Entwicklungspsychologie: Von der Geburt bis zum hohen Alter - Annette Boeger - E-Book

Entwicklungspsychologie: Von der Geburt bis zum hohen Alter E-Book

Annette Boeger

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Beschreibung

Übersichtlich und anschaulich bietet das vorliegende Lehrbuch einen fundierten Überblick über zentrale Ansätze und aktuelle Theorien der Entwicklungspsychologie. Behandelt werden die Themen des gesamten Lebenslaufs: Chronologisch geordnet - von der intrauterinen Entwicklung bis zum hohen Alter - umfasst das Buch eine Fülle faszinierender Erkenntnisse. Diese werden u. a. anhand prototypischer Entwicklungsaufgaben aus dem kognitiven, sozialen, emotionalen oder biologischen Bereich dargestellt. Zahlreiche Illustrationen, Exkurse, Merksätze, Zusammenfassungen und Verständnisfragen unterstützen den Lernprozess und machen das Lehrbuch zu einer verständlichen und kurzweiligen Lektüre. Eingestreute Übungen regen die Lesenden zur Selbstreflexion an. Der immer wieder hergestellte Berufsbezug verbindet Theorie und Praxis auf gekonnte Weise. Durch den ansprechenden Stil und die übersichtliche Struktur lädt das Buch sowohl StudienanfängerInnen als auch Berufserfahrene zum Lesen und Nachschlagen ein.

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Inhalt

Cover

Titelei

Vorwort

1 Grundlegende Konzepte der Entwicklungspsychologie

1.1 Historischer Abriss: Anfänge und erste Konzeptionen der Entwicklungspsychologie

1.2 Was ist Entwicklung?

1.2.1 Entwicklung als Stufenfolge

1.2.2 Entwicklung als Reifung und Reifestand

1.2.3 Entwicklung durch die Nutzung sensibler Phasen bzw. Zeitfenster

1.2.4 Entwicklung durch Erziehung und Sozialisation

1.2.5 Entwicklung durch die Eigenaktivität des Individuums

1.2.6 Entwicklung als lebenslanger Prozess

1.3 Anlage und Umwelt

1.3.1 Anlagen

1.3.2 Umwelt

1.3.3 Das Zusammenspiel von Anlage und Umwelt

1.3.4 Wechselwirkung von Umwelt, Verhalten und Gehirnaktivität

1.3.5 Anlage und Umwelt am Beispiel Intelligenz

1.4 Das Konzept der Entwicklungsaufgaben

1.4.1 Was sind Entwicklungsaufgaben?

1.4.2 Entwicklungsaufgaben-Modelle

1.5 Stress und Bewältigung

1.5.1 Was ist Stress und was ist Stressbewältigung?

1.5.2 Wann sind Bewältigungsstrategien hilfreich, wann nicht?

1.6 Das Resilienz-Konzept: Risiko- und Schutzfaktoren

1.6.1 Risikofaktoren

1.6.2 Schutzfaktoren

1.6.3 Selbstwirksamkeit und wahrgenommene Kontrolle

1.6.4 Die Umweltressource »Soziale Unterstützung«

2 Frühe Kindheit

2.1 Die frühe Kindheit

2.1.1 Vorgeburtliche Phase und Geburt

2.1.2 Der »kompetente« Säugling

2.1.3 Welche »Aufgaben« hat das Neugeborene?

2.2 Die kognitive Entwicklung nach Piaget

2.2.1 Die zentralen Annahmen der Theorie

2.2.2 Sensumotorisches Denken (von der Geburt bis zwei Jahre)

2.2.3 Das präoperationale Stadium (von zwei bis sieben Jahre)

2.2.4 Das konkret-operationale Stadium (sieben bis zwölf Jahre)

2.2.5 Das formal-operationale Stadium (zwölf Jahre und älter)

2.2.6 Kritische Bewertung der Theorie Piagets

2.3 Sozial-kognitive Entwicklung

2.3.1 Die Theory of Mind (ToM)

2.3.2 Der Beitrag der Umwelt zur Sprachentwicklung

2.4 Sozial-emotionale Entwicklung

2.4.1 Die differenzierte Interaktion zwischen Kind und Eltern

2.4.2 Wenn die frühe Entwicklung problematisch verläuft

2.5 Bindungsaufbau: Eine Entwicklungsaufgabe der frühen Kindheit

2.5.1 Das erste Lebensjahr: Abhängigkeit und Bindungswunsch

2.5.2 Der Aufbau von Bindung

2.5.3 Der Beitrag der Bezugsperson: Feinfühligkeit

2.5.4 Auswirkungen frühkindlicher Bindungsstile im Lebenslauf

2.5.5 Was geschieht mit der Bindungsentwicklung bei Hortkindern?

2.5.6 Die Rolle des Vaters als »andere« Bindungsperson

3 Jugendalter

3.1 Jugend und Identitätsentwicklung

3.2 Die sozialen Beziehungen im Jugendalter

3.2.1 Eltern-Kind-Beziehungen

3.2.2 Die Peergroup

3.2.3 Romantische Beziehungen

3.3 Wenn die Bewältigung der Entwicklungsaufgaben scheitert

3.3.1 Warum sind psychische Störungen im Jugendalter so verbreitet?

3.3.2 Warum sind Jugendliche so risikoaffin?

3.3.3 Präventionsmaßnahmen im Jugendalter

3.4 Die Auseinandersetzung mit dem Körper als zentrale Entwicklungsaufgabe des Jugendalters

3.4.1 Der Körper als ein wichtiger Teil der Identität

3.4.2 Die pubertäre Reifeentwicklung bei Jungen und Mädchen

3.4.3 Körpererleben und Selbstwert

3.4.4 Körpererleben und Depression

3.4.5 Körpererleben und soziokulturelle Einflüsse: Medien, Eltern, Peers

3.4.6 Zentrale Faktoren der Verursachung von Essstörungen

3.4.7 Körpererleben und Sport: Sport als Ausweg?

4 Familie

4.1 Familienentwicklungspsychologie

4.1.1 Was ist Familie

4.1.2 Wie »funktioniert« Familie? Familienentwicklungsaufgaben und Familientheorien

4.2 Die Umweltressource Erziehung: Was Kinder brauchen

4.2.1 Die wichtigsten Erziehungsstile

4.2.2 Einflussfaktoren auf den Erziehungsstil

4.3 Scheidung und neue Familiensysteme

4.3.1 Scheidung als Prozess

4.3.2 Scheidungsfolgen

4.3.3 Co-Parenting und Hochstrittigkeit

4.3.4 Nach der Scheidung: Folgefamilien

5 Frühes und mittleres Erwachsenenalter

5.1 Themen des frühen Erwachsenenalters

5.1.1 Die Rushhour des frühen Erwachsenenalters

5.1.2 Der Übergang zur Elternschaft

5.2 Das mittlere Erwachsenenalter

5.2.1 »Typische« Krisen im Erwachsenenalter?

5.2.2 Gesundheit im mittleren Erwachsenenalter

5.3 Lebensstile im Erwachsenenalter

5.3.1 Ehe und Familie

5.3.2 Alleinwohnende Menschen, alleinlebende Menschen und Living-Apart-Together

5.3.3 Gleichgeschlechtliche Ehen und Regenbogenfamilien

5.3.4 Inseminationsfamilien

5.4 Soziale Beziehungen im Erwachsenenalter

5.4.1 Die Paarbeziehung

5.4.2 Was hält Paare zusammen?

5.4.3 Konstruktive Konfliktlösung nach Gordon

5.5 Weitere wichtige Beziehungen im mittleren Erwachsenenalter

5.5.1 Eltern und ihre erwachsenen Kinder

5.5.2 Die Großeltern

5.5.3 Die Geschwisterbeziehung über den Lebenslauf

5.5.4 Beziehung zu den alten Eltern

6 Hohes Alter

6.1 Das hohe Alter

6.2 Merkmale des Alters

6.3 Theorien zum Alter

6.4 Der Umgang mit Verlusten

6.5 Erfolgreiches Altern: ein Gewinn

7 Untersuchungsmethoden der Entwicklungspsychologie

7.1 Längsschnitt- und Querschnittsuntersuchungen

7.2 Weitere Methoden der Entwicklungspsychologie

Literaturverzeichnis

Glossar

Stichwortverzeichnis

Die Autorin

Prof. Dr. Annette Boeger hat den Lehrstuhl für Entwicklungspsychologie am Fachbereich Bildungswissenschaften der Universität Duisburg-Essen inne. Sie ist approbierte Psychotherapeutin mit einer Ausbildung in Gesprächspsychotherapie und in systemisch-psychoanalytischer Familientherapie.

Annette Boeger

Entwicklungspsychologie:Von der Geburtbis zum Hohen Alter

Ein Lehrbuch für Bachelor-Studierende

Verlag W. Kohlhammer

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1. Auflage 2022

Alle Rechte vorbehalten© W. Kohlhammer GmbH, StuttgartGesamtherstellung: W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Print:ISBN 978-3-17-040350-5

E-Book-Formate:pdf: ISBN 978-3-17-040351-2epub: ISBN 978-3-17-040352-9

Vorwort

Die wissenschaftliche Erforschung des menschlichen Lebenslaufs aus der Perspektive der Entwicklungspsychologie bietet eine schier unendliche Fülle an interessanten Befunden. All diese in einem einzigen Lehrbuch darzustellen, ist ein unmögliches Unterfangen. Eine der wichtigsten Aufgaben war also eine Schwerpunktsetzung durch eine sinnvolle Auswahl. Es werden deshalb zentrale Theorien der Entwicklungspsychologie ausgewählt und exemplarisch vorgestellt. Sie sollen sowohl die wissenschaftliche Vorgehensweise als auch relevante Erkenntnisse verdeutlichen.

