Engel im Schatten des Flakturms - Michael Kanofsky - E-Book

Engel im Schatten des Flakturms E-Book

Michael Kanofsky

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Beschreibung

Ein Kaffeehaus in Wien. Der namenlose Ich-Erzähler, Schriftsteller und „Abenteurer in eigener Sache“, wartet auf seinen Nachtzug nach Berlin. In der dort von seinem verstorbenen Freund und Mentor Stidmann geerbten Wohnung will er nur eines: Schreiben. Dieses Vorhaben wird allerdings gehemmt durch den Nachlass des Literaturwissenschaftlers Stidmann. Darunter finden sich drei Briefe von drei Frauen, die den Erben in ihren Bann ziehen. Er begibt sich auf Spurensuche um die halbe Welt, gerät dabei in kuriose Abenteuer und begegnet Menschen, wie sie sonst nur in Romanen vorkommen. Und immer wieder geht es um „Fragen der Produktivität“: Wird es dem Schriftsteller gelingen, sein Werk zu vollenden?

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verlag duotincta

Michael KanofskyEngel im Schatten des FlakturmsRoman

Michael Kanofsky wurde in Fürth geboren. Er lebt und arbeitet seit 2016 in Berlin, davor viele Jahre in Wien. Nach einem Studium der Sprach- und Literaturwissenschaften an der LMU München wurde er Werbetexter und Autor.  Es folgten verschiedene Veröffentlichungen in Literaturzeitschriften und Anthologien. Auszeichnungen erhielt er in Leipzig und Berlin für sein Hörspiel zukunft, re-visited – materialien und textmodelle für die produktion literarischer und filmischer utopien.

www.michaelkanofsky.de

Für L.

Sollte jemand meinen, die in diesem Roman beschriebenen Orte und Weltgegenden entsprächen nicht der Wirklichkeit, wäre es vielleicht gut, diese Gegebenheiten noch einmal gründlich in Augenschein zu nehmen. Die Dinge ändern sich bekanntlich schneller, als man denkt.

]Departure. Ich sitze im Prückel. Heute: zum letzten Mal. Draußen schnurrt eine Niederflurtram über die Ringstraße. Der Philosoph Sloterdijk schwingt sich auf sein schwarzgelacktes Bike: braust zu neuen Diskursen oder einer seelenverwandten Studentin mit Modelkörper, wohnhaft in Wien-Margareten, Gemeindebau, vierte Stiege. Taubenmist, angetrocknet auf dem Luegerdenkmal. Davor, hockend im dürren Wiesengras, drei, vier Besoffene, die Dosenbier aus ihren Plastiksackerln kramen: heute im Angebot für fünfundvierzig Cent bei Interspar. Violett neont es herüber vom Museum für Angewandte Kunst. Ein erfolgsverwöhnter Wichtigtuer, elegante Laptoptasche, Sonnenstudiogesicht, kantig, entschlossen, dazu hellbraune Budapester, und in der linken Hand ein Stanitzel Erdbeereis, besteigt ein Taxi. Der Chauffeur schließt den Kofferraum, schwungvoll: ein fröhlicher Mann. Möwen tanzen über dem Wienfluss. Vor den Kiosken bei der Brücke leuchten die Blumen: tellergroße Sonnen. Der Nachtzug nach Berlin verlässt Wien um Einundzwanziguhrfünfzig. Brěclav. Prag. Dresden. (Du hast also Zeit. Nimm sie dir.)

Vom Windfang des Kaffeehauses aus gesehen ist mein Platz auf der rechten Seite: am Fenster, also dort wo sich bekanntermaßen die nischigen Zweiertische befinden. Es ist nicht schwer, mich an jener Stelle auszumachen: ich trage eine Brille mit dunklem Hornrand, mein graublondes Haar schulterlang, dazu Furchen im Gesicht. Und die Segelohren nicht zu vergessen. Die Nase: gewöhnlich. Besondere Kennzeichen: keine. Das Hemd: schlammfarben. Auf der Fensterbank, neben der kugeligen Lampe, eine für Abenteuer aller Art zweckdienliche Jacke. Unter dem Tisch: meine lederne Reisetasche. Vor mir ein Glas Rotwein. Daneben das Notizbuch. Schwarzer Einband. Quartformat. Kariert. Lesebändchen. Kugelschreiber (ein Geschenk der Gräfin, die du nicht mehr triffst: schöne Zeiten in ihrer alten Döblinger Schlampenvilla, jaja: aus und vorbei).

In Berlin wartet ein Schreibtisch auf dich. Er steht, einigermaßen monströs, in der Wohnung von Dr. Stidmann: vor einem hohen Fenster mit Blick auf den unten schwarzbraun dahinziehenden Kanal. Die Leiche Stidmanns hat man damals in der randvoll gefüllten Badewanne im geschmacklos hellgrün verfliesten Badezimmer der Wohnung gefunden. Der Fön, noch umkrampft von Stidmanns rechter Hand (rigor mortis), hatte eine Leistung von eintausendfünfhundert Watt, beachtlich für ein Gerät aus einem Moabiter Billigkaufhaus. Die Garantie war allerdings abgelaufen, made in Taiwan.

Während ich an Dr. Franz Stidmann und sein Schicksal denke, schreibe ich in das Notizbuch. Zeilen zu einem Werk, das ich an Stidmanns ehemaligem Schreibtisch endlich vollenden will. (Das ist dein Plan. Hast du die Kraft dazu?)

Der Kellner bringt Würstl, Brot, Gebäck, Senf. Ich trinke von dem Wein. Bestelle neuen. Denke nach. Schreibe in das Notizbuch. Erinnere mich. Um diese Jahreszeit war ich mit der Gräfin zumeist im nördlichen Frankreich. Normandie. Bretagne. Ihre langen brünetten Haare hatten so hübsch im Wind geflattert, draußen am Meer und während der Fahrt in ihrem dunkelblauen Cabriolet (erinnerst du dich?). Lass uns aufbrechen, hatte sie gesagt. Lackierte Zehen, himbeerfarben waren sie zwischen den Sandalenriemchen aufgeblitzt. Das verfickte Döblinger Villenbett: für zwei Wochen leer und verlassen. Ich sehe die hinkende Bedienerin vor mir. Wie sie entschlossen die Laken herunterreißt, die Kopfkissen, die Bezüge, die sündteure Matratze im prüfenden Blick. Dann endlich: das Meer. Das hübsche Cabriolet, parkend vor einem Restaurant mit Sicht auf den Strand. Tischdecken, rotweiß kariert, natürlich, das muss so sein. Der Wirt trug erwartungsgemäß eine Baskenmütze, ein freches Schnurrbärtchen, und war auch ansonsten ganz und gar Postkarte. Moules frites. Wein. Crème brûlée. Käse. Dann weiter über die Küstenstraße. Von Concarneau nach Brest, das ich mir ansehen wollte, weil der Schriftsteller Robbe-Grillet dort geboren war. Die kleinen Streifen weißer Gischt, die heimtückischen Bewegungen des Meeres zwischen den riesigen übereinander getürmten rosafarbenen Granitblöcken, die Trichter, die am Fuß der Felsen ständige, fast unsichtbare Strudel in den Sand gruben, die trügerischen Strände und die fälschlicherweise beruhigende Regelmäßigkeit des Wellengekräusels, diese ganze ebenso anziehende wie furchterregende aquatische Welt war der bevorzugte Stoff meiner bösen Träume.

