beethoven, Dvořak, Brahms, Tschaikowsky, Schubert und andere. Janos hat nur gespielt und gelesen, ist auch schlechter in der Schule geworden. Aber wir haben ihn in Ruhe gelassen. Ich glaube, das war das einzig Richtige. Nach ein paar Monaten war es vorbei. Er fing wieder an zu reden, zu lachen. Und jetzt hat er eine neue Freundin, die gut zu ihm passt.“

„Toll! Das ist auch ein besonders schwieriges Alter, die Pubertät.“

„Ja. Und ich weiß jetzt auch, dass wir Frauen nicht alles alleine bewältigen können. In dieser Zeit war Sandor der Einzige, der Janos helfen konnte. Es klingt vielleicht komisch: Aber das scheint wirklich ein Männerding zu sein, bei dem wir Frauen und Mütter nichts ausrichten können außer zu nerven, wenn wir den Mund nicht halten können.“

„Das passiert ja leider viel zu oft. Meine Mutter wollte auch oft nicht verstehen, dass ich mit ihr nicht reden wollte. Einfach nur allein sein oder nachdenken, sich ablenken und gar nicht daran denken. Aber manche Mütter denken da auch nur wieder an sich: Ich mache mir Sorgen. Du musst mit mir reden. Ich will dir helfen – ich, ich, ich.“

„Richtig.“, sagte Ildikó. „Zum Glück hatte ich Sandor. Er war der richtige Partner für mich: ruhig, belesen, geduldig und einfühlsam. Ich glaube, wir haben alles – oder zumindest das Wesentliche – richtig gemacht.“

Hier entstand eine Pause, in der wir ein wenig vom Gespräch pausierten, Wein nachbestellten, die Atmosphäre ohne Hintergrundmusik genossen, eigenen Erinnerungen nachhingen. Nach fünf langen Minuten konnte ich mir folgende Bemerkung nicht verkneifen:

„Und doch hast du diesen tollen und funktionierenden Kreis vor einem Jahr verlassen.“

Ildikó suchte innerlich nach Worten.

„Ja. Genauso wie am Anfang der Familie – du weißt, dieser Kindertrieb – genauso gewann mein jugendlicher Trieb nach Freiheit wieder an Stärke. Ich wollte wieder allein entscheiden, ohne andauernd das Andere, die Familie, berücksichtigen zu müssen. Ich fand, dass ich meine Schuldigkeit getan hatte, und ich hatte meinen Trieb befriedigt. Aber jetzt wollte ich noch etwas Anderes. Ich wollte wieder mich selbst, mich allein, und nicht mehr nur Mutter, Ehefrau, Sexualpartnerin, Putzfrau, Köchin, Zimmermädchen, Vorzeigeobjekt einer funktionierenden Familie und Gesellschaft sein. Und ich wollte nicht, nachdem die Kinder nun immer länger aus dem Haus bleiben und bald ganz gehen, wie altes Eisen zurückgelassen warten, bis ich sterbe. Ich wollte wieder Subjekt sein – etwas machen, woran die anderen keinen Anteil haben; etwas, was ich nur allein machen kann und nur allein machen will. – Aber sag! Was hast du in der ganzen Zeit ohne Kinder gemacht? Und bereust du es?“

„Nein.“, antwortete ich sofort entschieden. Ich bin immer noch froh, keine Kinder zu haben. Ich habe nie Lust empfunden Säuglinge zu wickeln, zu füttern und mich den ganzen Tag darum zu kümmern geschweige denn die Pubertät noch ein- oder zweimal zu ertragen. Abgesehen davon, dass ich sehr viel gearbeitet habe – auch Überstunden und Wochenenden, bin ich sehr viel gereist – meistens allein, und oft in Regionen, die ich mit einem Kind nie betreten hätte, weil sie zu unberechenbar, ja, man kann sagen, zu gefährlich sind.“

