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Wir Menschen sind heute nicht mehr die Einzigen, die lesen und schreiben – Computer tun es auch. Nach Jahrtausenden des Monopols über die Schrift mussten wir diese Bastion im 21. Jahrhundert räumen – eine Entwicklung, die Douglas Engelbart, der Erfinder der Computermaus, schon 1968 vorhergesehen hat. Dieses Buch zeigt, wie sich Lesen und Schreiben ändern, wenn der Computer uns diese Kulturtechniken immer mehr abnimmt. Wie wirkt sich dies auf Bücher, Bibliotheken und Verlage, auf Schule und Universität, auf Presse und Zensur aus? Welche künftigen Veränderungen auf dem Weg hin zu einer »Digitalkultur« lassen sich derzeit voraussagen? Wie können wir verhindern, dabei zum Spielball der technischen Evolution zu werden? Engelbarts Traum muss heute neu gedeutet werden, soll er sich nicht in einen Albtraum verwandeln.
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Seitenzahl: 464
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Henning Lobin
Engelbarts Traum
Wie der Computer uns Lesen und Schreiben abnimmt
Campus VerlagFrankfurt/New York
Über das Buch
Wir Menschen sind heute nicht mehr die Einzigen, die lesen und schreiben – Computer tun es auch. Nach Jahrtausenden des Monopols über die Schrift mussten wir diese Bastion im 21. Jahrhundert räumen – eine Entwicklung, die Douglas Engelbart, der Erfinder der Computermaus, schon 1968 vorhergesehen hat.
Dieses Buch zeigt, wie sich Lesen und Schreiben ändern, wenn der Computer uns diese Kulturtechniken immer mehr abnimmt. Wie wirkt sich dies auf Bücher, Bibliotheken und Verlage, auf Schule und Universität, auf Presse und Zensur aus? Welche künftigen Veränderungen auf dem Weg hin zu einer »Digitalkultur« lassen sich derzeit voraussagen? Wie können wir verhindern, dabei zum Spielball der technischen Evolution zu werden?
Über den Autor
Henning Lobin ist Professor für Angewandte Sprachwissenschaft und Computerlinguistik an der Universität Gießen. Seit 2007 leitet er dort das interdisziplinäre Zentrum für Medien und Interaktivität (ZMI), in dem die Auswirkungen von neuen Kommunikationsformen auf Wissenschaft, Bildung und Kultur untersucht werden.
http://www.lobin.de
Für Antje
Vorwort
1 Ein Traum wird wahr
2 Die Kulturtechniken Lesen und Schreiben
2.1 Kulturtechniken
2.2 Das Zeichensystem Schrift
2.3 Der Träger der Schrift
2.4 Schrift in unseren Köpfen
2.5 Wer liest und schreibt, und wie geschieht dies?
3 Schriftkultur
3.1 Kultur als Zeichensystem
3.2 Kulturelle Kommunikation
3.3 Manuskriptkultur, Buchkultur, Schriftkultur
3.4 Infrastrukturen
3.5 Institutionen
3.6 Auffassungen, Konzepte, Werte, Mythen
4 Digitalisierung und die Triebkräfte digitaler Kultur
4.1 Der digitale Code
4.2 Triebkräfte der Turing-Galaxis
4.3 Digitale Texte
4.4 Digitale Kommunikation
4.5 Digitale Kultur?
5 Neue Technologien des Lesens
5.1 Digitales Lesen
5.2 Hybrides Lesen
5.3 Multimediales Lesen
5.4 Soziales Lesen
6 Neue Technologien des Schreibens
6.1 Digitales Schreiben
6.2 Hybrides Schreiben
6.3 Multimediales Schreiben
6.4 Soziales Schreiben
7 Was vergeht? Was entsteht?
7.1 Lesen
7.2 Schreiben
7.3 Forschen
7.4 Lernen
7.5 Informieren
8 Die Evolution der Kultur
8.1 Memetik
8.2 Replikation durch Sprache und Schrift
8.3 Memetik der Schriftkultur
8.4 Digitale Meme
8.5 Der digitale Code als DNA der Kultur
9 Digitalkultur
9.1 Von der Schriftkultur zur Digitalkultur
9.2 Verlag und Buchhandel
9.3 Schule und Universität
9.4 Bibliothek und Forschungsinstitution
9.5 Presse und Zensur
10 Alte und neue Träume
Anmerkungen
Literatur
»Experte: ›Google-Generation‹ hat Schwierigkeiten« – so war es am 11. Mai 2010 in der Bild-Zeitung zu lesen. Junge Menschen würden elementare Kulturtechniken verlernen und nicht mehr in der Lage sein, Bücher und Bibliotheken angemessen zu nutzen. Es kommt nicht oft vor, dass ein Fachvortrag das Interesse einer Boulevard-Zeitung erregt. Und erst recht erwartet man das nicht, wenn es um Überlegungen zur Zukunft des Lesens und Schreibens geht, die auf dem Hessischen Bibliothekstag geäußert wurden. Das alles überraschte mich deshalb sehr, denn der besagte »Experte« war ich selbst. Der Leiter der Universitätsbibliothek in Gießen, Dr. Peter Reuter, der in jenem Jahr die Tagung der hessischen Bibliothekare organisierte, hatte mich zu einem Vortrag eingeladen mit der Bitte, etwas über den digitalen Wandel unter Berücksichtigung der Rolle von Bibliotheken zu sagen. Da ich mich im Zentrum für Medien und Interaktivität (ZMI) an der Universität Gießen seit einiger Zeit mit den Veränderungen dieser Kulturtechniken befasst hatte, sagte ich zu. Mir waren zudem noch Eindrücke frisch in Erinnerung, die ich auf einer Reise nach New York in der grandiosen New York Public Library gewonnen hatte. (Diese werden am Anfang von Kapitel 3 geschildert.) Der Bild-Artikel, in dem meine Aussagen etwas überakzentuiert wurden, sowie weitere Berichte in der überregionalen Presse und nicht zuletzt zahlreiche Fragen, die nach dem Vortrag gestellt wurden, machten mir bewusst, wie sehr das Thema Lesen und Schreiben unter digitalen Vorzeichen viele Menschen beschäftigt. Diese Erfahrung war der Ausgangspunkt für das vorliegende Buch.
Während der Arbeit daran konnte ich von einigen größeren Forschungsvorhaben profitieren, die in den vergangenen Jahren am ZMI durchgeführt worden sind. Dies war zum einen der Projektverbund »Kulturtechniken und ihre Medialisierung«, der vom Hessischen Wissenschaftsministerium im Rahmen des sogenannten LOEWE-Programms gefördert wurde, zum anderen die Forschungsgruppe »Interactive Science – Interne Wissenschaftskommunikation über digitale Medien«, gefördert von der Volkswagen-Stiftung, und schließlich das noch laufende Projekt »GeoBib«, das vom Bundesministerium für Bildung und Forschung im Rahmen der »E-Humanities«-Initiative finanziert wird. Auch wenn diese Forschungsvorhaben nicht auf direktem Wege in das vorliegende Buch eingeflossen sind, so haben sie doch entscheidend dazu beigetragen, dass in der Zusammenarbeit einer Vielzahl von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern am ZMI eine ganz besonders inspirierende Atmosphäre entstehen konnte. Dafür bin ich den verschiedenen Drittmittelgebern und natürlich diesen Kolleginnen und Kollegen sehr dankbar.
Zu großem Dank bin ich auch meinen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern gegenüber verpflichtet, mit denen ich viele der in diesem Buch behandelten Entwicklungen diskutieren konnte. Auch die verschiedenen Vortragseinladungen, bei denen ich in den letzten Jahren zu diesem Themenkomplex sprechen durfte, haben aufgrund der sich daran anschließenden Diskussionen immer zur weiteren Schärfung des Gedankengangs beigetragen. Besonders danke ich in diesem Zusammenhang Sabine Homilius für die Einladung in die Vortragsreihe der Polytechnischen Gesellschaft Frankfurt, Michael Schindhelm für einen gemeinsamen Aufenthalt am Strelka-Institut in Moskau und Hans-Georg Knopp für die Gelegenheit, das Thema mehrfach beim Goethe-Institut in München mit »Kulturpraktikern« diskutieren zu können. Alexander Mehler danke ich für die Demonstration des noch in der Entwicklung befindlichen WikiNect-Systems, das zu Beginn von Kapitel 6 dargestellt wird. Meinen Kolleginnen und Kollegen an Universitäten in Brasilia, Sofia, Warschau, Posen, Shanghai und Zhengzhou sowie beim Germanistentag in Kiel danke ich für besondere Impulse, die dort auf Tagungen in den letzten beiden Jahren hervorgegangen sind.
Für eine exzellente Betreuung dieses Buchprojekts danke ich Judith Wilke-Primavesi vom Campus Verlag, die auch wichtige Anregungen und Hinweise zu Aufbau und Inhalt beigetragen hat. Sabine Heymann gebührt als langjähriger Mitarbeiterin, Beraterin und Freundin ein ganz besonderer Dank. Sie hat das Vorhaben in jeder denkbaren Weise unterstützt, das Manuskript vollständig durchgesehen und sehr wertvolle Kommentare dazu gegeben. Meine erste Leserin jedoch, meine unermüdliche Gesprächspartnerin und kluge Ratgeberin war und ist meine geliebte Frau, Antje Lobin, die mit ihrer Begeisterung für das Thema und durch ihre sehr konkrete und zugleich ganzheitliche Unterstützung, selbst in Zeiten der Fertigstellung ihrer eigenen Habilitationsschrift, viel mehr zum Gelingen dieses Buchs beigetragen hat, als sie wohl selbst zugestehen würde. Ihr sei es deshalb von ganzem Herzen gewidmet.