Für die Präsentation des gesamten Lebenslaufs benötigt man einen oder mehrere rote Fäden. Ein roter Faden, in dessen Rahmen relevante entwicklungspsychologische Befunde dargestellt werden, ist der chronologische Aufbau des Lebenslaufs und seine Einteilung in altersbezogene Entwicklungsabschnitte. Im vorliegenden Buch widmen sich die Kapitel 2, 3, 5 und 6 jeweils einer Lebensphase. Den Methoden der Entwicklungspsychologie (▶ Kap. 7) ist nur ein kurzes Kapitel gewidmet, da im Psychologiestudium die Methodenlehre ein eigenes Fach bildet. Im vorliegenden Lehrbuch wird sehr deutlich, dass sich der Mensch1 als ein Beziehungswesen im Rahmen von Beziehungen entwickelt.

Da also Entwicklungsprozesse einer Person nur in ihrem sozialen Kontext verstehbar sind, wird der Familienentwicklungspsychologie ein eigenes Kapitel (▶ Kap. 4) gewidmet. In diesem Kapitel wird die Familie als die wichtigste Sozialisationsinstanz für Kinder und Jugendliche thematisiert. In Kapitel 5 wird das Thema Familie erneut beleuchtet, diesmal aus der Perspektive der Erwachsenen (das Hineinwachsen in die Elternschaft, die Paarbeziehung innerhalb der Familie, die Rollen- und Aufgabenverteilung des Elternpaares, die veränderten Beziehungen zwischen Eltern und erwachsenen Kindern). Sie begegnen dem Thema Familie immer wieder im vorliegenden Buch – aus unterschiedlichen Perspektiven und unterschiedlichen Altersstufen betrachtet.

Ein weiterer roter Faden ist das Konzept der Entwicklungsaufgaben. Sie sind als für jede Lebensphase typische Krisen konzipiert. Ihre Bewältigung treibt die Entwicklung voran. Die Entwicklungsaufgaben werden in Kapitel 1 (▶ Kap. 1.4) aufgelistet und erläutert. Im weiteren Verlauf wird auf sie immer wieder Bezug genommen.

Der Mensch ist ein kognitives, ein körperliches, ein emotionales und ein soziales Wesen. In allen Lebensphasen kommen diese Dimensionen der Entwicklung und ihr Zusammenspiel zum Tragen. Welche Kompetenzen, Fähigkeiten und Einstellungen bringen Menschen mit und welche erwerben sie im Laufe des Lebens und wie lässt sich das Zusammenspiel zwischen Persönlichkeit und Umwelt beschreiben? Befunde zu dieser zentralen Thematik durchziehen als ein weiterer roter Faden das Lehrbuch.

Wann immer möglich wird der Bezug der jeweiligen Theorie zur beruflichen Arbeit unter dem Stichwort Berufsbezug hergestellt. Dort verdeutlichen zahlreiche Beispiele aus dem Berufsleben die Anwendung psychologischer Erkenntnisse auf den Berufsalltag.

Natürlich grübelt man bei der Auseinandersetzung mit psychologischen Themen darüber nach, was diese mit einem selbst zu tun haben. Unter dem Stichwort Übung finden Sie dazu kleine Vorschläge zur Selbstreflexion.

Nicht zuletzt ist die Psychologie eine empirische Wissenschaft, d. h. sie hat viele Erkenntnisse aus Experimenten gewonnen. Einige bedeutsame lernen Sie in den Exkursen kennen. Die Exkurse dienen auch dazu, den entwicklungspsychologischen Horizont zu erweitern: In ihnen werden u. a. Präventionsprogramme vorgestellt, kulturelle Werthaltungen verglichen und familienrechtliche Grundlagen aufgeführt. Alle wichtigen Begriffe sind unter dem Begriff Definitionerläutert. Merksätze ergänzen die Definitionen mit prägnanten, anwendungsorientierten Schlagworten und weisen kritisch oder ergänzend auf Anwendungsmöglichkeiten der geschilderten Theorien hin. Zusammenfassungen und Verständnisfragen am Ende der einzelnen Kapitel dienen der eigenen Lernkontrolle.

Abschließend gilt mein herzlicher Dank für wertvolle Unterstützung Frau Sabrina Hilz, die alle Tabellen und Abbildungen erstellte und ihre Kreativität bei der Entwicklung von Cartoons zeigte sowie Herrn Justin Kügl, der beim Korrekturlesen half. Frau Katrin Kastl und Herr Fabio Freiberg vom Kohlhammer Verlag standen mit Rat und Tat und Geduld zur Seite. Herzlichen Dank!

Endnoten

1Die Leser*innenschaft besteht aus Frauen, Männern und nichtbinären Menschen. Dieser Tatsache wird durch die Schreibweise mit dem sogenannten Genderstern Rechnung getragen.

1 Grundlegende Konzepte der Entwicklungspsychologie

Einleitung

Das erste Kapitel gibt Ihnen einen Überblick über die grundlegenden Konzepte und Themenbereiche der Entwicklungspsychologie: Wie entwickeln sich Menschen und warum unterscheiden sie sich voneinander? Das Zusammenspiel von Anlage, Umwelt und Selbststeuerung als Grundlage aller Entwicklungsprozesse wird erläutert. Die relevanten Entwicklungsaufgaben und ihre erfolgreiche Bewältigung werden dargestellt. Wie Menschen Stress verarbeiten und welche Faktoren dazu beitragen, dass Menschen gute Chancen haben, erfolgreich den Widrigkeiten des Lebens zu begegnen, gehört ebenfalls zu den Grundlagen der Entwicklungspsychologie.

Als Einstieg in die Entwicklungspsychologie lassen Sie zunächst den Lebenslauf von Ray auf sich wirken:

Ray wurde 1930 als Raymond Charles Robinson in Albany, Georgia geboren. Er wuchs bei seiner alleinerziehenden Mutter auf, die als Baumwollpflückerin arbeitete. Seinen Vater lernte er nie kennen. Die Familie war sehr arm. Im Alter von sieben Jahren erblindete er aufgrund eines Glaukoms. Die Erblindung hätte man vermutlich durch medizinische Behandlung verhindern können, aber seine Mutter konnte sich diese nicht leisten. Kurz vor seiner Erblindung hatte Ray hilflos mit ansehen müssen, wie sein jüngerer Bruder in einem kochend heißen Waschzuber ertrank. Die Erinnerung daran quälte ihn sein Leben lang und er litt Zeit seines Lebens unter Alpträumen.

Schon in seiner Kindheit suchte er regelmäßig benachbarte Kneipen auf, um dort den Bluesmelodien zu lauschen. Seine Mutter ermunterte ihn, trotz seiner Blindheit möglichst selbstständig zu leben und schärfte ihm ein: »Lass Dich niemals zum Krüppel machen«. Dank seines hervorragenden Gehörs konnte er sich schon bald gut in seiner Welt bewegen. Seine Mutter schickte ihn auf eine Blindenschule, auf der er auch Musikunterricht hatte: Er lernte Klavier, Saxofon und Klarinette und war Mitglied eines Gospelchors; die Musik wurde zu seinem wichtigsten Lebensinhalt. Als er 14 Jahre alt war, starb seine Mutter, die wichtigste Bezugsperson in seinem Leben.

Ray brach daraufhin die Schule ab und zog nach Florida. Als schwarzer, blinder Jugendlicher ohne Schulabschluss und ohne Fürsprecher*innen hatte er in einer Welt der Rassentrennung und der Rassendiskriminierung einen schweren Stand. Sein Leben war geprägt von großer Armut, Rassenkonflikten und musikalischen Rückschlägen. Schließlich zog er nach Seattle, wo es Bars gab, die die ganze Nacht aufhatten, und wo er sich als Klavierspieler über Wasser halten konnte. Gleichzeitig arbeitete er fortwährend an der Verbesserung seiner musikalischen Fähigkeiten; schließlich gelang es ihm, eine Band zu gründen, mit der er durch die Bars tourte. Er legte sich den Künstlernamen Ray Charles zu, der aus seinen beiden Vornamen bestand.

Schon bald kamen seine Songs beim Publikum gut an: Er war ein Perfektionist, der sehr hart zu seinen Mitmusikern und Sängerinnen sein konnte, wenn sie seinen Ansprüchen nicht genügten. Die ersten Schallplatten verkauften sich so gut, dass große Schallplattenfirmen auf ihn aufmerksam wurden. Das war der Beginn einer großen Karriere. Ray startete Welttourneen, entwickelte einen eigenen Musikstil, bei dem er Gospel, Blues und Country mischte und stürmte zunächst landesweit, später auch international die Hitparaden. Er revolutionierte mit seinem Musikstil die gesamte Musikwelt und gewann auch die weiße Zuhörerschaft. Bei seinen Konzerten duldete er keine Sitztrennung nach Hautfarbe. Es war ein Triumph für ihn, als er in Georgia, wo er ein jahrzehntelanges Auftrittsverbot hatte, eine Medaille für das Lied »Georgia on my mind« bekam, das zur Landeshymne wurde.

Im Laufe seiner Musikerkarriere entwickelte er neben einer Alkoholsucht eine schwere Heroinsucht, wegen der er sich mehrfach Entziehungskuren unterzog. Es gelang ihm schließlich, abstinent zu bleiben. Er fand zum Glauben und wurde sehr fromm. Er heiratete zweimal und ließ sich beide Male scheiden. Mit seiner zweiten Ehefrau bekam er drei Kinder und darüber hinaus hatte er mindestens neun Kinder aus Nebenbeziehungen. Seine Hits »What I said« und »Georgia on my mind« wurden Millionenseller, als Soul-Legende wurde er auf der ganzen Welt gefeiert. Er war der erfolgreichste Jazzmusiker seiner Zeit (Charles & Ritz, 2005).

Rays Geschichte wirft zahlreiche Fragen auf:

·

Wodurch wird die Entwicklung von Merkmalen, Fähigkeiten, Interessen und Verhalten ausgelöst?

