Energiewende besser  machen - Friedbert Pflüger - E-Book

Energiewende besser machen E-Book

Friedbert Pflüger

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Beschreibung

Klimapolitik muss besser werden! Trotz der gefährlichen Erderwärmung ist der Energiemix global und in Europa nach wie vor zu circa 80 Prozent fossil. Wir kommen nicht wirklich voran. Es ist ein Fehler, dem Klimawandel mit immer mehr Regulierungen zu begegnen. Nicht mit Verboten, Verzichtsappellen und staatlichem Mikromanagement, sondern mit der Entfesselung der technologischen Innovation und marktwirtschaftlichen Anreizen werden wir den Klimawandel bremsen. Friedbert Pflüger, viele Jahre Politiker, Unternehmensberater für Energie und Gründungsgeschäftsführer der Klimadenkfabrik Clean-Energy-Forum (CEF), zeigt aus seiner praktischen Erfahrung einen besseren Weg zu Klimaschutz und einer florierenden Wirtschaft. Ein Muss für jeden, dem das Klima am Herzen liegt und der pragmatische Lösungen sucht.

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Seitenzahl: 247

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Friedbert Pflüger

Energiewende besser machen

Technik und Wirtschaft statt Ideologie

© Verlag Herder GmbH, Freiburg im Breisgau 2024

Alle Rechte vorbehalten

www.herder.de

Die Abbildungen in diesem Buch stammen aus dem Privatarchiv des Autors.

Umschlaggestaltung: geviert.com

Umschlagmotiv: © Designer ASK/shutterstock

E-Book-Konvertierung: Carsten Klein, Torgau

ISBN Print: 978-3-451-39788-2

ISBN E-Book (E-PUB): 978-3-451-83425-7

ISBN E-Book (PDF): 978-3-451-83428-8

Für Sibylle, Leonhard und Josephine

Inhalt

Persönliche Vorbemerkung

I. Einleitung: Das drohende Scheitern der Klimapolitik

Der Kampf gegen den Klimawandel wird nicht in erster Linie bei uns entschieden

Der klimapolitische Grundkonsens wankt

Inflation Reduction Act vs. Green Deal

Entfesselung der technologischen Innovation und ökologisch-soziale Marktwirtschaft

Konkrete Transformationspfade statt Radikallösungen

Kostenfalle vermeiden – Akzeptanz stärken

Ein »Sondervermögen Energietransformation« gekoppelt an eine pragmatische Klimapolitik

II. Der Siegeszug des grünen ­Paradigmas

Willy Brandt: Der Himmel über der Ruhr muss blau werden

CDU-Gruhl und die Gründung der Grünen

Grün erreicht das Herz der deutschen Politik

III. Die Gefährdung des grünen Paradigmas – Irrwege, Hybris und Ideologisierung der Klimabewegung

III.1. Eine neue Heilslehre – und eifernde Jünger

III.2. »Folge der Wissenschaft« – eine antidemokratische Parole

III.3. Ökosozialismus versus ökologisch-soziale Marktwirtschaft

III.4. Die Politisierung der Klimaforschung: »Kipppunkte« und Katastrophenszenarien

III.5. Angstmache in Schulen und Medien

III.6. Anpassung an den Klimawandel

III.7. Deutschland und die EU – »Zieleritis« statt echter Erfolge

III.8. Die Illusion von der Vorreiterrolle

Exkurs: Texas, 2024 – Zentrum der Transformation

III.9. Mit dem Pareto-Prinzip gegen den Klimanationalismus

III.10. »Böse Lobbyisten« und »gute Aktivisten«?

Exkurs: COP 28 in Dubai – Die Wirtschaft als Treiber im Kampf gegen den Klimawandel

IV. Über erneuerbare Energien ­hinaus: Fünf Schlüsseltechnologien im Kampf gegen den Klimawandel

IV.1. Das enorme Potenzial von CCS und CCU im Kampf gegen die Erderwärmung

IV.2. Abschied von all electric: Grüne Gase werden zur zentralen Säule der Energiewende

IV.3. Synthetische Kraftstoffe: Säule klimaneutraler Mobilität

IV.4. Atomkraft neu denken: Small Modular Reactors (SMR) und neuartige Reaktoren (NR) der 4. Generation

IV.5. Die unerwarteten Erfolge der Fusionsenergie: Hoffnungsträger für die Energiewende

V. Eine Klimapolitik mit Leidenschaft und Augenmaß: Sechs Thesen und zehn Forderungen

Sechs Thesen

Zehn Forderungen

Anhang

Grundkonsens in Deutschland bis 2022: Nord Stream 2

Weitere Bücher des Autors

Über den Autor

Persönliche Vorbemerkung

1992 habe ich das Buch Ein Planet wird gerettet. Eine Chance für Mensch, Natur, Technik veröffentlicht. 30 Jahre später begann ich, ein zweites Buch zu diesem Thema zu schreiben, das nun vorliegt. Es umfasst meine Erfahrungen und Einsichten in der Politik (1990–2011), der Wissenschaft (2009–2023), der von meiner Familie gegründeten Stiftung Clean Energy Forum (seit 2023) und der Tätigkeit als Unternehmensberater (seit 2009). Mein Blick auf Energie- und Klimapolitik hat sich in drei Jahrzehnten aus diesen unterschiedlichen Perspektiven gebildet. Ich hoffe zuversichtlich, dass genau darin der Mehrwert dieses Buches liegt.