„Zum Beispiel?“

„Zum Beispiel Kolumbien oder Marokko.“

„Oh toll! Aber das könntest du doch jetzt auch noch machen.“

„Nein, das würde ich jetzt nicht mehr machen. Nicht mehr so. Vielleicht noch einmal im Hotel, mit allem Komfort. Aber damals bin ich einfach aufs Pferd gestiegen und die Strände entlang galoppiert. Ich habe mit Männern geschlafen, die ich gerade mal ein paar Stunden vorher kennen gelernt hatte. Ich bin auf Berge gekraxelt, von denen ich auch hätte abstürzen können. Also vieles davon Dinge, die man zum einen nicht macht, wenn man Kinder hat, weil man zu vorsichtig und ängstlich ist, und zum anderen jetzt in meinem Alter nicht mehr macht. Außerdem war ich teilweise zwei und drei Monate unterwegs – außerhalb der Schulferien. Mit Kindern geht das alles nicht.“

„Du hast wohl recht.“, sagte Ildikó nachdenklich. Und nach einer kurzen Pause fügte sie hinzu:

„Früher habe ich auch überlegt, ob es überhaupt Sinn ergibt ein Kind in diese Welt zu setzen. Ich sah all die egoistischen Mütter, die meinen, dass sie mit ihren Kinderwagen uneingeschränktes Vorrecht vor allen anderen hätten, sogar ihre Säuglinge auf die Fahrbahn schieben und Autos so zum Bremsen zwingen. Wie selbstgefällig sie manchmal ihren dicken Bauch anhimmelten und gar nicht wahrnahmen, wie unförmig und hässlich sie aussahen! Ich dachte auch an das Kind da drin, dem die Mutter nicht das Leben, sondern den Tod schenkt; denn wie sich das Leben des Kindes gestaltet, weiß die Mutter ja nicht und kann die Mutter nicht sonderlich beeinflussen. Vielleicht gebärt sie den nächsten Hartz-IV-Empfänger oder Kinderschänder, einen Terroristen oder irgend so eine arrogante Tusse, die als Managerin nichts taugt, aber lange Beine hat – also irgendeinen Menschen, den kein Staat braucht. Oder eben diejenigen, die wie die Fische nur ablaichen und das Kind größtenteils anderen überlassen oder aufdrängen, weil sie auch noch Abwechslung im Job suchen und anderweitig Spaß haben wollen und sich der Verantwortung entledigen wie ein Kind, das unbedingt einen Hund haben wollte und schon nach zwei Monaten nicht einmal mehr mit ihm spazieren geht, sondern lieber die Bravo liest.“

„Auch das waren bei mir alles Gründe.“, warf ich ein.

„Aber es kam mit Sandor alles anders. Ich konnte mich ganz auf unsere Kinder konzentrieren und tat es auch gern. Mir war klar, dass ich mich mit der Entscheidung für sie auch für die Verantwortung für sie entschieden hatte.“

„Ich glaube, du bist einer von diesen seltenen Glücksfällen an Müttern. Die meisten Eltern sollten vorher lieber eine Schulung durchlaufen. Das verstehe ich sowieso nicht: In vielen Ländern muss man für fast alles eine Bewerbung, ein Zeugnis und entsprechende Fähigkeiten vorweisen, damit die Eignung für eine Tätigkeit festgestellt werden kann. Nur bei etwas so Wichtigem wie Kindererziehung lassen sie jede Dahergelaufene heran – ohne Nachweis von Ausbildung und Können. Kein Wunder, dass aus so manchem Embryo nur ein Psycho wird.“

„Die Leute denken ja, dass eine Mutter schon weiß, wie sie ihr Kind behandeln muss, und was zu tun ist. Das läge in ihrer Natur. Aber das hat sich leider geändert. Das stimmt nicht mehr.“

„Vieles stimmt nicht mehr, weil wir uns immer weiter von der Natur entfernen, immer mehr verarmen an Naturwissen oder Naturverständnis und Naturleben. Es gibt ja sogar schon Leute, die denken, dass wir ohne die Natur leben könnten.“

Das Thema ‚Kinder‘ schien erschöpft zu sein. Oder wir hatten einfach keine Lust mehr darüber zu reden, weil die Positionen geklärt waren. Was ich an Ildikó sehr angenehm fand, war ihre Bereitschaft zuzuhören und auch die Argumente der anderen Person gelten zu lassen, anstatt sich angegriffen zu fühlen und ihrerseits auf Angriff umzuschalten. Das gelingt wenigen. Und deswegen gestaltete sich der Abend trotz unserer unterschiedlichen Meinungen und Erfahrungen harmonisch und daher sehr angenehm. Das ist ein Geheimnis eines glücklichen Zusammenlebens: Harmonie.

