Quatre-Bras - Michael Kanofsky - E-Book

Quatre-Bras E-Book

Michael Kanofsky

0,0

Beschreibung

Belgien, Quatre-Bras. Die Abenteuer des namenlosen Ich-Erzählers aus "Engel im Schatten des Flakturms" gehen weiter. Quatre-Bras, ein Örtchen südlich von Waterloo bei Brüssel, hat aus der nach ihm benannten Schlacht von 1815 Berühmtheit erlangt. Britische, niederländische und deutsche Truppen haben dort die strategisch wichtige Straßenkreuzung gegen Napoleons Armee verteidigt. Vier Arme. Vier Richtungen: Der historisch geprägte Ort bedingt die Topologie des eigenen Lebens. Vier Arme. Vier Wege: Welchen davon soll man im Leben einschlagen? Julio Cortàzar, der weltberühmte Schriftsteller, Freund und Mentor des Ich-Erzählers, hilft ihm bei dieser Entscheidung. Den Ausschlag gibt aber der geheimnisvolle deutsch-brasilianische Multimilliardär Antonio-Luiz Kleber. Mit ihm, dem einstigen Schulfreund, verbinden sich die ersten Erinnerungen an Quatre-Bras ...

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 310

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Quatre-Bras

verlag duotinctaQuatre-BrasÜber den Autor1234567891011121314NachwortQuellennachweiseImpressum

verlag duotincta

Quatre-Bras

MICHAEL KANOFSKY

ROMAN

Über den Autor

Michael Kanofsky, geboren in Fürth/Bayern, lebt und arbeitet seit 2016 in Berlin, davor viele Jahre in Wien. Studium der Sprach- und Literaturwissenschaften an der Ludwig-Maximilians-Universität München. Werbetexter und Autor. Zuletzt erschienen im Verlag Klingenberg, Graz, und von Robert Reinagl gesprochen: »Aus dem Nichts kann man alles machen kann man aus dem Nichts. Texte und Hörstücke«. Michael Kanofskys Roman »Engel im Schatten des Flakturms«, der erste Teil der »Packeis«-Trilogie, erschien 2019 bei duotincta.www.michaelkanofsky.de

1

Cortázar hebt den Zeigefinger seiner rechten Hand unter sein hübsches, kantiges, von den Frauen so sehr geliebtes Kinn und richtet ihn dann mit einiger Nachdrücklichkeit auf mich: ich handle mir eine Rüge ein, weil ich den ganzen Tag wieder nichts zu Papier gebracht habe (keine Frage: mein Papierkorb ist ein mit dunkelbraunem Kunstleder bezogener Hort vielfach zerknüllter Hoffnungen, ein gieriger Schlund, in dessen Tiefen meine Unfähigkeit verschwindet, ein praktisches Zeugnis nachhaltiger Unproduktivität). Aber du schaffst das schon, ergänzt Cortázar (er will mich wohl beruhigen, der Beau). Schnippt dann in Richtung Theke, wo der Wirt mit einem bleifarbenen Fetzen hantiert und alles zum Glänzen bringt, ein stoischer Schankphilosoph mit einem apoplektischen Gesicht, das schon alles gesehen hat: drei oder vier Weltkriege, diverse Geldentwertungen, Börsencrashs, Pleiten und Konkurse, Studentenproteste, durch Frittieröl verursachte Brände, Alkoholiker jeder Form und Größe, in der Hitze des Gefechts zerbrechende Billardqueues, bizarre Extravaganzen verwöhnter Gäste, Zechpreller, Frauenfurien, uneheliche Kinder und dergleichen. Cortázar verlangt Rotwein, spanischen, wennʼs geht (allerdings ist die Auswahl in diesem Etablissement überschaubar). Vor uns auf dem windschiefen Tischchen stehen mehrere geleerte Flaschen Stella Artois und ein paar benutzte Gläser für unterschiedliche Einsatzzwecke: einige Likörchen werden es wohl schon gewesen sein.

Viele hier in der Gegend sind fest davon überzeugt: dieses Tabakrauch und Frittenfett, Bier und Wein und den Schweiß der Erinnerungen ausdünstende Billardcafé am äußersten linken Rand des Marktplatzes von Stockel ist der schönste Ort der Welt. Sie mögen recht haben: die Wände vergilbt, die Musikbox seit hundert Jahren oder länger defekt, die Kellner verstaubt und verzweifelt, die über der Theke angebrachte Reklame altbacken und kurios, die Neonlampen flackernd im Takt der Ewigkeit. Die dreivier Tische zur Straße hin werden von scheckigen, flügellahmen, kaum noch zum Gurren fähigen Tauben belagert, nebenan der Laden eines Fischhändlers, man beachte die kunstvolle, wenn auch bereits etwas verblichene Muscheldekoration und den hölzernen Leuchtturm in der Auslage, eine sechzig Zentimeter hohe Replik des Leuchtfeuers, das wir an einer steinigen Mole in Ostende schon einmal gesehen haben. Vor dem Billardcafé parkende Autos, Lieferwagen, ein Fahrzeug der Post und hie und da eines dieser röhrenden Mopeds, gefahren von zahnlückigen Männern, die ohne Hoffnung sind, je wieder eine Geliebte zu finden. Über den Platz, Markttage jeden Mittwoch und Samstag, kurvt die bimmelige Straßenbahn, mit der man in gut zwanzig Minuten in der Innenstadt von Brüssel ist. Um uns herum: das vertraute, nicht allzu aufdringliche Klacken der Billardkugeln. Dieses Geräusch gibt uns eine Art Heimatgefühl, obwohl wir weder in diesem Stadtteil noch in dieser Stadt eigentlich zu Hause sind.

Cortázar steckt sich eine Zigarette in den Mundwinkel: auch diese Geste lieben die Frauen, das steht fest. Der Schriftsteller zieht genüsslich: weiße Ringe kullern zur Decke hinauf. Dort, auf dem schmierigen, rissigen Tapetengelb, hat ein Scherzbold vor Jahren mit einem schwarzen Filzschreiber die inzwischen fahl gewordenen Umrisse einer Schönen verewigt. Wie mag der unbekannte (und vermutlich betrunkene) Zeichenkünstler wohl dort hinaufgekommen sein?

Immerhin: Cortázar, der schon seit Äonen in Paris lebt, ist in Brüssel geboren, während ich, der um fünfundzwanzig Jahre Jüngere, für einige Zeit in dieser Stadt zur Schule gegangen bin. Und hin und wieder kehren wir beide eben nach Brüssel zurück. Dann treffen wir uns meist hier auf dem Marktplatz von Stockel, so wie jetzt, in diesem Frühherbst, unter dem mildgrauen belgischen Himmel mit seiner nieseligen Luft und dem Schwarz der Krähen zwischen gelben und roten Blättern, eine schöne, verheißungsvolle Jahreszeit, in der man Sehnsucht hat nach dem gischtigen Grau des Meeres bei Middelkerke, Wind und Möwen.