Nach meiner tiefen Überzeugung leiden wir sehr darunter, dass wir uns in unseren jeweiligen Bereichen (Politik, Wissenschaft, Wirtschaft und Zivilgesellschaft) immer mehr abschotten. Vor allem gegenüber Wirtschaft und Industrie wird Distanz gewahrt. Ein heute verbreitetes Narrativ hat zu fatalen Frontstellungen geführt:

Auf der einen Seite Unternehmer, Manager und ihre Lobbyisten, die Profitinteressen rücksichtslos durchsetzen, oft verhaftet in »fossilen Geschäftsmodellen«. Auf der anderen Seite idealistische Klimaaktivisten und aufrechte Forscher, die mit ihren Modellen erarbeiten, was »objektiv« im Interesse der Allgemeinheit liegt. Und dazwischen die Politiker, von denen die einen – ignorant oder korrupt – sich den Lobbyisten ergeben und die anderen die Sorgen der jungen Menschen ernst nehmen und »der Wissenschaft folgen«.

Diese Erzählung hat dazu geführt, dass Wissenschaft, Zivilgesellschaft und Politik sich mehr und mehr von der Wirtschaft fernhalten. Bloß nicht in den Verdacht einer zu großen Nähe zu Unternehmen, Verbänden und Lobbyisten geraten!

Das ist eine fatale Entwicklung. Natürlich gibt es engstirnige, nur an den eigenen Geldbeutel denkende Firmenchefs und vernagelte Schmalspurlobbyistinnen und -lobbyisten. Aber die meisten in der Wirtschaft tätigen Personen, die ich kennengelernt habe, sind zunächst einmal ganz normale Menschen. Sie diskutieren mit ihren Kindern, Verwandten, Freunden und Bekannten. Sie sind in Vereinen aktiv, engagieren sich in gemeinnützigen Initiativen. Sie führen außerhalb ihres Berufes unzählige Gespräche. Sie sammeln in ganz unterschiedlichen Bereichen ihre Erfahrungen und füllen unterschiedliche Rollen im Rahmen ihres Lebens aus. Ich habe zum Beispiel in meiner Funktion als Aufsichtsratsvorsitzender des Branchenverbandes Zukunft Gas, der die Interessen von 135 Unternehmen im Bereich Gas und Wasserstoff vertritt, keinen einzigen getroffen, der die Gefahren des Klimawandels verharmlost, leugnet oder relativiert. Ich habe niemanden getroffen, der Politiker mit Falschinformationen versorgt, um überkommene Geschäftsmodelle zu erhalten, oder sie mit Vorteilen zu bestechen versucht. Jeder weiß, dass wir dringend eine Transformation der Wirtschaft in Richtung Dekarbonisierung benötigen.

Ein höchst eindrucksvolles Dokument für die Bereitschaft der europäischen Wirtschaft, an der Begrenzung des Klimawandels mitzuwirken, stellt die »Antwerpener Erklärung zur EU-Industrie« vom 20. Februar 2024 dar, die der damalige BASF-Vorstandschef Martin Brudermüller stellvertretend für 57 führende Unternehmen und 15 Verbände der Präsidentin der EU-Kommission Ursula von der Leyen überreichte. Zugleich verlangt die Deklaration aber auch die Förderung der Wettbewerbsfähigkeit unserer Industrie. Ihr Ziel ist eine den Wohlstand erhaltende Transformation zur Klimaneutralität.

Diese Wandlung von Industrie und Wirtschaft kann nur mit, nicht gegen die Wirtschaft gelingen. Wir können nicht einfach alles abschalten und von vorn anfangen. Vielmehr braucht es konkrete Pfade für die Transformation, die möglichst viel vom volkswirtschaftlichen Vermögen der »alten Welt« erhalten, etwa die Infrastrukturen. Wenn wir alles am Reißbrett erschaffen und neu bauen wollen, verheben wir uns. Dann werden wir scheitern.

Die Dramatik des Klimawandels erfordert, dass plumpe Feindbilder überwunden werden. Wir brauchen einen diffamierungsfreien Dialog. Das bedeutet nicht, Konflikte wohlfeil zu verkleistern. Aber es bedeutet, Konflikte klar, manchmal hart, aber immer mit Respekt vor dem Andersdenkenden auszutragen. Auch dazu will dieses Buch einen Beitrag leisten.

Als Unternehmensberater habe ich in den letzten 15 Jahren Mandate von etwa 80 nationalen und internationalen Unternehmen bearbeitet: Solar, Wind, Wärmepumpen, Batteriespeicher, Gas, LNG (Liquified Natural Gas, also Flüssiggas), Wasserstoff, synthetisches Methan und synthetische Kraftstoffe, Biomethan, Carbon Management – bis hin zu Nukleartechnik und Kernfusion. Ich habe auch an großen internationalen Projekten mitwirken können – wie Trans Adriatic Pipeline (TAP) oder Nord Stream 2. Vor dem Hintergrund, dass meine Tätigkeit für Nord Stream eine gewisse öffentliche Aufmerksamkeit erfahren hat, habe ich im Anhang meine Stellungnahme als Sachverständiger vor dem Untersuchungsausschuss des Landtages von Mecklenburg-Vorpommern im März 2023 angehängt.

