Engel zweiter Ordnung - Rudolf Habringer - E-Book

Engel zweiter Ordnung E-Book

Rudolf Habringer

4,9

Beschreibung

Durch Zufall trifft Arnold Walter, ein Universitätsprofessor in Regensburg, seine Jugendliebe Katharina wieder. Beide sind längst verheiratet und haben sich, mehr oder weniger zufrieden, in ihren Leben eingerichtet. Bei Arnold löst die flüchtige Begegnung aber eine Obsession aus, und er setzt alles daran, Katharina wiederzusehen - weshalb er den Privatdetektiv Seisenbacher engagiert, sie zu finden. Während es Arnold auf diese Weise gelingt, den Kontakt mit Katharina wieder aufzunehmen, und eine zarte Affäre beginnt, wird er plötzlich erpresst. Ohne Katharina davon in Kenntnis zu setzen, macht Arnold sich auf, den Erpresser zu stellen, was für alle Beteiligten ungeahnte Konsequenzen mit sich bringt.Wiederauflebende Gefühle, eine geheime Romanze und ein Privatdetektiv, der seine eigenen Interessen verfolgt, entwickeln in Rudolf Habringers neuem Roman eine Dynamik, die bald außer Kontrolle gerät: Nach und nach verweben sich die Geschichte des Privatdetektivs und jene des Paares und erzählen ein menschliches Drama, in dessen Zuge man an diesen "Engeln zweiter Ordnung" immer wieder das Besondere, das Verletzliche, aber auch das Skurrile entdeckt.

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Rudolf Habringer

Engel zweiter Ordnung

Das ist ein Roman. Die Handlung und seine Figuren sind frei erfunden.

Copyright © 2011 Picus Verlag Ges.m.b.H., Wien Alle Rechte vorbehalten Grafische Gestaltung: Dorothea Löcker, Wien Umschlagabbildung: © Alfred Buellesbach/buchcover.com Datenkonvertierung E-Book: Nakadake, Wien ISBN 978-3-7117-5003-7 Dieses E-Book ist urheberrechtlich geschützt

Informationen über das aktuelle Programm des Picus Verlags und Veranstaltungen unterwww.picus.at

Rudolf Habringer

Engel zweiter Ordnung

Roman

Picus Verlag Wien

Einen Engel ersten Grades habe ich erwartet, auf einen Engel zweiten Grades war ich aber nicht vorbereitet.

Franz Kafka, Tagebücher

[9]Prolog

Der erste Tag

Der Schrei des Kindes gellte über den See, durchdringend, keinen Aufschub erlaubend. Der Neunjährige verschmolz mit ihm, für einen Augenblick war er der Schrei, eine einzige Anspannung, die seine Lungen bis zum Zerreißen dehnte.

Nie mehr hatte er so laut geschrien wie damals, dachte der Erwachsene später und immer dann, wenn er, selten, in die Gegend und an den See kam.

In der Erinnerung war der Schrei wie ein Pfeil über das Wasser gerast und gegen die Felsen der aufragenden Berge geprallt; in seiner Erinnerung hatte sich ein riesiges Echo gebildet, der See und die ganze Umgebung waren erschüttert worden. Nur einmal im Leben hat man die Kraft für so einen Schrei, dachte er.

Der See lag ruhig, das Wasser glänzte, die Oberfläche wie eine dünne Haut, kaum ein Windhauch strich die Wellen. Das Wasser war frisch, kalt, grün, dunkel. In den Tagen zuvor hatte es stark geregnet, der See wurde von einem Zufluss aus einem Gletscher gespeist und erwärmte sich in den Sommermonaten wenig.

Sein Schrei gellte über das Wasser und blieb ungehört. Als hätte er gar nicht geschrien, als hätte er sich die Anstrengung seiner Lungen eingebildet, als wäre das gelauschte Echo bloß Chimäre gewesen.

Niemand hörte, niemand kam, niemand half. Kein Mensch, kein Engel und kein Gott.

Dann folgte ein leises Wimmern, ein lang gezogenes Heulen. Ihm war, als krieche ihm ekeliges Gewürm über Rücken und Nacken. [10]Unendlich langsam kroch es über das Kind, einen unselig lähmenden Atemzug lang.

Dann folgte die Stille. Ruhig glitt das Boot über das Wasser. Unmerklich zog das Ufer an ihm vorbei.

Der Tag beginnt heiter, unbeschwert.

Ein schöner, wolkenloser Tag, frisch der Morgen. Wir machen einen Ausflug, sagt der Vater mit einem Flirren in der Stimme. Arnold braucht nicht nachzufragen: Der Vater ist gut aufgelegt. In einem Greißlerladen werden Semmeln gekauft, belegt mit Wurst und Gewürzgurkenscheiben, dazu Bier für die Erwachsenen, Limonade für die Kinder. In der Stadtrandsiedlung wird die fremde Frau mit ihrer Tochter abgeholt. Die Frau trägt ein weißes Sommerkleid mit roten Punkten und heißt Inge, ihre Tochter Annette, sie ist zwei Jahre jünger als Arnold. Sie ist schüchtern und trägt ein Kleid, das dem ihrer Mutter ähnelt, dazu eine violette Handtasche in der Form eines kleinen Tornisters. Arnold hat seine Sonntagslederhose angezogen. Der Vater sitzt am Steuer und raucht. Das macht er selten. Er unterhält sich mit der fremden Frau. Er lacht viel und schaut Inge zärtlich an. Annette hält den Tornister eng an sich gepresst und blickt aus dem Fenster. Langsam rückt der Berg, der Kalkstein am See, näher, wird groß und größer. Ganz oben am Gipfelplateau blinkt eine Hütte in der Sonne.