Am nächsten Tag ließen Lumlee und ich uns Zeit. Wir schliefen aus, frühstückten in Ruhe und bezahlten die Rechnung. Ildikó hatte sich auf einen der Wanderwege in der Umgebung begeben und würde am Abend wieder zurückkommen. Wir hatten uns am vergangenen Abend einfach verabschiedet, uns eine gute Nacht gewünscht und nichts weiter verabredet. Vielleicht wird sie enttäuscht sein, wenn sie wieder da ist und ich abgereist bin. Deshalb hinterließ ich eine Notiz und meine Adresse. Sollte sie einmal Lust verspüren mich zu sehen, könnte sie mir schreiben, um ein Treffen zu vereinbaren – irgendwann in der Zukunft. Aber meine Telefonnummer behielt ich für mich. Wenn es ihr wichtig genug ist, wird sie schreiben. Telefonieren kann jeder. Und jeder telefoniert auch, wenn etwas unwichtig und oberflächlich ist. Das wollte ich nicht. Mit bloßem Stimmen- und Problemanhören wollte ich meine Zeit nicht verschwenden.

Ich bedankte mich beim Wirtspaar für die freundliche und zurückhaltende Bewirtung und ging bei angenehmen Temperaturen von zwanzig Grad sowie einem schwachen Wind und mit einem leichten Lächeln vom Hof.

Kapitel 2 – Drei Träume unterwegs

Drei Tage und Nächte waren wir daraufhin unterwegs, bis wir an die nächste Herberge kamen. Wir sind durch die Natur und kleinere Ortschaften gestreift – insgesamt einhundert Kilometer. Und eine der wichtigsten Erkenntnisse dieser Tage war, dass ich ab dem dritten Tag die Menschen vergessen hatte. Am ersten Tag waren uns noch drei Personen begegnet; am zweiten und dritten Tag keine mehr. Die Landschaft fühlte sich ohne Menschen sehr gut an, und ich freute mich regelrecht allein auf der Welt zu sein – endlich der lärmenden und zerstörenden Mitmenschen entledigt. Wozu sollte ich sie auch benötigen? In der Stadt brauchte ich sie, damit sie mir gegen Miete eine Wohnung zur Verfügung stellen, meinen Müll entsorgen, mir Wasser und Strom liefern, meine Kleidung nähen und mir Geld für meine Leistungen zahlen. Hier draußen brauchte ich sie nicht. Die gesamte Menschheit war plötzlich überflüssig geworden. Was für ein Gedanke!

Lumlee und ich waren am ersten Tag über flache Hügel und durch kleine Forste gewandert, die ein bisschen Schatten lieferten, nachdem wir streckenweise ohne Schutz der prallen Sonne ausgeliefert waren. In einem der Wälder fanden wir eine Quelle, an der wir eine längere Rast machten, bis wir uns erholt und unseren Durst gestillt hatten. Wir sahen und hörten viele verschiedene Vögel, die die anderen Waldbewohner vor uns warnten oder einfach nur ihr Revier verteidigten oder mit ihrem Gesang eine Partnerin suchten. Uns war das einerlei, denn wir freuten uns lediglich der Sichtung dieser immer seltener werdenden Kreaturen. Wild lief nicht so schnell vor uns weg, weil es uns erst spät bemerkte; so erspähten wir neben einigen Rehen auch ein unternehmungslustiges Wildschwein, das unbekümmert mit dem Schwanz wedelte und die Erde neben dem Weg mit der Schnauze aufwühlte, um alte Eicheln oder frische Wurzen zu finden.

Als die Sonne schon recht tief stand, hielten Lumlee und ich verstärkt nach einem Unterschlupf Ausschau und fanden ihn auch in Form einer Waldarbeiterhütte, die hin und wieder benutzt zu werden schien. Die Tür war zwar mit einem Bügelschloss verriegelt, konnte aber geöffnet werden, nachdem wir den Schlüssel in einer alten, verrosteten Blechdose fanden, die an der Rückwand des Hauses hing.