Von 2009 bis 2022 war ich Gastprofessor am King’s College London und leitete dort das von mir gegründete European Centre for Climate, Energy and Resource Security (EUCERS). Wir organisierten Workshops, erarbeiteten Studien und begleiteten Studenten auf ihrem akademischen Weg. Vor allem aber war es mein Ziel, die Erkenntnisse aus der Wissenschaft mit Vertretern aus Politik, Verwaltung und Wirtschaft zu debattieren und damit Praxisnähe herzustellen. Außerdem ging es mir in dieser Zeit am King’s College London darum, die globalen Fragen der Energie- und Klimapolitik, vor allem der Sicherheit der Bezugsquellen von Energie und Rohstoffen, zu thematisieren. Hier konnte ich meine langjährigen Erfahrungen als Europa- und Außenpolitiker im Deutschen Bundestag nutzen. Die Erderwärmung stellt eine existenzielle Herausforderung für unsere Zivilisation dar. Das gilt aber ebenso für den Erhalt des Friedens im Atomzeitalter oder die Bewahrung der Freiheit angesichts antidemokratischer Bedrohungen. Oft gibt es dabei Wechselwirkungen. So hat Klimapolitik in Zeiten des Krieges letztlich keine Chance, umgekehrt aber können Klimaveränderungen bestehende außen- und innenpolitische Konflikte verschärfen. Die geopolitische Dimension der Klimapolitik dürfte zukünftig noch wichtiger werden.

2020 verlegten wir das EUCERS an die Universität Bonn, meine alte Alma Mater, wo ich sieben Semester über internationale Klimapolitik lehrte, bis ich im Juli 2023 mit meiner Familie eine gemeinnützige GmbH, die Stiftung Clean Energy Forum (CEF), eine kleine NGO gründete. Durch meine Tätigkeit im Beirat des Instituts für Klima, Energie und Mobilität (IKEM) oder als (non resident) Senior Fellow im Global Energy Center des Atlantic Council, Washington, D.C. (seit 2014) bin ich immer wieder mit Energie- und Klimafragen aus ganz unterschiedlichen Sichtweisen ­konfrontiert.

Mit den seit 2009 einmal monatlich stattfindenden Energiegesprächen am Reichstag1 haben wir schließlich ein Forum des ständigen Diskurses wesentlicher energie- und klimapolitischer Fragen geschaffen, in dem überparteilich mit Spitzenvertretern aus Politik, Wirtschaft, Wissenschaft und NGOs offen und fair debattiert wird. Seit 2023 ist das CEF der Träger dieser Gespräche.

Kerstin Andreae (Chefin des BDEW), Klaus Töpfer, Robert Habeck, Friedbert Pflüger, Christian Bruch (CEO Siemens Energy) beim 150. Energiegespräch am Reichstag am 28. Oktober 2022

Vor dem Hintergrund der langjährigen Beschäftigung mit diesen Themen – aus unterschiedlichen Perspektiven – möchte ich mit diesem Buch einen Beitrag zum Diskurs über Klima- und Energiepolitik leisten und zu einer Kurskorrektur ermutigen, die dringend erforderlich ist, um den gefährdeten klimapolitischen Grundkonsens neu zu beleben und die Klimaziele von Paris zu erreichen. In gewisser Weise ist das Buch eine Zusammenfassung meiner bisherigen Erfahrungen und Erkenntnisse. Es hat wenig mit theoretischen Modellen und viel mit praktischer Erfahrung zu tun.

Während ich die letzten Sätze für dieses Buch schreibe, erreicht mich die Nachricht vom Tod von Klaus Töpfer. Die Verbindung von Leidenschaft und Augenmaß machte ihn zu einer der prägenden Persönlichkeiten der globalen Klima- und Umweltpolitik. Seit 1990 pflegen wir einen freundschaftlichen Austausch über die in diesem Buch angesprochenen Themen. Ich hatte Klaus das Manuskript dieses Buches am 3. Juni für Rat und krititische Anregungen übersandt. Wir verabredeten, dass ich ihn am 14. Juni in seinem Krankenhaus in München besuche. Dazu ist es nicht mehr gekommen.

Ich danke meinen Mitarbeitern und Mitarbeiterinnen für die Unterstützung bei intensiven Recherchen oder klugen Korrekturvorschlägen. Insbesondere danke ich Franziska Lange, die mich inzwischen seit drei Jahrzehnten erträgt. Ich danke Ruprecht Brandis, dem Geschäftsführer der Stiftung Clean Energy Forum (CEF) für freundschaftliche Hinweise, konstruktiven Widerspruch und Rat. Vor allem aber danke ich meiner Frau, Sibylle Pflüger. Ich brauche ihre klugen Einschätzungen, ihre stete Ermutigung und ihre immer offen ausgesprochene, manchmal sehr unbequeme Kritik. Ich danke meinen beiden Kindern, 18 und 20 Jahre alt, für fruchtbare Gespräche und ihren festen Glauben, dass ihr Vater es gut meint mit Umwelt und Klima. Schließlich sei dem Verlag Herder für sein Vertrauen und das Lektorat gedankt – besonders Patrick Oelze.

Berlin, im Juni 2024

Dr. Friedbert Pflüger

1 Vgl. www.energiegespraech.de.

I. Einleitung: Das drohende Scheitern der Klimapolitik

Der deutschen und europäischen Klimapolitik droht das Scheitern. Das ist tragisch, denn der Klimawandel gehört zu den existenziellen Überlebensfragen unserer Zivilisation. Mit wachsender Lautstärke und Intensität verkündete die Politik in den letzten Jahren immer ehrgeizigere Klimaziele. Aber der globale Energiemix besteht noch immer zu etwa 80 Prozent aus fossilen, nur zu 20 Prozent aus erneuerbaren Quellen.1 In Europa und Deutschland sieht es trotz enormer Investitionen in erneuerbare Energien ähnlich aus. Wir sind nicht entscheidend vorangekommen. Trotz des erheblichen Zubaus regenerativer Energien wurde auf der Welt noch nie so viel Kohle verbraucht wie 2022.2 Öl und Gas werden so stark nachgefragt wie eh und je. Durch das Anwachsen der Weltbevölkerung und den Wunsch der Menschen nach Wohlstand steigt die Nachfrage nach Energie stärker als alle Bemühungen, fossile durch regenerative Energie zu ersetzen.