Frankfurt am Main, im Juli 2014
Auf der gemeinsamen Herbsttagung der amerikanischen Informatiker im Jahr 1968, der Fall Joint Computer Conference in San Francisco, ist für den Nachmittag des ersten Tages, den 9. Dezember, etwas Besonderes vorgesehen. Dr. Douglas C. Engelbart vom Stanford Research Center in Menlo Park, knapp 50 Kilometer vom Tagungsort entfernt, soll anderthalb Stunden über sein »Forschungszentrum zur Erweiterung des menschlichen Geistes« reden.1 Auch wenn dieser Titel perfekt zur damals in Kalifornien gerade entstehenden Hippie-Kultur zu passen scheint, erwartet die etwa 2.000 Zuschauer in der verdunkelten Brooks Hall, einem der größten Säle des die Tagung beherbergenden Convention Center, eine High-Tech-Show, wie man sie noch nicht gesehen hat.
An der Stirnseite des Saals findet sich eine sechseinhalb Meter breite Videoprojektion und statt eines Rednerpults rechts auf der Bühne ein Stuhl, vor den eine Art Kontrollpult geschwenkt werden kann, ausgestattet mit einigen merkwürdigen Geräten: Die Schreibmaschinentastatur kennen die an der Tagung teilnehmenden Computerwissenschaftler von ihren eigenen Rechnern. Die Geräte rechts und links daneben sind ihnen dagegen fremd. Das Teil auf der linken Seite besteht aus fünf Tasten und nennt sich »Akkord-Tastatur« (Chord Keyset). Die Tasten sind sowohl einzeln mit Zeichen belegt als auch untereinander verknüpft, so dass sich eine Vielzahl von Eingabemöglichkeiten ergibt – wie Akkorde auf dem Klavier. Auf der rechten Seite befindet sich ein kleines Kästchen mit drei Tasten, das hin- und hergeschoben werden kann. »Ich weiß nicht, warum wir es ›Maus‹ nennen. Es fing einfach so an, und wir änderten es nicht mehr«, sagt Engelbart dazu etwas später.2
Beide Eingabegeräte lassen sich gut miteinander kombinieren: die linke Hand auf den Tasten der Akkord-Tastatur, die rechte auf der Maus, der Blick auf den Fernsehmonitor davor gerichtet. In der hundert Minuten dauernden Demonstration ist der Leiter des 17-köpfigen Forschungsteams immer wieder in dieser Haltung zu sehen, in weißem Hemd mit dunkler Krawatte und mit einem erstaunlich modern wirkenden Headset auf dem Kopf. Hin und wieder blickt er nach rechts oben, um die korrekte Funktion der Videoprojektion zu überprüfen. Ganz ähnliche Bilder aus dem Kontrollzentrum der ersten Mondlandung, der Mission Control, sollten nur wenige Monate später auf der ganzen Welt zu sehen sein.
Engelbart hatte nach seiner Zeit als Marinetechniker im Zweiten Weltkrieg die Idee verfolgt, einen Radarbildschirm mit einem Computer zu verbinden, um darauf Schriftzeichen und Liniengrafiken anzeigen und den Computer interaktiv, ohne das langwierige Einlesen von Lochkarten, nutzen zu können. 1968 gab es zwar schon Computer, die den interaktiven Betrieb mehrerer Benutzer ermöglichten, allerdings erfolgte die Ausgabe des Computers dabei ausschließlich über Drucker. Engelbart und sein Team »druckten« die Ausgabe stattdessen auf einen Radarbildschirm, wo sie zudem veränderlich war – Fernsehbildschirme erlaubten noch keine Textdarstellung. Leider waren Radarbildschirme ausreichender Größe immens teuer und flackerten sehr, da sie nach einem anderen Prinzip arbeiten als Fernsehmonitore. Die Lösung, die auch bei der Demonstration 1968 schließlich angewandt wurde, war die: Man verwendete einen kleinen, billigeren Radarbildschirm und ließ dessen Bild von einer Fernsehkamera aufnehmen. Das Bild konnte dann auf einen oder mehrere größere Fernsehmonitore oder eben auf die Großleinwand übertragen werden. Dabei wurde es farblich umgedreht, so dass schwarzer Text auf weißem Grund erschien, und auch das Flackern war verschwunden.
Staunend erleben die Zuschauer an jenem Dezembernachmittag, wie ein Text auf dem Bildschirm durch Löschen, Einfügen und Verschieben von Wörtern verändert wird, wie zwischen verschiedenen Darstellungsarten hin- und hergeschaltet und mit der Maus ein Wort angeklickt werden kann, um eine andere Textdatei zu öffnen, die dann auf dem Bildschirm erscheint – das Anklicken eines Hyperlinks. Engelbart demonstriert mit seinem wichtigsten Mitarbeiter William K. English sogar, wie man gemeinsam einen Text bearbeiten kann – gleichzeitig! English sitzt dabei im Labor des Teams in Menlo Park, von wo aus er nicht nur per Video- und Audioleitung live in das Convention Center zugeschaltet ist, sondern auch über eine eigens eingerichtete Funkdatenleitung. Die Demonstration zeigt somit erstmals auch die kooperative Nutzung des Computers und eine Videokonferenz. All das war mit ungeheurem technischem Aufwand umgesetzt und sollte die Ergebnisse von fast zehn Jahren Entwicklungsarbeit dokumentieren. Engelbarts Demonstration kann zugleich als die erste computerbasierte Präsentation gelten, da er das vorgestellte Textverarbeitungs- und Hypertextsystem namens »Online-System«, kurz NLS, wiederum zur Unterstützung seiner Ausführungen verwendet. Überhaupt verfolgt das ganze Projekt einen evolutionären Ansatz: NLS selbst wird für die Präsentation, für die technische Weiterentwicklung und für das Management des Projekts eingesetzt. So demonstrieren Engelbart und seine per Video zugeschalteten Mitarbeiter auch, wie sie mit Hilfe des Systems Textnachrichten verschicken, verschiedene Programmversionen verwalten und eine Hypertext-Dokumentation pflegen. Man hofft, das System durch den Einsatz im eigenen Team und die Nutzungserfahrungen, die dadurch gewonnen werden, nach und nach immer besser an die Arbeitsvorgänge anpassen zu können.
Nachdem Engelbart am Ende seinen Mitarbeitern und schließlich seiner Frau und den Töchtern gedankt hat – ihnen widmet er die Demonstration –, erhebt sich der Applaus. Es ist der Höhepunkt seiner Tätigkeit als Computerentwickler, vielleicht seines Lebens überhaupt. Nur wenige Zeit später ziehen sich einige Geldgeber aus seinem Forschungszentrum zurück, eine breitere Nutzung von NLS im entstehenden Internet wie auch die Kommerzialisierung gelingen nicht. Engelbarts Ideen aber wirken fort. Einige Mitarbeiter des zerfallenden Teams wechseln zur Firma Xerox, die sich in einem Forschungszentrum in der Nähe mit Büroautomation befasst. Von ihnen wird in Fortführung des Engelbart-Projekts 1973 der erste Personal Computervorgestellt, der eine grafische Benutzeroberfläche besitzt, der Alto. Eines der wenigen Exemplare, die nie in den Handel gelangt waren, bekommt dort ein junger Firmengründer zu sehen, dessen Vision es ist, billige und vor allem leicht bedienbare Computer für normale Menschen herzustellen, Steve Jobs. Er ist fasziniert von dieser ganz anderen Art, einen Computer zu bedienen. 1983 bringt seine Firma Apple den ersten kommerziellen Computer mit grafischer Benutzersteuerung auf den Markt, zu der auch eine Maus gehört, den Lisa.3 Ein Jahr später erscheint der wesentlich günstigere Macintosh und macht Jobs zum Milliardär.
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Engelbarts Demonstration des Online-Systems war auch ein Höhepunkt in der noch kurzen Geschichte des Computers, die zu jener Zeit kaum 25 Jahre zurückreichte. Als erster hatte er erkannt, dass der Computer viel mehr sein kann als ein Automat, der lediglich Berechnungen schnell durchführen kann. Engelbarts Ziel war es, den Computer als ein Werkzeug des Menschen neu zu erfinden. Computer sollten immer verfügbar sein und den Menschen bei seiner geistigen Arbeit unterstützen. Zuvor war kaum jemand auf die Idee gekommen, diese monströsen Maschinen in einer solchen Weise zu verwenden. Daten und Programme wurden noch in Lochkarten gestanzt und von Betriebspersonal eingelesen, erst Stunden später konnte man die Ergebnisse der Berechnungen als Papierausdruck abholen. Engelbart erfand den »Benutzer«, der kontinuierlich mit dem Computer verbunden ist und, anstatt von diesem Differentialgleichungen ausrechnen zu lassen, per Mausklick Wörter in einer Einkaufsliste umsortiert, wie er es in seiner Demonstration zeigte. Für viele war das damals eine groteske, völlig sinnlose Nutzung dieser teuren Wunderwerke der Technik. Engelbart aber wollte dem Menschen ein Gerät an die Hand geben, das ihm nichts weniger als die »Erweiterung« seines Geistes ermöglichte.