·

Welchen Anteil haben angeborene Eigenschaften, welchen Anteil hat die Umwelt an den oben genannten Punkten?

·

Was brachte Ray dazu, die zielstrebige, hartnäckige Verfolgung seiner Musikerlaufbahn lebenslang beizubehalten, sich aber in anderen Verhaltensweisen grundlegend zu verändern? Läuft also Entwicklung eher diskontinuierlich, d. h. willkürlich, ohne Zusammenhang ab, oder ist sie unter bestimmten Bedingungen kontinuierlich?

·

Wie wirken sich zeitgeschichtliche und kulturelle Bedingungen – im Falle von Ray die Hautfarbe und die damit verbundene Armut, schlechte Bildung und Diskriminierung – auf das Wohlergehen eines Menschen im Laufe seines Lebens aus?

Diese exemplarisch aufgelisteten Fragen sind zentrale Fragestellungen der Entwicklungspsychologie.

1.1 Historischer Abriss: Anfänge und erste Konzeptionen der Entwicklungspsychologie

Die »Eltern« der wissenschaftlichen Entwicklungspsychologie waren Karl und Charlotte Bühler. Beide waren in den 1920er und 1930er Jahren an der Wiener Universität in der Sprachforschung tätig und machten das psychologische Institut zu einem Mittelpunkt kinder- und jugendpsychologischer Forschung. Ausgangspunkt war die Weltwirtschaftskrise, in deren Folge viele Familien in Wien in so große finanzielle Not gerieten, dass die Eltern ihre Kinder in öffentliche Obhut geben mussten: Für Tausende von Kindern mussten Heimplätze oder Pflegefamilien gefunden werden. Die Stadt Wien beauftragte das Ehepaar Bühler sowie die Kinderhortnerin Hildegard Hetzer, jedes einzelne Kind, das das Milieu wechselte, bezüglich seines Entwicklungsstandes zu untersuchen.

Da es zu der damaligen Zeit keinerlei Testverfahren für eine solche Fragestellung gab, entwickelte das Team ein Instrumentarium, das den Entwicklungsstand von Kindern ab der Geburt bis zum Alter von 12 Jahren untersuchte (Bühler & Hetzer, 1932). Zunächst wurden dazu alle Kinder in Altersstufen eingeteilt und bezüglich ihrer Fähigkeiten im sozial-emotionalen, motorischen, visuellen, sprachlichen und kognitiven Bereich sowie im Bereich Gedächtnis getestet. Auch der Körperstatus wurde festgestellt. Für alle Bereiche wurde eine Vielzahl von Aufgaben – abgestimmt auf das Alter der Kinder – entwickelt (Hetzer, 1982).

Jeder Altersstufe wurden diejenigen Aufgaben zugeordnet, die die Mehrzahl der Kinder dieser Altersstufe lösen konnte. Kinder, die die Aufgaben ihrer Altersstufe nicht lösen konnten, wurden als entwicklungsverzögert eingestuft, im anderen Fall wurden sie als altersgerecht oder sogar ihrer Entwicklung voraus eingestuft.

Bühler und Hetzer hatten damit nicht nur den ersten Entwicklungstest entwickelt, sondern auch die zentralen Bereiche, in denen Entwicklung stattfindet, abgesteckt:

·

physiologische (biologische) Dimension (alles, was den Körper umfasst)

·

kognitive Dimension (alles, was das Denken, das Gedächtnis und den Erkenntnisgewinn umfasst)

·

soziale Dimension (alles, was die Interaktion mit anderen Personen umfasst)

·

emotionale Dimension (alles, was die Gefühle umfasst)

Beispiel: Messung des Sozialkontakts im ersten Lebensjahr

Die Versuchsleiterin rollt dem auf dem Boden sitzenden Kind einen Ball zu. Das Kind soll den Ball zur Versuchsleiterin zurückrollen. Es soll sich eine Interaktion entwickeln mit mehrmaligem Hin- und Herrollen des Balles und das Kind soll eine Beziehung zum Gegenüber aufbauen.

·

Erfolgreiche Lösung: Das Kind rollte den Ball zurück, hat Spaß am Spiel, nimmt Kontakt auf.

·

Keine erfolgreiche Lösung: Das Kind versteht die Aufforderung nicht, behält den Ball, nimmt keinen Kontakt zum Gegenüber auf, meidet Blickkontakt.

1.2 Was ist Entwicklung?

Zahlreiche Einflussfaktoren wirken auf die menschliche Entwicklung ein; deshalb ist Entwicklung kein vorhersehbarer, festgelegter Prozess. Solche Einflussfaktoren sind z. B. der Eintritt in den Kindergarten, ein Umzug oder der Auszug aus dem Elternhaus. Es können aber auch besondere Vorkommnisse sein wie das Auftreten einer schweren Krankheit oder das Aufwachsen in einem Kriegsgebiet. Menschen reagieren je nach ihrer Persönlichkeit, ihren Bewältigungsstrategien, ihrer Umwelt und weiteren Faktoren höchst unterschiedlich auf diese. Dabei können Menschen weder ausschließlich über ihre gesammelten Erfahrungen beschrieben werden noch nur über ihre genetische Veranlagung.

Vielmehr versucht die Entwicklungspsychologie herauszufinden, wie sich Menschen unter bestimmten Bedingungen entwickeln und wie sich dabei Persönlichkeitsaspekte und Umweltaspekte gegenseitig beeinflussen. Sie berücksichtigt zugleich verschiedene Dimensionen der Entwicklung: die emotionale, kognitive, körperliche und die soziale Entwicklung. Das Ziel ist, allgemeine Gesetzmäßigkeiten der Entwicklung aufzustellen, aber auch davon abweichende Entwicklungen zu beschreiben (Entwicklungspsychopathologie).

Berufsbezug

Liebe Leser*innen,

Sie wollen später mit Menschen unterschiedlicher Altersstufen psychologisch und psychotherapeutisch arbeiten. Dafür sind entwicklungspsychologische Kenntnisse sehr hilfreich. So gibt die Entwicklungspsychologie z. B. mit ihrem Konzept der Entwicklungsaufgaben (▶ Kap. 1.4) eine hilfreiche Orientierung über eine altersgerechte Entwicklung. Die Resilienz- und Risikoforschung (▶ Kap. 1.6) ebenso wie die Stress- und Bewältigungsforschung (▶ Kap. 1.5) stellen eine gute Grundlage für die Entwicklung von präventiven Programmen für alle Altersstufen dar. Das Bindungskonzept (▶ Kap. 2.5) ist eine der bedeutsamsten Grundlagen für psychotherapeutisches Arbeiten. Dies sind nur einige wenige Schlaglichter auf die praktische Anwendung entwicklungspsychologischer Erkenntnisse für Ihre spätere Arbeit.

1.2.1 Entwicklung als Stufenfolge

Eins der ersten Konzepte von Entwicklung ist das oben erwähnte Phasen- oder Stufenmodell (Bühler & Hetzer, 1932; ▶ Kap. 1.1). Stufenmodelle beschreiben Entwicklungsprozesse als eine Abfolge von aufeinanderfolgenden Stufen, die bei allen Menschen in der gleichen Reihenfolge eintreten. Wie etwa eine Blume nach einem inneren Bauplan heranwächst, erblüht und anschließend verwelkt, so erfolgt nach dem Stufenkonzept die menschliche Entwicklung. Es beinhaltet die Vorstellung, dass es im Rahmen eines Veränderungsprozesses immer einen Endzustand, einen Reifezustand gibt. Die Stufenschritte sind unumkehrbar (irreversibel) und stellen sowohl einen quantitativen als auch einen qualitativen Zuwachs dar. Dabei ist die Bewältigung früherer Stufen die Voraussetzung für die Bewältigung späterer Stufen und die Entwicklungsleistungen in den jeweiligen Stufen sind an ein festgelegtes Alter gebunden. Stufenmodelle sehen die Entwicklung als einen universellen Prozess an, der in allen Kulturen ähnlich verläuft.

Übung

Finden Sie Beispiele menschlicher Entwicklung, auf die diese Blumenmetapher der Entfaltung zutrifft.

Abb. 1.1:Blumenmetapher (angefertigt von Sabrina Hilz)

Ein Beispiel für ein Stufenmodell mit einem festgelegten Ablauf von Entwicklungsbereichen ist das Modell der kognitiven Entwicklung nach Piaget: Das Denken entwickelt sich nach Piaget beim Kind vom konkreten Denken zum abstrakten Denken (▶ Kap. 2.2). Ein weiteres Beispiel ist das psychosoziale Stufenmodell nach Erikson nach dem altersgemäße, thematisch festlegte Krisen Stufe für Stufe gelöst werden (▶ Kap. 1.4.2).

Stufenmodelle erklären wichtige Dimensionen menschlichen Verhaltens. Sie gehen davon aus, dass ein genetisch festgelegtes Programm abläuft, das häufig einen Prozess der Differenzierung darstellt (▶ Abb. 1.2).

Abb. 1.2:Entwicklung der Motorik (angelehnt an Schwarzer, 2015a, S. 122)

Es gibt jedoch einige bedeutsame Kritikpunkte an Stufenmodellen. So ist die Annahme einer ausschließlichen Entwicklung zu einem höheren Stadium, zu einem Aufbau, zu eng. Man spricht in der Entwicklungspsychologie auch bei einem Abbau von Entwicklung, z. B. beim Nachlassen kognitiver Fähigkeiten im Alter oder bei einer Abnahme von Leistungsmotivation bei schulischen Leistungen. Auch die Annahme, dass Entwicklungsprozesse universell sind, ist problematisch. Menschen unterscheiden sich durch unterschiedliche Anlagen, kulturspezifische Anforderungen, vielfältige Einflüsse der Umwelt und selbstmitgestaltete Erfahrungen. Aus diesen Gründen muss Entwicklung als sehr individueller Prozess gesehen werden.