Der Kampf gegen den Klimawandel wird nicht in erster Linie bei uns entschieden

Statt die Probleme global anzugehen und die vorhandenen Mittel dort zu konzentrieren, wo die größten Emittenten von Treibhausgasen sind, gefallen sich zu viele unserer Politiker, vor allem aber zu viele NGOs und Aktivisten in der Rolle der net-zero-Musterknaben. Angesichts der Tatsache, dass unser Land heute für weniger als 1,8 Prozent, die EU für 6,7 Prozent der globalen CO2-Emissionen verantwortlich ist, kann dieser Ansatz nicht überzeugen. Bei uns wurde den Bürgern eingeredet, dass der Verzicht auf Mallorca-Flüge oder der Wechsel vom Pkw zum Lastenfahrrad über die Rettung der Welt entscheide. Wer aus Sorge um das Klima seinen eigenen Lebenswandel ändert, verdient allen Respekt. Und es ist gut und wichtig, dass wir unser Leben umweltbewusster und nachhaltiger gestalten. Aber das Weltklima würde selbst die radikalsten Maßnahmen auf individueller Ebene bei uns kaum merken.

Der Kampf gegen den Klimawandel wird nicht in erster Linie in Europa entschieden. Wir sollten deshalb einen großen Teil der vorhandenen finanziellen Mittel auf die Modernisierung von Kraftwerken und Industrien in den Regionen lenken, in denen die Hebelwirkung am größten ist. Aber wir haben uns bisher darauf versteift, der Welt zu zeigen, dass wir es bei uns richtig machen. Wir wollen Vorreiter sein!

Hier offenbart sich eine gefährliche Hybris, die Selbstgewissheit, wir Deutschen verfügten über den wissenschaftlich objektiv nachgewiesenen einzigen Weg. Die Welt aber sieht uns inzwischen klima- und energiepolitisch immer weniger als Vorbild, sondern zunehmend als Außenseiter. Bei meinem einwöchigen Besuch auf der UN-Klimakonferenz COP 28 in Dubai im November 2023 habe ich es überall gespürt: Nur wenige in der Welt nehmen uns noch als Vorbild wahr. Im Gegenteil gab es in den Diskussionen außerhalb der offiziellen Runden der Diplomaten und Politiker viel Unverständnis, manchmal sogar Mitleid und leider nicht selten Häme über das, was viele als Selbstverzwergung Deutschlands wahrnehmen.

Es ist wahr: Große Teile der Welt waren zunächst beeindruckt, wie Deutschland und Europa den Klimaschutz entdeckten und die Vision beschworen, dass Klimapolitik ein Wirtschaftswunder schaffen könne. Inzwischen merkt man in der Welt, dass der deutsche und europäische Weg nur zu bescheidenen Klimaerfolgen, dagegen aber zu erheblicher Deindustrialisierung führt.3 Die Abwanderung von Unternehmen, das Ausbremsen erfolgversprechender Zukunftstechnologien, der Verlust der Wettbewerbsfähigkeit – und damit einhergehend Wohlstandsverlust, exorbitante Staatsverschuldung und das Wanken der sozialen Sicherungssysteme sind schon heute erkennbar.

Der klimapolitische Grundkonsens wankt

Bei uns in Deutschland wankt der klimapolitische Grundkonsens, über den wir uns viele Jahren freuen konnten. Die Akzeptanz der Bürger sinkt. Eine Studie des Umweltbundesamtes von 2023 zeigt, dass Klimaschutz in der Wahrnehmung der Menschen an Bedeutung verliert. Die Bürger finden vermehrt, dass zum Beispiel ein funktionierendes Gesundheitssystem, gute Schulen und Hochschulen auch wichtig sind.4 Nach dem Angriffskrieg Russlands auf die Ukraine spüren sie zudem, dass wir erhebliche Investitionen im Bereich Verteidigungspolitik benöti­gen. Der Angriffskrieg Russlands auf die Ukraine 2022, aber auch der Überfall der Hamas auf Israel 2023, der folgende Krieg sowie die sich zuspitzenden amerikanisch-chinesischen Konflikte haben zu tektonischen Veränderungen in der internationalen Politik geführt, die enorme Auswirkungen auf Energiesicherheit und Klimapolitik haben. Die Bedrohung von Frieden und Freiheit, innen- und außenpolitische Sicherheit, Migration haben neue Themen in den Vordergrund gerückt.

Die nachlassende Bereitschaft in der Gesellschaft, der Umwelt- und Klimapolitik höchste Priorität einzuräumen, beendet die lange Dominanz grünen Denkens in Deutschland, das weit über die grüne Partei hinaus bis vor Kurzem die Gesellschaft politisch und kulturell entscheidend geprägt hat. Was aber bleibt ist der Stolz darauf, dass das in den Umweltbewegungen vor Ort entstandene grüne Paradigma einen beispiellosen globalen Siegeszug erleben konnte. Dass wir mit unserem Planeten behutsam umgehen müssen, dass wir nachhaltig wirtschaften müssen und Rücksicht auf Natur, Ressourcen und Klima nehmen müssen – diese Überzeugungen haben sich heute fast überall auf der Welt durchgesetzt. Den Höhepunkt dieses Bewusstseinswandels bildet das Pariser Klimaabkommen vom 12. Dezember 2015. Keine Regierung in der Welt, die nicht weniger Treibhausgasemissionen versprach. Es schien, als würde es erstmals gelingen, dass sich eine grassroots-Protestbewegung nach Jahrzehnten politischer Auseinandersetzungen dauerhaft im globalen Maßstab durchsetzt. Was für eine grandiose Entwicklung!