Gleich sind wir da, sagt der Vater. Er hat den Segelführerschein gemacht. Bei einem Verleih wird ein Segelboot ausgeborgt. Eine Chichester, Typ Zugvogel, sagt der Verleiher, ein untersetzter Mann im Unterhemd mit braun gebrannten Oberarmen. Schwimmwesten für alle, sagt der Vater. Der Verleiher legt die Westen ins Boot und hilft beim Ablegen. Herrlich, sagt Inge, und Annette lässt ihre Hand in das Wasser gleiten. Ihr macht es euch bequem und ich bin der Kapitän, sagt der Vater und setzt ein kleines Segel. Noch weht kaum Wind, er muss ein bisschen rudern, damit sie vom Ufer wegkommen. Sie segeln quer über [11]den See, sanft gleitet das Boot durchs Wasser. Der Vater singt ein Lied. Arnold hat ihn lange nicht mehr singen gehört, Inge versucht sich an einer zweiten Stimme. Als sie mit dem Lied fertig sind, lachen sie. Das klingt doch ganz passabel, meint der Vater. Er hat seinen Fotoapparat mitgebracht. Er möchte ein Foto von Arnold und Annette machen. Annette mag sich nicht zu nahe zu Arnold setzen. So hab dich nicht so, mahnt ihre Mutter. Dann schlüpft Arnold in die Rolle des Fotografen. Der Vater legt den Arm um Inges Schultern. Arnold stellt die Blende und die Entfernung ein. Der Arni ist unser perfekter Fotograf, sagt der Vater. Dann werden die Wurstsemmeln ausgepackt. Annette mag keine Gurken. Sie weiß nicht, wohin mit ihnen. Der Vater gibt die Erlaubnis. Für die Fische, sagt er lachend, sie sollen auch etwas haben. Die Gurkenstücke platschen ins Wasser und versinken.

Später legt das Boot auf der gegenüberliegenden Seite des Sees an, bei einem bekannten Ausflugsgasthaus. Beim Anlegen springt Arnold ans Ufer, um das Boot zu vertäuen. Sie sitzen im voll besetzten Gastgarten. Arnold bekommt Frankfurter Würstel, Annette hat keinen Appetit, Inge trinkt dunkles Bier und isst Kalbsbraten, Vater nimmt ein Wiener Schnitzel, sein Lieblingsessen, wie Arnold weiß. Nach dem Essen legt er den Arm wieder um Inge und spielt mit ihren Locken. Ihr könnt ja spielen gehen, schlägt er den Kindern vor. Arnold läuft mit Annette zum See. Mehrere Schwäne sind ans Ufer gekommen und schnappen nach den Semmelstücken, die ihnen Arnold zuwirft. Annette streift die Sandalen ab und hält die Füße ins Wasser. Schnell zieht sie sie wieder zurück. Kalt, sagt sie und schüttelt sich. Arnold watet ein kleines Stück in den See hinein. Nicht weit, dann beginnt das Tiefe. Die Kälte zieht an den Beinen, schneidet ein, beißt sich an den Waden fest.

Sie segeln weiter. In der Nähe des Strandbads haben sich die Teilnehmer einer Regatta versammelt, eine Herde aus weißen Segeln, die aufgeregt im Wasser zappeln. Dann fällt ein Schuss. Die Karawane aus Booten setzt sich seeaufwärts in Bewegung. [12]Am Ende des Feldes ein paar motorisierte Begleitboote. Wir folgen ihnen ein Stück, meint der Vater. Wir fahren mit, außer Konkurrenz. Der Wind bläst noch immer schwach, es ist heiß geworden, ein schwüler Tag. Inge trägt einen Sonnenhut, für Annette hat sie Knoten in ein Taschentuch geknüpft, das sie ihr auf den Kopf setzt. Der Taschentuchhut will nicht halten. Süß schmeckt die Limonade, Arnold fährt mit den Fingern das gerillte Flaschenglas entlang. Langsam entschwindet die Regatta aus dem Blickfeld. Noch ein Foto, ruft der Vater, dann fahren wir zurück. Auch ihm ist heiß, er schwitzt. Eine Zeit lang hat er die ringsum liegende Landschaft und die Berge erklärt, Traunstein, Grünberg, den Grasberg, auf den Miesweg und die Kaltenbachwildnis hingewiesen, die Namen der am See liegenden Orte genannt, dann ist er, müde geworden, verstummt. Geräuschlos und langsam gleitet das Boot durch das Wasser. Junger Fotograf, ein Foto bitte. Der Vater drückt Inge an sich, Annette setzt sich auf Inges Schoß. Arnold justiert die Kamera und drückt ab. Hast du den Traunstein im Hintergrund?, fragt der Vater. Arnold nickt. Und jetzt auch noch eines mit dem Boot, bittet der Vater. Ein bisschen was soll man auch vom Segel sehen. Setzt euch doch, sagt er und deutet auf die Segelstange. Wie meinst du, fragt Inge. Na hier, sagt der Vater und setzt sich. Mit seinem Hintern ragt er aus dem Boot. Inge setzt sich neben ihn, Annette zwängt sich dazwischen. Wie die Hühner auf der Leiter, kommentiert der Vater. Das Boot bekommt eine leichte Schlagseite und neigt sich dort, wo der Vater und Inge sitzen, zum Wasser hin. Beinahe berührt die Bordkante die Wasseroberfläche.