Vielleicht fragen Sie sich, ob dieser Cortázar, dieser geniale Schriftsteller und Schöpfer so großartiger Werke wieDer Verfolger oder Rayuela – Himmel und Hölle, ein väterlicher Freund von mir ist? Das ist Cortázar in der Tat: er hat mich gewissermaßen unter seine Fittiche genommen und motiviert mich in meiner Arbeit als Schriftsteller, ein Metier, in dem ich (was Sie sich vielleicht schon gedacht haben) nach wie vor ein Anfänger bin.

Ich erinnere mich: Cortázar trägt einen hellen Trenchcoat. Er geht die Rue de Rivoli entlang, nein: er geht nicht, er schlendert, flaniert, schwebt, er ist groß, eine markante Erscheinung, wie man so sagt, hin und wieder bleibt er vor einem der Geschäfte stehen, wirft einen Blick in die Schaufenster, schnuppert in die Passagen hinein oder blickt den Tauben nach, die sich dort drüben bei der Brücke auf die Weißbrotfragmente stürzen, die von einer Rollator schiebenden Frau spendiert werden. Im Mundwinkel klemmt das Zigarettchen, die schmalen und ohne Frage hübschen Schriftstellerhände stecken in den Trenchcoattaschen, seine Gedanken sind in Buenos Aires oder bei den Frauen, oder bei den Worten und Sätzen, die er später aufschreiben wird, oder bei der Musik, die er so sehr liebt,Scrapple from the Apple, Chasing the Bird, Marmaduke, Thriving from a Riff.

Dass Cortázar einer meiner Helden ist, weiß ich schon seit meiner Studentenzeit in München. Dass ich ihn einmal persönlich kennenlernen durfte: davon hatte ich nie auch nur zu träumen gewagt. Und doch ist genau dies eines Tages geschehen, und mein Leben konnte eine neue Wendung nehmen. Entgegen der wohlmeinenden Ratschläge meiner Freunde verbringe ich meine glücklich langen Semestersommerferien in der Hitze von Paris. Halb bin ich Student, halb womöglich schon der Schriftsteller, der ich einmal sein möchte. Die Menschen sind aus dem urbanen Backofen geflüchtet. Jetzt hocken sie unter gefälligen Sonnenschirmen im Sand der Normandie oder schlürfen Eiskaffee bei Rézard in Deauville. Zu Hause in den Banlieues verglühen derweil die rappigen Beats zu harmlosen Schlagerchen. Der Himmel über dem Eiffelturm hat die Farbe abgestandener Milch. Unter den Glasdächern der Bateaux Mouches kondensieren die Touristen. In den Dächern der Kirchen verdursten die Fledermäuse. Und in meinem Pensionszimmer in der Rue Jacob hat sich die Schwüle auf Dauerbesuch eingerichtet (die Fenster und Außenrollläden öffne ich ausschließlich über Nacht, was allerdings kaum Abhilfe bringt, mir aber immerhin gelegentlich den akustischen Genuss ekstatischen Stöhnens verschafft, das von irgendwoher aus einem offenen Fenster kommt). Und doch: ich liebe das einsame Schreiben in den heißen Sommern in den leeren Städten mit ihren leeren Straßen und den leeren Geschäften, man glaubt ganz für sich zu sein, allein auf der Welt, als wäre alles nur für einen selbst vorhanden, die Dinge klarer, präsenter, die Luft erfüllt von staubigen, hoffnungsschwangeren Gerüchen, durch die hölzernen Außenrollläden dringt das Licht der Sonne herein, legt sich in dünnen Streifen auf das verwitterte Bodenparkett, dann bin ich ganz bei mir angekommen, ganz für mich in einer sommerlich leeren Welt, in der Welt des Schreibens an dem wackeligen Schreibtisch meiner Pension in der Rue Jacob.

In den Parks lässt es sich immerhin aushalten. Dort sitze ich dann auf einer Bank unter einer Platane und beobachte den Gendarmen, der vor dem Voltaire-Denkmal auf und ab geht. Ein Segelboot tuckert ferngesteuert auf dem von rund geformten Betonsteinen gefassten Teich. Ein Touristenpärchen knabbert lustlos an ihren Baguettes herum. Das knallbunte Wägelchen des Eisverkäufers rollt müde heran. Die Oberkörper der Ball spielenden Tunesier sind nackt. Wäre es nicht schön, wenn sich diese junge Frau dort drüben, die hübsche Kundin am Blumenstand, ein wenig neben dich setzen würde?

Später (am Nachmittag): ich finde mich in einer Buchhandlung an der Rue Saint-Jacques wieder, greife in die Regale, blättere in den Büchern, Futuristen, Konstruktivisten, Positivisten, Strukturalisten. Mein Kopf schwirrt. Ganz ohne Zweifel bin ich in ein veritables Biotop für Intellektuelle geraten. Außer mir sind noch drei andere Kunden anwesend: eine jüngere Frau (womöglich Studentin der Soziologie, wohnhaft in einem Studentenheim in Paris-Nanterre) sowie zwei etwa vierzigjährige Männer pyknischer Statur, die sich mit der einen schwarzen Rolli tragenden Dame an der Kasse unterhalten und dabei versuchen, als profunde Kenner der Werke Paul Virilios zu erscheinen. Dann: das Türglöckchen schlägt an, und nun steigt zarte Röte auf im Gesicht der bubiköpfigen Buchhändlerin. Cortázar hat die Buchhandlung betreten. Die beiden Intellektuellen stecken die Köpfe zusammen, tuscheln, dann verdrücken sich die einstigen Kampfgenossen Cohn-Bendits in eine der hinteren Ecken. Ich stelle den Band aus den Tagebüchern der Brüder Goncourt wieder an seinen Platz. Damals, wie viele Jahre mag das nun wieder her sein?, trug Cortázar noch (oder schon wieder?) einen Vollbart. Wenige Wochen zuvor war er aus Nicaragua zurückgekehrt, und nun steht er hier in dieser Buchhandlung an der Rue Saint-Jacques und hält ein Schwätzchen mit der hübschen Buchhändlerin. Geistesgegenwärtig gehe ich zur Literaturabteilung hinüber und halte dort nach Werken von Autoren Ausschau, deren Nachname mit dem Buchstaben C beginnt. Wenige Sekunden und Handgriffe später halte ichDie Gewinner in Händen, umfasse den Band ehrfürchtig (beinahe wie eine Bibel) und eile damit zur Kasse. Ob es wohl aufdringlich ist, wenn ich den Meister um eine kleine Widmung bitte? Die Buchhändlerin will mich gleich abfertigen und tippt schnell den zu zahlenden Betrag in ihre Kasse. Sie möchte dem großen Schriftsteller wohl in Ruhe den Bart kraulen, ihn zu einem Gläschen in ihre Wohnung einladen. In der Tat: die Augen der Frau, sie sind verführerisch, tief und unergründlich, wie man so sagt. Und der schwarz lackierte Bubikopf ist wirklich niedlich (dabei hat sie einen Freund, einen Aufstrebenden von der ENA, Assistent des Kulturattachés und zur Zeit in diplomatischer Mission unterwegs in Westafrika oder weiß der Himmel wo!). Doch Cortázar hat bereits bemerkt, dass ich eines seiner Bücher zu kaufen beabsichtige. Mit dem Scharfblick des Künstlers erkennt er sogleich die Schüchternheit des Studenten. Um seinen Mund spielt ein Lächeln: eifersüchtig beobachtet von der Bubiköpfigen.