Gefragt wäre nun gewesen, diesen Erfolg schrittweise im Dialog mit Bevölkerung, Wissenschaft, Wirtschaft und Gewerkschaften in eine realistische Politik umzusetzen, konkrete Transformationspfade zu definieren und das grüne Paradigma umsichtig in das Geflecht der Meinungen und Interessen einzubinden. Es wäre klug gewesen, Wirtschaft und Industrie, Hauptzielpunkte der notwendigen Dekarbonisierung, ins Boot zu holen und die Politik so anzulegen, dass sie die den Umwelt- und Klimathemen gegenüber grundsätzlich sehr aufgeschlossene Bevölkerung mitnimmt.

Stattdessen haben sich große Teile der grünen Bewegung nach Paris ideologisiert und eine Hybris entwickelt: Man fühlte sich stark genug, Gesellschaft und Wirtschaft in Deutschland und Europa die eigene Überzeugung aufzudrücken, wähnte sich im Besitz der absoluten klimapolitischen Wahrheit. Die grüne Bewegung fühlte sich als Träger einer Art höherer Klimamoral. Sie nahm sich das Recht, kritische Fragen hinsichtlich einzelner Maßnahmen beiseitezuwischen und die Kritiker zu diffamieren. Wer nicht folgte, wurde entweder als ignoranter Klimaleugner oder bezahlter Lobbyist beschimpft, der »fossile Geschäftsmodelle« fortsetzen wolle. Der Trend zu »immer rigiderer Inszenierung von moralischer Überlegenheit« (Philipp Hübl) und die gezielt herbeigeführten Empörungseskalationen in den sozialen Medien führten zu einer Polarisierung, die der Sache des Klimaschutzes schadete. Statt auf dem Grundkonsens von Paris aufzubauen, wurde ein absoluter Machtanspruch geltend gemacht, der über die Klimapolitik weit hinausging und sich verstärkt mit planwirtschaftlichen, teilweise auch totalitären gesellschaftspolitischen Forderungen verband. Anfangs schien diese Strategie aufzugehen: Das grüne Paradigma wirkte so stark, dass sich Politik, Gesellschaft und Wirtschaft, ja sogar die Rechtsprechung in einen Anpassungsprozess zwingen ließen. Widerspruch wurde zumeist nur hinter vorgehaltener Hand geäußert, ansonsten aber wurde mitgemacht – vielleicht hier und da mit etwas angezogener Bremse.

Erst seit dem Sommer 2023 begannen sich Bedenken zunächst zögerlich, dann aber immer deutlicher Bahn zu brechen. Als Wendepunkt kann in Deutschland die Auseinandersetzung um das Heizungsgesetz im Frühsommer 2023 angesehen werden, wo sich zum ersten Mal wirklich breiter Protest gegen den Entwurf des Bundesministeriums für Wirtschaft und Klima (BMWK) erhob. Das war sozusagen der Tropfen, der bei vielen das Fass zum Überlaufen brachte. Etwa zur gleichen Zeit häuften sich Meldungen über Abwanderungen deutscher Unternehmen ins Ausland, die – nicht nur, aber wesentlich – damit zu tun hatten, dass in Deutschland der Strom teurer ist und die Bürokratielasten größer sind als irgendwo sonst in Europa. Gleichzeitig sahen sich die EU und Deutschland einer verschärften industriepolitischen Herausforderung in der Klimapolitik ausgesetzt – nun nicht mehr nur aus China, sondern seit 2022 auch aus den USA.

Inflation Reduction Act vs. Green Deal

Die amerikanische Klimapolitik setzt mit dem Inflation Reduction Act (IRA) auf die Belohnung von Klimainvestitionen. Sie strahlt dadurch große Attraktivität gegenüber der EU und Deutschland aus, wo sich die Wirtschaft durch den Green Deal der EU und die nationalen Gesetze und Verordnungen mit Technologieverboten, immer schärferen bürokratischen Berichtspflichten und staatlichem Mikromanagement konfrontiert sieht. In den USA entfesselt man die marktwirtschaftlichen und technologischen Stärken, in Europa werden sie gefesselt.5 Die Wirtschaft leidet vor allem in Deutschland, das plötzlich mit das geringste Wachstum in der EU aufweist. Wir gelten heute bei vielen als der »kranke Mann in Europa«.6 Gleichzeitig aber leidet auch das Klima. Der von der Bundesregierung einberufene Expertenrat und das Umweltbundesamt stellten der Regierung im August 2023 in zwei Berichten unabhängig voneinander ein schlechtes Zeugnis aus: Die selbstgesetzten Klimaziele würden verfehlt.7

Besonders kritisch ging ein Sondergutachten des Bundesrechnungshofes vom März 2024 mit der Bundesregierung ins Gericht: Die Versorgungssicherheit sei gefährdet, die Annahmen im Monitoring der Bundesnetzagentur ein Best-Case-Szenario und somit wirklichkeitsfremd. Damit werde der Zweck des Monitorings als Frühwarnsystem faktisch ausgehebelt. Es sei nicht sichergestellt, dass die Back-up-Kapazitäten für den Ausbau erneuerbarer Energien rechtzeitig verfügbar sind. Der Netzausbau liege sieben Jahre und 6000 km hinter den Planungen zurück. Die von der Regierung vorgelegte Kraftwerksstrategie greife zu kurz. Der Bundesrechnungshof konstatierte vor diesem Hintergrund »das Risiko einer erheblichen Lücke an gesicherter, steuerbarer Kraftwerksleistung zum Ende des aktuellen Jahrzehnts«.