In Engelbarts System laufen erstmals drei getrennte Entwicklungslinien der Computertechnologie zusammen. Das ist zum einen die von Anfang an zentrale Eigenschaft von Computern, Berechnungen automatisch durchführen zu können, Zahlen und Schriftzeichen programmgesteuert zu manipulieren. Im Online-System gibt es verschiedene Möglichkeiten, mit denen sich ein Benutzer einzelne Arbeitsschritte beim Verfassen von Texten durch den Computer abnehmen lassen kann, zum Beispiel die Nummerierung einer verschachtelten Liste. Zweitens können im Computer alle unterschiedlichen Arten von Daten integriert werden. Engelbart kombiniert die Einkaufsliste mit einer stilisierten Karte der Orte, an denen die Erledigungen zu machen sind. Grundlage dafür bildet die Digitalisierung, die Kodierung von Informationen durch nur zwei Zustände, die Null und die Eins, der sogenannte Binärcode. Der Binärcode wird dafür verwendet, alle Datentypen in eine einheitliche Form zu bringen und ohne Rücksicht auf ihre Bedeutung durch Programme handhabbar zu machen, gleichgültig, ob es sich um Zahlen, Texte, Tabellen, Bilder, Grafiken, Karten, Töne oder Filme handelt. Und drittens ist das Online-System vernetzt – vernetzt mit anderen Computern und Werkzeug in einer vernetzt arbeitenden Gruppe von Menschen.
In Engelbarts Demonstration gab es außerdem eine aufwändig eingerichtete, mit eigens dafür entwickelter Software betriebene Telefon-Funkverbindung.4 Während er in San Francisco die Vorstellung des Online-Systems vorbereitete, wurden an anderer Stelle bereits die technischen Voraussetzungen für das Internet entwickelt. Engelbart erwähnt am Ende seiner Demonstration die Möglichkeiten, die sich damit »schon im nächsten Jahr« ergeben würden. Und tatsächlich sollte das Internet im Herbst 1969 als Netzwerk von zunächst vier Rechnern seinen Betrieb aufnehmen.5
Der 9. Dezember 1968 lässt zum ersten Mal erahnen, wie durch die Verbindung von Automatisierung, Datenintegration und Vernetzung etwas Neues entsteht – nicht nur eine technologische Innovation, sondern eine neue kulturelle Dimension des Lesens und Schreibens, des Umgangs mit geschriebener Sprache und schriftlicher Information. Hybrid, multimedial und sozial – mit diesen Begriffen lässt sich charakterisieren, wie Lesen und Schreiben durch Engelbarts Erfindungen geworden sind. Nicht nur der Mensch ist es, der liest und schreibt, es liest und schreibt auch der Computer. Nicht nur Schrift ist es, woraus digitale Texte bestehen, sondern auch aus Grafiken, Bildern, Videos und anderem. Und man liest und schreibt nicht mehr nur selbst, sondern gemeinsam mit anderen. Das digitale Lesen und Schreiben ist hybrid, multimedial und sozial, und damit unterscheidet es sich grundlegend vom Lesen und Schreiben, wie es bis dahin in der Schriftkultur gewesen ist.
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Die Kulturtechniken der Schrift prägen seit Jahrtausenden die menschliche Kultur. Währenddessen sind sie immer wieder an die gesellschaftlichen und technischen Bedingungen angepasst worden. Die Erfindung des Buchdrucks im 15. Jahrhundert etwa führte zu bedeutenden Veränderungen des Lesens und Schreibens, was einen Wandel des ganzen kulturellen Gefüges der folgenden Jahrhunderte zur Folge hatte. Bücher konnten von da an leicht in großer Stückzahl hergestellt werden und wurden so für jedermann erschwinglich. Immer mehr Menschen konnten anhand von Büchern in der Schule lesen und schreiben lernen und sich weitergehende Bildung aneignen. Durch den Buchdruck begann die Wissenschaft zu florieren und durch Zeitungen eine kommunikative Öffentlichkeit zu entstehen, aus der wiederum gesellschaftliche und politische Veränderungen hervorgingen. Eines blieb aber über all die Jahrhunderte unverändert: Der Text, der zuerst per Hand geschrieben, später mit technischer Hilfe gesetzt und gedruckt wurde, bedurfte nur des menschlichen Auges, um gelesen zu werden. Er war in unmittelbar lesbaren Schriftzeichen verfasst. Das Lesen selbst musste zwar gelernt werden, blieb aber immer ein »natürlicher«, durch technische Entwicklungen kaum beeinflusster Vorgang.
Mit der Digitalisierung hat sich dies geändert: Die Texte sind nicht mehr in sichtbaren Schriftzeichen verfasst, sondern im Binärcode. Um in diesem Code Texte lesen oder schreiben zu können, brauchen wir den Computer als Lese- und Schreibgerät sowie spezielle Programme, die dies ermöglichen. Das Textverarbeitungssystem Word von Microsoft ist so ein Programm: Es übersetzt Folgen von Nullen und Einsen in Buchstaben, nutzt darüber hinaus weitere digitale Angaben, um die Buchstaben in bestimmter Größe, Farbe und Art darzustellen und sie auf der Bildschirmfläche zu positionieren. Erst wenn das geschehen ist – und es werden dazu sehr umfangreiche Berechnungen durchgeführt –, können wir den Text auf dem Computerbildschirm lesen. Gleiches gilt für den Web-Browser auf dem Tablet oder die News-App auf dem Smartphone. Würden von einem Tag auf den anderen alle Computer, also alle Server, Laptops, Tablets, Smartphones und E-Book-Reader ausfallen, würde nicht nur unsere gesamte öffentliche Infrastruktur zusammenbrechen, wir könnten auch große Teile des Menschheitswissens nicht mehr nutzen, denn es wäre uns ohne die computerisierte Übersetzung aus dem Binärcode nicht mehr zugänglich. Wenn die Schriftkultur dadurch gekennzeichnet ist, dass Wissen und Erfahrung der Menschheit durch Schrift auf Papier und anderen Schriftträgern ohne technische Hilfe unmittelbar zugänglich ist, dann führt die Digitalisierung zum Ende der Schriftkultur, wie wir sie bislang kannten. In der nun beginnenden Digitalkultur leben wir Menschen in Symbiose mit den Maschinen, sind auf Gedeih und Verderb von ihnen abhängig und dadurch zum Spielball der technischen Evolution geworden.
Die Speicherung von Texten im Binärcode macht den Umgang mit ihnen zwar aufwändiger und risikoreicher, man gewinnt dabei aber auch sehr viel. Der erste Mensch, der dies erkannte, war die Mathematikerin Grace Hopper – sie brachte es später fertig, in der US-Marine als Wissenschaftlerin bis zum Flottillenadmiral aufzusteigen. Schon in den 1940er Jahren war sie als junge Frau an der Entwicklung der ersten Computer beteiligt gewesen.6 Die Programme, die diese frühen Computer steuerten, wurden von Spezialisten wie ihr per Hand in binäre Steuerungsbefehle übertragen – eine esoterische Tätigkeit, die detaillierte technische Kenntnisse der jeweiligen Computersysteme voraussetzte, langwierig und fehleranfällig war.
Anfang der 1950er Jahre hatte Grace Hopper die Idee, diese Übersetzungsarbeit durch den Computer selbst erledigen zu lassen. Der Mensch sollte Programme in für ihn verständlicher Sprache schreiben und sich nicht mit den technischen Anforderungen des Computers auseinandersetzen müssen. So entwickelte sie 1952, 16 Jahre vor Douglas Engelbarts Demonstration des Online-Systems, das erste Programm zur automatischen Übersetzung von Programmen, den »A-0«-Compiler.7 Mit diesem Programm rechnete ein Computer zum ersten Mal nicht mit Zahlen, sondern mit Texten. Zwar waren diese Texte nicht in natürlicher Sprache verfasst, sondern in einer formalisierten Programmiersprache, doch nie zuvor hatte jemand anderes als ein Mensch einen Text gelesen und übersetzt. Nur kurz danach begannen Wissenschaftler in den USA und der Sowjetunion, sich im Zeichen des Kalten Krieges auch mit der Übersetzung von Texten in englischer und russischer Sprache in die jeweils andere Sprache zu beschäftigen. Legendär wurde das sogenannte Georgtown-IBM-Experiment Anfang 1954, die erste öffentliche Demonstration eines Systems zur maschinellen Übersetzung. Trotz des großen Aufsehens, das damit in der Öffentlichkeit und beim amerikanischen Militär erregt wurde, besaß das vorgestellte System nur ein Vokabular von wenigen Hundert Wörtern und konnte lediglich einige sorgfältig ausgewählte Sätze der russischen Sprache ins Englische übersetzen.8 Für die Automatisierung des Lesens und Schreibens war damit aber ein Anfang gemacht, und vieles andere folgte. Seitdem ist der Mensch nicht mehr der einzige, der liest und schreibt, auch der Computer beherrscht es, auf seine Weise. Seitdem haben wir unser Monopol über die Schrift verloren.