Dann: das Geräusch von splitterndem Holz, von reißendem Segeltuch, ein kurzer, spitzer Aufschrei von Inge. Die drei fallen ins Wasser. Arnold drückt auf den Auslöser.

Die Wasseroberfläche ist dunkel, fast schwarz. Eine Hand paddelt, schlägt um sich, greift ins Leere, verschwindet im See. Der Vater ist ein guter Schwimmer, weiß Arnold. Das Wasser ist kalt. [13]Wild schaukelt das Boot vor und zurück. Der Mast ist gebrochen, das Segel in Fetzen. Um das Boot ein kleiner Ring von Wellen, als würde es leise Nachricht flüstern, eine unbedeutende Bewegung an der Wasseroberfläche, dann ist es wieder ruhig.

Sekunden der Stille. Dann der Schrei, der über den See hallt.

Auf den Planken eines Segelboots mit gebrochenem Großbaum und gerissenem Segel hockt ein neunjähriges Kind. Neben ihm ein Rucksack mit den Resten von Limonade und Bier, daneben ein Fotoapparat, ein Sommerhut, vier Schwimmwesten, unbenützt. Langsam treibt das Boot, von niemandem geführt, mehr als hundert Meter vom Ufer entfernt, von einer leichten Brise angetrieben, südwärts. Weit entfernt ein Schiffshorn, das laut tutend den Einlauf der Regattenteilnehmer verkündet. Irgendwo rattert ein Zug vorbei.

Es gibt keine verbürgte menschliche Erinnerung an diesen Vorfall, an diese eine halbe Stunde, in der das Segelboot führerlos über den See schaukelt. Das Kind, das jetzt erwachsen ist, erinnert sich nicht mehr, hat alles, was von dem Schrei an geschah, ausgeblendet, vergessen, verdrängt. Vielleicht ist da noch die Ahnung von gleißendem Licht, von einer flirrenden Spiegelung im Wasser, vielleicht von einem Gefühl der Ohnmacht, der Schwere. Der Erwachsene, der sich als Kind erinnert, weiß, dass alles, was er zu erinnern glaubt, Einbildung ist, spätere Konstruktion.

Geblieben sind zwei Zeitungsausschnitte, die zu beschreiben behaupten, was sich in dieser Stunde ereignet hat. Ein Gesicht, das sich über das Kind in dem Boot beugt: Es gehört dem Fahrer eines Elektroboots, das in einiger Entfernung am Segelboot vorbeifährt, zuerst das zerrissene Segel bemerkt, dann das Rufen des Kindes hört, näher kommt und beim Segelboot anlegt. In den Zeitungsausschnitten, die sich in einer Dokumentenmappe des Erwachsenen befinden, stehen die Worte verstört und verängstigt. Und lassen das Kind einen Satz sagen: Vati, wo bist du? Unentwegt: Vati, wo bist du? Keine Antwort auf diesen Satz seither.

[14]Der Fahrer des Elektroboots bringt das Kind ans Ufer, ruft Wassergendarmerie und Rettung. Während Boote hinaus auf den See fahren, um mit der Suche nach den Vermissten zu beginnen, wird der Neunjährige von einem Gendarmen befragt. Zunächst bleibt unklar, wie viele Personen ins Wasser gefallen sind. Vielleicht steht im Protokoll des Beamten, was ihm das Kind gesagt hat, der Erwachsene, der das Kind gewesen ist, hat keine Erinnerung mehr an die Befragung. Der Fahrer des Elektroboots ist verstorben, der Polizist lange schon im Ruhestand und es ist ungewiss, ob er noch am Leben ist. Der Vorfall jedenfalls ist längst geklärt, vielleicht existiert noch ein Protokoll irgendwo in einem Archiv, oder es ist verschollen oder bereits vernichtet.

Während der Beamte durch sanftes Zureden etwas aus dem Kind herauszubringen versucht, vollzieht sich im Kind, so hat der Erwachsene später den Vorgang rekonstruiert, eine Wandlung. Ohne äußeres Zutun und ohne äußere Anzeichen: An diesem Nachmittag am See wird das neunjährige Kind erwachsen. Als man es schließlich nach der Befragung, nach einer ersten Labung mit einem Glas Süßsaft, wegführt, ist es erwachsen. In einem Moment der Scharfsicht und Klarheit weiß es, was es zu halten hat. Von allem.

Vati, wo bist du? Der Vater ist nicht da. Das ist so, weil es so ist.

Was ist vom Leben zu erwarten? Nichts. Von niemandem.

Später setzt die Erinnerung wieder ein. Ein schattiger Garten mit Obstbäumen, eine Schaukel, ein Hund, zutraulich und ungefährlich. Die Frau des Gendarmen. Ein Stück Zwetschkenkuchen. Eine freche Wespe, über die ein Glas gestülpt wird. Eine Hand, die über seinen Kopf streicht. Der seltsame Geruch eines fremden Badezimmers. Eine Toilette mit Spülung. Ein Mädchen, Katharina, die Tochter des Gendarmen und seiner Frau. Sie trägt Zöpfe und ist sieben Jahre alt. Dann möchte er seinen Namen nennen. Die Kehle ist wie zugeschnürt, er bringt nur ein unverständliches Krächzen zustande. Nur Schauen ist möglich, seine Augen sind [15]jetzt wahrscheinlich riesengroß. Er folgt dem Mädchen, das ihm seine Spielsachen zeigt, einen Kinderwagen, einen Gummiball, ein Sprungseil.

Nebenan läuft ein Radiogerät, die Übertragung eines Fußballspiels. Ein Spiel ist zu Ende, auf das Ende eines anderen wird noch gewartet, dann überschlägt sich die Stimme des Reporters: Der LASK ist Meister, der LASK ist Meister!