Zeigen Sie einmal her, junger Mann. Cortázar streckt die Hand nach dem Buch aus. Nur keine Furcht, ich beiße nicht. Die Buchhändlerin verzieht ihr lippiges Rot zu einem schmalen, finsteren Kräuseln: sie sieht sich offenbar um ein Schäferstündchen mit einem weltberühmten Schriftsteller betrogen. Woher kommen Sie?, fragt Cortázar, während sich die Buchhändlerin einer Kundin zuwendet, die soeben das Geschäft betritt. Aus München, sage ich, ich studiere dort Literaturwissenschaften.

Inzwischen haben wir den profanen Bereich um die Kasse verlassen und sitzen auf den zwei kargen Sesseln vor dem raumhohen Strukturalistenregal. Schräg gegenüber hängt, schmal gerahmt, die Reproduktion eines Aquarells von George Grosz,Der Feind des Regenbogens, ein Bild, dessen Inhalt und Bedeutung sich mir in diesem Moment nicht erschließen will. Aus den Augenwinkeln sehe ich die beiden Cohn-Bendit-Freunde die Buchhandlung verlassen (richtig: das Glöckchen an der Tür).

München, greift Cortázar das von mir Gesagte auf, München, dort bin ich einige Male gewesen. Dicke weiße Schafe auf lackblauen Himmeln. Goldgelb das Bier in den Maßkrügen. Tief wie Schluchten die Dekolletés der Frauen. Das knallige Scheppern der Blechmusik auf dem Oktoberfest. Im Hofgarten dagegen hübsch zart das nachmittägliche goldrandige Klirren der Kaffeetassen. Vom Odeonsplatz steigen die Tauben in Schwärmen über den Glockenturm der Theatinerkirche. Das Siegestor: wie es gestrahlt hat in den Schwabinger Nächten! Und die Genossinnen an der Universität: langbeinig und blond zumeist, wenn auch ein wenig hochnäsig. Cortázar fasst sich an den Bart. Er schlägt nun das Buch auf, das von ihm geschaffen wurde, denkt einen Augenblick nach und schreibt dann etwas für mich hinein:Dies wiederlesen heißt, den Kopf sinken lassen, bei einer neuen Zigarette vor sich hinfluchen, sich fragen, was für einen Sinn es hat, auf dieser Maschine herumzuhacken, für wen, sag mir mal, wer, der das liest, wird nicht die Achseln zucken, die Sache mit einem Etikett versehen, sie kurzerhand abtun und sich etwas anderes vornehmen, eine andere Erzählung. Julio Cortázar, für einen jungen Freund. Wieder geht die Türglocke. Cortázar blickt mir in die Augen. Gibt mir Die Gewinner zurück, sein Buch, nun noch ein wenig reicher dank der persönlichen Widmung des Schriftstellers.

Nehmen Sie dies als Anregung und Motivation, junger Freund, sagt Cortázar. Dann erheben wir uns. Die Wangen der Buchhändlerin freuen sich über ein Küsschen Cortázars. Ich nicke nur stumm zu ihr hin, meinen Schatz in Händen haltend, der heute, so viele Jahre nach dieser Begegnung in der Buchhandlung an der Rue Saint-Jacques, einen Ehrenplatz in der Bibliothek meiner Berliner Wohnung einnimmt: offen steht Cortázars Buch dort im Regal, so aufgeschlagen, dass ich die motivierenden Worte des Autors stets im Blick habe, wenn ich mich an die mühevolle und einsame Arbeit des Schreibens mache.

Cortázar und ich verlassen gemeinsam schließlich die Buchhandlung und befinden uns sogleich in einer hochsommerlichen Realität voller Getöse und Damenhandtaschen. Die Luft hängt abgasschwer herab. In den Falten der Gebäudefassaden zeigen sich Sonnenschatten. Man fegt die Gehwege und hofft auf die Kühle des Abends. Die Kellner stellen schwarze Tafeln vor die Türen der überteuerten Restaurants: den Seeteufel gibtʼs heute in einem Bett moussierten Gemüses. In den Gläsern schimmert der Pastis, hübsch: das Klirren der Eiswürfelchen. Dort entlang, sagt Cortázar. Wir wenden uns in Richtung Seine. Kommen an Shakespeare & Company vorbei. Gut, dass man dort bereits geschlossen hat: mein studentisches Budget reicht nicht aus für den Erwerb weiterer Bücher. Wir erreichen das Ufer. Drüben, linker Hand: ein Krähenschwarm über Notre-Dame de Paris. Angler halten ihre Ruten in das grünbraune Wasser. Wir weichen dem von einem Buckligen geschobenen Handkarren aus. Windstille.

Cortázar kommt noch einmal auf den mir zugeneigten Gedanken zurück. Der Satz, sagt er, stammt aus meiner Erzählungda, aber wo, wie. Wenn Sie schreiben wollen, und das wollen Sie, das sehe ich Ihnen an Ihrer hübschen Nasenspitze an, junger Freund, dann bleiben Sie stets bei dem, was Sie begonnen haben, geben Sie nicht auf, schweifen Sie nicht ab, schauen Sie nicht nach rechts und nicht nach links, lassen Sie sich nicht abbringen von Ihrem Vorhaben, sagt Cortázar. Nur allzu gern, fährt er fort, nur allzu gern, sagt er, lassen wir uns von den vielen schriftstellerischen Vorhaben und Plänen und Ideen verführen, die in unserem Kopf herumschwirren wie die Hummeln um den Lavendel und die uns glauben machen wollen, sie würden unsere momentane Aufmerksamkeit und Leidenschaft mehr verdienen als das, womit wir uns gerade beschäftigen. Eine große Gefahr! Bringen Sie erst das zu Ende, was Sie begonnen haben, bleiben Sie dabei, und nur dabei, vor allem dann, wenn Sie glauben, zwischen den Worten und Sätzen festzustecken und nicht weiterzukommen und sich fragen, welchen Sinn es hat, Tag und Nacht in die Schreibmaschine zu hacken.