Ausgiebige Rast in einem Terrassencafé am Hafen. In rauen Böen und in der Sonne verblichene Korbstühle. Weiße Segel in der Bucht: dreieckig wie geschlossene Falterflügel, aufgespießt auf graublauem Grund. Der Leuchtturm: ziegelrot über einem schartigen Felsvorsprung. Küsse. Umarmungen. Blicke.

Später: weiter zu dem Hotel in einem Küstendörfchen, wo die Kopfkissen und Betten so dick waren, dass wir uns darin verloren.

Am Morgen: Muschelnsammeln an der Mole, hinter uns die Dünen, das Seegras im Wind, der Geruch großer Erwartungen. Im Hotelgärtchen auf einer Bank die Möwen zählend. Die Pächterin sieht uns dabei zu, die Arme vor der Brust verschränkt. Auf einer Schaukel: das Töchterchen der Pächterin, pausbackig. Die Gräfin zeigt, eine Hand vor die Augen haltend, denn es ist Mittag und die Sonne steht hoch, zum Himmel hinauf. Dort oben ein dunkelblauer Heißluftballon, seine schimmernde Außenhaut bedruckt mit der Reklame für eine Sonnenschutzcreme. Trés jolie, sagt die Gräfin. Lass uns davonfliegen, sagt die Gräfin, im Wind, und mit den Wellen. Wir lachen.

Stidmann und ich haben uns stets hier im Café Prückel getroffen, wenn er wieder einmal in Wien zu Gast war. Meist in einer der schon erwähnten Fensternischen einander gegenübersitzend haben wir dann philosophiert, debattiert, schwadroniert, räsoniert. Quantenphysik, Globalisierung, Digitalkultur, die Mondphasen, Romantheorien, dialektischer Materialismus, Pornografie, das Schreiben an sich, Heinrich von Kleists Grabstätte am Wannsee, Trakl und die anderen. Wir hatten uns viel zu erzählen. Originalität und Alkoholkonsum: gegen Einundzwanziguhr waren wir zumeist in Bestform. Höhenflüge. Kellner, die Rechnung!

Stidmann war es auch, der mich mit der Gräfin bekannt gemacht hatte. Ich erinnere mich: die Österreichische Nationalbibliothek. Stehtische mit herabfallenden weißgestärkten Tischdecken. Blumenarrangements. Die Welt der Wissenschaft bei Gurkensuppe, Shrimps und Schampus. Stidmanns weitschweifender Vortrag über Proust, seine Freunde, seine Feinde, seine Kritiker. Woher Stidmann die Gräfin kannte, wusste ich nicht. Später: mit den Kollegen in eine Bar. Innere Stadt. Die Gräfin im Schlepptau. Noch später dann: im Bett. Neunzehnter Bezirk. Nähe Wertheimsteinpark. Betrunkene Küsse im Taxi. Zerwühlte Laken. Eine Flasche Pol Roger: leer und korkenlos kullert sie über den im Dunkeln schwarz erscheinenden Dielenboden. Rund um den gräflichen Bauchnabel: eine Tätowierung in Gestalt der Sonne.

Offenbar bin ich Stidmanns einziger Freund gewesen. Sein nur wenige Zeilen umfassender Abschiedsbrief verwies auf einen Notar mit Kanzlei am Mehringdamm, Ecke Hagelberger Straße, Berlin-Kreuzberg, dritter Stock links. Eine schnippische Göre von Assistentin (platinblonde Schnepfe im Hosenanzug, flachbrüstig und schmallippig, mit schwarzen Billighighheels an den ansehnlichen Füßen) lässt mich warten. Die Testamentseröffnung: profane Bürokratie. Ich erbe die Wohnung, die der Germanist und Romanist Dr. Franz Stidmann zwanzig Jahre lang bewohnt hat, sagt der Notar. Drei Zimmer, Nähe Schöneberger Ufer, zweites Stockwerk, Balkon, Wannenbad (locus mortis).

Der Schreibtisch: eine Art Pseudo-Empire, überladen mit kuriosen Ornamenten und unverrückbar schwer steht er vor dem Fenster, das auf den Kanal hinausgeht. An den Wänden: meterweise Regale, Stidmanns Bibliothek. Nach der Besichtigung der Wohnung (den Schlüssel erhielt ich vom Hausmeister, einem gewissen Herrn Rogow): gleich wieder zurück nach Wien, wo ich jetzt, zwei Monate später, im Prückel sitze, den bis auf einen krustigen Senfrand leeren Teller und die auf dem Tischtuch verteilten Gebäckbrösel zur Seite schiebe und mich zurücklehne, um mich auf eine erneute (letzte? endgültige?) Reise nach Berlin und an Stidmanns Schreibtisch vorzubereiten.

Da betritt ein mehr oder minder bekannter Schauspieler vom Theater das Kaffeehaus, gefolgt von der üblichen Entourage. Die Deckenluster und die Tischlampen geben jetzt fahles Licht. Der pyknische Nestroydarsteller, ansonsten jung und schön, mit einem Wort: ein verwöhnter Bengel, belegt, umringt von den ihn begleitenden koksnasigen Nichtsnutzen und drei offenbar zu allem bereiten grisettenhaften Weibsbildern, einen der großen Tische vorne links. Ich ordne die Gebäckbrösel zu einem hellbraunen Hügelchen (genau wie damals in Brest: in einem Restaurant, das La Maison du chat-qui-pelote hieß und wo sich die Reste unserer Baguette wie von selbst zwischen den Fingern zerrieben hatten, weißt du noch?).

Mit schmalzgebackenem Lächeln bestellt der Burgschauspieler Champagner der mittleren Preislage. Es gibt offenkundig etwas zu feiern. Die Menge glotzt. Die Kellner schwirren herum. Beim Stiegenabgang zu den Toiletten verfängt sich eine schwungvolle Touristin in einem einsamen und zudem boshaften Tischbein. Kaiserschmarrn! In solchen Momenten vermisse ich Stidmann schmerzlich. (Ein Blick auf die Uhr: in anderthalb Stunden solltest du dich am Bahnsteig einfinden.)

Auftritt einer Dame mit Hund: alte Fregatte, Josefstadt. Der Hund, ein Doberpinscher, schlurft an mir vorbei, der Racker riecht, wie zu erwarten, ein wenig nach Erbrochenem. Ein Wink, und schon stellt der Kellner eine Schüssel mit Wasser vor die dankbare Hundeschnauze. Die Schüssel ist aus blinkendem Metall, ein Umstand, der in mir sogleich das Bild eines Spitals oder gar Leichenschauhauses evoziert. Totenbleiche Kacheln. Beängstigende Kühle. Desinfektionsmittel. Morgue. Ohne Zweifel war Stidmanns aus dem abgestandenen Badewasser geborgener starrer blasser Körper obduziert worden. Klirrend fällt das blutverschmierte Skalpell in die Metallschale. Der Berliner Pathologe (ein ursprünglich aus Krasnojarsk stammender und seit Ewigkeiten in Charlottenburg lebender untersetzter Sechziger) wischt sich den Schweiß von der Stirn und löst die Schlaufen des hellgrünen Kittels: der wäre erledigt.