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Mit den Veränderungen des Lesens und Schreibens durch die Digitalisierung werden weitreichende kulturelle Veränderungen einhergehen. Die Schriftkultur, die mit der Erfindung des Buchdrucks eine immense Verbreitung erfahren hatte, manifestiert sich in Bibliotheken und Archiven, durch Buchhandel, Verlags- und Pressewesen. In Gestalt von Büchern, Zeitungen und Zeitschriften werden Texte Gegenstand einer gewaltigen Infrastruktur, in der es um Produktion, Reproduktion, Lagerung, Organisation und Distribution geht. Auch für die Weitergabe von Wissen und Erfahrungen sind Bücher und Texte auf Papier jahrhundertelang das zentrale Instrument – in der Schule und an der Universität, als Teil von Wissensproduktion und Forschung, bei der Nutzung von Kenntnissen und Erfahrungen in Firmen und Organisationen. Und auch die Gesellschaft selbst fußt auf gedruckten Texten, in der Verwaltung, in der Justiz und in der Presse, im Literaturbetrieb. Um all diese kulturellen Infrastrukturen und Institutionen ranken sich Interessen und Verbände, Ausbildungen und Studiengänge, Finanzströme und politische Programme. In einzelnen Bereichen, in denen Krisenerscheinungen schon hervorgetreten sind, werden die Herausforderungen der Digitalisierung bereits diskutiert: Was wird in Zukunft aus den Zeitungen? Vor welchen Herausforderungen werden die Bibliotheken stehen? Welche Rolle kann das Internet in der Hochschullehre spielen? In welcher Weise müssen Buchverlage ihr Geschäftsmodell verändern? Für andere Bereiche, etwa die Schule, hat die Diskussion gerade erst begonnen.
Lesen und Schreiben sind Kulturtechniken, und wenn sich die technischen Voraussetzungen verändern, verändert sich auch das Lesen und Schreiben selbst. Wir lesen und schreiben anders, wenn es hybrid, multimedial und sozial geschieht – was wir lesen, nehmen wir anders auf, was wir schreiben, sieht anders aus und ist anders aufgebaut. Neben den institutionellen Veränderungen nach dem Ende der Schriftkultur wird es deshalb auch Veränderungen in jedem Einzelnen von uns geben. Unsere Gehirne passen sich den Bedingungen des digitalen Lesens und Schreibens an, schriftliche Informationen werden kognitiv anders verarbeitet und gespeichert, werden uns ganz anders prägen. Unser Denken erfährt eine Kolonisierung durch den Computer und die digitale Schrift, so wie es früher durch das Buch mit seiner gedruckten Schrift kolonisiert war.
In den folgenden Kapiteln will ich diese Zusammenhänge im Einzelnen nachzeichnen. Wir werden uns die Kulturtechniken der Schrift ansehen und was eigentlich unter Schriftkultur zu verstehen ist. Wir werden die technischen Veränderungen des Lesens und Schreibens betrachten und den Wandel, der sich daraus in verschiedenen Anwendungsbereichen ergibt. Und es soll auch eine Voraussage unternommen werden, in welcher Weise sich die Veränderungen auf die Infrastrukturen und Institutionen des Lesens und Schreibens in der Digitalkultur auswirken werden. Voraussetzung dafür ist ein evolutionärer Blick auf Kultur, mit dem viele scheinbar zufällige Entwicklungen erklärbar werden. Denn aus der Digitalisierung der Kulturtechniken der Schrift ergeben sich nicht nur wirtschaftliche, politische und gesellschaftliche Konsequenzen, auch die traditionellen Werte der Schriftkultur werden sich verändern. Nach dem Ende der Schriftkultur werden die Menschen weiterhin Lesen und Schreiben, aber im digitalen Medium, stets in Symbiose mit dem vernetzten Computer, hybrid, multimedial und sozial. Nicht nur der Mensch, nicht nur die Schrift, nicht nur ich selbst – genau an diesen grundlegenden Tendenzen der Digitalisierung wird erkennbar, wie eine Kultur jenseits der Schriftkultur einmal aussehen wird. Engelbarts Traum ist unsere Wirklichkeit geworden und beginnt sich zu entfalten.
Stellen Sie sich vor, Sie wachen eines Morgens auf und können nicht mehr lesen und schreiben. Sie haben es komplett verlernt und können auch Buchstaben nicht einzeln zu Wörtern zusammensetzen, es sind für Sie nur noch geometrische Gebilde ohne Sinn und Bedeutung. Eine schreckliche Vorstellung! Auf einen Schlag werden Sie Ihren Alltag kaum noch bewältigen können. Zwar können Sie sich noch problemlos Ihr Frühstück zubereiten, doch schon der Blick auf Ihr brummendes Handy, wo eine Nachricht eingegangen ist, wird Sie ratlos machen. Sie werden nicht verstehen, wer Sie kontaktiert hat und warum, und Sie werden noch nicht einmal antworten können, denn Sie können ja auch nicht schreiben. Wer auch immer Ihnen geschrieben hat, wird denken, dass Sie die Nachricht nicht erreicht hat oder Sie sich bewusst nicht zurückmelden. In der U-Bahnstation werden Sie nicht die richtige Linie identifizieren können, und wenn Sie dann doch Ihre Arbeitsstelle erreicht haben sollten, können Sie vermutlich nicht sehr viel machen – alles hat mit Schrift, Lesen und Schreiben zu tun. Wollen Sie abends ins Kino oder ins Theater gehen, werden Sie die Programme nicht verstehen und online keine Karten reservieren können, und beim Abendessen im Restaurant können Sie die Speisekarte nicht entziffern. Nahezu alles, was uns umgibt, ist irgendwie an Schrift gekoppelt, und der Verlust der Fähigkeit, sie nutzen zu können, kommt einer sozialen Katastrophe gleich – im Beruf, im persönlichen Umfeld, für die Teilhabe an der sozialen und medialen Welt und für die Bewältigung des Alltags insgesamt.
Es gibt Menschen, die erleiden genau dies. Ein Schlaganfall löscht die Fähigkeit des Lesens und Schreibens aus. Meist ist dies verbunden mit halbseitigen Lähmungen und der Beeinträchtigung der Sprache, der sogenannten Aphasie.9 Durch Alexie, den Verlust der Lesefähigkeit, und Agrafie, den Verlust der Schreibfähigkeit, erleben die Betroffenen, dass es nicht nur ein isoliertes Problem für sie ist, diese Fähigkeiten zu verlieren, sondern sich ihnen dadurch auch die soziale und kulturelle Welt verschließt, die gesellschaftliche und politische Teilhabe. Schrift ist also ein Schlüssel zu unserer Kultur. Aus diesem Grund werden Lesen und Schreiben als Kulturtechniken bezeichnet, und wir werden uns in diesem Kapitel ansehen, welche besonderen Eigenschaften sich damit verbinden.
Die Kulturtechniken des Lesens und Schreibens prägen seit Jahrtausenden die menschliche Kultur. Kulturtechniken sind von Menschen entwickelt worden, werden erlernt und von Generation zu Generation weitergegeben. Je nachdem, was man unter dem Begriff »Kultur« versteht, gibt es entsprechend viele verschiedene Kulturtechniken – angefangen mit dem Feuermachen und der Herstellung von Klingen aus Feuerstein in der Steinzeit über Ackerbau und Viehzucht, Handwerk und Technik bis hin zu Lesen, Schreiben, Rechnen, Zeichnen. Angefangen hat die Karriere des Begriffs »Kultur« jedoch mit einer sehr konkreten Bedeutung: Mit »cultura agri« wurde bei den Römern der Ackerbau, mit »cultura horti« die Gartenpflege bezeichnet.10 Wenn man sich das Bedeutungsspektrum des darin verborgenen lateinischen Verbs »colere« genauer ansieht, dann kann man verfolgen, wie aus der Grundbedeutung der Pflege von Pflanzen die des gesamten häuslichen Umfelds abgeleitet wurde, dann die Pflege des Körpers, des Geistes (im Sinne von »üben« und »studieren«) und schließlich die »Pflege« – also die Anbetung und Verehrung – der Götter. Das, was zu pflegen ist, bedarf offenbar auch dieser Pflege, denn sonst würde es verwildern, verfallen oder sich gegen uns wenden. Natur soll Kultur werden – und bleiben. Durch die Schrift werden menschliches Wissen und Erfahrungen gespeichert, und mit den Kulturtechniken des Lesens und Schreibens bewahren wir diesen kostbaren Besitz durch tägliche Anwendung. Kulturtechniken sind also dazu da, Errungenschaften des Menschen zu bewahren.11
Der Ackerbau ist aber nicht nur ein ordnender Kampf gegen die Natur, es wird auch etwas hervorgebracht, etwa Getreide, aus dem Brot gebacken wird. Genauso verhält es sich mit den Kulturtechniken der Schrift: Schreiben bringt Texte hervor, und durch Lesen werden diese, oder besser: deren Bedeutung in unsere Köpfe überführt. Und genauso wie die Kulturpflanzen erst durch Acker-, Obst- und Gemüsebau mittels Züchtung und Veredelung in ihrer heutigen Form entstanden sind, bringen auch die Kulturtechniken der Schrift kulturelle »Gewächse« hervor, die es ohne sie überhaupt nicht geben würde. Hätte ohne die Schrift jemals Kants Kritik der reinen Vernunft entstehen können? Es ist undenkbar, einen derartigen, Hunderte von Seiten umfassenden philosophischen Gedankengang allein im Kopf zu entwickeln und mündlich weiterzugeben.12 Liegt so ein Werk aber schriftlich vor, kann es auch verbreitet und in anderen Köpfen lesend nachvollzogen werden. So wie Ackerbau, später Handwerk und Technik unsere Lebenswelt mit physischen Gütern ausstattet und damit Handlungsweisen prägt, so statten Kulturtechniken unsere geistige Welt mit kulturellen Gütern und Denkweisen aus.