Und der Rechnungshof ging noch weiter: Die Bezahlbarkeit der Stromversorgung stehe infrage. Private Haushalte zahlten mit 41,25 Cent/kWh im ersten Halbjahr 2023 42,7 Prozent mehr als der EU-Durchschnitt, Gewerbe- und Industriekunden rund 5 Prozent mehr. Weitere Kostensteigerungen seien »absehbar«. Der Rechnungshof wirft der Regierung vor, die Kosten der Energiewende zu verschleiern. Die Bundesregierung müsse »umgehend reagieren«, andernfalls drohe die Energiewende mit gravierenden Folgen für den Wirtschaftsstandort Deutschland zu scheitern.8

Das wollte der Wirtschafts- und Klimaschutzminister Robert Habeck nicht auf sich sitzen lassen. Wenige Tage später ging er in die Offensive und verkündete mit Rückgriff auf Zahlen des Bundesumweltamtes stolz, dass Deutschland »erstmals« bei den Klimazielen auf Kurs sei. 2023 sei der Kohlendioxidausstoß um 10 Prozent gesunken, so stark wie noch nie seit den Jahren nach der Wiedervereinigung. Aber ein näherer Blick auf diese Meldung relativiert das gezeichnete Bild stark, ja verkehrt es fast in sein Gegenteil: Ohne Zweifel geht ein Teil dieses Ergebnisses auf den Ausbau der erneuerbaren Energien zurück, die erstmals über die Hälfte der Stromerzeugung in Deutschland generierten. Es gehört allerdings zur Wahrheit, dass der Stromverbrauch in Deutschland nach Angaben des Statistischen Bundesamtes 2023 um 12 Prozent zurückging.

Mehr noch: Ein genauerer Blick auf Habecks »Erfolg« zeigt, dass die entscheidenden Gründe im warmen Winter, noch mehr in der Konjunkturflaute und den hohen Energiepreisen zu suchen sind, in deren Gefolge es zu einem drastischen Rückgang des Energieverbrauchs vor allem bei den Grundstoffindustrien kam. Manfred Fischedick, Präsident des Wuppertal Instituts für Klima, Umwelt und Energie, das sicher nicht im Verdacht steht, »gegen grün« zu sein, kommentierte, dass »nur ein kleiner Teil des Rückgangs wirklich auf langfristig wirkende Klimaschutzmaßnahmen zurückzuführen ist«. Niklas Höhne, Leiter des New Climate Institutes in Köln, wurde noch deutlicher: Der Rückgang der Emissionen sei »größtenteils nicht nachhaltig und kein Zeichen von erfolgreicher Klimapolitik«. Auf den Punkt brachte es Greenpeace: »Man darf eine kriselnde Wirtschaft nicht mit Klimaschutz verwechseln.«9

Ein weitaus gewichtigeres Urteil erhielt die Bundesregierung am 3. Juni 2024 durch den von ihr selbst berufenen Expertenrat für Klimafragen. Die Klimaziele für 2030 würden verfehlt. Robert Habecks optimistische Haltung, man sei »auf Kurs«, wurde damit korrigiert.

Während Klimaaktivisten wie die Bewegung Fridays for Future oder die Letzte Generation der sogenannten Klimakleber aus der skeptischen Beurteilung der Klimapolitik die Forderung ableiten, noch weitergehende Regulierungen vorzunehmen, liegt die Chance, die Klimaziele von Paris doch noch zu erreichen, in einem ganz anderen Ansatz:

Entfesselung der technologischen Innovation und ökologisch-soziale Marktwirtschaft

Wir brauchen die Entfesselung aller technologischen Fähigkeiten und der Kräfte des Marktes im Rahmen ehrgeiziger, aber realistischer Klimaziele statt planwirtschaftlicher Vorgaben, Verbote, bürokratischer Feinsteuerung und nationaler Sonderwege. Dabei benötigen wir Vertrauen in das zentrale Instrument einer marktwirtschaftlichen Klimaschutzpolitik: den Emissionshandel. Dieser ist umso stärker, je mehr er international gilt. Deshalb ist es zu begrüßen, dass die EU mit dem ETS II den Emissionshandel auf die Bereiche Verkehr und Wärmemarkt ausdehnt. Es braucht neben einem effektiven ETS-Mechanismus nicht tausend weitere Instrumente, Subventionen, Sektorziele, Berichtspflichten, Verordnungen, Auslaufdaten, Ausnahmeregeln, Beihilfen usw. – ein planwirtschaftlicher Dschungel, in dem selbst hochspezialisierte Anwälte kaum noch durchblicken. Die Energiewende droht zu einem bürokratischen Monstrum zu werden, das kein Normalsterblicher mehr versteht.

Konkrete Transformationspfade statt Radikallösungen

Notwendig ist ferner die Bereitschaft, nicht alles auf einmal zu wollen, sondern konkrete Transformationspfade zu beschreiten mit Brückenlösungen, z. B. dadurch, dass man in der Modernisierung eines Kohlekraftwerkes im Kosovo oder in China durch die Abscheidung von CO2 nicht die Verlängerung der fossilen Wirtschaft sieht, sondern einen wichtigen Schritt auf dem Weg zu einer klimaneutralen Welt. Die Ablehnung, ja Diffamierung solcher Zwischenschritte ist ein zentraler Fehler der grünen Bewegung.