Das vom gierigen Schlabbern des Dobermanns erzeugte Geräusch vermischt sich mit dem Stimmengewirr der Gäste zu einer dadaistischen Kulisse. Die josefstädter Fregatte lacht über einen Witz des Kellners, den keiner versteht (in meinen Augen ist der Kellner ein halbgarer Hallodri, ein Praterschlingel erster Güte). Ich bestelle ein weiteres Glas von dem wirklich nicht üblen Blauen Portugieser. Draußen rumpelt ein Fiaker vorbei, ohne Fahrgäste, der schwarzmelonte Kutscher windschief auf dem Bock, der Schatten des Körpers des Kutschers fällt auf das Pflaster. Passanten strömen in die Lokale. Vor dem Lift zur U-Bahn schafft die Polizei einen halbwüchsigen Randalierer beiseite. Jugend ohne Gott.

Jetzt hat der Schauspieler, Ronagl, Renagl, Rosnagl?, zu deklamieren begonnen. Seine Nase glänzt rot im Schein der Luster, die Augen seiner Apologeten leuchten gierig. Der Komödiant hatte gewöhnliche Züge, die wie Theaterdekorationen sich nur dazu eigneten, aus der Ferne betrachtet zu werden, klotzige Hände, große Füße und schwere Kinnbacken. Er riß seine gefeiertsten Kollegen herunter, war voll Hochmut gegen die Dichter, sagte »mein Organ, mein Äußeres, meine Mittel« und schmückte seine Reden mit dem Email von Worten, deren Sinn er selbst kaum ahnte, die er jedoch sehr schön fand, wie »Morbidezza, Analogie und Homogenität«.

Ich wende mich wieder meinem Notizbuch zu. Zuflucht in ein kleinkariertes Weiß. Der Schreibtisch, der mich in Berlin erwartet, nimmt, wie erwähnt ist er kolossal und wuchtig, fast ein Drittel des Raumes ein. Auf der nussbraungebeizten Platte breitet sich, almmattengleich, ein Samtbelag von dunkelgrüner Farbe aus: er dehnt sich weit nach hinten und zu den Seiten hin aus, eine leere glatte Fläche, auf der du dir jetzt, mittendrin, dein Notizbuch liegend vorstellst, einsam wie eine schwarze Insel in einem algengrünen Meer. An ihren östlichen und westlichen, nördlichen und südlichen Eckpunkten ist die Schreibtischplatte abgerundet. Dazu: eine geschwungene Lampe aus Messing und ein einschüchternder Goethekopf auf einem Marmorsockel. In Gedanken siehst du dein Notizbuch nun aufgeschlagen vor dir: zwei leere Seiten nebeneinander, die beschrieben werden wollen. (Lass dir durch die beeindruckende Monumentalität von Stidmanns Schreibtisch keinen Schrecken einladen. Produziere!)

Zu Stidmanns Beerdigung, eine Woche nach seinem Tod, war ich dann erneut angereist. Streifiger Regen, als ich in Tegel den Expressbus besteige. In meinem Notizbuch steht: Westhafen, grau in grau. Containertürme. Maersk. China Shipping. Hamburg Süd. P & O. BEHALA. Schwerölgestank. Ein Angler am Ufer des Flusses, den Kopf unter einer orangefarbenen Plastikhaube. Gelblicher Wasserschaumschmutz vor dem Bug einer schlotenden Barkasse, die man auf den Namen Spreerose getauft hat.

Urnenfriedhof. Seestraße, Wedding. Auf einem Stein lese ich: Hier ruhen zweihundertfünfundneunzig Opfer der nationalsozialistischen Diktatur. Ein sanfter Wind bringt das Blättermeer über mir zu einem andächtigen Rauschen. In den Büschen lästern die Spatzen. Der Pfarrer, der die Urne hält, lächelt: der Himmel hat aufgeklart. Einer von Stidmanns Institutskollegen hält eine Ansprache: den Blick nach unten gesenkt. Asche. Staub. Amen. Mit einem Papiertaschentuch fahre ich mir über die Augen. Mein Mund ist trocken. Die Kehle klosig. Was man über Stidmann erzählt, kommt mir fremd vor. Handelt es sich um eine andere Person? Nach einer halben Stunde: die kleine Trauergemeinde zerstreut sich. Stidmanns Forscherkollege reicht mir die Hand, Worte werden gewechselt, Blicke und Gedanken ausgetauscht, Stidmann hätte von Wien stets geschwärmt, sagt Professor Reichenbach (Literaturwissenschaftler wie der Verblichene). Auch er kenne Wien, sagt Reichenbach. Einmal habe er gesehen, wie einem betrunkenen Kutscher die Pferde durchgegangen seien: die Gäule hätten Schaum vorm Maul gehabt, die vier Frauen im Fiakerwagen geschrien, und vor dem Parlamentsgebäude, dort wo die Straßenbahn links in die Josefstädter Straße einbiegt, sei die lange Peitsche mit einem gehörigen Schnalzer auf die Straße herabgefallen und von mehreren Fahrzeugen überrollt worden. Bei einem anderen Besuch der Stadt habe man ihm, Reichenbach, direkt vor dem Stephansdom!, das Fell über die Ohren gezogen und ihm überteuerte Karten für ein obskures Mozartkonzert verkauft, das in einer Art Hinterhof stattgefunden habe. Die sechs Musiker hätten billige Perücken getragen, sagt Reichenbach, und einen verkommenen Eindruck gemacht. Così fan tutte. Während desselben Wienaufenthaltes, so Reichenbach weiter, sei er am Naschmarkt beinahe in eine Schlägerei geraten: ein betrunkener Standbesitzer, ein Waldviertler, habe eine Gruppe russischer Touristen des Diebstahls bezichtigt. Beweisen konnt’s keiner, und die beiden Polizeibeamten seien wieder abgerückt. Wien sei ihm auch deshalb in einiger Erinnerung, so Reichenbach, weil er dort einmal in eine wirklich abscheuliche Kaschemme geraten sei, wo die Frauen silberne Schaftstiefel getragen hätten, und der Fusel beim besten Willen nicht zu trinken gewesen sei. Am Rande der Leopoldstadt muss das gewesen sein, sagt Reichenbach, in einer Gasse, von wo aus man eine Donaubrücke sehen konnte.