Diese Eigenschaft von Kulturtechniken entspringt einer inneren Logik von Schrift. Die Schrift bildet keineswegs nur eins zu eins ab, was gesprochen wird, sondern besitzt als Zeichensystem eigene Gesetzmäßigkeiten. Besonders gut kann man dies an Schriftsystemen sehen, die gar nicht für die Dokumentation von Sprache gedacht sind, zum Beispiel das Schriftsystem der Mathematik. Die Logik dieser Schrift besteht darin, Zahlen so darzustellen, dass man mit einfachen, grundlegenden Rechenoperationen sehr umfangreiche Berechnungen durchführen kann. Die Addition zweier zehnstelliger Zahlen können die allerwenigsten Menschen im Kopf vornehmen – wie man solche Zahlen jedoch schriftlich addiert und dabei noch nicht einmal bis 30 zählen können muss, lernen Kinder bereits in der Grundschule.
Auch die Schrift, mit der wir natürliche Sprache fixieren, besitzt Gesetzmäßigkeiten, welche aus der Schrift als Zeichensystem selbst hervorgehen und nicht aus der Sprache. Wortzwischenräume zum Beispiel gibt es nicht in der gesprochenen Sprache, der Lautfluss verläuft ohne Unterbrechungen. Wortzwischenräume und auch die Großschreibung bei Hauptwörtern im Deutschen haben die Aufgabe, das Lesen zu erleichtern, sind also nicht Teil der gesprochenen Sprache. Würden wir überhaupt einen Begriff für »Wort« haben, wenn wir Wörter nicht als das sehen könnten, was zwischen zwei Leerstellen im Text erscheint?13 Und auch die Buchstaben, die wir in der Schrift nutzen, sind nicht einfach nur das Abbild von Lauten der gesprochenen Sprache. Im orthografischen System des Deutschen sind Herkunft und Zusammenhang von Wörtern erkennbar, und auch das unterstützt den Lese- und Verständnisprozess jenseits der gesprochenen Sprache. Wir schreiben eine völlig identische Lautfolge mal als »Feld« und mal als »fällt«, um dadurch rein visuell zwei ganz unterschiedliche Wörter zu bezeichnen. Das »d« am Ende von »Feld« wird exakt wie das »t« in »fällt« ausgesprochen, und auch die Vokale »e« und »ä« sind hier identisch. In einem Wort wird die Kürze des Vokals mit einem Doppel-L markiert, im anderen nicht. Warum gibt es diese Unterschiede? In »fällt« sollen wir beim Lesen das Verb »fallen« erkennen, und in »Feld«, dass es sich um ein Nomen handelt, dessen Auslaut mit zum Wort gehört, anders als bei »fällt«, dessen »t« eine Personalendung darstellt. Auf diese Weise können wir buchstäblich sehen, welches Wort gemeint ist, ohne dass wir es hören müssen. In der gesprochenen Sprache müssen wir auf den Zusammenhang achten, um herauszufinden, welches Wort gemeint ist. Die Eigenschaft, einerseits den Wortaufbau (Morphologie), andererseits die lautliche Systematik (Phonologie) beim Schreiben von Wörtern darzustellen, nennt man das »morpho-phonologische« Prinzip der deutschen Rechtschreibung.
An diesen Beispielen ist leicht zu erkennen, dass auf das System Schrift verschiedene Faktoren einwirken, die zu berücksichtigen sind, wenn wir verstehen wollen, unter welchen Bedingungen sich Lesen und Schreiben vollziehen. Dies sind zum einen das Zeichensystem Schrift und die Eigenschaften, die sich darin nach und nach durchgesetzt haben, etwa das morpho-phonologische Prinzip. Zweitens darf nicht vergessen werden, dass es zum Lesen und Schreiben eines Trägers für die Schrift bedarf. Dieses Trägermedium beeinflusst das Aussehen der Schrift genauso wie die technischen Möglichkeiten des Schreibens und die Wahrnehmung der Schrift beim Lesen. Drittens beeinflussen auch die kognitiven Voraussetzungen des Menschen – etwa seine Wahrnehmungs- und Lernfähigkeit – die Art und Weise, wie wir lesen und schreiben. Und viertens stellt sich die Frage, wer überhaupt die Kulturtechniken der Schrift einsetzt und wie. Wer liest und schreibt, und wie geschieht dies? Diese Frage ist von großer Bedeutung, wenn wir nachvollziehen wollen, wie die Schrift die ganze kulturelle Entwicklung einer Gesellschaft beeinflussen kann. In den folgenden vier Abschnitten wollen wir uns diese vier Faktoren genauer ansehen.
Im Laufe der Kulturgeschichte des Menschen ist die Schrift nicht nur einmal entstanden, sondern mehrfach, unabhängig voneinander – die Keilschrift in Mesopotamien und die ägyptischen Hieroglyphen vor etwa 5.000 Jahren, die chinesische Schrift vor knapp 4.000 Jahren und die Maya-Schrift in Mittelamerika vor etwa 3.000 Jahren.14 So unterschiedlich all diese Schriften ursprünglich waren und sich später entwickelt haben, eines war ihnen gemeinsam: Es waren keine Alphabetschriften, durch sie wurden also ursprünglich keine Laute dargestellt. Alle diese Schriften haben sich stattdessen aus stilisierten Bildzeichen mit konkreten Bedeutungen entwickelt (Piktogramme), ein Prinzip, das nach und nach auch auf abstraktere Bedeutungen übertragen wurde (Ideogramme). Erst am Ende einer langen Entwicklung standen Wortzeichen (Logogramme), wie sie noch heute in der chinesischen Schrift verwendet werden.15 Wir nutzen diese verschiedenen Zeichenarten ebenfalls, auch wenn sie nicht in unserem Alphabet vorkommen. Das Smiley-Zeichen »« ist beispielsweise ein Piktogramm, denn es stellt ein lächelndes Gesicht dar. Das Zeichen »♫« steht oft für Musik, stellt diese selbst aber nicht grafisch dar, sondern nur durch zwei Achtelnoten aus der Notenschrift; es handelt sich somit um ein Ideogramm. Für das Zahlsymbol »8« hingegen haben wir nicht nur eine Bedeutung gelernt, die sich aus dem Zeichen selbst nicht ableiten lässt, sondern wir verbinden damit auch eine ganz bestimmte Lautfolge, nämlich /a/-/ch/-/t/16. Nur mit einem solchen Logogramm kann man auch lautsprachlich neue Wörter bilden, und das geht sogar im Deutschen: »8ung« wäre so eins, »ver8en« oder »Gute N8« (»Achtung«, »verachten« und »Gute Nacht«). Mit »« oder »♫« funktioniert das nicht – wer würde schon darauf kommen, was »d« oder »♫alisch« bedeuten soll (nämlich »lächelnd« und »musikalisch«)? Und dabei bringen die beiden Zeichen, anders als im Beispiel mit der »8«, sogar noch ihre ursprüngliche Bedeutung ein und nicht nur eine Lautfolge.
Logogramme waren auch der Ausgangspunkt für die Entstehung von Silben- und Alphabetschriften. Wie wir die Silbe »acht« durch das Zeichen »8« ausdrücken können, ohne zugleich die Bedeutung (die Zahl 8) zu meinen, haben wir gerade gesehen. So gehen alle logografischen Schriftsysteme vor, um mit vorhandenen Schriftzeichen weitere Wörter zu schreiben, beispielsweise solche mit zusammengesetzten Bedeutungen oder Fremdwörter. Überhaupt hat sich der Kulturkontakt als überaus fruchtbar für die Entwicklung der Schrift erwiesen – wenn etwa fremde Orts- oder Personennamen geschrieben werden mussten. Die Übertragung ganzer Silben stößt dabei schnell an Grenzen, denn der Aufbau von Silben unterscheidet sich zuweilen von Sprache zu Sprache sehr. Schon in der ägyptischen Hieroglyphen-Schrift wurde deshalb ein Trick angewandt: Bestimmte Zeichen wurden nicht »normal« gelesen, sondern nur mit ihrem ersten Laut. Unser Logogramm »8« würde dann nicht die Lautfolge »acht« wiedergeben, sondern nur den Vokal »a«. Wählt man die Logogramme so aus, dass die Anfangslaute ihrer Lesungen möglichst das ganze Lautspektrum der Sprache abdecken, bekommt man eine Schrift für die Laute einer Sprache – eine Art Alphabet. Erkennen Sie, welches Wort sich nach diesem Prinzip hinter »898986« verbirgt? »6« steht für »s«, »8« für »a« und »9« für »n« – es ergibt sich »Ananas«.
Alphabetschriften haben sich historisch erst nach den logografischen Schriften entwickelt, und dies ist auch der Grund dafür, warum man sie in der abendländischen Forschung lange für eine höher entwickelte Stufe von Schrift hielt.17 Mit einer Alphabetschrift könne man, so war das Argument, mit wenigen Zeichen nahezu alle Lautfolgen schreiben, sie sei schnell erlernbar und insgesamt ein ideales Instrument, um gesprochene Sprache zu speichern. Diese Auffassung hatte zwei fragwürdige Konsequenzen: Zum einen wurde »Schrift« mit »Alphabetschrift« gleichgesetzt und logografische Schriften wie das Chinesische als unnötig kompliziert und archaisch angesehen. Und zweitens wurde »Schrift« insgesamt als etwas Zweitrangiges betrachtet, das kaum mehr als eine Speicherungsform der gesprochenen Sprache darstellt. Beide Konsequenzen lassen sich aber kaum aufrechterhalten. Mit der chinesischen Schrift beispielsweise können sehr unterschiedliche Dialekte des Chinesischen einheitlich geschrieben werden, weil sie gerade nicht die lautliche Seite in den Vordergrund stellt. Die chinesische Schrift fungiert deshalb bis heute im ganzen chinesisch geprägten Kulturraum als ein übergreifendes Kommunikationsmedium, obwohl sich manche Sprecher wegen großer dialektaler Unterschiede gegenseitig kaum verstehen können. Sogar Japaner können eine chinesische Zeitung recht gut verstehen, obwohl das Chinesische mit dem Japanischen genauso wenig verwandt ist wie das Deutsche mit dem Arabischen. In der japanischen Schrift werden aber chinesische Schriftzeichen verwendet. Die Bedeutung der Schriftzeichen, nicht ihr Lautwert sorgt für die Verbindung.