Ich hänge an den Lippen des Meisters. Natürlich ist mir genau das, vor dem Cortázar mich gerade gewarnt hat, schon häufig passiert: man schreibt, dann drängt sich eine andere Idee auf, möchte ein anderes Thema von seiner Gewichtigkeit überzeugen, hält sich ein neuer Romananfang für etwas Besseres, und schon beginnt man mit etwas Neuem, legt die wenigen bereits verfassten Zeilen oder Seiten beiseite, die von diesem Moment an auf ewig Fragment bleiben werden, unfertiges Residuum, bereit für den Papierkorb. Konsequenz und Disziplin, mahnt mich Cortázar am Ufer der Seine, beinahe mit denselben Worten wie jetzt, zehn Jahre später, in unserem Billardcafé am Marktplatz von Stockel. Dort ist derweil die Zeit stehengeblieben.

Wie weit bist du?, fragt mich Cortázar, dem Wirt beiläufig ein Zeichen gebend: Noch eine Runde Stella, Monsieur. Mit seiner Frage bezieht sich mein väterlicher Freund und Mentor auf ein Projekt, das ich vor kurzem auf seinen Rat hin begonnen habe: die literarische Biografie des Milliardärs Antonio-Luiz Kleber, mit dem ich hier, in Brüssel, immerhin zwei gemeinsame Schuljahre verbracht habe. Das Bier kommt, und mit ihm ein Schälchen mintgrüner, in Öl kullernder Oliven. Mein Plan ist, antworte ich, morgen unsere alte Schule zu besuchen, und andere Orte, die für Kleber und mich und unsere Freunde damals wichtig waren. Cortázar nickt. Gut, sagt er, das ist ein Anfang, immerhin, weiter so, mein Freund.

Dämmerung über der Seine: die Tauben nehmen vor uns Reißaus, wirbeln gehörig den Staub auf, hüpfen einige Meter weiter, rucken mit den Köpfen hin und her. Besuchen Sie mich doch einmal, solange Sie noch in Paris sind, sagt Cortázar. Mein Herz: es hüpft und springt. Ja, sage ich, das wäre mir eine große Ehre. Der Schriftsteller und ich schlendern nebeneinander her: wer uns so sieht, könnte uns schon für die guten Freunde halten, die wir schließlich werden sollten. Die Brasserien und Bistros und Restaurants machen sich hübsch für den Abend: setzen Lichter auf, frisch gestärkt sind sie, die weißen Tischdecken und Servietten, die Gläser funkeln. Überall sanfte Jazzmusik (im Vorübergehen fast schon ein kleines Fest für den Jazzfreund und Jazzkenner Cortázar), Stimmengewirr, einladend das Klappern der Bestecke, die Kerzen, die elegant gekleideten Damen und Herren, die nun Platz nehmen. Ach: würde dieser Moment doch ewig andauern, denke ich, denn nun habe ich Furcht vor dem Pensionszimmer, vor der Hitze, die sich dort seit Tagen staut, dem wackeligen Tischchen, den leeren Seiten, die auf dem Boden liegen, dem Blick aus dem Fenster auf die vertrocknende Eibe. Leere. Einsamkeit.

Wieder kommen wir auf München zu sprechen: Cortázar erkundigt sich mit der Höflichkeit des Älteren und dem Interesse des Literaten nach meinem Studium, und ich erzähle ihm von meiner Seminararbeit über Uwe Johnson, auf die ich so viel Zeit und Mühe verwendet und für die ich letztlich doch eine gute Beurteilung des Professors bekommen habe. Auch Cortázar ist, natürlich, mit dem Werk dieses Schriftstellers vertraut, er kennt das Leben Gesine Cresspahls so gut wie ich, er kenntIngrid Babendererde und Karsch und Das dritte Buch über Achim. Leider bin ich bisher noch nicht dazu gekommen, den Norden Deutschlands zu besuchen, sagt Cortázar, und überhaupt der Osten, dort kommt man ja nicht hin, aber ich kann die mecklenburgische Landschaft vor mir sehen, sagt Cortázar, mit seiner rechten Hand einen Bogen schlagend so, als würde er über dem vor uns liegenden Seinefluss ein halbrundes Fenster öffnen, das ihm einen neuen Raum gibt für das, was er mir sagt: Die Brandung schlägt dort nur sanft über den feinkörnigen weißen Sand, sagt er, überall Steine und Muscheln, Seetang, und Treibgut, ausgespuckt von geheimnisvollen Schiffen irgendwo draußen auf den Meeren, die Wespen und Fliegen und Käfer sind in Bernstein eingeschlossen seit Jahrmillionen, sagt Cortázar, und am Horizont scheinen sie stillzustehen, die Tanker und Frachter aus den baltischen Häfen, die Birken hinter dem Dünenkamm, wie hübsch sie sich im Wind biegen, die Quallen vertrocknen, wenn sie an den Strand gespült werden, dort die Strandkörbe, blau und weiß gestreift sind sie, sonnencremeweiße Mütterhände streichen über zarte Kinderhaut, bunte Drachen steigen in den kristallklaren Himmel, und die Männer bauen Sandburgen mit einem Elan, der ihnen sonst fremd ist in ihren öden Büros und ihren ratternden Fabriken, in den Nächten dann die Nebelbänke, das Rufen der Nebelhörner über der schwarzen Ostsee, der böige Nordwest, der mir durch die Haare fährt und die Glut meiner Zigarette anfacht. Dies alles ist so schön in meiner Vorstellung, sagt Cortázar, dass ich gleich an den Tag denken muss, als ich die Frau, die ich liebe, zum ersten Mal sah, Carol, ja, Carol, wie der Wind ihre Frisur zerzaust und ihre Wangen rötet, gibt es eine schönere Gewalt, als den Wind und das Meer? Dann bricht er ab, ganz in Gedanken, er scheint vergessen zu haben, dass ich neben ihm gehe. Doch dann fährt er fort. Erzählen Sie nur weiter von München, junger Mann, von den Frauen dort, sind das nicht die hübschesten Frauen der Welt? Doch Cortázar lässt mich gar nicht Wort zu kommen, berichtet stattdessen selbst von zweifelhaften amourösen Begegnungen, räsoniert über eine hinterfotzige Tramschaffnerin, die ihm einmal in einem am Isarhochufer gelegenen Wirtshaus den Kopf gewaschen hat. Wir lachen. Wie sehr wünsche ich mir, dass dieser sommerliche Abend nie vorübergeht, dass Cortázar immer weiter und weiter erzählt, dass dieser Spaziergang niemals endet, doch nun müssen wir uns für heute voneinander verschieben, sagt Cortázar jetzt zu mir. Ich notiere schnell seine Adresse und Telefonnummer, dann geben wir uns die Hand: Auf Wiedersehen, bonsoir. Lange noch blicke ich dem Schriftsteller nach: er überquert die Rue Danton, noch kurz sehe ich sein Spiegelbild in einem der Schaufenster, dann ist er verschwunden.