Interessierst du dich für Fußball?, fragt ihn der Gendarm. Du bist doch aus Linz? Kennst du den LASK?

Die Erinnerung an eine Schwäche, die ihn in diesem Moment wegzuschwemmen droht. Die Erinnerung, genau bei dieser Frage an den Vater gedacht zu haben. Genau in diesem Moment Vati, wo bist du? gedacht zu haben.

Ja, den LASK kennt er. Der LASK ist Meister?, fragt er den Polizisten. Ja, der LASK ist Meister, antwortet dieser. Das Wunder ist perfekt, jubelt der Radioreporter.

Den LASK hat er ein paarmal gesehen. Im Linzer Stadion. Gemeinsam mit dem Vater. Bevor ihn die Schwäche anweht, verbietet sich das Kind, sich zu erinnern, und erinnert sich doch: an Chico, an Liposinovic, an Sturmberger.

Das Mädchen möchte mit ihm spielen. Sie hatte den Auftrag, mich abzulenken, denkt der Erwachsene später über diese Stunden im Garten, er ist sich nicht sicher, ob Katharina informiert war oder sich einfach freute, unvermutet einen Spielkameraden für einen Nachmittag zu haben. Sie spielen Ball gegen die Wand, sie schieben sich gegenseitig bei der Schaukel an, sie springen Schnur, Katharina ist geschickt. Ihre Augen sind dunkel, sie gefällt ihm. Er sagt nichts und schaut sie nur mit großen Augen an. Stoß mich an, sagt sie und er gibt der Schaukel einen Schubs. Zehnmal, sagt sie, wirft den Ball gegen die Wand, dreht sich um und fängt den Ball wieder auf. Und jetzt du. Er tut es.

Jemand hat das Radio abgedreht. Die Frau deckt den Gartentisch zum Kaffee. Später kommt Besuch. Jemand bittet den Gendarmen, immer noch in Uniform, mitzukommen, es müssten [16]noch Fragen geklärt werden. Spiel du mit ihm, sagt jemand zu Katharina.

Dann gehen sie ins Haus. Ein fremdes Kinderzimmer. Schulhefte. Ein Stammbuch. Ein Pierre-Brice-Poster. Ein Brettspiel. Sie spielen Mensch ärgere Dich nicht, und der Bub gewinnt. Sie hat mich gewinnen lassen, denkt der Erwachsene, sie hat Rücksicht auf mich genommen. Einmal werde ich sie fragen können, ob sie es aus Mitleid getan hat. Ob das ihr Motiv gewesen ist.

Zweiter Tag

Er erwachte in einem fremden Zimmer, wie aus einer Ohnmacht. Die Tuchent lag schwer auf ihm, das Leintuch fühlte sich rau an, die Luft war klar, das Fenster gekippt. Draußen im Garten tschilpten Vögel, der Himmel war blau. Er wusste nicht, wie er in das Zimmer gekommen war. Er hatte das Gefühl, in Watte gebettet zu sein, er sah sich in einer Wolke liegen, schwebend. Plötzlich stand jemand neben ihm, die fremde Frau, die ihm wieder über das Haar strich. Wir kennen uns nicht, sagte er unhörbar zu der Frau und ließ ihre freundliche Geste geschehen.

Dann fiel ihm ein, was am Vortag geschehen war. Er spürte, wie das Schwanken des Bootes in seinem Körper nachhallte, er wusste, dass die Vorstellung, auf Wolken zu schweben, die Erinnerung seines Körpers an den Tag zuvor war. Sie kennt mich nicht, dachte er, als ihm die fremde Frau über den Kopf strich, sie weiß nicht, dass ich erwachsen bin.

Erwachsen sein heißt allein sein. Das dachte das Kind, neun Jahre alt, am Tag, nachdem es erwachsen geworden war. Ein zweiter Satz schob sich nach: Jetzt muss ich mich selber erziehen.

Wenn der Erwachsene später an das Kind dachte, das er gewesen war, wusste er nicht mehr zu unterscheiden. Waren das Sätze, die er dem Kind von damals unterstellte, oder hatte er als Kind damals, am Tag nach dem Unfall, tatsächlich so gedacht?

[17]Im Kind versteckt verhüllte sich seit gestern ein anderer, für niemanden erkennbar als für es selbst. Sein kindliches Erscheinungsbild war nur mehr eine Hülle, eine Tarnkappe, eine Verkleidung für die Erwachsenen. Ein Mantel hüllte ihn ein, ein Schutzschild umgab ihn, der ihn unangreifbar, unverletzlich machte.

Jahre später sah der Erwachsene Aufnahmen eines Jungen, der an einer seltenen Immunschwächekrankheit litt und deswegen nicht mit der normalen Atemluft in Berührung kommen durfte; der Junge steckte in einem Ganzkörperanzug, der dem eines Raumfahrers ähnelte. Der Junge konnte gehen, hantieren, sich bewegen, langsame Drehbewegungen ausführen, sogar essen, immer geschützt durch den Anzug, der ihn am Leben hielt. Der Erwachsene hatte die Aufnahme des Jungen in einer Fernsehdokumentation gesehen und gedacht: So bin ich gewesen. So habe ich mich gefühlt, ohne dass mir jemand etwas angesehen hätte.