Später, am Abend, während ich auf den Bus zum Flughafen Tegel warte: ich kaue noch immer an der inzwischen nur mehr lauwarmen Pizzaecke, die ich mir an einer Neonbude, hundert Meter von der Bushaltestelle entfernt, gekauft habe. Der Mann, der das fettige Dreieck aus dem unter Rotlicht glänzenden Pizzarad herausgezirkelt hatte, trug Vollbart, Unterarmtattoos, ein Golduhrimitat, Kopfhörer und ein freundliches Lächeln zur Schau. An der Budenrückwand, links, neben dem Poster mit einer Ansicht der Hagia Sophia im Frühmorgenlicht, knisterte himmelblau eine elektrische Insektenfalle. An einer goliathgroßen Plastikketchupflasche pappte der Rest einer Papierserviette. Ein Junkie hatte seine dunklen Augenringe in die wenig einladenden Untiefen der Mülltonne gerichtet, war vom Pizzamaster allerdings mit einem Brummen und Rollen der Augen verscheucht worden. Dann endlich: TXL leuchtet es gelb von der Stirn des Busses herab, der nun an der Haltestelle stoppt.

Wieder nach Wien zurückgekehrt, starrte ich, im Bett liegend, an die Zimmerdecke. In seinem Abschiedsbrief hatte Stidmann die Beweggründe skizziert, die ihn zu seinem Schritt veranlasst hatten. In dürren Worten war dort von (vermeintlicher?) Unproduktivität und Lustlosigkeit die Rede. Von Leere, Zaudern und Zögern. Von Kraftlosigkeit und einer permanenten Unentschlossenheit. Von der Unfähigkeit zur Konzentration, und davon, die Dinge vor sich herzuschieben. (Erkennst du dich in diesen Worten wieder?) Eines Tages war es dann soweit: Mit dem Kauf des Föns, ausgerechnet in der Moabiter Stromstraße (sic!), hatte Stidmann das Mittel zur Hand, um seinen letalen Plan final auszuführen. Hatten die Lichter in der Wohnung kurz aufgeflackert, als der auf Stufe vier laufende Fön mit der Oberfläche des warmen Badewassers in Berührung gekommen war?

Die Dame aus der Josefstadt hat inzwischen Gesellschaft bekommen: die gute Freundin krault dem Hund den wulstigen Nacken. Ich sollte zahlen. Gehen. Aufbrechen. Doch wie so oft: ich warte bis zum letzten Moment. Denn noch ist Zeit. Schwungvoll werden die gefüllten Tabletts herumgetragen. Für die Fregatte und ihre Freundin gibt es weißen Spritzer und das Schweinscordon mit Pommes und gem. Salat. Im Schein der Luster werden ihre Frisuren grünstichig. Der Kellner, stoisch, beflissen, versagt sich ein jegliches Lächeln, immerhin: der Stil des Hauses will gepflegt sein, da ist man konsequent. Der Hund, der vom Fußboden aus die Weltlage beobachtet, ist ihm im Weg, aber da ist nichts zu machen. Ein Bebrillter am Tisch in der Nische vor mir hat Schwierigkeiten mit dem Zeitungshalter: die Blätter wollen sich einfach nicht bändigen lassen. Jetzt kommt auch noch der Rosenverkäufer herein: gekonnt setzt er eine Maske aus Zuckerguss auf. So hübsche Damen, sagt er. Die Fregatte vertreibt den zahnlückigen Schmeichler und Störenfried: mit derselben Geste, die sonst dazu dient, den Fliegen den Genuss an ihrem hausgemachten Marillenkompott zu verleiden. Von drüben wabern die Deklamationen des Schauspielers Rosnagl herüber, outrierend. (Es fällt dir schwer, dieses obskure Theater zu verlassen und dich von deinem weinrot gepolsterten Logenplatz, am Fenster rechts, Ringstraßenseite, zu erheben. Aber der Vorhang muss irgendwann fallen: und jetzt ist der Moment gekommen.)

]Engel im Schatten des Flakturms. Du verlässt das Kaffeehaus durch den Windfang: ein dürres Männchen mit buntem Käppi auf dem Schädel wackelt dir entgegen, seinen Rollator vor sich herschiebend, vermutlich einer der hier ein und aus gehenden Malerfürsten. Das Theaterstück drinnen: es geht ohne dich weiter. Auf deinem Platz: nun ein Japaner mit Selfiestick und Wienführer. Speisen gewünscht, der Herr?, wird ihn gleich der Kellner fragen, wohl wissend, dass dieser Herr Kobayashi, Opernfan aus Nigata, kein Wort verstehen wird.

Die Abgase von der Ringstraße haben sich in der lauen Abendluft mit einer Vielzahl von Miasmen bekannter wie unbekannter Provenienz zu einer imposanten Geruchskulisse verbündet. Ich recke die Nase in den kaum vorhandenen Wind: Pferdemist? Aral Ultimate? Wienflussodeur? Reifenabrieb? Herreneaudetoilette? Jasmin? Flieder? U-Bahnabluft? Debrecziner? Hundekot? Eine hübsche Melange: hier kommt alles zusammen. Autos hupen. Straßenbahnen bimmeln. Fahrradfahrer fluchen. Paare umarmen sich. Gemeines Volk. Eine Tätowierte kotzt in das Wartehäuschen der Tram: von seinem dort leuchtenden Werbeplakat blickt der Tennisspieler Rafael Nadal, eine Luxusuhr am Handgelenk, das unsittliche Flittchen böse an. Na warte!

Am Schwarzenbergplatz wechsle ich in die Tram der Linie D, bekannt auch als D-Wagen. Beim Heldendenkmal der Roten Armee salutieren drei wackere Stalinisten: ordensgeschmückte Veteranen der Schlacht am Assowschen Meer. Oben auf seiner Säule: der tapfere Steinsoldat hat den Blick in endlos weite Fernen gerichtet, er hält Ausschau, vielleicht nach seinem Mädchen, das in Dnjepropetrowsk auf ihn wartet, golden schimmert das Hammerundsichelschild in den Flutlichtern. Wie gut es mir geht: ich musste nicht durch mückenverseuchte Sümpfe kriechen, mit zerfetzten Lumpen um die Füße, in kaputten Stiefeln, die Uniform seit Tagen durchweicht. Diese Kälte. Dieser Regen. Schrapnelle in den Nächten, tückisch. Das Untere Belvedere rückt ins Bild: die polnische Kirche gegenüber lässt die Glocken läuten. Um diese Uhrzeit? Das ist seltsam. Aus einem Bierlokal strömen die Menschen heraus: hoffnungsfroh. Am Wiener Hauptbahnhof steige ich aus der Tram. Über mir, an der gläsernen Frontfassade des Bahnhofsgebäudes, schwebt überdimensional ein in Kürze überall neu! neu! neu! erhältliches Smartphone, besser: sein perfekt in Szene gesetztes Abbild, Ikonisierung und Fetischisierung der digitalen Warenwelt, ein Ding aus einer anderen Welt, Versprechung, Verheißung, Verführung, kauf mich! nimm mich! lieb mich!