Kommt es mir nur so vor? Oder haben die Billardkugeln mit einem Mal ihr uns so vertrautes Klacken eingestellt? Alles ist ruhig: wir sind jetzt fast die einzigen Gäste, die anderen sind offenbar zum Abendessen nach Hause gegangen, werden später vielleicht zurückkehren, auf ein Bier oder ein Glas Wein. Nur am Tisch neben uns sitzt im Moment noch jemand: ein Mann in orangefarbenem Overall, Angestellter der Stadtreinigung, der soeben Würzmayonnaise über seinen Teller Feierabendfritten drapiert, kunstvoll, das muss man ihm lassen. Der Wirt hängt über der Theke: Zeitung lesend. Kleber hatte mir den Auftrag, seine Biografie zu verfassen, selbst erteilt. Aber bis ich überhaupt so weit war, musste mir Cortázar ganz schön Dampf machen. Zu meiner Rechtfertigung muss ich ein wenig ausholen: damals, vor etwas mehr als einem Jahr, befand ich mich (wieder einmal) in einer Phase der schöpferischen Krise. Ich brachte nichts zustande, war unfähig, auch nur einen Satz niederzuschreiben. Wie gelähmt hockte ich in meiner Wohnung in der Nähe des Schöneberger Ufers. Unten zogen die Frachtkähne auf der Spree vorüber, ihre Heckflaggen, so kam es mir vor, auf Halbmast. In den Ecken der Zimmer liefen die Staubmäuse um die Wette. Die mich umgebenden, geliebten Bücher meiner Bibliothek standen plötzlich in den Regalen wie Fremde, die Buchrücken schroff und abweisend. Die Welt meiner Erinnerungen: sonst ein verlässlicher Quell der Inspiration, er war plötzlich versiegt. Das vor mir liegende Notizbuch: es blieb leer, die Seiten eine weiße Wüste, öde wie Packeis. So ging das für Wochen. Ich war ein Gefangener meiner Selbst, eingeschlossen in einen muffigen Kokon, aus dem es kein Entkommen gab. Oder doch? Es war schließlich ein abendlicher Anruf Cortázars, der mich wieder auf die Beine brachte. Wir hatten eine Weile nichts voneinander gehört. Es tat gut, die Stimme des Mannes zu hören, dem ich es zu verdanken habe, Schriftsteller geworden zu sein. Was du brauchst, donnerte Cortázar in das Telefon, was du brauchst, ist ein Projekt geradezu herkulischen Formats, eine geistige Aufgabe und Herausforderung, die dich an deine Grenzen bringt. Es ist ganz einfach: du musst dir etwas vornehmen, von dem du glaubst, es niemals schaffen zu können, und es dann auch wirklich tun. Wenn du das schaffst, wird sich alles ändern, glaube mir, mein Freund, tue, was ich dir sage! Dann wirst du die Lähmung überwinden! Und so kam es, dass ich schon bald nach Brasilien aufbrach, um den Milliardär Antonio-Luiz Kleber aufzusuchen.

Inzwischen hat der Wirt das Licht eingeschaltet, über der Theke flackerndes Neon, an der hohen Decke spirrige Leuchter, wattschwach und vor vierzig Jahren modern. Der Marktplatz von Stockel liegt jetzt im abendlichen Dunkel. Die Geschäfte rundherum sind noch geöffnet. Einkaufstaschen eilen vorüber. Die weißen und roten Augen der Autos huschen hin und her. In der breiten Fensterfront, die zum Platz hinausgeht, spiegeln sich das Interieur des Billardcafés und wir selbst, Cortázar und ich, wie wir dort hinten nebeneinander an unserem Tischchen sitzen. Eine ruhige Szene, die an ein Gemälde erinnert. Die Zeit steht still, die Welt ist eingefroren, festgehalten in einem Moment der Erstarrung: der Wirt, der hinter seiner Theke steht und mit seinem Lappen das Metall poliert, die verblichene Reklame für eine belgische Kaffeesorte, die seit Jahren nicht mehr auf dem Markt ist, die runden Tische im Vordergrund, jeweils vier Stühle drumherum, die Billardtische weiter hinten, schließlich die Sitzplätze links, dort, wo Cortázar und ich unsere Plätze haben und wo, noch immer, der orangefarbene Mann von der Stadtreinigung sitzt, und das Sofa mit dem flachen Tisch davor, der Lieblingsplatz junger Leute und hoffnungsfroher Liebespärchen.

Nun wechselt die Szene: nachdem ich Cortázar in der Rue Danton habe verschwinden sehen, mache ich mich auf den Weg in die Rue Jacob zu meiner Pension. Jetzt, wo ich wieder allein bin, haben die eben noch so einladenden Lichter der Brasserien und Bistros und Restaurants deutlich an Glanz eingebüßt. Die Eleganz der Frauen, die ihre weißen Stoffservietten zu ihren hübschen, rotgeschminkten Lippen führen, sie kommt mir nun weniger verführerisch, weniger verlockend vor, ihre teuren Kleider verwandeln sich in banale Kaufhausmodelle. Und doch bin ich in diesem Moment der glücklichste Mensch des Universums. Ein Student aus München, mitten in Paris, der in seiner rechten Hand noch immer den leichten, angenehmen Druck verspürt, den dort die Hand seines Vorbildes, die Hand des Schriftstellers Cortázar hinterlassen hat. Ja: ich bin glücklich. Springe in die warme Pariser Nachtluft. Klatsche in die Hände. Werfe den Kopf hin und her. Lache laut vor mich hin. Sage Dinge wie Mon Dieu oder Wahnsinn und werfe Steinchen in den Fluss. Grüße eine alte Dame, die von einem violett lackierten Hündchen Gassi geführt wird. Hüpfe auf den Stufen der Kathedrale auf und ab. Freue mich über die im Park umherschwirrenden Leuchtkäfer. Rufe zu den hohen Fenstern hinauf, aus denen die hübschesten Mädchen zu mir herunter lachen. Ich sehe lustige Fische, die aus der Seine ins Nachtdunkel springen. Schaufensterpuppen, die sich über die Passanten mokieren. Das Wasser aus den Fontänen formt sich zu Kringeln und Herzen. Täschchen von Hermés und Chanel winken mir zu. Ich balanciere über das Brückengeländer des Pont Neuf und streichle die Kandelaber auf den Boulevards. Bei der Blumenfrau erstehe ich sechs weiße Rosen mit dicken Köpfen. Ich bücke mich nach einem grünen Gummiring, der einsam auf dem Fußweg liegt und gebe ihm ein neues Zuhause in meiner Hosentasche. In einem Feinkostladen gönne ich mir ein köstliches, wenn auch sehr teures Lachsbaguette. Ich tätschle den Kopf eines feisten Hydranten und freue mich über den grinsenden Mohrenkrapfen im Schaufenster der Patisserie Foucault. Aus dem Knattern der Motorräder und dem Hupen der Wagen wird eine wundersame Symphonie. Schau mal, dort drüben! Balzac besteigt soeben eine Droschke, bestimmt lässt er sich wieder zum Pré Catelan fahren, oder zur Place Vendôme! Noch immer drückt die Schwüle gegen die Stirn. Wenn man die Hand an die Fassaden der Häuser legt, spürt man den warmen Stein. Irgendwo weiter drüben drehen sich, grellbunt und einladend, die Flügel einer Windmühle. Das in einem weiten Rund über den Himmel fahrende Leuchtfeuer des Eiffelturms weist dir den Weg durch die Nacht.