Warum Logogramme auch beim Lesen und Schreiben keineswegs schlecht dastehen, sehen wir uns später noch genauer an. Von der Sprachwissenschaft wurde das Zeichensystem Schrift allerdings lange nur sehr stiefmütterlich behandelt. Wenn Schrift nur dazu da ist – so die damalige Auffassung –, gesprochene Sprache zu fixieren, dann gibt es kaum einen Grund, sich mit ihr gesondert zu beschäftigen. Warum sich dann aber die Orthografie nicht nur an den Sprachlauten orientiert, warum Sätze schriftsprachlich anders aufgebaut sind und Texte visuelle Elemente enthalten, die überhaupt nicht in gesprochener Sprache dargestellt werden können, lässt sich mit dieser Haltung nicht erklären. Deshalb ist es sinnvoller, das Zeichensystem Schrift ernst zu nehmen und es von dem Zeichensystem der gesprochenen Sprache abzugrenzen.
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Natürlich haben Schrift und Sprache sehr viel miteinander zu tun, doch gibt es genug Punkte, die eine Trennung rechtfertigten. Da sind einerseits die Unterschiede, die sich aus dem Medium Schrift selbst ergeben:18 Schrift besteht aus einzelnen Einheiten, die klar als solche erkennbar sind, und mit diesen Einheiten wird oftmals auf etwas verwiesen, was gar keinen Bezug zur gesprochenen Sprache hat. Geschriebenes hat außerdem meistens eine andere Funktion als Gesprochenes: Durch Schrift werden Informationen durch Zeit und Raum transportiert, gesprochene Sprache vollzieht sich – jedenfalls ohne technische Hilfsmittel – im Hier und Jetzt.
Von praktischer Seite viel interessanter sind aber die Unterschiede, die sich für die Sprache selbst ergeben. Wenn man sich nämlich ansieht, wie sprachliche Äußerungen beschaffen sind, dann lassen sie sich keineswegs unmittelbar einer schriftlichen oder mündlichen Erscheinungsweise zuordnen. Eine scheinbar typische Äußerung der gesprochenen Sprache wie »Hey du Spinner was willstn?« kann auch im Chat gefunden werden, eine scheinbar typisch schriftliche wie »Der Antrag auf Akteneinsicht beim zuständigen Amtsgericht muss unverzüglich gestellt werden« in einem Gespräch unter Rechtsanwälten. Peter Koch und Wulf Oesterreicher differenzieren deshalb die Begriffe »schriftlich« und »mündlich« jeweils durch zwei Varianten: medial und konzeptionell.19 Medial schriftlich ist etwas, was tatsächlich durch Schrift visuell vermittelt wird, ein Zeitungsartikel etwa, konzeptionell schriftlich das, was mehr oder weniger die typischen Eigenschaften von Schriftlichkeit aufweist, selbst dann, wenn es nicht im Medium der Schrift vermittelt wird. Ein Gesetzestext ist beispielsweise im Medium der Schrift verfasst, – also medial schriftlich. Zugleich ist er aber auch konzeptuell schriftlich, da bei Gesetzen keine Rücksicht darauf genommen wird, ob sie unter den Bedingungen der Mündlichkeit verständlich sind: Sie bestehen aus langen, verschachtelten Sätze, beinhalten komplizierte Substantivgruppen und besitzen keinen persönlichen Bezug zum Leser oder Autor. Gesetze sind nur zum Lesen gedacht, und das prägt sie auch auf der sprachlichen Ebene.
Mediale und konzeptionelle Schriftlichkeit müssen aber keineswegs zusammenfallen, und das sind die besonders interessanten Fälle. Eine Predigt etwa wird medial mündlich produziert, weist oft aber konzeptionell schriftliche Merkmale auf. Bei SMS-Kommunikation verhält es sich genau umgekehrt: Medial ist sie schriftlich, konzeptionell aber meistens mündlich. Dabei spielt keine Rolle, dass die Predigt schriftlich vorbereitet und dann abgelesen wird, wichtig ist, dass man sie hört und nicht liest. Der Grund dafür ist ganz einfach: Wenn wir in direktem Kontakt mit einer vertrauten Person stehen, verwenden wir andere Wörter, bilden wir unsere Sätze anders und sind insgesamt spontaner als in einer öffentlichen Situation mit Menschen, die wir kaum kennen, die vielleicht sogar anonym sind und die auch andere Erwartungen haben an das, was wir mitteilen. Sich darauf richtig einzustellen, lernen wir über Jahre in der Schule, aber die elektronischen Medien (Telefon, Radio, Fernsehen) und erst recht die digitalen (Computer und Internet) haben unsere Wahrnehmung von Nähe und Distanz ziemlich durcheinander gebracht. Unsicherheiten und Kritik an der Online-Kommunikation sind häufig darauf zurückzuführen, dass die Bedingungen der schriftlichen Kommunikation – zum Beispiel öffentlich gegenüber privat – nicht erkannt oder bewusst ignoriert werden. Klare Regeln gibt es aber in vielen dieser neuen Kommunikationsbereiche nicht. Ist eine Facebook-Statusmeldung etwa konzeptionell mündlich oder schriftlich zu formulieren?
Schrift ist also immer etwas Visuelles.20 Damit ein Schriftzeichen aber wahrgenommen werden kann, benötigt es einen Träger, ein Medium. Trägermedien gab es in der Geschichte des Schreibens viele: Knochen, Stein, Ton, Holz, Wachs, Metall, Papyrus, Pergament, Papier21 – geschrieben werden kann eigentlich auf allem, was fest genug dafür ist. Jedes dieser Materialien besitzt Eigenschaften, die das Aussehen der Schrift und das Schreiben beeinflussen. Möchte man Metall als Trägermedium nutzen, muss man mit Gravur-Werkzeugen schreiben. Auf Papier kann man eine Feder, einen Stift oder einen Pinsel benutzen – die Schrift sieht dann jeweils etwas anders aus. Die besondere Gestalt chinesischer Schriftzeichen ist darauf zurückzuführen, dass sie mit einem Pinsel geschrieben wurden; waagerechte und senkrechte Linien sind damit präziser zu gestalten als Rundungen. In der chinesischen Siegelschrift, die bei Gravuren zum Einsatz kommt, sehen die Zeichen deshalb ganz anders aus, da sie Rundungen aufweisen und eine gleichmäßige Linienstärke haben. Die Gestalt der meisten heute geläufigen Druckschriften für das lateinische Alphabet geht auf die Capitalis Monumentalis zurück, eine Schriftart, die die Römer für Inschriften auf Säulen und Fassaden verwendeten.22 Die geradlinige, schnörkellose Form dieser Schrift ist durch die Bedingungen des Steinmetzhandwerks und der Lesbarkeit aus großen Entfernungen geprägt.
Schrift kann als das Ur-Medium überhaupt angesehen werden. Geschriebenes wird auf einem Objekt fixiert, um dieses Objekt lagern, aufstellen, transportieren oder weitergeben zu können. Das lateinische Wort »medium« kennzeichnet genau dies: es bedeutet »Mitte« oder »das in der Mitte gelegene«, und der Brief, den wir per Post verschicken, ist also schon in diesem Sinne ein »medium«, etwas, das zwischen zwei Menschen liegt und diese zugleich verbindet. Darin sind schon die zentralen Fragen enthalten, die mit jedem Mediensystem beantwortet werden müssen: Wie wird das Medium, der geschriebene Text, produziert? Wie wird er gegebenenfalls kopiert? Bei der Schrift traditionell durch die Kulturtechnik des Schreibens. Wie geschieht die Aufnahme der durch das Medium übermittelten Information? Die Rezeption geschieht durch die Kulturtechnik des Lesens. Wie wird das Medium, der Text, versendet und verteilt? Auf dem Wege des physischen Transports, zum Beispiel per Schiff oder per Post. Wie hoch sind die Kosten? Ursprünglich sehr hoch, denn das alles geschah in Handarbeit, dauerte lange und benötigte teure Materialien.