Er wusste nicht, wie er in das Zimmer gekommen war. Anderntags war das Mädchen Katharina wieder um ihn herum. Sie sprach leise und deutlich, ununterbrochen mit ihrer Puppe spielend, ihn in das Spiel einbeziehend. Wenn sie mit der Puppe sprach, suchte sie immer wieder den Augenkontakt mit ihm, löste den Blick, sprach wieder einige Sätze mit der Puppe, gab ihr Anweisungen, sah dann wieder zu ihm hin. Der Blick, der ihn aus ihren dunklen Augen traf, baute eine Brücke zwischen ihnen, eine unsichtbare Verbindung. Vielleicht hatte Katharina damals als Einzige die Hülle um ihn herum gesehen, dachte er später.

Er stellte sich vor, Katharinas Blick hätte eine Sichtbrücke, ein kunstvolles Gerüst aus Licht zwischen ihnen erbaut, und als sie den Blick löste, hatte sich die Brücke aus Licht geteilt. Jeder von ihnen trug seither einen Teil der Brücke, unsichtbar für alle, mit sich herum.

Mein platonisches Modell als Kind, die Lego-Version, hatte er später gedacht. Die Vorstellung hatte sich ihm stark eingeprägt, sich später zwar abgeschwächt, war aber nie verschwunden. Von [18]diesem Tag an ging er mit der Hälfte einer Brücke vor seinen Augen durch die Welt, immer auf der Suche, den anderen Teil dieser Brücke zu finden, sie wieder zu vervollständigen.

Man ging sorgsam mit ihm um, als wäre er ein kostbarer, zerbrechlicher Gegenstand. Die Frau bereitete ihm ein Frühstück, vielleicht hatte er eine Schale Kakao getrunken und eine Buttersemmel gekaut, dann kam der Gendarm, in dessen Haus er die Nacht verbracht hatte, zu ihm und sagte ihm, was er schon wusste.

Der Mann sprach sanft, hatte buschige Augenbrauen, sie waren allein im Zimmer, Katharina (und ihre Lichtbrücke) war nicht im Raum, der Mann beugte sich über ihn und sprach.

Seine Sätze kamen warm über den Neunjährigen, wie lauwarme sprenkelige Schauer aus einer Dusche, Sätze der Schonung, des Trostes. Der Klang der Stimme des Gendarmen beruhigte. Vor jedem Satz, zu dem der Gendarm vorsichtig ansetzte, hatte das Kind das Gefühl, bereits zu wissen. Es wusste, dass es keiner Schonung bedurfte, es war ja in seiner Schutzhülle und in Sicherheit. Doch der Beamte wusste nicht, zu wem er sprach.

Sie hatten Arnolds Mutter tags zuvor nicht ausfindig machen können; sie, die schon länger mit einem anderen Mann zusammenlebte, hatte, wie Arnold mit seinem Vater, einen Ausflug gemacht und war erst am Abend über Umwege telefonisch erreicht und verständigt worden.

Sie hatten auch die Großeltern von Arnold, die Eltern des Vaters, die in der Stadt am See wohnten, nicht erreichen und verständigen können. Sie sind mit den Keramiksenioren in Südtirol, sagte der Gendarm, und dass er das Kind jetzt zu seiner Mutter nach Linz bringen werde. Das Wort Keramiksenioren tanzte vor der Schutzhülle des Kindes und drang schließlich in sie ein.

Weil das Kind bereits wusste, was geschehen und wie alles ausgegangen war, sah es eigentlich keinen Anlass, so wie am Vortag den Gendarmen nach dem Verbleib des Vaters zu fragen. Aus Wohlverhalten und um den Mann nicht zu irritieren, hatte das Kind den Gendarmen dann doch nach dem Verbleib des Vaters [19]und seiner Begleiterin und deren Tochter gefragt. Und der Gendarm hatte die Nachricht, die auszusprechen ihm so schwerfiel, aussprechen und sich von einem Druck befreien können. Der Gendarm hatte ihn angesehen und erleichtert gewirkt, als ihm das Kind die erwartete Frage gestellt hatte. Der Vater sei gefunden worden, ja. Und die Frau und das Mädchen auch.

Der Gendarm hatte nicht gesagt, wohin man den Vater gebracht hatte, und seine Freundin und das Kind, und der Junge hatte ihn nicht danach gefragt, sondern in den Vorschlag des Gendarmen eingewilligt, zu seiner Mutter nach Linz gefahren zu werden.

Katharina bedauerte, dass er nicht mehr mit ihr spielen konnte. Für einen Augenblick fanden sich die Teile ihrer Lichtbrücke noch einmal zusammen und war es ihm möglich, auf ihr bis zu den dunklen Augen des Mädchens zu gelangen. Er verabschiedete sich von Katharina, um ein Geheimnis wissend.

Später, als der Erwachsene Professor für Literatur geworden war und eine Vorlesung zur Geschichte der großen Liebesromane der Weltliteratur vorbereitete, fiel ihm seine kindliche Vorstellung der Augenbrücke wieder ein und er schlug in Lexika nach, ob sich ähnliche Topoi in der Literatur fänden. Auch hatte er in seiner Vorlesung einen Exkurs zum Thema Kitsch und wann und in welchen Zusammenhängen bestimmte Motive als kitschig empfunden würden eingeplant. Die Idee, das Bild der Lichtbrücke im Rahmen seiner Vorlesung öffentlich, wenn auch nicht autobiografisch darzustellen, hatte er in einer plötzlichen Entscheidung und nach einem heftigen, aber kurzen Schamanfall an seinem Schreibtisch im Institut für Germanistik in Regensburg verworfen und das Motiv weiterhin seiner privaten Geschichte und Erinnerung zugeschlagen. Darin hatte jeder etwaige Kitsch Platz, solange er Anspruch auf Tatsächlichkeit in seiner Erinnerung beanspruchen konnte: So und nicht anders war es gewesen. Er konnte keinen Zeugen für seine Vorstellung aufrufen, Katharina schon gar nicht. Niemandem, nicht einmal seiner Frau, hatte er je davon erzählt.