Ein plötzliches, durchdringendes Zischen bringt mich zurück in das Billardcafé auf dem Stockeler Marktplatz: Wasserdampf von der Espressomaschine, sie steht auf dem Bartresen, gleich daneben eine gläserne Kühlvitrine für angeblich hausgemachtes Gebäck, wo jetzt, viel zu stark beleuchtet, nur mehr ein einsames Stückchen Apfeltarte auf einem Teller voller Mandelsplitter liegt.

Morgen also eure alte Schule, sagt Cortázar, sehr schön, sehr schön, wie ich ihn liebe, diesen Geruch der leeren Klassenzimmer, sagt Cortázar, wenn man nach Jahrzehnten zurückkehrt an diese unvermeidliche Stätte früher Prüfungen und Aufregungen, sagt Cortázar, spitz mal dein Näschen, riechst du den Staub? die Ausdünstungen, die von dem verblichenen nussbraunen Lack der Tische und Stühle kommen? dieses abgestandene Odeur kopfzerbrechender, schweißtreibender Mühen und Qualen? Ich sehe sie wieder vor mir, sagt Cortázar, ganz deutlich: die Sonnenstrahlen, die durch die mannshohen Fenster in den mit billigem Holz vertäfelten Raum fallen, die Bäume draußen auf dem Schulhof, so schön sie sind, so unerreichbar sind sie in diesem Moment, wo es um Gallische Kriege und unlösbare Infinitesimalgleichungen geht, die vorne an der Tafel dir vorkommen wie Hieroglyphen und mit denen du nichts anzufangen weißt, der feuchte Schwamm in der Hand des Lehrers, und der Zeigestock, und daneben auf dem Pult das bedrohlich aufgeschlagene Klassenbuch, zopfige Mädchen und zappelige Jungen in den unbequemen Bänken, die obskuren Geräte für den Chemieunterricht, Gläser, Kolben, alchimistische Substanzen, das mit den Jahren immer weiter ausufernde Periodensystem der Elemente an der linken Wand. Vor allem aber die an den meisten Schultagen herabgerollte, beeindruckend große und an den Ecken schon mehrfach eingerissene Weltkarte mit den Erdteilen und ihren geheimnisvollen Ländern und unerforschten Territorien hatte es mir angetan, sagt Cortázar, dann bin ich immer gereist, sagt Cortázar, von La Plata in der Nähe von Buenos Aires, wo ich damals mit meiner Mutter lebte und wo sich eben dieses Klassenzimmer befand, ging es hinauf in den savannigen Norden Amerikas zu den Cheyenne, wo der Häuptling die Friedenspfeife für mich kreisen ließ, oder nach Afrika, an das Delta des Nils, ich war ein kleiner Livingstone, musst du wissen, sagt Cortázar, mit Tropenhelm auf dem Kopf und kniekurzen Khakihosen, am besten aber gefiel mir der obere Bereich der Weltkarte, diese weiße, an den Rändern ausgefranste Kappe der Nordhalbkugel mit dem Pol, sagt Cortázar, ich höre es noch vor mir, das Jaulen der Schlittenhunde und das Knarzen des Eises unter den schweren Schneeschuhen der Polarforscher auf dem Weg zu ihrer von gelben Ölfässern umringten, mit Antennenstacheln bewehrten Station im ewigen Eis, und dann diese Namen, sagt Cortázar, Lomonossow-Schwelle, Beringsee, Aleuten, Beaufortsee, Franz-Josef-Land, Sewernaja, so verheißungsvoll, so voller Abenteuer, allerdings Myriaden von Kilometern entfernt von unserem miefigen Schulraum. Cortázar hat sich inzwischen erhoben: er sucht das WC auf, das sich eine Treppe abwärts in den Katakomben des Lokals befindet, dort, wo sich die Bierkisten stapeln und man über Besen und Putzeimer stolpert.

Der Eiffelturm ist also mein Leuchtfeuer in dieser Nacht: sein am Himmel kreisendes Licht weist mir den Weg durch die große Stadt. Vom Fluss kommt ein Glucksen und Plätschern. Quai Malaquais, Rue Bonaparte, dann nach links hinein in die Rue Jacob. Von den Straßenlaternen ein blasses Gefunzel. Der Geruch der Luft, er ist jetzt wie das Land: wie das Land, dort, wo du deine Kinderferien verbracht hast, schwer, feucht, güllig, es riecht nach Dung und Kuh und Federvieh, wie das Land mit den weiten Äckern und Wiesen, wie das Land mit den Kornfeldern und Weiden. Mit nackten Füßen seid ihr in die Kuhfladen hineingetreten, Gänseblümchenstengel zwischen den Zähnen, die Mütze des Bauern ein löchriger Stumpen. Später gabʼs Butterbrot mit Schnittlauch und Milch aus blechernen Kannen. Beim Teich ließen die Weiden ihre Köpfe in das Wasser hängen. Seerosen und Frösche. In der Luft zuckende Mücken. Rapsiges Gelb so weit das Auge reicht. Eine Libelle, groß wie die Spanne deiner Hand. Das Rauschen der Silberpappeln an der alten Allee. Die Augen des Mädchens, das mit dir über die Felder läuft, sie glitzern. Schon wieder hat deine Hose am rechten Knie ein Loch. Der schwarze Labrador: laut bellend zerrt er an seiner Leine. Die Kühe ärgern sich über euch, weil ihr über ihren Wassertrog springt. Die auffliegenden Samen der Pusteblume schimmern in der Sonne. Maiskolben wiegen sich im sanften Wind. Im Stall wiehern die Gäule, blähen ihre Nüstern. Um den Ginsterbusch summen die Bienen. Das Mädchen lacht, wenn du mit ihr im Stroh liegst und sie mit deiner Nase stupst. Schon fällt der Ball der Sonne herab über das Feld, und der Sohn des Bauern winkt von seinem knattrigen Traktor zu euch herüber.