Auch der Hauptbahnhof Wien ist so gut wie nagelneu, ebenso das gesamte von kilometerhohen Glasbauten geprägte Quartier darum herum. Früher stand an dieser Stelle der olle Südbahnhof mit seiner irgendwie bizarr eckigen Architektur, seinen dunkelblau gekachelten Hallen, den muffigen, gelblich ausgeleuchteten Gängen und dem berühmten Markuslöwendenkmal, das allerdings auch in der neuen Bahnhofswelt seinen Platz gefunden hat, gleich hinter dem Haupteingang neben der Ticketlounge: wer nicht Bescheid weiß, der stutzt und staunt und fragt sich, was denn der Löwe aus der Serenissima hier zu suchen hat, pax tibi Marce evangelista meus. Nun, wie auch immer: die hübsche Romantik der Sommerfrische ist leider Vergangenheit, endgültig. Die Züge nach Kärnten, nach Triest, nach Venedig, sie fahren zwar nach wie vor von hier ab, aber wie schön war das früher! zu Zeiten Schnitzlers und Hofmannsthals! Da ging’s dampfend und fauchend durchs Gebirg, unheimliche Schluchten entlang, durch enge Täler, durch schroffige Wälder, und dann endlich! der Süden, Venezia, die Lagune, der Markusplatz! und schon damals die wirklich furchtbar überteuerten Speisen in den Touristenlokalen, aber was sollte und was soll man machen?

Du erinnerst dich: an deine Reise nach Bologna zu einem weltberühmten inzwischen verstorbenen Semiotiker, Schriftsteller, Philosophen, Literaturkritiker und Essayisten. Zuvor: dein leider nur dreitägiger Abstecher nach Venedig. Die Industrieanlagen bei Mestre. Dann endlich: über die Brücke hinein zum Bahnhof Santa Lucia und mit dem Vaporetto zur Academia und der Santa Maria della Salute. Später dann, in Bologna: angeregte Diskussionen mit dem Professore über Sprache und Zeichen, Bücher und Denker, Filme und Märchen, die piemontesische Küche und die Frauen, natürlich. Mir schwirrte der Kopf. Es gab Zuppa Pavese und Kutteln. Am Nachmittag, der Semiotiker eilte zu einem Vortrag, habe ich mit einer amerikanischen Studentin angebandelt: sie stand vor dem Schaufenster einer Buchhandlung auf der Piazza Nettuno, blassgesichtig und gedankenverloren. Die Sonne schien in goldgeränderte Moccatassen. Am Himmel zeigten sich, zufrieden mit sich selbst, fette weiße Schafe. Der Mozzarella kugelte auf ölglänzenden Tomatenscheiben herum. Sonnenbrillen flanierten vorüber. Fotoapparate klickten. Lachend verdrückten wir die Bruschetta. Vivien aus Portland, Kunstgeschichte im sechsten Semester, ein freches Früchtchen im trägerlosen weißen Top, abenteuerlustig: du hast sie nie wiedergesehen.

Vier Dosen Bier wandern in meine Reisetasche: gekauft zusammen mit einer Packung Sesamgrissini und einem Schinkenkäsesandwich in einem Geschäft in den verwirrenden Untiefen der Bahnhofspassage. Um diese Uhrzeit haben die Menschen Ringe unter den Augen. Sie hasten zu ihren Zügen oder zu den Stationen der U-Bahn, den Reisebusterminals, Taxiständen, Tramhaltestellen, Parkplätzen. Absätze klacken, Koffer rollen, Lautsprecher scheppern, Spielautomaten rattern. Makellose Gesichter und gebräunte Körper auf den Werbeplakaten. Mülleimer werden geleert. Zigarettenkippen zusammengefegt. Ein billiger, ehemals wohl weißer Damenschuh liegt herum, einsam, mit abgebrochenem Absatz. Man stolpert über Herumlungernde. Man glitscht über achtlos weggeworfene Kebabreste. Man sucht nach Halt und Orientierung. Ein Verrückter hält Volksreden. Fanatiker und Weltverbesserer verteilen knallbunte Pamphlete. Gott liebt dich, mein Freund. Der Herr ist auferstanden. Kesse Bengel lassen ihre knackigen Hinterteile kreisen. Couragierte Nachtschwärmer aller Art suchen nach einer gemütlichen Zuflucht. Dirnen ziehen sich die Lippen nach. Strizzis verdrücken sich in die Ecken. Jugendliche mit dunklen Kapuzen über den Köpfen gleiten auf ihren Skateboards vorüber: die Menschen machen den Aggressiven erschrocken Platz. Taschendiebe, wohin man schaut. Irgendwo fliegen die Fäuste. Die Polizei ist präsent: Betrunkene werden in den Schwitzkasten genommen und abgeführt, Terrorverdächtige perlustriert. Ein elektrischer Wischmopp auf Rädern kurvt herum, der Pilot ein Mann aus Wien-Simmering mit Straßenbahnerfrisur und Schnauzbart.

Die Rolltreppe hinauf geht es zum Bahnsteig zwölf: der EuroNight aus Budapest Ostbahnhof Keleti pu rollt schon heran, über Wien-Meidling kommt er. Die Augen der in einer Fabrikhalle in München-Allach erbauten Hochleistungslokomotive werden in wenigen Minuten in der Dunkelheit aufleuchten, und die Reisenden werden aus Respekt vor der Maschinenenergie einen Schritt zurücktreten: der Student der Rechtswissenschaft, der einen Platz an der Freien Universität ergattert hat, das schnatternde Kränzchen älterer Damen, das in Dresden erwartet wird, die koreanischen Touristen mit quietschbunten Sneakern an den Füßen, der tüchtige Handelsvertreter, unterwegs nach Prag, die Mutter mit den quengelnden Kinderchen: sie wird in Brěclav umsteigen, sie will nach Warschau. Andere haben womöglich noch weiter entfernte Ziele: Moskau vielleicht? Denn so steht es auf der elektronischen Anzeigetafel: Zugteilung in der Tschechischen Republik.

Ich stelle die Reisetasche zwischen meine Füße: ein letzter Blick auf die Skyline der Stadt, die von Ferne zu dir herüberglitzert. Nachtgeometrie.

Irgendwo dort, hinter dem Donaukanal: die Wiener Wohnung, die du nie mehr betreten wirst, der Vertrag gekündigt, die Schlüssel bei der Verwaltung, Möbel und Bücher: eingelagert, im Abteil einer Spedition am industriellen Rand des Stadtbezirkes. Die Räume verwaist, das Knarzen der Parkettböden: bis auf Weiteres verstummt. Aus nun trostlosen Zimmern blicken hohe Fenster hinüber in den Park, dort wo die Flaktürme betonbraun zwischen den Bäumen herumstehen, die Deckenfresken mit den putzigen Engeln und Putten auf lindgrünen Zweigen: zurückgelassen, weitläufig umrahmt von verstaubten Stuckaturen. Die Wände kahl, voller schmutziggrauer Schattenränder, rechteckige quadratische oval geformte Überbleibsel der Bilderrahmen: Stiche, Veduten zumeist, Landschaften, Städte, auch Denkmäler, Ansichten der Stadt Paris und ihrer Geheimnisse, die Place Vendôme, der Obelisk von Luxor auf der Place de la Concorde, auch: römische Treppen, die Akropolis um die Jahrhundertwende, toskanische Impressionen, das Themseufer vor London, Klosterruinen und einsame Kirchen, Pferde an einem Kanal, zwei Männer auf einem Kreidefelsen, über das Meer blickend, Ansichten von Nußdorf und Döbling, vom Alsergrund und von der Donau bei Korneuburg, eine Nymphe auf einer Lichtung, verspielt, englische Gärten, ein Hafenstädtchen, pittoresk.