Kostenfalle vermeiden – Akzeptanz stärken

Notwendig schließlich wird ein größeres Kostenbewusstsein sein und ein Gefühl dafür, was man Wirtschaft und Bürgern zumuten kann. Solange unsere Wirtschaft stark war und mit jährlichem Wachstum gerechnet werden konnte, haben sich zu viele daran gewöhnt, dass für Klimaausgaben immer Geld da ist. Spätestens seit dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 15. November 2023 hat diese Einstellung ein Ende gefunden. Das höchste Gericht untersagte der Bundesregierung, 60 Milliarden für die Corona-Bekämpfung vorgesehene Euro in den Klima- und Transformationsfonds (KTF) zu verschieben. Auf einmal musste alles auf den Prüfstand: Subventionen für grünen Stahl, für die Kraftwerksstrategie, für ein Wasserstoffkernnetz usw. Plötzlich war die Regierung gezwungen, Prioritäten zu setzen. Hinzu kam ab Februar 2022 das Bewusstsein für die Notwendigkeit, verteidigungsfähig zu werden. Das von Bundeskanzler Olaf Scholz 2022 ausgerufene Sondervermögen für die Bundeswehr in Höhe von 100 Milliarden Euro ist längst aufgebraucht. Und schließlich stehen enorme Ausgaben für Migrationsthemen, Bürgergeld, Kindergrundsicherung, Renten, Pflege- und Krankenversicherung, BAföG usw. an. Die demografische Entwicklung in Deutschland, die kaum mehr verdeckte Deindustrialisierung und die schweren Konjunktureinbrüche – das alles führt zu einer Situation, in der die Politik lernen muss, wieder genau auf jeden Euro zu schauen. Auch müssen die politisch Verantwortlichen sich sensibler überlegen, was sie den Bürgern und Verbrauchern zumuten dürfen. Die Preisschraube kann nicht beliebig angezogen werden, sonst verlieren wir die Akzeptanz der Menschen und den bisherigen Grundkonsens für die Energiewende. So viel ist über das Klimageld als Ausgleich für die steigenden CO2-Preise gesprochen worden! Es ist dringend notwendig, dass es kommt und wirkt, denn vor allem einkommensschwache Haushalte leiden unter den steigenden Kosten. Momentan verbreitet sich nach meiner Beobachtung bei vielen Menschen das Gefühl, dass wir uns mit der Energiewende verheben könnten. Wir müssen aufpassen, dass wir nicht bald einen sozialen Kipppunkt erreichen, wo das Unbehagen der Bürgerinnen und Bürger über die Lasten der Klimapolitik plötzlich in klare Ablehnung umschlägt.

Ein »Sondervermögen Energietransformation« gekoppelt an eine pragmatische Klimapolitik

Das erwähnte BVerfG-Urteil hat den Finanzierungsspielraum für die Ampelkoalition erheblich reduziert. Mit ihm scheiterte der Versuch, an der Schuldenbremse vorbei mit Kreditermächtigungen auf Vorrat die staatliche Finanzierung der Transformation in beliebiger Höhe zu steuern. Damit fehlt nun nicht nur der Betrag von 60 Milliarden Euro, sondern generell das geplante Finanzierungsgerüst für den Fortgang der Klima- und Energiewende. Die Transformation muss in erster Linie aus der Privatwirtschaft finanziert werden, der Staat sollte sich auf die Rahmensetzung konzentrieren. Allerdings sind die Aufgaben der öffentlichen Hand etwa für den Auf- bzw Ausbau der Netzinfrastruktur (Strom, Gas bzw. Wasserstoff und CO2), für die Unterstützung ambitionierter Transformationsprojekte durch Klimaschutzverträge und Brückensubventionen – etwa die staatlichen Anschubmittel für Projekte wie »Grüner Stahl« – für die Forschungsförderung oder das erwähnte Klimageld enorm hoch. Die Herstellung der Versorgungssicherheit einschließlich der Rohstoffversorgung und die Garantie der sozialen Ausgewogenheit gehören seit eh und je zu den Aufgaben staatlicher Daseinsvorsorge, deren Träger bei uns in Deutschland vor allem die Stadtwerke sind. Sie kommen durch die enormen Zusatzaufgaben, etwa für den Ausbau der Verteilnetze, in eine prekäre Situation. Großprojekte wie der Atom- oder Kohleausstieg erfordern weitere staatliche Mittel, nicht zuletzt, um betroffenen Regionen mit Kohäsionsmitteln zu helfen.

Hinzu kommt der internationale Wettbewerbsdruck. Deutschland kann nicht ignorieren, dass hierzulande die Energiekosten viel höher als bei fast allen Konkurrenten auf den Weltmärkten liegen. Auch wenn wir daran in hohem Maße selbst schuld sind, müssen die energieintensiven Industrien für den Zeitraum der Transformation einen echten Industriestrompreis erhalten – oder wir werden ein Unternehmen nach dem anderen verlieren. Auch können wir nicht die Augen davor verschließen, dass – wie oben beschrieben – die USA oder China gewaltige staatliche Mittel aufrufen, um die Transformation in ihren Ländern zu fördern. Der Staat muss deshalb auch industriepolitisch reagieren, damit unsere Wirtschaft in die Lage versetzt wird, die noch vorhandenen technologischen Vorsprünge – etwa bei Wasserstoff – zu halten bzw. in anderen Bereichen – etwa Carbon Capture, Utilization and Storage, kurz CCUS – nicht abgehängt zu werden.

Um diesen Aufgaben im Rahmen der zum Verfassungsauftrag erhobenen Klimaneutralität nachzukommen, braucht es einen verlässlichen finanziellen Rahmen. Da wichtige wirtschaftspolitische Gründe sowohl gegen eine Erhöhung der Steuerlast als auch gegen ein generelles Aussetzen der Schuldenbremse sprechen, bleibt nur der Weg über ein Sondervermögen Energietransformation.