Jetzt betrete ich meine Pension. Ist es wirklich schon kurz nach Mitternacht? Vom Concierge ist nichts zu sehen, der Fernseher an der Rezeption: Mattscheibe. Die Treppe hinauf im dumpfen Leuchten der wenigen Lampen. Dann den Schlüssel im Schloss gedreht und hinein in das Zimmer. Es ist noch kleiner als deine Studentengrotte in der Schwabinger Zentnerstraße, aber immerhin: es gibt WC und sogar eine Badewanne. Die Hitze liegt wie ein Schwamm auf den Möbeln. Ich öffne Fenster und Außenrollladen: kein Lüftchen, nichts. Auf dem Schreibtisch ein Stapel Papier im DIN-A4-Format, bis auf ein paar Kritzeleien unbeschrieben. Schon bekomme ich, inspiriert durch meine Begegnung mit Cortázar, dem neuen Helden meiner schriftstellerischen Träume, Lust sie zu beschreiben, den Beginn des großen Romans zu formulieren und auf die Seiten zu werfen. Doch ich stelle mich lediglich an das offene Fenster, betrachte die Eibe im Hinterhof, atme den Duft der Nacht ein: riechst du das Salz des Meeres? das Braungrün des Seetangs? das Weiß der Gischt? hörst du die Musik der Muscheln? das Rollen der Steine? die Schreie der Möwen? das Flattern der Segel? den Klang des Windes über dem Sand? Im Bett dann mit offenen Augen: die weite See vor Ostende drängt sich als geheimnisvoll aquatische Erinnerung heran. Ja: es muss dieses verlängerte Wochenende im Juni gewesen sein. Vielleicht ein Feiertag? Die Straßenbahn, die alle Seebäder miteinander verbindet auf ihrer endlosen, das Meer entlangführenden Trasse, hat euch hierhergebracht, dich, Antonio-Luiz und die anderen. Rechts konntet ihr die Mole sehen, wo die vielen beeindruckend großen Möwen hockten, weiter links, den Bogen des Strandes entlang, das entfernte Fackeln einer Raffinerie, dann die Abdrücke eurer nackten Füße auf dem festen Sandboden, wie rasch wurden sie doch vom anbrandenden Wasser wieder verschluckt, die vielen Strandkörbe, die zu teuer waren für euer Schülerbudget, die Würstchenbuden und Eisstände, die Familien unter ihren Sonnenschirmen, mit ihren Kühltaschen und Klappliegen, die Federball spielenden Mädchen, die ihr frech beobachtet habt, am Himmel bunte Drachen und ein hübscher Reklameballon. Noch bist du Schüler an der Schule im Brüsseler Stadtteil Wezembeek-Oppem, noch wird es fast drei Jahre dauern, bis du nach München gehen kannst, um dort Literatur zu studieren. Kommt, ruft Antonio-Luiz in den salzigen Wind, lasst uns von der Mole springen, dort drüben! Und schon rennen wir los, lachend, den feinen Sand mit unseren Füßen aufwirbelnd.

Die Toiletten müssten einmal renoviert werden, sagt Cortázar, der nun wieder neben mir Platz nimmt. Draußen eine Polizeisirene, Blaulicht. Eine Gruppe junger Leute erscheint im Lokal, man grüßt den Wirt mit den hier üblichen Gesten und vertrauten Zurufen, gibt im Vorübergehen schon die Bestellungen ab, tritt dann an den Billardtisch. Die Queues werden aus dem Wandständer geholt, ihre Spitzen mit dem Kreidestein geraut, die hölzernen Kugeln donnern nach unten in den Sammelschacht, Männerhände streichen über das samtige Grün, die Spielkugeln formen sich zu einem bunten Dreieck, alles ist vorbereitet. Der Wirt schwingt ein Tablett mit Getränken. Der orangefarbene Hüne von der Stadtreinigung nimmt im Stehen an der Theke noch ein Schnäpschen mit auf den Heimweg: salut und bonsoir. Wir trinken unser Stella, ergehen uns in grundsätzlichen, ein wenig hypochondrischen Gedanken.

Schreiben, sagt Cortázar, ist letztlich immer der Versuch, dem Tod ein Schnippchen zu schlagen. Mit jedem Wort, sagt Cortázar, mit jeder Zeile wehrst du dich gegen die Tatsächlichkeit und Unvermeidlichkeit des Sterbens, sagt Cortázar, und auch wenn mit der Schrift die Zeit voranschreitet, so hast du doch das Gefühl, dass du mit dem Schreiben ein Mittel an der Hand hast, die Zeit und das Leben dazu zu bringen, dir zu gehorchen, sagt Cortázar, mit jedem Satz schiebst du den Tod wieder ein Stückchen weiter von dir weg, schlägst ihm ein Schnippchen, sagt Cortázar, du versuchst es zumindest, was bleibt einem auch sonst?

Nach diesem Exkurs ins Metaphysische kommen wir wieder zurück auf die praktischen Aspekte meiner Biografie über den Milliardär Kleber. Es war also so, sage ich, kurz vor meinem siebzehnten Geburtstag sind wir nach Brüssel gezogen, und meine Mutter hat als Dolmetscherin bei einer der Europabehörden begonnen. Mit der Trambahn und der Metro ist sie jeden Morgen zur Arbeit gefahren, Vandervelde, Roodebeek, Tomberg, Gribaumont, Joséphine-Charlotte, Montgomery, Louisa, dann weiter zu Fuß. Auf die Schule, die ich besuche, gehen die Kinder der Diplomaten. Man hat sechs große Container auf den Schulhof gestellt: zusätzliche provisorische Klassenräume. Das Hauptgebäude ist ein grauer Betonklotz mit breiten Fensterfronten auf allen Etagen. Hübsches Grün darum herum. Ich gehe über den Schulhof und höre die Schüler verschiedene Sprachen sprechen. In den Pausen schlendern unsere Lehrer die Korridore entlang, ihre Hände hinter dem Rücken verschränkt. Vor dem Eingang der Schule weht die Europaflagge. Mittags verkauft das Hausmeisterehepaar Milch und Sandwiches. Auf dem Sportplatz gibt es einen Basketballkorb, im Untergeschoss Umkleidekabinen, Duschen, Tischtennisplatten und einen Partyraum voller Poster an den Wänden und mit monströsen Lautsprecherboxen in den Ecken. Ich begegne Antonio-Luiz Kleber gleich an meinem ersten Schultag: er küsst ein Mädchen, das schöner ist als alle Mädchen, die ich bis dahin gesehen habe. Als ich an den beiden vorbeigehe, um das Klassenzimmer zu betreten, blinzelt mich Antonio-Luiz herausfordernd an. Dann beginnt der Unterricht. Unser Lehrer für Deutsch und Geschichte stellt mich vor: ich bin der Neue.