Drinnen sah es gemütlich aus. Wahrscheinlich fanden wir es auch nur gemütlich, weil wir hundemüde waren. In diesem Zustand bedarf es nicht viel, um sich wohl zu fühlen, wenn man den ganzen Tag gewandert ist und einfach nur ein gewisses Plätzchen sucht. Es muss trocken, warm und sicher sein; und das war hier alles gegeben. Darüber hinaus standen in einem Regal ein paar Flaschen Bier, dessen Haltbarkeit noch nicht abgelaufen war. Es gab zwei Kochplatten, die sogar funktionierten, und eine Liege samt drei Decken. Eine legte ich für Lumlee neben die Liege, die zweite legte ich auf die Liege, und mit der dritten deckte ich mich zu, nachdem ich zur Nacht noch eines der Biere genossen hatte. Aber damit war es auch genug: Ich schlief innerhalb der nächsten Minute ein.

In der Nacht tauchten verschiedene Bilder und Sequenzen auf. Zuerst sah ich nichts anderes als einen riesigen, erigierten Penis vor meinen Augen; der Hintergrund war dunkel, und ich konnte nur dieses riesige Ding in seinen hellen und dunklen Fleischfarben erkennen. Die Vorhaut war zurückgerollt, und er schien manchmal größer zu werden, manchmal wieder an Größe zu verlieren; aber er blieb immer prall und steif.

Ein anderes Bild stellte einen Strand dar, wie man sie in Westjütland findet: sehr breit, feiner, heller Sand bis zum Horizont, rechts flache, mit grünem Strandhafer bewachsene Dünen und links das endlose, blaue Meer der Nordsee. Ich schwebte von oben herab wie eine Möwe, von denen ich immer eine sein wollte – teils in geraden Linien vom Wind mich treiben lassend, teils mit langsamen Flügelschlägen über die Dünen gleitend, bis ich eine in ein gelbes Gewand gehüllte Frau wahrnahm, auf sie zuflog und vor ihr landete. Ob ich tatsächlich eine Möwe war oder als Mensch vor ihr stand, konnte ich nicht wahrnehmen. Die Frau lächelte mir zu und sagte auch etwas; aber ich kann mich jetzt nicht mehr daran erinnern, was sie sagte. Ich erinnere mich nur, dass ich sie in jenem Moment verstand und auch antwortete. Aber das gesamte Gespräch ist gelöscht wie eine brisante Aufnahme des Geheimdienstes. Vielleicht befindet sich in unserem Gedächtnis ja auch ein innerer Geheimdienst, der alles Brisante und schwer Erträgliche löscht. Am Ende unserer kurzen Unterhaltung deutete sie nur in eine Richtung, aus der mein Vater auf mich zuschritt – mit seinem gewohnten, forschen Gang, wie ich es oft bei ihm beobachtet hatte, wenn er von seinen einsamen Spaziergängen im Urlaub zurückkam.

Ich freute mich ihn zu sehen und ging in kleinen, verhaltenen Schritten auf ihn zu; er behielt sein gewohntes Tempo bei. Von weitem erkannte ich schon sein freundliches Lächeln. Wir streckten die Arme aus, fassten uns zuerst an den Händen und küssten uns – allerdings nicht so, wie sich Vater und Tochter normalerweise küssen. Es war ein langer, intensiver Zungenkuss, während dessen ich seinen kantigen Kopf mit meinen Fingern umschlang, immer heftiger atmete und zugleich meine Augen geschlossen hielt. Ich spürte, wie meine Knie sich beugten und wir auf den Boden glitten. Ich spreizte meine Beine und ließ ihn sein hartes Glied in mich hineinschieben. Es war wundervoll. Ich öffnete zwischendurch meine Augen und blinzelte in sein lächelndes Gesicht, hinter dem zur Hälfte die Sonne hervorschien und genoss unseren gemeinsamen Rhythmus, unser gemeinsames Atmen, das sehr lange dauerte, bis ein langer Lichtstrahl hinter seinem Kopf hervorschoss und mein Vater im gleichen Moment mit einem heftigen Stoß seinen Samen in mich ergoss.