[20]Am Nachmittag des darauffolgenden Tages brachte ihn der Gendarmeriebeamte, in dessen Haus Arnold die Nacht verbracht hatte, in seinem Privatauto nach Linz zu seiner Mutter.

Arnold saß im Fond des Wagens, eines VW-Käfers, und drehte sich einmal um: Im ovalen Rückfenster wurde der Traunstein kleiner und kleiner. Die Frau des Gendarmeriebeamten hatte dem Kind ein belegtes Brot mitgegeben, eingewickelt in Butterbrotpapier, Arnold rührte es nicht an, der Gendarmeriebeamte schwieg während der Fahrt.

Die Fahrt verlief ereignislos, Arnold schaute aus dem Wagen und beobachtete die Autos, von denen sie überholt wurden und die sie ihrerseits überholten. Familien, die das Wochenende an den Seen verbracht hatten, kehrten in die Hauptstadt zurück. Im Heck eines Ford entdeckte er einen aufgepumpten Schwimmreifen, aus dem Fond eines anderen Autos winkten Kinder, Arnold winkte beim Überholen hinüber und hoffte, der Gendarm würde nicht bemerken, dass er aus dessen Auto winkte. Ihn wunderte, dass der Beamte die Uniform trug, obwohl er doch nicht im Dienst zu sein schien, da er sonst mit einem Einsatzwagen gefahren wäre. Er wagte nicht, den Beamten nach dem Grund zu fragen.

Die Mutter war von ihrem Ausflug zurückgekehrt. Als Arnold mit dem Beamten beim Häuschen in der Stadtrandsiedlung eintraf, kam ihnen Mutters zweiter Mann Horst, ein untersetzter, bulliger Typ mit kurzen, nach hinten gekämmten Haaren, bei der Gartentür entgegen und bat sie in den Obstgarten, wo sich die Familie aufhielt. Die Mutter saß in der kleinen Laube und stillte ihre Tochter, Andrea, die gerade ein Jahr alt geworden war, Arnolds Stiefschwester. Er hatte sie erst wenige Male gesehen. Als die Mutter ihn sah, stand sie auf, legte ihre Tochter in die Wiege und ging auf Arnold zu. Arnold blieb mitten in der Wiese stehen, die Mutter drückte ihn wortlos an sich. Arnold spürte keinen Impuls, den Druck zu erwidern, er ließ das An-sich-Drücken durch die Mutter geschehen; dann ließ sie von ihm ab, um den Beamten zu begrüßen.

[21]Arnold sah, dass Horst, der kurze Hosen trug und ein Unterleibchen, das sich über einen beachtlichen Bauch wölbte, stark schwitzte. Horst suchte deshalb, nachdem er den Beamten an den Gartentisch, an dem zum Kaffee gedeckt war, gebeten hatte, einen Platz im Schatten eines Obstbaums auf. Es war noch immer heiß und schwül. Um einen Streuselkuchen kreisten Wespen, die die Mutter zu verscheuchen versuchte.

Schrecklich, schrecklich, sagte Horst mehrmals. Die Mutter hatte vorher etwas zum Beamten gesagt, was Arnold nicht gehört hatte. Sie hielt die Hände vor die Brust gepresst.

Erst jetzt bemerkte Arnold, dass sich noch jemand im Garten aufhielt. In einem Plastikzuber planschte Renate, Horsts ältere Tochter. Sie war drei Jahre jünger als Arnold. Sie hatte er noch seltener gesehen als seine Halbschwester Andrea. Arnold erinnerte sich, dass Renate einmal, als ihr Dolores, seine Mutter, ein Honigbrot geschmiert hatte, dieses nicht gegessen, sondern in einem unbeaufsichtigten Moment einfach unter die Küchenbank geworfen hatte. Arnold hatte den Vorgang beobachtet, seine Mutter aber nicht darauf aufmerksam gemacht. Renate war ihm unsympathisch, er mochte ihr keinen Anlass geben, böse auf ihn zu sein, deshalb verriet er sie nicht. Renate wohnte bei ihrer leiblichen Mutter, Horsts erster Frau, mehr wusste Arnold nicht von ihr.

Spielt doch ein wenig miteinander, ermunterte ihn die Mutter und deutete auf Renate, die so tat, als würde sie Arnold nicht bemerken. Arnold begriff, dass ihn die Mutter in Wahrheit aufgefordert hatte, vom Kaffeetisch aufzustehen und wegzugehen, weil sie und Horst dem Beamten Fragen zu stellen hatten, die er nicht hören sollte. Arnold tat so, als würde er auf die Bemerkung der Mutter, die bloß eine geheuchelte Aufforderung gewesen war, eingehen und vermied in seiner Reaktion jeden Hinweis darauf, dass er verstanden hatte, was die Mutter in Wahrheit von ihm gewollt und durch sein Weggehen letztlich auch erreicht hatte. Er stellte sich neben den Badezuber, in dem Renate nackt saß [22]und so tat, als bemerkte sie ihn nicht. In ihren Händen hielt sie eine gelbe Plastikente, die sie mehrmals unter die Wasseroberfläche drückte, worauf die Ente jedes Mal wieder hochschnellte und Renates kleinen Händen entglitt. Während Renate mit der gelben Ente das Untertauchspiel spielte, betrachtete Arnold den kleinen Schlitz zwischen ihren Beinen und stellte sich vor, wie Wasser durch ihn in Renates Körper eindrang und sie sich wie ein Schwamm mit Wasser vollsaugte. Arnold überlegte, wie es wäre, wenn man mit einer Stecknadel in den Bauch von Renate stach, so wie man beim Braten einer Ente in die Hautkruste stach, um zu sehen, ob sie schon durch war. Er überlegte, ob dann Wasser aus dem Körper von Renate spritzen würde. Als er seiner Überlegung, die er ungeprüft beenden musste, überdrüssig wurde, schnappte er sich einen Ball, der im Gras lag, und begann, ihn gegen eine hölzerne Schuppenwand im hinteren Teil des Gartens zu schießen. Immer wenn er die Wand traf, war ein schepperndes Geräusch zu hören. Aus den Augenwinkeln beobachtete er, wie sich die Erwachsenen dazu verhielten, dass er mit dem Ball Lärm verursachte. Kurz vermeinte er, dass sich alle drei, die Mutter, Horst und der Beamte, zu ihm umdrehten, als die Schuppentür knallte, dann begriff er, dass sie ihn an diesem Tag schonen würden und er den Ball gegen die Holzwand schießen konnte, so fest und so oft er wollte.