Die Erinnerungen: sie reisen mit dir fort, denn nun dieselt der Zug heran, geführt von der roten Lokomotive, die den Fahrtwind, lau und warm und nach industrieller Schwerstarbeit stinkend, vor sich herschiebt. Druckluftbremsen kreischen, Bewegung erfasst die Menge: Kinder werden schützend zur Seite genommen, Gepäcktrolleys hin- und hergeschoben, Rucksäcke geschultert, Plastiktüten mit Reiseproviant, kitschigen Andenken und sinnlosen Geschenken an den Trageschlaufen umfasst. Aus den Lautsprechern: das wohlklingende Wienerisch einer ehemaligen österreichischen Schönheitskönigin, Miss Austria vergangener Tage, jetzt, wenn man den Gazetten glauben darf, die Geliebte eines belorussischen Öloligarchen und Besitzers einer Dachwohnung mit Blick auf die Pestsäule am Graben. Hier Wien Hauptbahnhof, hier Wien Hauptbahnhof, der eingefahrene EuroNight steht für Sie bereit, Fahrgäste nach Prag und Berlin nutzen die Wagen mit den Nummern 24 bis 32, Fahrgäste nach Warschau die Wagen mit den Nummern 33 bis 40. Bitte beachten Sie: Der Zug wird in Brěclav geteilt. Das blondgelockte Stimmchen wiederholt noch einmal alles auf Englisch, so wird der globalen Psychologie eines Metropolenbahnhofes Rechnung getragen. Der Waggon mit meinem sündteuren Singleschlafabteil: blau und weiß lackiert, Heimatbahnhof Brno CZ. Der Schlafwagenschaffner, gestreifte Weste überm gelben Hemd, grüßt mit ungarischem Akzent, hakt meinen Namen auf seinem Zettel ab, nimmt Ticket und Reisepass. Der Mann, kräftig, und ich hieven die vielgereisten Koffer einer Violett-Toupierten hinauf: die Dame dankt uns mit einem Winken ihres Stockes und schlurft davon. Im Gang: helles Licht, die Klimaanlage surrt, rot leuchten die Buchstaben W und C am anderen Ende, hier ist also schon besetzt. Reisende stehen im Weg. Sperriges Gepäck, mehr noch aber eine gewisse Desorientiertheit, die uns erfasst, wenn wir unterwegs sind, erschwert das Auffinden der richtigen Abteile. Der Schlafwagenschaffner hilft und gibt Rat, blickt auf seine Liste, weist zu den Türen, trägt Koffer und Taschen, tröstet die Fehlgeleiteten, die im falschen Wagen sich befinden, leider. Dann bin auch ich endlich bei meinem Abteil. Du hast den linken Fuß auf die Messingschiene gesetzt und versuchst vergeblich, mit der rechten Schulter die Schiebetür etwas weiter aufzustoßen. Du zwängst dich durch die schmale Öffnung und ergreifst deinen dunklen, flaschengrünen Koffer aus genarbtem Leder, diesen nicht zu großen Koffer eines Mannes, der zu reisen gewohnt ist, ergreifst ihn mit der rechten Hand, die trotz seines geringen Gewichtes warm geworden ist, weil du ihn bis hierher getragen hast, hebst ihn an dem klebrig feuchten Griff hoch und spürst, wie nicht nur die Muskeln und Sehnen deiner Fingerglieder, deiner Handfläche, deines Handgelenkes und deines Armes sich anspannen, sondern auch die deiner Schulter, der rechten Hälfte deines Rückens und die der Wirbelsäule vom Hals bis zu den Hüften.

Ich lösche das Kabinenlicht und schiebe das schwarze pappige Fensterrollo nach oben: draußen der Schlafwagenschaffner, er schwatzt und raucht und schäkert mit seinen gefällig uniformierten Kolleginnen und Kollegen. Sie machen Witze auf Kosten der Fahrgäste, geben pikante Geschichten allein reisender Damen zum Besten und erzählen sich schienenbezogene Schauermärchen. Gepäckwägelchen werden zusammengeschoben. Verspätet Eingetroffene hetzen keuchend heran, Rollkoffer hinter sich herziehend, ihre Tickets in den Händen wedelnd. Dann: die Signale schalten auf grün, der Zug ruckt an, der Bahnsteig bleibt zurück, dort: einige tapfer Winkende mit Tränen in den Augen und Papiertaschentüchern in den Händen. (Gehörst du nicht selbst zu denen, die einem abfahrenden Zug, in dem ein Mensch sich befindet, den man schätzt, vielleicht sogar liebt, so lang hinterherschauen, bis der Zug ganz aus dem Blick verschwunden ist, sich das Rot seiner Rücklichter immer weiter in der komplexen Umgebung auflöst, bis schließlich nichts mehr von diesem Leuchten übrig bleibt als ein Loch in der Zeit, und du endlich kehrt machst, um von dem inzwischen verwaisten Bahnsteig zu verschwinden?)

Ich lasse das Licht gelöscht, blicke aus dem Abteilfenster in die nächtliche Schwärze: ruckelnd geht es über Weichen und über in- und auseinanderfließende Schienenstränge weiter in die Ferne. In den Stellwerken hat man alles im Griff. Die Signale geben freie Fahrt. Vorsicht: Hochspannung!

Dann lösen sich die komplizierten Strukturen des Bahnhofsgebietes endlich auf: Gewerbegebiete und Industrieanlagen und, direkt am Gleis, graubraune Wohnhäuser mit Satellitenschüsseln auf den Dächern und klapprigen Wäscheständern auf den schäbigen Betonbalkonen. Bläulich zuckt das Licht aus den Fernsehgeräten. Irgendwo dort in einem geschmacklos möblierten Wohnzimmer: ein Mann im zerschlissenen Unterhemd. Die Bierflasche in der Hand, vor sich ein aufgewärmter Rest vom Vortag, betrachtet er die wohlgeformten nackten Körper der Frauen, die sich ihm durch die Mattscheibe anbieten. Das ist seine Welt, er hat keine andere. Dann wieder: ein Blick in hell erleuchtete Küchenfenster und in Wohnungen, wo man Gäste bewirtet, gemütlich, heimelig, ein Zuhause, von dem so mancher nur träumen kann.