Um das durchzusetzen, ist – ähnlich wie beim Sondervermögen zur Modernisierung unserer Streitkräfte – ein breiter politischer Konsens erforderlich. Eine tragfähige Mehrheit kann dieser Vorschlag nur finden, wenn er mit einer energie- und klimapolitischen Kurskorrektur – wie oben beschrieben – einhergeht. Die Mentalität: koste es, was es wolle, es ist ja für das Klima, muss ein Ende haben. Sondervermögen geht nur, wenn gleichzeitig ein anderes Verhältnis zum Geldausgeben bei der öffentlichen Hand entsteht. Ideologisch geprägten Vorhaben muss ein Ende gesetzt werden. Die Energie- und Klimapolitik muss wieder ein Projekt für die ganze Gesellschaft werden.

Dieses Buch versucht in diesem Sinne einen Weg aufzuzeigen, wie der Klimawandel wirksam gebremst werden kann, ohne dass wir weitere Wohlstandsverluste erleiden. Mit marktwirtschaftlichen Anreizen, mit der Entfesselung unserer technologischen Fähigkeiten könnten wir schrittweise in eine klimaneutrale Welt schreiten und schließlich der Atmosphäre sogar wieder Treibhausgase entziehen, indem wir CO2 sicher unterirdisch speichern oder besser noch als Rohstoff nutzen.

Es geht mir um eine bessere Energie- und Klimapolitik, die Akzeptanz der Menschen für die Bewahrung und Neubelebung des grünen Paradigmas. Es geht um einen verantwortlichen Grundkonsens, um die Klimaziele von Paris zu erreichen:

durch Pragmatismus statt Ideologie,durch Innovationsoffenheit statt Verbotspolitik,durch marktwirtschaftliche Anreize statt planwirtschaftlicher Mikrosteuerung,durch ehrgeizige Klimaziele statt überambitionierter Vorgaben,durch stärkere Konzentration auf die globale Dimension der Klimapolitik statt Nabelschau und nationale Alleingängeund durch fairen Dialog über den besten Weg statt Diffamierung der Andersdenkenden.

Die Bürgerinnen und Bürger wissen, dass Klimaschutz wichtig ist und bleibt, aber sie spüren, dass eine deutliche Kurskorrektur notwendig ist. Es muss deshalb jetzt darum gehen, Energie- und Klimapolitik besser zu machen.

1 Energy Institute. (2023). Statistical Review of World Energy. https://www.energyinst.org/__data/assets/pdf_file/0004/1055542/EI_Stat_Review_PDF_single_3.pdf.

2 IEA (2023). Coal Market Update – July 2023. IEA. Paris. https://www.iea.org/reports/coal-market-update-july-2023.

3 Kummerfeld, C. (2024). Deindustrialisierung: 94 Milliarden Euro Nettoabflüsse an Investitionen in 2023. Finanzmarktwelt. https://finanzmarktwelt.de/deindustrialisierung-94-milliarden-euro-nettoabfluesse-an-investitionen-in-2023-304313/.

4 Bundesministerium für Umwelt, Naturschutz, nukleare Sicherheit und Verbraucherschutz (BMUV) und Umweltbundesamt (UBA). (2023). Umweltbewusstsein in Deutschland 2022 – Ergebnisse einer repräsentativen Bevölkerungsumfrage. https://www.umweltbundesamt.de/sites/default/files/medien/3521/publikationen/umweltbewusstsein_2022_bf-2023_09_04.pdf.

5 Pflüger, F. (2023). IRA – Klimawunderland USA? – Amerika könnte Europa mit dem Inflation Reduction Act (IRA) überholen. Clean Energy Forum. https://www.clean-energy-forum.org/de/studien/ira-klimawunderland-usa.

6 Gründler, K., Heil, P., Potrafke, N., & Wochner, T. (2023). ifo Institut; Economic Experts Survey – Evaluating Global Economic Policy Worldwide. https://www.ifo.de/node/79743. Vgl. Economist (17. August 2023), Is Germany once again the sick man of Europe?

7 Harthan, R. O. et al. (2023). Umweltbundesamt (UBA), Projektionsbericht 2023 für Deutschland. https://www.umweltbundesamt.de/sites/default/files/medien/11850/publikationen/39_2023_cc_projektionsbericht_12_23.pdf. Expertenrat für Klimafragen (ERK). (2023, 22. August). Prüfbericht 2023 für die Sektoren Gebäude und Verkehr: Prüfung der den Maßnahmen zugrunde liegenden Annahmen gem. Åò 12 Abs. 2 Bundes-Klimaschutzgesetz. https://expertenrat-klima.de/content/uploads/2023/09/ERK2023_Stellungnahme-zum-Entwurf-des-Klimaschutzprogramms-2023.pdf.

8 Bundesrechnungshof. (2024). Bericht nach § 99 BHO – zur Umsetzung der Energiewende im Hinblick auf die Versorgungssicherheit, Bezahlbarkeit und Umweltverträglichkeit der Stromversorgung. https://www.bundesrechnungshof.de/SharedDocs/Downloads/DE/Berichte/2024/energiewende-volltext.pdf?__blob=publicationFile&v=4.

9 Klein, O., & Stramm, A. (2024). Was ist dran an Habecks Klimazahlen? Zdfheute. https://www.zdf.de/nachrichten/politik/klima-klimaziele-habeck-umweltbundesamt-co2-100.html.

II. Der Siegeszug des grünen ­Paradigmas

Begonnen hat die Geschichte eines gesellschaftlich relevanten Umweltbewusstseins in der Bundesrepublik Deutschland durch einen Gewerkschafter und Sozialdemokraten: Heinrich Deist. Er arbeitete nach dem Zweiten Weltkrieg zunächst als Mitarbeiter des DGB-Vorsitzenden Hans Böckler und stieg dann zum Aufsichtsratsvorsitzenden des Stahlunternehmens Bochumer Verein auf.

Willy Brandt: Der Himmel über der Ruhr muss blau werden