Nun erwacht Paris, während man selbst noch im Hotelbett liegt, bei zugezogenen Vorhängen, mit geschlossenen Augen, mit angewinkelten Beinen, mit gerunzelter Stirn, ein Müllwagen rotiert durch die Rue Jacob, die Straßenkehrer schicken das Wasser in breiten Streifen die Rinnen hinab, Rollläden aus verwittertem Blech werden nach oben gezogen, am Gemüsestand des Marokkaners lautes Fluchen und Husten, Tageszeitungen in verschnürten Packen landen vor den Kiosken, die Concierge von gegenüber wischt mit feuchten Händen über das verblasste Blumenfeld ihrer Kittelschürze, ehemalige Fremdenlegionäre mit tätowierten Unterarmen hocken auf der Bank, schimpfen auf die Sozialisten, in den Schaufenstern der Antiquitätengeschäfte reiben sich die Gipsputten den Nachtschlaf aus den Augen, irgendwo die Stimme von Serge Gainsbourg, ein Taxi löst sich vom Bordstein, die Morgensonne legt sich auf den Asphalt, fließt über die Dächer, die Denkmäler, die Alleebäume. Ich drehe mich noch einmal im Bett um: will mich vor den gnadenlosen Realitäten dieses Sommermorgens mit der Decke über dem Kopf verstecken. Doch verfaultes Obst, Knochen vom Poulet, Gräten von der Goldbrasse, zerschelltes Glas und zerbrochenes Porzellan, Kaffeesud und Teebeutel, Öl und Fett und Saucen, Kohlstrünke, verschnupfte Papiertaschentücher, zermatschte Tomaten, zerdrückte Joghurtbecher, verblühte Rosensträuße, saure Milch, verschmierte Hundefutterdosen, verschimmeltes Brot, graue Putzschwämme, Zwiebelschalen, Reste von obskuren Fertiggerichten, Zigarettenkippen, die weggeworfenen Seiten eines so hoffnungsvoll begonnenen Romanmanuskripts, kurz: das urbane Odium mit seinen vielfältigen Miasmen, das aus dem Schlund des Müllwagens kommt, hat sich längst in dem kleinen Raum ausgebreitet und zwingt mich, aufzustehen und das Fenster vorerst zu schließen. Zum Frühstück gehe ich in das Café gegenüber. Durch die Glastür mit der eingeätzten und angesichts der unscheinbaren Qualität der Pension etwas großspurig daherkommenden Aufschrift Hotel Royal fällt von draußen das Licht der Sonne herein und auf den muffigen Fußabstreifer im Foyer. Auf einem Sesselchen lungert eine getigerte Katze herum, Choochoo mit Namen, sie hebt die Tatze und spitzt die Ohren. Der Concierge nickt mir zu, als ich an seiner verschrobenen Bude vorbeikomme. Draußen auf der Straße: Gitanes und Ginster. Der Mann vom Blumengeschäft stellt seine bunt gefüllten Blecheimer unter die Markise. Am Kiosk fliegt mir eine der Schlagzeilen entgegen: Bombenanschlag der IRA auf Earl Mountbatten. Endlich betrete ich das duftende Bistrocafé: das Spalier der Weißbrotstangen in rustikalen Körben, lächelnde Eclairs, die Kacheln an den Wänden ringsum zeigen uns Windmühlen und Kornähren. Mehlstaub auf der Nasenspitze des Lehrmädchens, sind sie nicht süß, die Erdbeertörtchen?

Ich bin also der Neue, sage ich zu Cortázar, und das ist immer eine undankbare Rolle, wie du wohl weißt, auch für einen bereits Siebzehnjährigen. Doch ich überstehe den ersten Schultag, und auch den zweiten und den dritten, die ganze erste Woche überstehe ich, und am Abend sitzen meine Mutter und ich in der Küche unserer Wohnung in Woluwe-Saint-Pierre und berichten uns gegenseitig von unseren Erlebnissen. Meiner Mutter gefällt es an ihrem Arbeitsplatz. Es gibt viel zu tun. Den halben Tag hat sie den Kopfhörer auf. Ein Afrikaner aus der Abteilung hat mir heute den Hof gemacht, lacht sie, stell dir vor. Ich sehe einen schlanken Mann vor mir, mit zwei blendendweißen Zahnreihen und einer massiven Hornbrille mit goldgefassten Stegen auf der Nase, ein Linguist von der Universität Pretoria oder etwas in der Art. Später schauen meine Mutter und ich dann gemeinsam die deutschen Fernsehnachrichten: wir haben noch ein wenig Sehnsucht nach unserem ehemaligen Zuhause.

Zum Frühstücken gehe ich, wie gesagt, in das kleine Lokal gegenüber vom Hotel Royal. Während ich an dem Milchkaffee nippe, denke ich erneut an meine Begegnung mit Cortázar: das Buch mit seiner Widmung liegt auf dem Tisch, oben im Zimmer der Pension. Ich bin stolz auf diesen Schatz und habe Angst, die Tunesierin, die das Zimmer aufräumt, könnte das Buch vielleicht wegwerfen. Woher soll sie auch wissen, welche Bedeutung das Buch für mich hat und noch haben wird? Aber als ich später dann in die Pension zurückkehre, liegtDie Gewinner an Ort und Stelle, genau dort, wo ich das Buch abgelegt habe, vielleicht ein wenig verschoben oder neu an den Kanten des Tisches ausgerichtet. Vielleicht hat das Mädchen darin geblättert, als sie das Buch angehoben hat, um darunter Staub zu wischen? Das Bett ist gemacht, das Bad geputzt, Fenster und Fensterläden geschlossen. Es ist noch nicht einmal halb neun und beinahe schon so heiß wie zur Mittagszeit. Leere füllt nun das Pensionszimmer: um mich herum Stille, Stille, undurchdringlich wie Watte, ich bin allein, ganz bei mir und ganz für mich. Ich schlage das Buch auf, betrachte Cortázars Widmung, sicher zum zehnten, nein zum hundertsten Mal: Dies wiederlesen heißt, den Kopf sinken lassen, bei einer neuen Zigarette vor sich hinfluchen, sich fragen, was für einen Sinn es hat, auf dieser Maschine herumzuhacken, für wen, sag mir mal, wer, der das liest, wird nicht die Achseln zucken, die Sache mit einem Etikett versehen, sie kurzerhand abtun und sich etwas anderes vornehmen, eine andere Erzählung.