1.2.2 Entwicklung als Reifung und Reifestand

Reifung meint die altersbezogenen Wachstumsprozesse von Funktionen der Organe, des Zentralnervensystems, der hormonellen Systeme und der Körperformen. So verschlankt und verlängert sich z. B. der Körper mit zunehmendem Alter (▶ Abb. 1.3) Die Reifung ist genetisch ausgelöst und stellt einen wichtigen Aspekt von Entwicklung dar (Montada, Lindenberger & Schneider, 2018, S. 45). Sie findet häufig in den besagten Stufen (▶ Kap. 1.2.1) statt.

Definition: Reifung

Reifung ist die gengesteuerte Entfaltung biologischer Strukturen und Funktionen. Die spezifischen organischen Veränderungen machen neue, spezifische Fähigkeiten möglich. Sie werden dann auf Reifung zurückgeführt, wenn sie universell in einer Altersperiode auftreten und weitgehend ohne Lernen stattfinden. Zum biologischen Erbe zählen z. B. das körperliche Wachstum, die motorische Entwicklung, die Sprachentwicklung, Denken und Gedächtnis.

Reifung wird nicht auf Lernen, Erfahrung, Übung, Erziehung oder Sozialisation zurückgeführt. Jedoch werden Reifungsvorgänge in der Folge sofort von Lernvorgängen abgelöst: Das Kind übt mit Begeisterung die neue Fähigkeit, es will z. B. nur noch laufen, nicht mehr krabbeln. Und manchmal lassen sich solche von innen gesteuerte Vorgänge doch durch Umwelteinflüsse beeinflussen (▶ Abb. 1.2).

Die Abbildung zeigt die stufenweise Differenzierung, die typisch ist für viele Entwicklungsprozesse. Die Entwicklung der Motorik galt lange Zeit als Reifungsprozess und damit als nicht beeinflussbar. Heute wissen wir, dass es zur Ausübung von Motorik Anreize aus der Umwelt braucht (▶ Beispiel: Kaspar-Hauser-Kinder). Motorische Meilensteine wie Sitzen oder Gehen lassen sich durch regelmäßige motorische Übungen deutlich vorverlegen. Die motorische Entwicklung ist also durch Umwelteinflüsse und die Eigenaktivität des Menschen beeinflussbar (Pinquart, Schwarzer & Zimmermann, 2019, S. 79).

Merke!

Entwicklungstabellen (▶ Abb. 1.2) suggerieren, dass Entwicklungsschritte auf bestimmte Altersstufen einheitlich und zeitlich eng festgelegt sind. Damit wäre Entwicklung universell und nicht individuell. Entwicklungsprozesse zeigen aber eine große Variationsbreite. So krabbeln manche Kleinkinder bereits mit fünf Monaten, andere erst mit 14 Monaten, wieder andere überspringen die Krabbelphase ganz und gehen vom Stehen direkt zum Laufen über. Entwicklungstabellen stellen also nur eine grobe Orientierung dar.

Beispiel: Reifungsprozesse

Ein Kind, das stehen oder laufen kann, möchte nur noch stehen oder laufen und übt dieses ständig. Die Fähigkeit zu gehen ist herangereift, das Einüben der neuen Fähigkeit wird jedoch durch Lernprozesse übernommen. Reifungsprozesse und Lernprozesse gehen also Hand in Hand.

Zur Reifung gehört auch der Reifestand. Hiermit ist gemeint, dass ein bestimmter Entwicklungsstand gegeben sein muss, damit neue Fähigkeiten erworben werden können.

Definition: Reifestand

Der Reifestand ist die emotionale, kognitive und biologische Voraussetzung für den Erwerb bestimmter Fähigkeiten.

Beispiel: Reifestand

Sauberkeitserziehung

Das Kind aufs Töpfchen zu setzen, ergibt erst dann Sinn, wenn es in der Lage ist, seine Schließmuskeln zu kontrollieren. Der Reifestand für diese Fähigkeit ist in einem Alterszeitraum von 18 bis 36 Monaten gegeben (Largo & Jenni, 2005). Reifestand bedeutet nur, dass das Kind biologisch in der Lage ist, neue Fähigkeiten zu erwerben. Es ist aber gerade bei der Sauberkeitserziehung aus entwicklungspsychologischer Sicht sinnvoll zu warten, bis das Kind Eigeninitiative und Interesse daran zeigt. In diesem Fall erfolgt die Sauberkeitserziehung sehr schnell und konfliktfrei (a. a. O.).

Sowohl Stufenkonzepte als auch Reifungskonzepte vernachlässigen einen bedeutenden Einflussfaktor auf die menschliche Entwicklung: die Umwelt. Entwicklung bleibt bei diesen Modellen ein von innen gesteuerter Prozess, der individuelle Unterschiede unberücksichtigt lässt und Umweltbedingungen wie der Erziehung oder dem soziokulturellen Herkunftsmilieu nur eine geringe Bedeutung beimisst. Wichtige Chancen und Optionen auf Veränderungen im Lebenslauf werden damit nicht gesehen und genutzt. Das folgende Konzept der sensiblen Phasen nimmt eine Zwischenstellung zwischen Reifungskonzepten und Umweltkonzepten ein, weil es der Umwelt einen gewissen Einfluss in einer zeitlich umschriebenen Phase zubilligt.

1.2.3 Entwicklung durch die Nutzung sensibler Phasen bzw. Zeitfenster

Wenn mit dem Reifestand die Voraussetzungen für das Erlernen einer Fähigkeit gegeben ist, beginnt eine zeitlich festgelegte Phase, in der eine erhöhte Plastizität, d. h. Durchlässigkeit für spezifische Erfahrungen und Einflüsse besteht. Diese Zeitfenster werden als sensible Phasen bezeichnet. Bestimmte sensible Phasen wie die des Spracherwerbs und des Bindungsaufbaus sind nachgewiesen; über andere ist wenig bekannt. Sensible Phasen sind wahrscheinlich durch Stadien der Hirnreifung bedingt, aber über die Funktionsweise des Gehirns wissen wir noch nicht alles.

Exkurs: Sensible Phasen

Der Begriff der sensiblen Phase bzw. der sensiblen Periode stammt von Konrad Lorenz, einem berühmten Verhaltensforscher und Nobelpreisträger. Besonders berühmt sind seine Forschungen an Graugänsen, in denen er feststellen konnte, dass Jungvögel in einer eng umschriebenen zeitlichen Phase nach der Geburt dem ersten sich bewegenden Objekt überall hin folgen (Lorenz, 1988). In der Regel ist das die Mutter. Die Prägung auf die Mutter ist sinnvoll, da diese sie vor Gefahren schützt und mit Nahrung versorgt. Lorenz konnte die Jungtiere auch auf sich prägen oder sogar auf einen rollenden Ball. Allein von Bedeutung war die Nutzung der umgrenzten Zeitspanne (sensiblen Phase).

Definition: Sensible Phase

Die sensible Phase, auch als Zeitfenster bezeichnet, ist eine Phase, in der bestimmte Erfahrungen besonders große Auswirkungen auf den Menschen haben, weil genau in dieser Zeitspanne die Empfänglichkeit für diese Erfahrung sehr hoch ist (Trautner, 2007, S. 117).

Beispiel: Sensible Phase

Sprechen lernen

Die sensible Phase des aktiven Spracherwerbs liegt zwischen 18 Monaten und vier Jahren. In dieser Zeit können Kinder sogar parallel mehrere Sprachen fehlerfrei lernen. Wird diese Phase verpasst und nicht zum Spracherwerb genutzt, weil das sprachliche Vorbild fehlt, ist es später sehr schwer, den Spracherwerb nachzuholen.

Anhand der Beobachtung sogenannter »wilder Kinder« oder »Kaspar-Hauser-Kinder« lässt sich zeigen, wie Entwicklung verläuft, wenn die sensiblen Phasen ungenutzt bleiben, es also zur richtigen Zeit an angemessener Unterstützung und Anregung fehlt.

Beispiel: »Kaspar-Hauser-Kinder«

Eine spannende Fallstudie stammt von Singh (1961). Er betreute und förderte jahrelang zwei Mädchen, die im Urwald gefunden und offensichtlich von einer Wölfin aufgezogen worden waren. Ihn interessierte, welche Fähigkeiten noch nachträglich aufgebaut werden konnten und welche nicht. Eine andere Studie von Curtiss (1977) beschreibt die Entwicklungserfolge des »Wolfskinds« Genie, nachdem es von seinen Eltern in absoluter Isolation gehalten worden war und viele Jahre auf einen Stuhl geschnallt verbracht hatte.

Die Ergebnisse der jahrelangen nachträglichen Sozialisierungsversuche sind in all diesen Fällen sehr ernüchternd. Offensichtlich können die verpassten Chancen gar nicht oder nur in sehr begrenztem Maße nachgeholt werden. So erwarb Genie niemals eine normale Sprache und die beiden Wolfsmädchen lernten nie auf zwei Beinen zu laufen. Bei ehemaligen »Wolfskindern« ist offensichtlich das nachträgliche Erlernen von Sprache, die Fortbewegung auf zwei Beinen oder ein Bindungsaufbau zu anderen Menschen gar nicht oder nur sehr reduziert möglich. Die Umstände, unter denen diese Kinder aufwuchsen, nennt man Deprivation.

Definition: Deprivation

Im Zusammenhang mit kindlicher Entwicklung meint Deprivation das Fehlen von notwendigen Umweltbedingungen für eine gute Entwicklung. Dazu zählen kognitive und soziale Anregungen, emotionale Zuwendung, Beschütztwerden und die Befriedigung der körperlichen Grundbedürfnisse wie Essen, Trinken, Wärme und Schlaf. Deprivation ist in der Regel die Folge schwerster Vernachlässigung, die häufig mit Misshandlung einhergeht.