Wir hielten uns fest umarmt, während mein Vater noch auf mir lag. Sein Glied erschlaffte und wurde kleiner, zog sich langsam aus meiner Scheide zurück. Als es ganz draußen war, küsste er noch ein paar Mal meine Brüste und Lippen und rollte sich danach neben mich auf die Seite, den linken Arm auf seine Stirn legend und langsamer ein- und ausatmend. Nach ein paar Minuten war er verschwunden; ich drehte mein Gesicht zu ihm hin, aber er war weg. Ich erhob mich wie von selbst vom Boden und schwebte wieder in die Höhe. Der Strand entfernte sich unter mir, und ich flog in der Abenddämmerung auf ein kleines Waldstück zu. Dann war der Traum aus.

Ich wachte auf und blickte in Lumlees erstaunte Augen. Kurz zuvor hatte ich ein einmaliges, heftiges Stöhnen vernommen, weshalb ich wahrscheinlich auch aufgewacht war. Und als Lumlee mich mit seinem schräg gelegten Kopf fragte, was das gewesen sei, antwortete ich nur lächelnd „Guten Morgen, Lumlee. Alles gut.“ und streichelte kurz seinen Kopf.

Ich gab ihm sein Dosenfrühstück und machte mir einen Kaffee, nachdem ich mich darüber gefreut hatte, dass die Waldarbeiter hier nicht nur über Strom und eine Kochplatte, sondern auch über volle Wasserflaschen und Kaffee verfügten. Wir räumten danach alles wieder auf, so dass es wie vorher aussah. Allerdings wollten wir nichts vertuschen. Als kleinen Spaß legte ich zehn Euro auf den Tisch und warf den Schlüssel für das Bügelschloss wieder in die Blechdose. Die Gesichter der Männer hätte ich gern gesehen. Aber wir wollten weiter und keine Zeit verlieren. Außerdem wussten wir nicht, wann die Männer das nächste Mal in diesen Wald kämen. Vielleicht hätten wir Tage oder Wochen gewartet. Also gingen wir los.

Wir sahen die Sonne zwischen den langen Stämmen der Tannen aufgehen, weil wir zunächst in Richtung Osten wanderten. Die Luft war noch frisch, und das Einatmen tat gut. Ich dachte noch ein paar Male an den seltsamen Traum, wurde aber jedes Mal durch ein fliehendes Reh beziehungsweise Kaninchen oder den Gesang eines Vogels unterbrochen und abgelenkt. Ich versuchte mich daran zu erinnern, ob ich in meiner Pubertät oder später mit meinem Vater schlafen wollte. Zuerst konnte ich mich an nichts erinnern, was darauf hingedeutet hätte. Doch nachdem wir etwa drei Stunden unterwegs gewesen waren, erschienen plötzlich mehrere Momente nacheinander, die eindeutig waren; ich muss sie durch die Reaktionen meines Vaters und die Erziehung (das, was man tun soll, und das, was man nicht tun darf) verdrängt haben – bis zu jenem Traum in der Waldhütte.

Plötzlich war der Augenblick da, als ich beim Fernsehen neben meinem Vater saß. Meine Mutter war an dem Abend auf einer Vereinssitzung, und wir schauten einen Krimi; das taten wir recht oft. Eine Schülerin war ermordet worden. Später stellte sich heraus, dass sie ein Verhältnis mit einem ihrer Lehrer gehabt hatte. Das zeigten sie auch in einer unverhohlenen Szene, als ich meine rechte Hand auf das linke Bein meines Vaters legte. Das ließ er auch noch zu. Als ich die Hand aber immer weiter nach oben zog und meinen Vater dabei ansah, hielt er sie plötzlich mit seiner linken fest und sah mich böse an.

„Was soll das?“, fragte er.

„Ich möchte wissen, wie das geht.“, antwortete ich.

„Wie was geht?“

„Na, was die beiden da eben gemacht haben.“

Mein Vater sah mich eine Weile stumm an, als ob er überlegen würde, in welche Richtung seine Reaktion gehen sollte. Ich glaube, dass er auch einen kleinen Moment daran gedacht hat mit mir zu schlafen. Aber er erklärte:

„Sieh mal, Liv! Wir können das nicht machen. Ich bin dein Vater. Und Vater und Tochter dürfen das niemals miteinander tun.“

„Aber manche machen es doch. Warum wir nicht?“

„Weil es verboten ist. Und das hat auch seine Gründe.“

„Welche denn?“

„Die Kinder, die daraus entstehen, können sehr krank sein.“