Schnell war er dabei, das Spiel des LASK gegen den GAK, das er im Stadion miterlebt hatte, und die Ballstafetten zwischen Sturmberger, Liposinovic und Chico nachzuspielen. Er wusste noch genau die Reihenfolge der Tore: Viehböck hatte zweimal getroffen, der junge Köglberger einmal, kurz vor Schluss hatte Cäsar Sabetzer den 4:0-Erfolg komplett gemacht. Cäsar, das heißt der Kaiser, hatte ihm der Vater erklärt. Am Tag vor diesem Spiel hatte sich Sabetzer entschlossen, für ein weiteres Jahr beim LASK zu unterschreiben, der Moment seines Torschusses bestätigte den Zuschauern, dass Sabetzer noch mit ganzem Herzen bei der Mannschaft war. In dem Moment, als ihn seine Fantasie [23]vom Spiel auf dem Rasen weg auf die Tribüne und zu seinem Vater ziehen wollte, der ihm erklärte, was Cäsar bedeutete, zwang Arnold sich, sich wieder auf das Spielgeschehen zu konzentrieren. Es galt, die letzten Spielminuten ohne Gegentor zu überstehen. Nach der Niederlage schlichen die GAK-Spieler deprimiert vom Platz, für ihre Mannschaft bestand nun akute Abstiegsgefahr.

Später bemerkte er, wie der Gendarmeriebeamte aufstand und sich bei der Mutter und bei Horst bedankte. Arnold empfand das Aufstehen des Gendarmeriebeamten als Aufforderung, wieder zum Kaffeetisch der Erwachsenen zurückzukommen. Die Mutter und Horst waren ebenfalls aufgestanden, auf dem Tablett stand der Rest des Streuselkuchens. Arnold sah, dass der Beamte seinen, Arnolds, Rucksack auf der Wiese neben dem Eingang ins Haus abgestellt hatte.

Die Mutter, Horst und Arnold begleiteten den Beamten bis zur Gartentür, wo sich dieser von allen mit Händedruck verabschiedete. Alles Gute, sagte er Arnold zum Abschied, und Arnold überlegte, ob er sich bei dem Gendarmen bedanken sollte. Die Mutter kam ihm aber zuvor und bedankte sich dafür, dass der Beamte ihn gebracht hatte, wie sich die Mutter ausdrückte. Schweigend sahen sie zu, wie er in den VW-Käfer einstieg und langsam die Sackgasse, in der sich das Häuschen von Mutter und Horst befand, zurückfuhr. Zum Abschied hob Horst seinen Arm, ohne zu winken. Er hob ihn lediglich ungefähr bis zur Höhe seiner Schläfe hoch. Wenn er diese Geste fortgesetzt hätte, wäre es möglich gewesen, dass er sich durch die Haare gefahren wäre. Horst hob seinen Arm einen Augenblick in die Luft und ließ ihn dann wieder sinken.

Wenig später kam noch einmal Besuch. Besuch, der von Horst und der Mutter offenbar bereits erwartet worden war. Eine kleine, dicke Frau mit stämmigen Waden, schwer atmend, die Arnold nie zuvor gesehen hatte und die er durch den Begrüßungsvorgang als Margarete, Horsts erste Frau identifizierte, in Begleitung eines Mannes, der sich Fritz nannte, auch er untersetzt und dick, mit [24]kurzen, rötlich blonden Locken. Von der Statur her sahen sich Fritz, der nun offenbar Margaretes Ehemann war, und Horst, der ihr erster Mann gewesen war, durchaus ähnlich. Die beiden Männer schienen sich zu kennen und gaben einander die Hand. An der Hand von Margarete ging ein Bub, der sich schüchtern an seine Mutter drängte. Auch ihn hatte Arnold noch nie gesehen; der Bub mochte vielleicht drei Jahre alt sein und scheute jeden Blickkontakt. Das Einzige, was Arnold an dem Kind auffiel, waren seine deutlich abstehenden Ohren. In Arnolds Schule wurden solche Kinder Flieger genannt. Arnold beobachtete, ob er bei Margarete oder Fritz, offenbar den Eltern des Kindes, Auffälligkeiten an den Ohren erkennen konnte. Die Ohren von Margarete und Fritz zeigten keine Auffälligkeiten. Das ist der Arni, sagte Margarete zu ihrem kleinen Sohn, und zu Arnold gewandt: Und das ist der Hari. Arnold hörte sich, wie er Servus zu dem Kind sagte, das nicht weiter zu ihm aufsah, Dolores bat die Ankömmlinge in den Garten.