1.2.4 Entwicklung durch Erziehung und Sozialisation

Der Bedeutung von Umwelteinflüssen auf den Menschen trägt das Konzept der Sozialisation und Erziehung Rechnung. Durch Sozialisation und Erziehung lernt ein Mensch all das, was er benötigt, um in seiner Kultur zu leben: Sitten, Gebräuche, Sprache, Symbole, Regeln des sozialen Umgangs, Funktion von Werkzeugen, Funktion von Institutionen, einen Beruf, eine Religion und vieles mehr. Der Prozess der Aneignung erfolgt durch Anleitung, Anforderung, Information, Belehrung, Beobachtung, Nachahmung sowie durch Strafe und Belohnung. Daran sind die Familie, die Schule, der Freundeskreis, der Beruf und die Medien beteiligt.

Sozialisation bedeutet lebenslanges Lernen, da sich die Gesellschaft mitt ihren Wertsystemen verändert. Auch übernimmt das Individuum lebenslang neue Rollen, die wiederum neue Anpassungsprozesse verlangen. Sozialisation und Erziehung sind Umweltfaktoren, die auf das Individuum einwirken. Das Individuum lernt durch sie die Spielregeln der Gesellschaft.

Definition: Sozialisation und Erziehung

Sozialisation meint das Hineinwachsen und damit Eingliedern und Anpassen des Kindes in die Gesellschaft. Unbeabsichtigt, vielleicht sogar unerwünscht, beeinflusst das gesellschaftliche Milieu das Verhalten und die Entwicklung des Kindes.

Im Gegensatz dazu nehmen Erwachsene durch Erziehung bewusst und beabsichtigt Einfluss auf das Verhalten des Kindes und auf seine Persönlichkeitsentwicklung. Das Ziel ist, erwünschtes Verhalten auszulösen und zu verstärken. Erziehung ist ein Bestandteil des umfassenden Sozialisationsprozesses (Hurrelmann & Bauer, 2018, S. 15 f.).

1.2.5 Entwicklung durch die Eigenaktivität des Individuums

Entwicklung enthält einen Spielraum, den Menschen je nach Entwicklungsstand selbst nutzen können. Sie sind also auch Mitgestaltende ihrer eigenen Entwicklung (vgl. auch das Konzept der Entwicklungsaufgaben in ▶ Kap. 1.4). Während diese Entwicklungsmöglichkeiten in der Kindheit noch relativ gering sind und die Steuerung im Wesentlichen durch die Eltern erfolgt, setzen sich Menschen mit zunehmendem Alter immer mehr mit eigenen Lebensplänen auseinander. Die auf die eigene Entwicklung bezogene Zielesetzung und -verfolgung wird auch intentionale Selbstentwicklung genannt (Pinquart, Schwarzer & Zimmermann, 2019, S. 35).

Zur aktiven Gestaltung des eigenen Lebens ist nicht nur Wissen nötig, wie man diese Ziele erreicht, es müssen auch Überzeugungen vorhanden sein, diese Ziele überhaupt erreichen zu können. Solche Kontrollüberzeugungen und Selbstwirksamkeitserwartungen (▶ Kap. 1.6.3) sowie selbstregulatorische Fähigkeiten setzen Handeln in Gang. Überzeugungen und selbstregulatorische Fähigkeiten werden im Laufe der Kindheit durch familiäre Sozialisation erworben. So können Eltern selbstregulatorische Fähigkeiten wie die Impulskontrolle, d. h. das Aufschieben von Bedürfnissen durch äußere Regulationshilfen wie einen regelmäßigen Tagesablauf, Ermutigung und Anleitung fördern (Pinquart, Schwarzer & Zimmermann, 2019, S. 169).

Umweltfaktoren (z. B. das Aufwachsen in einem Wohnwagen statt in einer Villa oder die geringe Verfügbarkeit von Lehrstellen) und individuelle Voraussetzungen (z. B. das Scheitern bei einer Bewerbung für eine Kunsthochschule) können der eigenen Mitgestaltung enge Grenzen setzen.

1.2.6 Entwicklung als lebenslanger Prozess

Die Entwicklungspsychologie sieht Entwicklung als einen lebenslangen Prozess an (Baltes et al., 2006). Alle menschlichen Verhaltensweisen werden von der Zeugung bis zum Tod betrachtet. Durch die Bewältigung von Entwicklungsaufgaben entwickelt und verändert sich das Individuum ein Leben lang. Diese Veränderungen gehen sowohl vom Individuum selbst aus, seinen eigenen Wünschen und Zielen als auch von äußeren Einflüssen wie z. B. Aufgaben, die die Gesellschaft stellt. Auch prognostische Fragen, wie etwa die nach den Auswirkungen bestimmter Ereignisse im Kindesalter auf das Erwachsenenalter, können bei einer solchen Betrachtung des Lebenslaufs beantwortet werden. Als Ziel gilt, herauszufinden, wodurch Veränderungen, aber auch Stabilitäten im Lebenslauf bewirkt werden, und diese Faktoren genauer zu beschreiben (Lerner, 2006).

Übung

Betrachten Sie Ihr bisheriges Leben. Vergleichen Sie sich mit dem Menschen, der Sie mit 15 Jahren waren. In welchen Bereichen haben Sie sich seitdem verändert? Wodurch wurden diese Veränderungen ausgelöst? Was waren Phasen großer Entwicklung (also großer Veränderung) in Ihrem bisherigen Leben und wodurch wurden diese ausgelöst?

Im folgenden Absatz wird aufgezeigt, dass Entwicklung sehr unterschiedlich verläuft. Das betrifft das einzelne Individuum, das sich im Laufe seines Lebens verändert; das betrifft aber auch Unterschiede zwischen Menschen. Die Entwicklungspsychologie interessiert sich nicht nur für die Gesetzmäßigkeiten, die alle Menschen in gleichem Masse betreffen, sondern auch für die differenziellen Verläufe von Entwicklung, die die Fülle und Unterschiedlichkeit von Entwicklungsprozessen zwischen Personen widerspiegeln.

Die differenzielle Entwicklung kann intraindividuell sein. Das heißt, Veränderungen finden im Laufe des Lebens bei ein und derselben Person statt. Die differenzielle Entwicklung kann auch interindividuell sein. Damit sind Unterschiede zwischen Personen gemeint: Unterschiede zwischen den Geschlechtern, zwischen jungen und alten Menschen, zwischen Hochschulabsolvent*innen und Hauptschulabsolvent*innen usw.

Beispiele: Interindividuelle und intraindividuelle Unterschiede

Interindividuell

Der Drittklässler Sam kann nur langsam und stockend lesen. Dass er ein ganzes Buch selbstständig liest, ist undenkbar. Sein Klassenfreund Leon dagegen verschlingt jeden Abend vor dem Einschlafen ein ganzes Buch. Die Lehrerin ist der Ansicht, dass jedes Kind im dritten Schuljahr zügig lesen können muss. Andernfalls müssen Lösungen gesucht werden (Wechsel auf die Förderschule, Klasse wiederholen).

Der normative Ansatz der Lehrerin ist in diesem Fall nicht zielführend. Richtig ist der differenzielle Ansatz: Jedes Kind entwickelt sich unterschiedlich (schnell). Das hängt in der Grundschule mit dem individuell unterschiedlich schnellen Wachstum des Gehirns zusammen, das erst in der Pubertät ausgewachsen ist. Vermutlich wächst Sams Gehirn langsamer als Leons. Er wird wahrscheinlich erst im 4. Schuljahr zügig lesen können. Das Gehirnwachstum ist ein Anlagefaktor.

Genauso bedeutsam ist es, die unterschiedlichen Umwelten beider Jungen zu betrachten. Möglicherweise kommt Leon aus einer Familie, in der das Lesen von Büchern einen hohen Stellenwert hat. Leon wurde deshalb von klein auf vorgelesen. Dagegen kommt Sam vielleicht aus einer Familie, in der Bücher wenig Bedeutung haben; Vorlesestunden sind ihm unbekannt. Der Faktor »bildungsferne familiäre Umwelt« kann durch den Faktor »Fördermaßnahmen« kompensiert werden. Weiterhin kann er durch Eigeninitiative beeinflusst werden: Sam hat ein großes Interesse an der Welt der Ritter entwickelt. Er möchte mehr darüber erfahren und leiht sich in der Schulbücherei alles zu diesem Thema aus. Sein Interesse an Büchern wächst.

Intraindividuell

Mira ist als Kleinkind sehr schüchtern: Bei Anfragen fremder Personen (»Wie heißt du denn«?) versteckt sie sich hinter ihrer Mutter und schweigt. Im Kindergarten spielt sie meist allein, schaut aber sehnsüchtig zu den anderen Kindern in der Bastelecke. Die 20-jährige Mira ist eine fröhliche junge Frau mit einem großen Freundeskreis. Der Einstieg in das Studium in einer vom Elternhaus weit entfernten Stadt gelingt ihr leicht. Sie schließt Kontakte, indem sie ohne Mühe ihr sympathische Gleichaltrige im Hörsaal, in der Mensa und auf dem Campus anspricht. Weiterhin belegt sie zahlreiche Freizeitkurse. In kurzer Zeit hat sie einen neuen Freundeskreis gewonnen, der dafür sorgt, dass Heimwehgefühle nicht aufkommen.

Übung

Spekulieren Sie, welche Gründe es für Miras Entwicklung geben könnte und schreiben Sie einen kleinen Absatz dazu. Lassen Sie Ihre Fantasie spielen!

Die Beispiele stammen aus unterschiedlichen Entwicklungsbereichen. Das erste Beispiel bezieht sich auf den kognitiven Bereich, das zweite auf den sozialen Bereich. Wie Sie bereits wissen, findet Entwicklung darüber hinaus auch im emotionalen Bereich und im körperlichen Bereich statt. In der entwicklungspsychologischen Forschung werden diese Dimensionen der Entwicklung getrennt voneinander betrachtet und untersucht. In der Praxis hängen sie jedoch eng zusammen und beeinflussen sich gegenseitig.