Die Stadt bleibt zurück. Weiter drüben, hoch droben am Nachthimmel: rotes Leuchten, das die Flugzeuge vor den Schloten der Kraftwerke warnen soll, vor der Spitze des Fernsehturms, vor den Gipfeln der Hochhäuser, die nun mit glitzernden Fassaden an den Ufern der Donau auftauchen. Einsame Vorortbahnhöfe, spärlich beleuchtet, sausen vorüber. Der Schlafwagenschaffner klopft: ich gebe ihm die Liste mit meinen darauf angekreuzten Frühstückswünschen, serviert um Siebenuhr am Morgen, wenn der Zug den Bahnhof von Dresden bereits wieder verlassen haben wird und die gebogenen Eisenstreben der Brücken über die Elbe von der Sonne zum Strahlen gebracht werden. Im Abteil nebenan: das Lachen zweier Frauen, die sich ihren Piccolo gönnen. Das kann ja heiter werden: gackernde Hühner, die von Märchenprinzen träumen und ausgeprägte Rundungen an den falschen Stellen haben. Ich muss an die Gräfin denken. Meine Hand gleitet über ihren flachen Busen, Küsse, schwarzes Haar zwischen meinen Finger, draußen vor den Fenstern: Döblinger Gärten im Frühling, lange her, aus und vorbei.

In voller Fahrt geht es durch Niederösterreich: die Kraft der Bewegung, sie hat mich jetzt ganz erfasst. Vom unteren Bett des nur von mir besetzten Schlafabteils, die Arme hinter dem Kopf verschränkt, starre ich zum schwarzen Rechteck des Fensters, in dem von Zeit zu Zeit blendendes Weiß im Rhythmus der Vorwärtsbewegung aufblitzt, einsam leuchtende Lebenszeichen durchfahrener Provinzbahnhöfe. Die wenigen Menschen, die um diese Uhrzeit an den Bahnsteigen stehen: so mancher von ihnen wäre jetzt wohl gern an Bord meines Zuges, unterwegs zu neuen Zielen, fliehend vor Alltag, vor familiärer und sonstiger Verantwortung, auf dem Weg in das Unbekannte, das Fremde, das Abenteuer. (Bist du etwa auf der Flucht?)

Im Bläulicht der Nachtlampe: es fällt mir schwer, in das Notizbuch zu schreiben, das Papier schummrig, die Schrift verrutscht im Ruckeln des Zuges, von nebenan Hühnergackern auf hohem Promilleniveau. Der Abschied von Wien und der Plan, das in Wien begonnene Werk nun in Dr. Stidmanns Berliner Wohnung fortzusetzen und, wenn möglich, zu finalisieren, beides gehört untrennbar zusammen. (Was wäre geschehen, wenn du Stidmanns Wohnung mit dem auf den Kanal blickenden Schreibtisch nicht geerbt hättest? wärst du gescheitert? im und am Schreiben gescheitert?) Der Zug wird nun langsamer: ist das bereits Brěclav? ist womöglich schon eine Stunde vergangen, seit deiner Abfahrt aus Wien?

Dreiundzwanziguhrfünfzig: in Brěclav teilt sich der Zug, werden die Passagiere getrennte Wege gehen, die einen über Brno, Pardubice, Praha, Ústí nad Labem, Dĕčín und Dresden nach Berlin, die anderen über Otrokovice, Přerov, Hranice na Moravĕ, Ostrava, Bohumín, Zebrzydowice, Katowice, Warszawa, Terespol, Brest-Litovsk, Baranovichi, Minsk, Orscha, Smolensk und Wjasma ins unendlich ferne Moskau. Auf dem Bahnsteig reger Betrieb, blau Uniformierte haben sich beschützend in einer Reihe aufgestellt: Cordon, bleu. Der Schaffner sagt Taschendiebe, finstere Banden, Gesindel aller Art, sagt er, besteigt zuweilen den Zug, ohne Fahrschein, aber mit der festen Absicht, den friedfertigen Fahrgästen im Schlaf Wertvolles zu stehlen. Die Passagiere tuscheln. Ja, so etwas erlebt man nicht alle Tage.

Die Schutzleute, der Dienstplan hat sie um den Schlaf gebracht, sind zu allem entschlossen. Die Gesichter unbewegt, die Augen, wenn auch müde, geradeaus, die Hand am Pistolenhalfter, wachsam. Doch alles bleibt ruhig: keine Spur von den Strauchdieben, Arrestierungen werden nicht vorgenommen, die Uniformierten unterhalten sich, schmeißen ihre Kippen ins schottrige Gleisbett.

Ich steige aus: die Beine wollen sich vertreten. Auch in Brěclav: eine milde Abendluft, vermischt mit den unvermeidlichen Gerüchen von Gummi, Metall, Diesel, Schweiß, von in der Nähe ausgebrachten Düngemitteln. Die Zugbegleiter informieren: in fünfzehn Minuten geht es weiter. Der Zug ruckt hin und her: es wird rangiert und manövriert. Die zweite Lokomotive: sie sieht nach vergangenen Ostblockzeiten aus, ein Relikt, kräftig wie fünftausend Kolchosenpferde wird sie vor das hintere Zugteil gespannt, bereit für stunden-, ja tagelange Fahrten durch Birkenwälder, steppiges Land und durch weitläufige Industriegebiete mit rauchenden Schornsteinen, hingeduckten Baracken und tristen Zukunftsaussichten.

Der EuroNight hat sich nun wieder in Bewegung gesetzt: das gefederte Schaukeln des Schlafwagenwaggons lässt mich dösen, im halben Traum erscheint mir Dr. Franz Stidmann, dieser dem Dichter Johnson von Typus und Aussehen her so ähnliche Mensch, groß, glatzköpfig, bebrillt, Friede sei beider Asche, dem in seinem Haus an der Marine Parade in Sheerness-on-Sea auf der Insel Sheppey verstorbenen Schöpfer der Mutmaßungen über Jakob, des Dritten Buches über Achim, der Jahrestage, und dem in seiner Berliner Wohnung aus dem Leben geschiedenen Freund und Literaturwissenschaftler.

Johnson und Stidmann, einer wie der andere von überragendem Verstand (und dir weit voraus in Hellsichtigkeit und Können). In meinem Halbtraum sehe ich mich mit Stidmann in Paris: nach einem Vortrag, den Stidmann an der Universität gehalten hatte und zu dem ich ihn begleiten durfte, finden wir uns in den Hallen wieder, an einem Stand für normannische Austern, wir schlürfen eisgekühlten Weißwein, blicken den Frauen hinterdrein, feixen und grimassieren und betrinken uns am Ende fürchterlich in einer selbst für Pariser Verhältnisse überteuerten, arroganten Brasserie an der Rive gauche. Den Glanz und das Elend der Kurtisanen: wir erleben beides später in einem Pariser Stadtbezirk, vor dem man uns gewarnt hat. Die Drogendealer und Zuhälter aus den Banlieus, cruisend in offenen PS-Boliden, ihre Schlagringe präsentierend, die Kinos und Séparées: schummrig, halbseiden, die Sessel: verschossen und schmutzig, Plüsch und Pleureusen, Frauen in Hotpants: platinblond und knalligrot, die glänzenden Stiefel: schwarzgelackt. Scheppernde Spielautomaten und obskure Wettbüros und irgendwo weiter drüben eine Windmühle, deren Rad aus gelbem, grünem und rotem Licht sich blinkend dreht.