Man kann sich dies gut vergegenwärtigen anhand mittelalterlicher Manuskripte. Hunderte von Seiten umfassende Folianten wurden handschriftlich kopiert und mit Buchmalereien verziert. Anders als heute, wo per Hand fast nur noch für den Eigenbedarf geschrieben wird, wurden die Manuskripte in den Skriptorien der Klöster für die Liturgie, für Ausbildung und Evangelisation und vor allem für die Nachwelt geschrieben.23 Besonders wichtig war deshalb die Lesbarkeit der Texte. Schon früh wurden in der antiken und mittelalterlichen Manuskriptkultur Schrifttypen entwickelt, die dies gewährleisten sollten.24 In den Jahrhunderten zuvor war auch immer wieder die Art und Weise, wie die Schriftzeichen aneinandergereiht werden, modifiziert worden. Die letzte Errungenschaft hatte ab dem 7. Jahrhundert darin bestanden, die einzelnen Wörter des Textes durch Zwischenräume voneinander abzugrenzen. Dadurch konnten die Wörter als Sinneinheiten des Textes deutlicher hervorgehoben und der Lesefluss unterstützt werden. Im 12. Jahrhundert war diese Entwicklung abgeschlossen, und sie ging einher mit der Fähigkeit, einen Text stumm lesen zu können. In der Antike war Lesen nämlich gleichbedeutend mit lautem Lesen gewesen.25
In der europäischen Antike hatte man sich auch entschieden, Texte in horizontalen Zeilen von links nach rechts zu schreiben. Das war keine Selbstverständlichkeit – in anderen Schriftkulturen, etwa in Japan, gibt es bis heute die Alternative, in vertikalen Zeilen von oben nach unten zu schreiben und mit den Zeilen den Text von rechts nach links aufzubauen. In Schriftrollen, die vor der »Erfindung« des Buchs in der Spätantike jahrhundertelang verwendet wurden, hätte diese Schreibweise durchaus ihren Sinn gehabt. Sie wurden horizontal gerollt, wie man es noch heute bei der Thora in Synagogen sehen kann. Für beide Methoden gab es auch Varianten, in denen links und rechts vertauscht waren. Sogar eine dritte Alternative wurde noch im antiken Griechenland praktiziert: Das Schreiben in wechselnden Zeilen – zuerst von links nach rechts, in der nächsten Zeile von rechts nach links, dann wieder von links. Nicht nur die Wörter wurden in jeder zweiten Zeile in der umgekehrten Reihenfolge angeordnet, sondern jeder einzelne Buchstabe, und zwar spiegelverkehrt.26 Diese boustrophedon genannte Methode (darin steckt altgriechisch bous »Rind« und strophē »Wendung«, das Hin- und Herlaufen eines Ochsen beim Pflügen eines Ackers ist damit sinnbildlich gemeint) mag zwar für den Schreiber recht effizient sein, für den Leser ist sie jedoch aufwändig, weil Wortbilder weniger leicht erkannt werden können. Durchgesetzt hat sie sich in keiner Schreibkultur.
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Die Zweidimensionalität der Schreibfläche war also schon immer eine Herausforderung.27 Die Optimierung der Schriftart, die Aufteilung der Buchstabenkette in einheitliche Zeilen und die Aufnahme von Leerzeichen sind Verfahren, um die Lesbarkeit eines Textes zu erhöhen. Zugleich bietet die Fläche aber auch die Möglichkeit, Informationen in den Text aufzunehmen, die sich jenseits des Sprachlichen befinden. Allein durch die verwendete Schrifttype kann beispielsweise zusätzliche Bedeutung ausgedrückt werden. Ob ich das Wort »Deutschland« in Frakturschrift darstelle (), in einer futuristischen Schriftart () oder eher verspielt (), kommt etwa auf einem Wahlplakat für die Bundestagswahl einer politischen Aussage gleich. Sprachlich genau fassen lässt sich diese Aussage aber nicht so einfach.
Weniger augenfällige Darstellungselemente lassen sich in jedem Text finden, wenn es etwa um dessen Gliederung geht. Absätze sind geometrische Einheiten in einem Text, die Sinneinheiten markieren. Überschriften sind typografisch herausgehobene, selten mehr als zwei Zeilen umfassende Absätze, die wir als Themensetzung für die nachfolgenden Absätze begreifen. Beschriftungen, Legenden, Fuß- und Endnoten, Schlagwortregister und Literaturlisten – bei alldem wird die Flächigkeit des Textmediums genutzt, um über rein sprachlich darstellbare Bedeutung hinauszugehen. Der Text wird zusätzlich mit Bedeutung aufgeladen durch visuelle Darstellungsmittel, die gar nicht sprachlich ausgedrückt werden können, es sei denn, wir benennen sie als das, was sie sind. Sehen Sie sich einmal an, was Sie in Magazinen alles an Textdesign finden! Farben, Flächen, Formen, Rahmen, Muster und Zeichen werden als Kraftwerk genutzt, um zusätzliche Bedeutungsenergie zu produzieren, auch ästhetische Energie.28 Texte sind nicht nur das, was sprachlich in ihnen steckt, sondern auch das, was wir an Nicht-Sprachlichem in ihnen sehen.
Sehr gut kann man sich die Entwicklung des Textdesigns am Beispiel der Tageszeitung ansehen. Die allerersten überlieferten Zeitungen, die Straßburger Relation und der Wolfenbütteler Aviso aus dem Jahre 1609,29 bestanden, wie alle Zeitungen der nächsten zweihundert Jahre, aus durchlaufendem Text, so dass sie kaum anders als gedruckte Bücher aussahen. Nach und nach wurden einzelne Wörter durch Sperrung hervorgehoben, woraus sich Überschriften entwickelten. Erst im 19. Jahrhundert ging man zu einem zweispaltigen, später drei- oder mehrspaltigen Textdesign über. Aber auch hier waren die Artikel noch sequenziell angeordnet. Erst im 20. Jahrhundert entstand das uns heute vertraute Bild einer Tageszeitung. Je nach Länge und Wichtigkeit gibt es darin ein- und mehrspaltige Artikel, die als inhaltliche Flächen auf der Seite liegen. Sie besitzen untereinander keine genaue Reihenfolge, sind aber auf der Seite nach inhaltlichen Gesichtspunkten und nach Wichtigkeit gruppiert.
Es ist erstaunlich, wie lange diese Entwicklung bei der Zeitung gedauert hat. Ähnliches ist auch bei ganz anderen Arten von Texten zu beobachten, etwa bei Lehrbüchern, bei Grammatiken oder bei Kochbüchern. In der Sprachwissenschaft spricht man hier von »Textsorten«. Die Textsorte »Zeitung« weist bestimmte inhaltliche, sprachliche und visuelle Merkmale auf, die es uns leicht machen, als Leser täglich mit einer Zeitung umzugehen. Wir wissen genau, wo uns was erwartet, wir wissen, dass uns die Überschriften und die »Anreißer« darunter Vorabinformationen zum Artikel geben und wir dann erst entscheiden brauchen, ob wir den Artikel lesen oder nicht. Wir erwarten eine bestimmte Anordnung der Artikel auf der Seite und in der gesamten Zeitung. Die Artikel selbst sind Teiltextsorten der Textsorte Zeitung, denn auch in ihnen werden ganz bestimmte Darstellungsregeln befolgt – sprachlich, stilistisch und bezüglich des Aufbaus. Textsorten erleichtern uns also den Umgang mit Texten enorm, weil sie durch solche Ordnungssysteme Orientierung im Bedeutungsdschungel geben. Für den Leser verringert diese Orientierung den geistigen Aufwand, an einen Text heranzutreten, denn er weiß bereits, auf was er achten muss und was eher unwichtig ist. Auch für den Verfasser eines Textes bilden die Regeln einer Textsorte eine Richtschnur, die ihn durch den riesigen Raum an Möglichkeiten hindurchleitet. Unser ganzes Leben lang frischen wir immer wieder unser Textsortenwissen auf und erlernen die Regeln neuer Textsorten. Kinder beginnen bereits in der Schule damit, neben dem Lesen- und Schreibenlernen auch Textsortenwissen zu erwerben und es anzuwenden, etwa in Gestalt eines Aufsatzes oder eines Protokolls.
Wie sich Textsorten als Orientierungshilfen des Lesens und Schreibens aus dem Nichts entwickeln, hat man seit den frühen 1990er Jahren im Web mitverfolgen können.30 Bevor sich etwa die heute bei Nachrichtenseiten verwendete Portalstruktur durchgesetzt hatte, versuchten die Zeitungsverlage auf sehr unterschiedliche Weise, ihre Informationsangebote ins Web zu übertragen. Da wurde mal die gedruckte Zeitungsseite nachgebaut oder der Kleinanzeigenteil an den Anfang gestellt. Mittlerweile ist hier eine Web-Textsorte entstanden, die dem Leser eine ähnliche Orientierung ermöglicht wie bei einer gedruckten Zeitung: Aktuelle Meldungen zentral, darüber Logos und Navigation, rechts zentrale Serviceangebote, weitere Meldungen nach Ressort geordnet weiter unten auf der Seite, außen Werbung. Vergleichbare Konventionen gelten für die Einstiegsseiten von Universitäten oder Behörden, Online-Shops, Ergebnislisten von Suchmaschinen, soziale Netzwerke und vieles andere. Visualität und die Funktion von Texten haben zur Entwicklung von Textsorten geführt, und das Wissen über Textsorten, das wir alle besitzen, bildet einen wichtigen Faktor beim Lesen und Schreiben.