Merke!

Entwicklung ist immer multidimensional. Sie findet auf den vier Dimensionen des Denkens (das meint kognitiv), des Fühlens (das meint emotional, affektiv, psychisch), der Interaktion (das meint sozial) und der Biologie (das meint körperlich oder physisch) statt.

Beispiel: Multidimensionale Entwicklung

Die elfjährige Nora befindet sich in der Pubertät, einer Phase des gewaltigen körperlichen Umbruchs. Der Einschuss der Hormone, speziell des Hormons Östrogen, hat zu einer Gewichtszunahme geführt, sie hat bereits die Menstruation und weibliche Körperformen (körperliche Entwicklung). Mit all diesen Veränderungen ist sie sehr unzufrieden (emotionale Entwicklung). Ihre Freundinnen sind körperlich noch nicht so weit entwickelt und schließen Nora aus.

Aber auch Nora fühlt sich als Jugendliche in dem Kreis der kindlicheren Altersgenossinnen unwohl und schließt sich älteren Mädchen an, die bereits rauchen und sich mit Jungen treffen (soziale Entwicklung). Das führt zu Konflikten mit ihren Eltern, von denen sich Nora deshalb ebenfalls distanziert. Sie fühlt sich jetzt oft einsam, vermisst vertraute Freundinnen und ist unglücklich. Ein weiterer Faktor für ihre schlechte Stimmung sind ihre nachlassenden Schulleistungen: Es fällt ihr schwerer, sich zu konzentrieren, und das Interesse an den Schulfächern hat ebenfalls nachgelassen (emotionale, kognitive Entwicklung).

Fazit: Der Auslöser für Noras Krise ist die körperliche Entwicklung (Veränderung). Sie zieht weitere Entwicklungen (Veränderungen) im sozialen, emotionalen und kognitiven Bereich nach sich.

Auf Grundlage der bisherigen Erklärungskonzepte lässt sich folgende Definition für Entwicklung festhalten.

Definition: Entwicklung

Entwicklung heißt Veränderung und ist ein lebenslanger Prozess. Die Veränderungen resultieren aus dem Zusammenspiel von Umwelt, Anlage und dem aktiv handelnden Individuum. Entwicklungspsychologie beschreibt und erklärt diese Entwicklungsprozesse. Menschen entwickeln sich in verschiedenen Bereichen (multidimensional): kognitiv, emotional, sozial, körperlich und in unterschiedliche Richtungen (multidirektional). Entwicklung ist auch individuell, d. h. Menschen entwickeln sich nicht alle in der gleichen Weise sondern unterschiedlich. Entwicklung unter der Lebenslaufperspektive zu betrachten bedeutet auch, bei jedem Entwicklungsaspekt immer Gewinne (Aufbau, Wachstum) und Verluste (Abbau) zu betrachten.

Zusammenfassung

Entwicklung ist ein Prozess der lebenslangen Veränderung. Diese Veränderungen geschehen durch ein Zusammenspiel von Person und Umwelt. Die Entwicklungspsychologie untersucht sowohl diese feststellbaren Unterschiede innerhalb eines Menschen zu verschiedenen Zeitpunkten seines Lebens als auch Unterschiede zwischen Menschen. Entwicklungsprozesse finden auf der sozialen, körperlichen, kognitiven und emotionalen Dimension statt.

Verständnisfragen

·

Was ist eine sensible Phase?

·

Entwicklung findet u. a. durch Reifung und Sozialisation statt. Was ist der zentrale Unterschied zwischen beiden Prozessen?

·

Definieren Sie »intraindividuelle Entwicklung« und »interindividuelle Entwicklung«.

1.3 Anlage und Umwelt

Die Vielfalt von Entwicklungsverläufen ergibt sich aus dem Zusammenspiel von individuellen, z. T. anlagebedingten und z. T. umweltbedingten Faktoren. Wie diese Faktoren zusammenwirken, ist eine der grundlegenden Fragen der Entwicklungspsychologie. Die Anlage-Umwelt-Frage ist deshalb so zentral, weil der gesellschaftliche Erfolg von individuellen Fähigkeiten, Leistungen und Eigenschaften abhängt. In dem Ausmaß, in dem sie durch Förderung von außen und durch Lernen beeinflusst werden können, können Ungleichheit und Ungerechtigkeit gemindert werden. Sollten aber alle Eigenschaften genetisch festgelegt sein, können Fördermaßnahmen unterbleiben, ebenso wie Appelle an die Anstrengungsbereitschaft.

1.3.1 Anlagen

Anlagen beruhen auf Genen. Sie sind mit der Konzeption jedem Individuum gegeben und nicht veränderbar; sie können sich jedoch über Generationen durch Mutation und Selektion verändern. Vererbt ist, was in der Genstruktur festgelegt ist. Die meisten Merkmale (wie Gewicht, Größe, Haarfarbe, Intelligenz, Persönlichkeitsfaktoren) werden nicht durch einzelne, sondern durch mehrere Gene determiniert. Über 3.000 verschiedene Krankheiten mit anlagebedingtem erhöhtem Erkrankungsrisiko sind bis heute bekannt (Asendorpf & Kandler, 2018, S. 85). Anlagebedingt ist dabei aber lediglich ein erhöhtes Risiko, das je nach Entwicklungsumständen, Umwelt und Lebensführung eintritt. Anlagen sind also kein Schicksal, sondern können durch diese Faktoren am Ausbruch gehindert werden. Man unterscheidet strukturell-genetische und individuell-genetische Faktoren.

Zu den vererbten Anlagen gehören weiterhin die beim Menschen nicht sehr zahlreichen Instinkte. Dazu zählen verschiedene angeborene Reflexe des Neugeborenen, die durch Schlüsselreize aus der Umwelt ausgelöst werden. So löst das Berühren von Wange und Lippen beim Neugeborenen den Saugreflex aus. Das Weinen des Kindes ist ein weiterer Schlüsselreiz für den Pflegeinstinkt der Mutter.

Ein Beispiel für einen evolutionär wichtigen Instinkt ist das Verhalten auf das Kindchenschema (▶ Abb. 1.3).

Abb. 1.3:Merkmale des Kindchenschemas des Kleinkindes im Vergleich zu älteren Menschen (angefertigt von Sabrina Hilz in Anlehnung an Schwarzer, 2015a, S. 115)

Das Kindchenschema ist eine Kombination von Merkmalen, die beim Menschen als Auslöser für den Brutpflegetrieb wirkt. Dabei rufen vor allem die Körperproportionen bestimmte instinktive Verhaltensweisen hervor. Zu dem kindlichen Äußeren gehören (nach Julius et al., 2014):

·

große Augen

·

ein im Verhältnis zum übrigen Körper großer Kopf

·

eine kleine Körpergestalt und kurze dicke Extremitäten

·

eine hohe vorgewölbte Stirn

·

Pausbacken und Patschhändchen

Diese Merkmale des Neugeborenen lösen bereits bei Menschen ab dem Alter von neun Jahren den Beschützerinstinkt aus, der Fürsorgeverhalten zur Folge hat. Das Kindchenschema ist evolutionär gesehen ein sehr altes Signal und für ein Baby überlebensnotwendig, ist es doch aufgrund seiner Hilfsbedürftigkeit in den ersten Lebensmonaten auf die Fürsorge von Erwachsenen angewiesen.

1.3.2 Umwelt

Umweltfaktoren wirken nicht einseitig aktiv auf ein Individuum ein. Auch das Individuum selbst ist aktiv: Es nimmt seine Umwelt wahr, bewertet und deutet sie. In der Art der Interpretation unterscheiden sich Menschen. Objektiv identische Umwelten können daher unterschiedliche Bedeutung für Personen haben, je nach Veranlagung der einzelnen Person.

Beispiel: Umweltwahrnehmung

Dieselbe Umgebung, ein Oldtimermuseum, kann eine an Autos interessierte Person reizen und anregen, eine andere aber zu Tode langweilen.

Die Art der Interaktion kann sich aber auch bei ein und demselben Individuum verändern: Gestern war das Automuseum noch langweilig, als der Lehrer ausführliche Vorträge dazu hielt, morgen ist der gemeinsame Besuch mit einem Freund spannend.

Ein Konzept, welches sowohl von Vererbungs- als auch Lernprozessen ausgeht, ist das bereits vorgestellte Modell der sensiblen Phase (▶ Kap. 1.2.3): Angeborene Kompetenzen kommen demzufolge nur zur Wirkung, wenn die Umweltanregungen zur rechten Zeit erfolgen.

1.3.3 Das Zusammenspiel von Anlage und Umwelt

Es lassen sich drei Arten der lebenslangen Anlage-Umwelt Interaktionen unterscheiden (Montada, Lindenberger & Schneider, 2018, S. 43):

·

Passive Kovariation: Der Genotyp der Eltern führt zu einer bestimmten Gestaltung des Familienlebens. Diese Umwelt beeinflusst das Leben des Kindes. Auch wenn das Angebot dem Genotyp des Kindes nicht entspricht, kann es sich dem nicht entziehen und wird sich teilweise anpassen.

·

Reaktive Kovariation: Es liegt eine reaktive Passung zur Umwelt vor, wenn Eltern den Genotyp des Kindes erkennen und auf seine Interessen und Talente eingehen: Das Kind erhält entsprechende Angebote.

·

Aktive Kovariation: Eine aktive Passung zur Umwelt liegt vor, wenn das Kind selbst aus den Umweltangeboten das auswählt, was seinem Genotyp entspricht.

Beispiel: Zusammenspiel Anlage und Umwelt

Passive Kovariation

Die musikalischen Eltern singen und spielen Musikinstrumente den ganzen Tag lang; dem kann sich das Kind nicht entziehen: Das Kind macht mit.