Die Besucher waren gekommen, um Renate abzuholen. Dann saßen sie um den Gartentisch, an dem der Kaffee ausgegangen und der Kuchen fast aufgegessen war. Ein Anstandsstück war auf dem Tablett liegen geblieben. Horst holte eine Flasche Cognac aus dem Haus und schenkte eine Runde ein. So saßen sie um den Tisch, zwei Frauen, Dolores und Margarete, jeweils mit ihren zweiten Ehemännern, dazu vier Kinder, Arnold, Renate, Harald und das Kleinkind Andrea, die von drei verschiedenen Vätern stammten. Einer der Männer, Arnolds Vater, war am Vortag im Traunsee ertrunken, Arnold konnte sich nicht erinnern, dass sich das Gespräch am Gartentisch um das Unglück vom Vortag gedreht hätte. Möglicherweise, dachte er, hatten sie bereits darüber geredet, als Fritz und Margarete am Morgen Renate zu Horst gebracht hatten und er, Arnold, als der Betroffene des Unglücks, noch nicht da gewesen war. Stattdessen unterhielten sich die Männer über den sensationellen Meisterschaftssieg des LASK. Bis lange nach Mitternacht sei in der Landstraße in der Nähe der [25]Blumau gefeiert worden, wusste Fritz zu berichten, das habe doch niemand vorher geglaubt, dass der LASK partout nach der letzten Runde und damit endgültig an der Spitze der Tabelle stehen würde. Während die Männer den Sieg des LASK und wie sie sein Zustandekommen mitbekommen hatten, diskutierten, sprachen die beiden Frauen abwechselnd über Renate, die sehr brav gewesen sei, wie Dolores nicht aufhören konnte zu betonen, und den kleinen Harald, der, obwohl er schon drei Jahre alt war, sich mit dem Sprechen noch sehr Zeit lasse, wie Margarete bedauerte. Das wird schon, tröstete Dolores und tätschelte dem Kleinen mit den abstehenden Ohren die Wangen. Später setzte sie Harald, der mit großen Augen schaute und Daumen lutschte, Arnold kurz auf den Schoß. Renate, die sich in der Zwischenzeit angezogen hatte, war zu ihrer Mutter auf den Schoß gekrochen und buhlte um Aufmerksamkeit. Unser kleiner Engel, sagte Margarete zu Harald, und Arnold, der bemerkt hatte, dass Haralds linkes Knie aufgeschürft war, kommentierte, arglos und unbedacht: Ja, ein Engel mit Fliegerohren. Dummer Bub, schalt ihn darauf Dolores, so etwas sagt man nicht. Obwohl unklar blieb, ob Harald die Aussage von Arnold überhaupt verstanden hatte, kehrte dieser dann schmollend auf den Schoß seiner Mutter zurück. Ich auch, sagte Renate. Du ja auch, sagte Margarete. Du bist mein erster Engel, sagte sie, zu ihrer Tochter gewandt, und du mein zweiter, sagte sie und drückte Harald an sich.

Arnold beobachtete, dass Horst Fritz ein zweites Mal eingeschenkt hatte. Gesundheit, sagte Horst und stieß sein Glas an das von Fritz. Sollst leben, sagte dieser.

So verging der Nachmittag.

[27]I

Dass er Katharina nach so vielen Jahren wiedersah, verdankte Arnold Walter einer Banalität. Einer Rauchpause. Nach seinem Vortrag, dem eine Diskussion folgen sollte, fragte er den Direktor des Bildungshauses, ob es erlaubt sei, im Haus zu rauchen. Dieser verneinte lächelnd, zupfte ihn jovial am Ärmel und zog ihn in ein kleines Zimmer am Ende des Ganges. Weil Arnold seine Zigaretten im Wagen liegen gelassen hatte, bot ihm der Bildungshausdirektor persönlich eine an und gab ihm Feuer. Im stillen Einverständnis, ein Gebot zu brechen, das der Direktor selbst erlassen hatte, standen sie am halb geöffneten Fenster und pafften. Abwechselnd glühten ihre Glimmstängel in der Dunkelheit auf, der Direktor hatte kein Licht gemacht. Schweigend schauten sie hinunter in den Innenhof, wo sich eine Abendgesellschaft zum Aufbruch bereit machte.

Unten stand eine dunkle Limousine, deren Türen von einem Chauffeur eilig geöffnet wurden. Unter einem der gut beleuchteten Arkadenbögen befanden sich mehrere Personen, alles junge Leute. Die Burschen trugen dunklen Anzug, die Mädchen rotes Kostüm, an den Revers steckten Namenskärtchen. Die jungen Leute warteten offenbar auf jemanden, der gleich das Haus zu verlassen beabsichtigte. Dass sie sich wichtig fühlten, war an ihren federnden Schritten zu erkennen, an der aufgeregten Hektik, die sie verbreiteten, an der Art, wie sie hin und her tänzelten.

Dann trat ein Mann in das Licht im Torbogen, gefolgt von einer Frau. Er war elegant gekleidet, auf den ersten Blick war erkennbar: Das war das Alphatier. Für ihn und seine Begleiterin stand der Wagen bereit.

[28]Arnold sah die Frau und erkannte Katharina sofort. Das Erkennen befiel ihn als eine Mischung aus Erschrecken und jäher, heimlicher Begeisterung, ein Vorgang, der ihn augenblicklich in einen Zustand konzentrierter Wachheit versetzte.

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