Ich schlage die Augen auf: Eisen kreischt, die Luftdruckbremsen greifen zu, ein Haltesignal. Ich stelle mich an das Fenster, öffne es mühsam einen Spalt, Frischluft strömt aus tschechischen Tieflanden herein, und da ist auch schon das Donnern des Güterzuges zu hören, auf dem Gegengleis rauscht er vorüber, Dutzende betongrauer Tankwagen verschwinden in einer tintigen Nacht.

Im schwarzen Glas des Abteilfensters: mein Spiegelbild, ein paar Kilometer entfernt die blassen Lichter eines Städtchens, das Glimmen einer Tankstelle, am Himmel sichelt der Mond.

Ich bin hellwach: aufgeregt? Vielleicht. Noch ein Schluck von dem Bier, dann: ein Blick auf die Uhr. Wir nähern uns Brünn. Fünfundzwanzig Minuten Aufenthalt. Wenn du Zeit hättest, würdest du jetzt einen Abstecher in die Altstadt von Brno hinein machen, in die Tivoligasse Nummero Neunundzwanzig und in die Thalgasse Nummero Vierundzwanzig: zu jenen Häusern, in denen als Kind der Schöpfer des Mannes ohne Eigenschaften gelebt hatte. Doch fünfundzwanzig Minuten sind zu kurz für große Geschichten, und womöglich stehen die alten Gebäude gar nicht mehr: so bleibt dir nur der Gedanke daran. Immerhin: mit dem Kind und dem Schüler Robert Musil tritt auch Wien wieder vor dein Auge, die Stadt, die du heute für immer verlassen hast. Ich greife zu meinem Notizbuch: als Stidmann wieder einmal zu Besuch in der Stadt war, führte ich ihn zu meinem ersten Wiener Wohnort, der mit Musil, soweit ich wusste, nicht viel, mit seinem Kollegen Doderer allerdings einiges zu schaffen hatte. Die Welt von gestern: durch die Porzellangasse schlendernd, am Gebäude der ehemaligen k. u. k. Tabakregie vorbei, Stidmann mich dabei um seinen polierten Glatzkopf überragend, riefen wir die Dämonen an, trauerten der verschwundenen Architektur des alten Franz Josefs-Bahnhofs nach, wünschten uns den sofortigen Abriss des hässlichen, vor einigen Jahren neugestalteten Bahnhofsgebäudes und tranken Rotwein in einem Café, das früher Brioni hieß und wo Doderer offenbar Stammgast gewesen war. Später dann, natürlich, die Strudlhofstiege hinauf, das lässt sich nicht umgehen, wenn man einen professoralen Gast aus der deutschen Hauptstadt bei sich hat. Weder Stidmann noch ich kannten Musil und Doderer aus dem Effeff, beide gaben wir allerdings Doderer den Vorzug: weil spitzbübischer und humoriger, weil, was für ein Wort: moderner, und, vor allem, weil etwas leichter zu verdauen, Liebe geht bekanntlich durch den Magen. Der Nachlass, trocken wie Knäckebrot, meinte Stidmann und bezog sich mit dieser Einlassung, berechtigt oder nicht, auf den zweiten Teil vom Mann ohne Eigenschaften.

Wir überquerten den Donaukanal bei der Friedensbrücke: war an dieser Stelle nicht genau jener Ort, wo die Figuren aus Doderers Strudlhofstiege vom neunten in den zwanzigsten Bezirk hinüberflanierten? Ich wies Stidmann auf diesen Genius Loci hin. Doch der zeigte mit dem Finger schon nach links. Über den Hügeln von Nußdorf senkte sich der Sonnenball herab, und man konnte das rauschhafte Treiben in den Buschenschanken bis hierher erahnen: säuerlicher Weißwein und schrammelnde Gassenhauer.

Auch mein jetziger Wohnort hat etwas Besonderes, sagte ich damals zu Stidmann, er ist ganz in der Nähe. Wir kamen in die Leopoldstadt, zum Augarten. Die Menschen lagen dort auf den Sommerwiesen. Über den Bäumen stiegen Luftballone auf. Wir mussten uns vor herumschwirrenden Frisbeescheiben in Acht nehmen. Plärrende Kinderwagen wurden chauffiert. Wir wichen Fahrrädern aus. In einem Gartenlokal drängten sich Durstige an der Ausschank. Es gab Frankfurter mit Estragonsenf und furztrockenem Gebäck. Schlager schallten über die Wiesen. Hübsche junge Dinger balancierten auf gespannten Seilen, wagemutig. In den Bäumen Lampions und pubertierende Halbaffen. Teenager in kurzen Hosen mit Baseballkappen auf den Köpfen rauschten auf BMX-Rädern an uns vorbei, machten ihre Sperenzchen. Hunde tollten herum, zerrten an ihren Leinen. An den Mauern bizarre Graffitibotschaften. Tischtennisbälle klackten auf schiefen Steinplatten. Kies und Sand knirschte unter unseren Sohlen.

Dann die Flaktürme: Stidmann hatte seine Augen erschrocken auf die beiden ihm bis dahin nicht bekannten unzerstörbaren Ungetüme und ihre furchteinflößende Ästhetik gerichtet, den etwas niedrigeren Rundgebauten weiter hinten, den hohen Schlanken etwa hundert Meter von uns entfernt. Die letzten Tage der Menschheit: Tiefflieger stoßen herab, auf dem Leitturm erfasst der Schütze das Ziel, das Sperrfeuer der Abwehr bringt die Luft zum Knattern, Tote, Verwundete fallen aus Gottes Hand auf Eisen und Stein. Gibt’s denn so etwas? und ein barocker Garten drum herum? Stidmann: kopfschüttelnd nahm er seine Brille ab, rieb die Gläser mit einem Taschentuch.

Das verwitterte Graubraun der Betonhülle verwandelte sich im Licht des Sonnenuntergangs in ein rostiges Rot, eigentlich ganz hübsch. Aus den Schießscharten flogen Tauben in Schwärmen heraus, sie umkreisten die Türme, flatterten auf die bedrohlich vorspringenden Betonohren, auf denen einst die Geschütze standen. Wir gingen um den Schlanken herum. Der Turm von einem Zaun umgeben: Betreten verboten! Gefahr durch herabfallendes Geröll! Dann der Dicke: noch erschreckender, und an der Spitze stark beschädigt. Funkantennen stachen von dort endlos weit in den Himmel. Stell dir mal vor, du hättest da oben stehen müssen mit Fernglas und Maschinengewehr. Der Berliner Gast schüttelte erneut den Kopf.

Stidmann und ich gingen weiter. Im Augarten-Freibad kreischten Kinder die quietschbunten Rutschen hinab, ihre Mütter rieben sich Sonnenschutz in die Gesichter und wischten über Tablet-PCs, was cremige Spuren hinterließ auf den empfindlichen 12“-Displays, die Väter griffen zu den Bierflaschen und zum Sportteil, gelegentlich erfassten ihre Äuglein einen knappen Bikini und ein darin steckendes, wunderbar geformtes braungebranntes Geschöpf, Wasserbälle flogen durch die Lüfte, nebenan kickte eine Schülermannschaft, auf der Aschenbahn zogen die Läufer vorüber, ein Trupp Gärtner sprengte Rasen und Beete.