Reaktive Kovariation

Das sportliche Kind wird im Sportverein angemeldet, das freundliche Kind erhält besonders viel Zuwendung, das wissbegierige Kind erhält zahlreiche Erklärungen.

Aktive Kovariation

Der eingangs vorgestellte Ray Charles sucht sich ein Klavier in einer benachbarten Kneipe und beginnt darauf mit ersten Improvisationen.

Über das Lebensalter hinweg ändert sich die Bedeutung dieser drei Arten der Anlage-Umwelt-Interaktion. Reaktiver und aktiver Einfluss des Kindes gewinnen mit zunehmendem Alter an Bedeutung, weil Autonomie und Mobilität zunehmen. So kann es sich z. B. leichter aus einem problematischen familiären Milieu lösen.

Merke!

Die kontroverse Diskussion, ob eher Anlage- oder eher Umweltfaktoren maßgeblich für die menschliche Entwicklung sind, wird heute in der Entwicklungspsychologie nicht mehr geführt. Vielmehr wird das Zusammenspiel beider Faktoren untersucht, denn Forschungsergebnisse belegen, dass es keine »Einbahnstraße« vom Genom zur Entwicklung des Menschen gibt. Eine Veranlagung muss nicht ausbrechen, sie kann das ganze Leben lang latent bleiben. Oft sind Umwelteinflüsse für den Ausbruch verantwortlich.

1.3.4 Wechselwirkung von Umwelt, Verhalten und Gehirnaktivität

Umwelten können aktiv ausgesucht und gestaltet werden; umgekehrt können aber auch Umweltbedingungen das Verhalten direkt beeinflussen, wodurch sich neuronale Aktivität und vermutlich auch die genetische Aktivität selbst verändern (Asendorpf & Kandler, 2012, S. 165 f.). Deshalb ist die Vorstellung falsch, dass das Genom Entwicklung bewirkt oder ein Programm enthält, das die Entwicklung eines Kindes steuert. Asendorpf und Kandler (a. a. O.) vergleichen das Genom mit einem Text. Dieser Text begrenzt das, was insgesamt gelesen werden kann, legt aber nicht fest, welcher Teil des Textes gelesen wird und zu welchem Zeitpunkt. Außerdem spielt es eine Rolle, welche Textstellen vorher gelesen wurden.

Die Genaktivität variiert im Laufe der Entwicklung. Gene können unter bestimmten Bedingungen »eingeschaltet« und »abgeschaltet« werden. Das wird als Epigenetik bezeichnet. Gene sind demnach dynamische Bausteine, die nicht nach einem unveränderlichen Muster funktionieren. Es ist nachgewiesen, dass die Genaktivierung und -expression von Proteinen auch von Umwelterfahrungen abhängt. Nicht nur Gene, auch Umweltereignisse, Gedanken, Gefühle und Verhaltensweisen erhöhen die neuronale Aktivität und führen dadurch zu vermehrter Ausschüttung von Botenstoffen. Solche Umwelterfahrungen können z. B. Eltern-Kind-Beziehungen sein. Folgende Experimente belegen die Auswirkung von Umwelterfahrungen auf das Gehirn (vgl. Brisch, 2005).

Merke!

Kein Entwicklungsaspekt lässt sich nur auf den Genotyp oder nur auf die Umwelt zurückführen. Umwelt und Anlage können nie die alleinige Ursache für die Entwicklung des Menschen sein. Vielmehr gibt es ein kompliziertes Zusammenspiel beider Faktoren, bei dem mal der eine, mal der andere Faktor dominiert. Dieses komplizierte Wechselspiel zwischen Anlage und Umwelt wird als dynamisch-interaktionistisches Wechselspiel bezeichnet.

1.3.5 Anlage und Umwelt am Beispiel Intelligenz

Die Familienforschung konnte Ähnlichkeiten zwischen Familienmitgliedern hinsichtlich ihrer Intelligenz feststellen, was ein Hinweis auf die Vererbbarkeit von Intelligenz ist. Je näher der Verwandtschaftsgrad ist, desto höher ist die Korrelation des Merkmals Intelligenz. Das Problem besteht allerdings darin, Einflüsse von Vererbung und Umwelt zu trennen. Der gleiche Phänotyp (Erscheinungsbild) also z. B. ein bestimmter Intelligenzquotient (IQ), kann auf unterschiedliche Weise zustande kommen. Ein durchschnittlicher IQ kann z. B. durch die Kombination einer ausgeprägten Begabung mit einer ungünstigen Umwelt zustande kommen. Er kann aber auch Resultat einer schwachen Begabung kombiniert mit einer optimalen Umgebung sein. Einen Ausweg aus diesem Dilemma bieten Zwillings- und Adoptionsstudien.

Eineiige Zwillinge teilen 100 % ihrer Gene, zweieiige Zwillinge nur 50 %. Da eineiige Zwillinge über die gleichen Gene verfügen, führt man beobachtete Unterschiede zwischen ihnen auf Umwelteinflüsse zurück. Bei zweieiigen Zwillingen können Unterschiede auf Umweltbedingungen und auf genetischen Unterschieden beruhen. Wenn die Korrelation eines Merkmals zwischen eineiigen Zwillingen größer ist als bei zweieiigen, schließt man auf das Wirken genetischer Faktoren. Aber auch Umwelteinflüsse können sich auf die beobachteten Ähnlichkeiten von eineiigen und zweieiigen Zwillingen auswirken. Geschwister, die gemeinsam aufwachsen, teilen sich die Umwelteinflüsse wie z. B. den Bildungsstand der Eltern: Ein Faktor, der zur Ähnlichkeit gemeinsam aufwachsender Individuen beiträgt. Nichtgeteilte Umwelteinflüsse bezeichnen Faktoren, die zur Unähnlichkeit von Individuen beitragen. Diese gibt es bei eineiigen Zwillingen auch, z. B. getrennte Freundeskreise oder der Besuch getrennter Schulklassen (Kandler et al., 2019).

Eine weitere Methode sind Adoptionsstudien. Dabei wird aus den Unterschieden zwischen den biologischen Eltern und den nicht verwandten Adoptiveltern auf das Ausmaß der Erblichkeit eines Merkmals geschlossen. Durch den Vergleich der Ähnlichkeit zwischen leiblichen Eltern bzw. Geschwistern und dem Untersuchungskind auf der einen Seite mit der zwischen Adoptiveltern bzw. -geschwistern und Untersuchungskind auf der anderen Seite ist es möglich, die Erblichkeit von Verhaltens- und Persönlichkeitsmerkmalen abzuschätzen (Asendorpf, 2011 S. 151 ff.).

Untersuchungen zeigen, dass bei der Geburt adoptierte Kinder in ihren Persönlichkeitsmerkmalen ihrer leiblichen Familie ähnlicher sind und zum Teil sogar mit zunehmendem Alter noch ähnlicher werden als ihrer Adoptivfamilie. Die Adoptionsstudienmethode untersucht auch die Häufigkeit von psychischen Störungen bei adoptierten Nachkommen psychisch gestörter und nicht gestörter Menschen. Durch solche Adoptionsstudien lässt sich etwa die Erblichkeit von Erkrankungen wie der Schizophrenie bestätigen, denn Studien zeigen, dass das Risiko, an Schizophrenie zu erkranken, unabhängig davon ist, ob die Nachkommen betroffener Menschen bei ihren betroffenen Eltern aufwuchsen oder nicht (Hufer et al., 2020).

Bei Adoptionsstudien über die Entwicklung der Intelligenz stellte sich heraus, dass leibliche Geschwister untereinander ähnlicher sind als Geschwister und ihre Adoptivgeschwister. Der Grad an Übereinstimmung bei Intelligenzleistungen ist bei eineiigen Zwillingen sehr hoch und zwar auch dann noch, wenn sie getrennt aufwachsen. Der Anteil der Vererbung wird auf maximal 70 – 80 % geschätzt. Eine Obergrenze der Intelligenz ist also genetisch festgelegt. Diese Obergrenze zu erreichen, also die 20 – 30 %, die die Umwelt beiträgt, kann durch intensive Förderung geschehen (Montada, Lindenberger & Schneider, 2018, S. 44). Eine solche kognitive Förderung, die zu einer maximalen Entfaltung des angeborenen Potenzials führen würde, kann dann die Lücke füllen zwischen einem erreichten und einem auf Grund der Vererbung erreichbaren Intelligenzniveaus. Gerade das kann von entscheidender Bedeutung für die Bildungschancen eines Menschen sein.

Merke!

Menschliche Umwelten sollten so gestaltet werden, dass sich möglichst alle Menschen ihren Möglichkeiten gemäß entwickeln können; damit wird den beschriebenen Wechselwirkungen zwischen Umwelt und Anlage Rechnung getragen.

Einen zusammenfassenden Überblick über die bisher diskutierten Modelle zur menschlichen Entwicklung gibt ▶ Tab. 1.1. Die Modelle gewichten die Bedeutung von Individuum und Umwelt für die Entwicklung unterschiedlich. Sie sind als Bausteine zu verstehen, die Entwicklung erklären; sie schließen sich nicht aus, sondern ergänzen sich.

Tab. 1.1:Entwicklungsmodelle: Zusammenspiel von Umwelt und Person (gekürzt nach Faltermaier et al., 2014, S. 110)

Entwicklungsmodell

Person

Umwelt

Reifungsmodell (Anlage)

Aktiv

Passiv

Lerntheorien (Sozialisation durch die Umwelt)

Passiv

Aktiv

Dynamisch-interaktionisches Modell (Umwelt und Anlage: aktiver, dynamischer Austausch)

Aktiv

Aktiv

Sowohl die Lerntheorien (der Mensch wird durch externe Reize bestimmt und bleibt selbst passiv) als auch die Reifungstheorien (der Mensch reift von innen heraus und die Umwelt bleibt passiv) bilden Entwicklung nur teilweise ab.