So groß die Vielfalt der Sprachen und der Schriftsysteme auch ist, eines bleibt dabei immer gleich: Es ist der Mensch, der liest, er muss die Texte mit seinen Augen wahrnehmen und in seinem Gehirn verarbeiten. Die amerikanische Neurowissenschaftlerin Maryanne Wolf hat in ihrem Buch Das lesende Gehirn nachgezeichnet, in welchen Stadien sich das Lesenlernen durch das menschliche Gehirn vollzogen hat. Wolfs These ist es, dass wir »nicht als Leseratten geboren« werden, sondern sich das Gehirn das Lesen mühsam selbst beibringen musste.31 Das gilt historisch, wie man an den Jahrtausenden der Schriftentwicklung sehen kann, aber auch individuell, da zwar jedem Menschen die Fähigkeit zur Sprache angeboren ist, nicht aber die zum Lesen und Schreiben. Es gibt keine Gene für diese Kulturtechniken; auf jede neue Generation wartet deshalb eine Menge Arbeit, um durch sehr viel Übung das Gehirn zum Gebrauch der Schriftsprache zu programmieren. Dabei werden getrennte Strukturen, die für die Sprache und das Sehen zuständig sind, miteinander verknüpft – ein eigentlich höchst unnatürlicher Vorgang. Der Leseforscher Stanislas Dehaene nennt den Menschen daher den »Primaten, der lesen kann«, und meint damit, dass sich die Gattung Mensch ausgehend von kognitiven Anlagen, die ursprünglich für ganz andere Zwecke entstanden sind, das Lesen selbst beigebracht hat, in einem mühevollen, Jahrtausende währenden Prozess. Dabei hat sich der Mensch die Schrift nach und nach so modelliert – etwa was das Aussehen der Schriftzeichen betrifft –, dass er sie mit seinen unter den Bedingungen der Steinzeit ausgeprägten geistigen Voraussetzungen überhaupt erfassen und verarbeiten kann.32
Das Lesen setzt die Sprache voraus.33 Für die Schichtung der sprachlichen Symbole auf Laut-, Wortteil-, Wort- und Satzebene baut jeder Mensch während seines Spracherwerbs ein intuitives Verständnis auf. Die Spracherziehung vertieft und beschleunigt dieses Verständnis: Abzählreime, rhythmische Lieder, Klatschen und ausgeprägte Intonation fördern im kindlichen Gehirn den Aufbau von Wahrnehmungsstrukturen für die Sprache. Schon Kindergartenkinder haben Abermillionen von Wörtern gehört, so dass sich ihre Gehirne darauf eingestellt haben. Ein fünfjähriges Mittelschichtskind, dem viel vorgelesen wird, kann dabei allerdings schon einen Vorteil von mehr als 30 Millionen Wörtern gegenüber einem Kind aufweisen, dem nicht vorgelesen worden ist.34 Mit den gehörten Wörtern verbinden sich Menschen, Tiere und Dinge, Gefühle, Erfahrungen und Geschichten – kurz: Bedeutungen. All dies ist das sprachliche Kapital, mit dem das Lesenlernen arbeitet.
Die zweite Voraussetzung ist die visuelle Wahrnehmung, das Sehen. Mit den Augen gleiten wir nicht kontinuierlich über eine Folge von Schriftzeichen hinweg, sondern in kleinen Sprüngen, den sogenannten Saccaden.35 Die Länge dieser Sprünge beträgt durchschnittlich etwa acht Buchstaben. Dazwischen liegen Ruhephasen, in denen für durchschnittlich etwa eine Viertelsekunde eine Textstelle betrachtet wird (Fixationen). Der Grund für dieses Vorgehen beim Lesen liegt darin, dass es auf der Netzhaut nur einen sehr kleinen Bereich gibt, auf dem Reize präzise registriert werden – wirklich klar erkennbar ist gerade einmal der Fixationspunkt selbst, mit abnehmender Klarheit dann noch vier bis fünf Zeichen links und rechts vom Fixationspunkt. Durch die Sprungbewegungen beim Fixieren von Textstellen bleiben aber die dazwischenliegenden Teile unscharf; sie werden anhand von Erwartungen und Annahmen ergänzt. Lesen ist also schon auf der Wahrnehmungsebene ein konstruktiver Vorgang. In psychologischen Untersuchungen zum Lesen kann man eine Menge über das Verstehen des Gelesenen erfahren, indem man sich die Saccaden-Sprünge und die Fixationsdauer genauer ansieht. Beides ist von sprachlichen und inhaltlichen Faktoren abhängig und bietet einen Einblick in die kognitive Verarbeitung beim Lesen.
Flüssiges Lesen besteht allerdings nicht darin, dass man sehr schnell Buchstabe für Buchstabe erkennt und diese zu Wörtern zusammensetzt. Wörter, die dem Leser bekannt sind, werden vielmehr als Ganzes erkannt, gewissermaßen als Bilder.36 Damit nähert sich der geübte Leser einer Alphabetschrift dem einer logografischen Schrift wie dem chinesischen Schriftsystem an: Beide nehmen die Darstellung eines Wortes in der Schrift als Symbol für das Wort insgesamt, für dessen Bedeutung und seine Lautfolge. Nur wenn der Leser der Alphabetschrift das Wort nicht kennt, wechselt er in einen anderen Modus und erschließt das Wort aus der Abfolge der einzelnen Buchstaben. Die Fähigkeit zum Wort-Lesen selbst in Sprachen mit Alphabetschriften erklärt übrigens auch, warum Rechtschreibreformen ein so hitzig debattiertes Thema sind: Zwar wird die Kritik meistens mit sprachsystematischen oder traditionalistischen Argumenten geführt, dahinter steht jedoch nicht selten die Ablehnung des Aufwands, der notwendig ist, um unsere Gehirne auf die neuen Wort-Bilder umzuprogrammieren.
Diese Art des Lesens kann man vergleichen mit dem Verfolgen der Fährte eines Tieres auf dem Erdboden: Die Abdrücke in der Fährte sind Zeichen für etwas anderes, ein Lebewesen, und sie verläuft auf einer Linie wie die Wörter in einem Text. Sicherlich hat die menschliche Fähigkeit des Fährtenlesens, die schon in der Steinzeit einen Vorteil darstellte, etwas mit der Fähigkeit zum Lesen zu tun. Lesen besteht aber nicht nur aus dem Entziffern einer linearen Zeichenkette – wir haben im vorigen Abschnitt gesehen, dass auch die Fläche, auf der das Geschriebene erscheint, uns etwas auszudrücken vermag. Sie trägt mit nicht-sprachlicher Bedeutung zur Gesamtbedeutung des Textes bei. Wir erschließen diese Bedeutung der Fläche so wie sich unsere Vorfahren eine Landschaft ansahen. Bei ihnen ging es nicht um die Frage, ob diese Landschaft schön oder hässlich war, sondern sie »lasen« sie mit ganz bestimmten Interessen: Wo könnte eine Wasserstelle sein? Wo ein geschützter Platz für eine Behausung? Welche Areale wären besser zu meiden, weil es dort keine Fluchtmöglichkeiten gibt, und wo wäre Schutz möglich? Welche Bereiche könnten Lebensräume für gefährliche Tiere sein, und wo ist Nahrung zu finden?
Vielleicht ist es ja diese uralte Fähigkeit des Menschen, die die Grundlage dafür bildet, in einem Text mehr zu sehen als nur fixierte Sprache. Vielleicht ist dies der Grund, weshalb die Textfläche wie eine Landschaft von Bedeutungen gelesen werden kann. Wo erfahre ich etwas über das Thema? Was ist wichtig, was ist unwichtig? Was interessiert mich besonders, und in welcher Reihenfolge gehe ich beim Lesen vor? Die lesepsychologische Forschung hat eine Menge herausgefunden über die Prozesse beim sprachlichen, linearen Lesen, aber kaum etwas zum nicht-sprachlichen Lesen in der Fläche. Saccaden weisen hier nicht eine bestimmte Richtung und Distanz auf, der Leser muss vielmehr entscheiden, in welcher Reihenfolge und was er auf der Textfläche fixiert – es gibt also sehr viel mehr Möglichkeiten. Das lineare Lesen mit seinen gleichmäßigen Saccaden ist dabei nur ein Teil des scheinbar unsystematischen, in großen und kleinen Sprüngen in alle Richtungen erfolgenden Lesens einer Textfläche.
Untersuchen kann man dies mithilfe der Aufzeichnung von Blickbewegungen. Dabei erfährt man nicht nur, wie Versuchspersonen etwa eine Zeitungsseite mit den Augen durchwandern, die Zeitungsmacher selbst können dadurch erfahren, ob ihr Textdesign »funktioniert«. Solche Untersuchungen interessieren deshalb weniger die Psychologen als vielmehr die Medienwissenschaftler. Hans-Jürgen Bucher hat mit seinem Team an der Universität Trier die Blickbewegungen von Zeitungslesern aufgezeichnet.37 Er hat herausgefunden, dass besonders hervorgehobene Gestaltungselemente wie Fotos oder Kästen die Aufmerksamkeit auf sich ziehen, allerdings in Abhängigkeit von ihrer Platzierung auf der Seite. Noch wichtiger aber ist Buchers Erkenntnis, dass die Leser beim Durchwandern der Seite mit den Augen ganz unterschiedliche Wege gehen. Diese Wege sind beeinflusst vom Vorwissen, den Interessen, dem Alter, dem Geschlecht oder der Erfahrung im Umgang mit Zeitungen im Allgemeinen. Voraussagen lässt sich aber nicht, in welcher Reihenfolge ein bestimmter Leser die Seite betrachten wird.38 Legt man jedoch das Blickverhalten von allen Versuchspersonen übereinander, dann sind Schwerpunkte der Aufmerksamkeit deutlich zu erkennen. All das zeigt, dass der Leser einer Zeitung eine recht komplizierte Aufgabe zu lösen hat, bei der immer wieder Entscheidungen zu treffen sind: Wo befinde ich mich auf der Zeitungsseite? Wohin blicke ich als nächstes? In welchem Verhältnis stehen die Elemente auf der Seite zueinander?39 Das Lesen einer Zeitung ist deshalb am besten beschreibbar als ein Wechselspiel, eine Interaktion von Leser und Medium – der Leser hat bestimmte Probleme zu lösen, die Zeitung gibt durch ihre Gestaltung Hinweise darauf, wie dies erfolgen kann.
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