Das gegenwärtig in der Entwicklungspsychologie vertretene Modell ist das dynamisch-interaktionistische Entwicklungsmodell. Es meint den fortwährenden Prozess gegenseitiger Beeinflussung von Person und Umwelt. Unsere Veranlagung (genetisch) und unsere Persönlichkeit (genetisch und erworben) bestimmen unser Verhalten, das auf die Umwelt wirkt. Die Umwelt verändert sich hierdurch und passt sich dem Verhalten an, worauf wiederum die Person in veränderter Weise reagiert. Sowohl die Person als auch die Umwelt befinden sich durch diesen Prozess in ständiger Veränderung. Das Modell beinhaltet, dass der Mensch seine Entwicklungaktiv mitgestaltet: Er setzt sich Ziele, trifft Entscheidungen und wählt seine Umwelten aus; er steuert sein Leben also (auch) selbst.

Zusammenfassung

Ein zentrales Thema der Entwicklungspsychologie ist die Erforschung des Zusammenspiels von Anlage und Umwelt. Dafür liefert das dynamisch-interaktionistische Modell den theoretischen Rahmen. Es versteht das Individuum sowohl als Produkt von Umwelteinflüssen als auch als handelndes Subjekt, ausgestattet mit seinem Erbgut, das sich aktiv Umwelten aussucht, die zu diesem Erbgut, seinen Anlagen, passen. Auf diese Weise steuert es seine Entwicklung.

Verständnisfragen

·

Erläutern Sie die drei Anlage-Umwelt-Interaktionen.

·

Der amerikanische Entwicklungspsychologie Lerner (2006) postuliert, dass der Mensch sowohl Produkt als auch Produzent seiner Entwicklung ist. Führen Sie dieses Postulat anhand des bisher Gelernten weiter aus. Überlegen Sie sich ein Beispiel dazu.

1.4 Das Konzept der Entwicklungsaufgaben

Einer Entwicklungspsychologie der Lebensspanne, die die Entwicklung des Menschen von der Zeugung bis zum Tod betrachtet, stellt sich die Frage, wie sie den Lebenslauf strukturiert. Als sinnvolle Vorgehensweise ist das Konzept der Entwicklungsaufgaben anzusehen, das den gesamten Lebenslauf in einzelne Phasen unterteilt, denen sie phasentypische Aufgaben zuordnet.

1.4.1 Was sind Entwicklungsaufgaben?

Die grundlegende Annahme des Entwicklungsaufgaben-Ansatzes ist, dass Menschen aufgrund ihrer körperlichen Entwicklung und der altersspezifischen sozialen Erwartungen in bestimmten Altersphasen mit ähnlichen Herausforderungen konfrontiert werden und zu ähnlichen Bewältigungsstrategien greifen. Im positiven Fall erwerben sie durch die Bewältigung der Entwicklungsaufgaben Kompetenzen; diese befähigen sie dazu, eine stabile und autonome Persönlichkeit aufzubauen und sich gleichzeitig als Mitglied einer Gesellschaft zu etablieren (vgl. Hurrelmann & Quenzel, 2013, S. 38).

Entwicklungsaufgaben als typische Herausforderungen in einer bestimmten Lebensphase werden auch als kritischeLebensereignisse bezeichnet. Der Lebenslauf lässt sich nach diesem Konzept als eine Folge solcher Herausforderungen, Belastungen, Übergänge und Wendepunkte strukturieren, die – sofern sie alterstypisch sind und der Norm entsprechen – als Entwicklungsaufgaben bezeichnet werden. Sie sind teilweise kulturspezifisch – so besteht z. B. nicht in jedem Land Schulpflicht oder ein gesetzlich festgelegtes Rentenalter – und sie sind altersabhängig.

Entwicklungsaufgaben sind in den meisten Fällen normativ, weil sie in einer großen Population fast jeden betreffen und an eine Altersstufe gebunden sind. Seltener sind nicht-normative Entwicklungsaufgaben, sie sind nicht an den Lebenslauf gebunden. Ein folgenschwerer Unfall, der Verlust der Eltern im Kindesalter, Scheidung oder Arbeitslosigkeit gehören dazu. Die Unterscheidung ist nicht trennscharf, denn Ereignisse wie Scheidung oder Arbeitslosigkeit sind zeitgeschichtlichen und gesellschaftlichen Veränderungen unterworfen und können deshalb von einem seltenen, nicht-normativen Ereignis zu einem häufigen und damit normativen Ereignis werden.

Die Bewältigung der Entwicklungsaufgaben setzt die individuelle Entwicklung in Gang und treibt sie voran. Die einzelnen Entwicklungsaufgaben sind keine isolierten Anforderungen, sondern hängen in mehrfacher Weise miteinander zusammen. Sie bauen auch aufeinander auf, denn die Bewältigung einer Aufgabe ist die Voraussetzung für die Bewältigung weiterer Aufgaben. Wer z. B. im Jugendalter die normative Aufgabe der Loslösung von den Eltern nicht erfolgreich bewältigt, wird im frühen Erwachsenenalter möglicherweise die Aufgabe der Suche nach einer Partnerschaft nicht selbsttätig in Angriff nehmen: Er bleibt an seine Eltern gebunden.

Entwicklungsaufgaben sind häufig Übergänge in neue Lebensphasen wie etwa der Schuleintritt, der Einstieg in den Beruf, der Renteneintritt oder die Geburt des ersten Kindes. Solche Übergangsphasen und ihre Bewältigung stellen »kritische« Ereignisse dar, weil sie Stress erzeugen. Es sind vulnerable Phasen, die Energie binden und das Individuum schwächen und die Gefahr, eine psychische Störung zu entwickeln, erhöhen. Wenn zu diesen normativen Aufgaben noch nicht-normative Aufgaben kommen (▶ Beispiel unten), kann es zu einer Überforderung des Individuums kommen.

Definition: Vulnerabilität

Vulnerabilität (von lat. vulnus, dt. Wunde) bedeutet eine erhöhte Verletzlichkeit und eine herabgesetzte Widerstandsfähigkeit gegenüber Belastungen. Sie kann ererbt (durch die Gene der Eltern, Vorfahren), angeboren (im Mutterleib oder bei der Geburt erworben) oder erworben sein (durch Umwelteinflüsse nach der Geburt).

Besonders wenn normative und nicht-normative Entwicklungsaufgaben zusammenauftreten, bedarf es konstruktiver Bewältigungsstrategien des Individuums und Hilfestellungen aus der Umwelt, um die vielfältigen Anforderungen zu meistern.

Beispiel: Zusammentreffen normativer und nicht normativer Entwicklungsaufgaben

Bei der 12-jährigen Lisa beginnt die Pubertät (normative Entwicklungsaufgabe), gleichzeitig wird bei ihr jugendlicher Diabetes diagnostiziert (nicht-normative Entwicklungsaufgabe).

Der 10-jährige Jan steht vor dem Übergang von Grundschule zur weiterführenden Schule (normative Entwicklungsaufgabe). Gleichzeitig trennen sich seine Eltern (nicht-normative Entwicklungsaufgabe). Dies löst weitere Entwicklungsaufgaben aus (Verlust des Vaters, Umzug, Verlust des alten Freundeskreises, Aufbau eines neuen Freundeskreises).

Definition: Entwicklungsaufgabe

Unter einer Entwicklungsaufgabe werden prototypische Anforderungen oder Lernaufgaben verstanden, die in einer bestimmten Lebensphase zu bewältigen sind. Ihre Bewältigung setzt individuelle Entwicklung in Gang. Neue Orientierungen und der Aufbau von Strukturen werden möglich, sodass das Individuum eine weitere Entwicklungsstufe erreicht.

Die Entwicklungsaufgaben haben ihren Ursprung

·

in biologischen Veränderungen (z. B. Pubertät, Klimakterium),

·

in gesellschaftlichen und kulturellen Erwartungen (z. B. Eintritt in die Schule, Berufsausbildung, Heirat),

·

im Individuum selbst und seinen Lebenszielen (z. B. den Wunsch, Ärztin zu werden, um jeden Preis umzusetzen).

Die Bereiche spiegeln die biologische und soziale Dimension sowie die kognitive und emotionale Dimension, auf denen Entwicklung stattfindet, wider. Das Konzept der Entwicklungsaufgaben ist ein zentrales Konzept, das Individuum und Umwelt verbindet, indem es kulturelle (d. h. normative) Anforderungen mit individuellen Entwicklungsvoraussetzungen in Beziehung setzt. Es räumt zugleich dem Individuum eine aktive Rolle bei der Gestaltung der eigenen Entwicklung ein.

Übung

Wählen Sie sich aus Ihrer eigenen Kindheit oder dem Jugendalter eine Entwicklungsaufgabe aus, die für Sie besonders bedeutsam war, und beschreiben Sie, wie Sie diese gelöst haben.

Beispiel: Entwicklungsaufgaben biologischen Ursprungs

Die zentralen Entwicklungsaufgaben biologischen Ursprungs sind Pubertät, Schwangerschaft, Geburt, Wochenbett, Klimakterium und durch hohes Alter bedingte körperliche Einschränkungen. Es sind stark hormonell gesteuerte Übergangsphasen, die überwiegend das weibliche Geschlecht betreffen. So sinken etwa nach der Geburt die zuvor stark angestiegenen Hormone Östrogen und Progesteron wieder auf ein normales Niveau ab.

Damit einher geht in der Regel eine leichte depressive Verstimmung, die in der Alltagssprache »Heultage« oder »Baby Blues« genannt werden. Ein Zustand, der auf wenige Stunden begrenzt ist. Davon zu unterscheiden ist die Wochenbettdepression oder -psychose, die eine schwerwiegende psychiatrische Erkrankung darstellt. Auch die Pubertät und das Klimakterium gehen mit mehr oder weniger starken Stimmungsschwankungen einher. Man kann davon ausgehen, dass hormonelle Umbrüche sich sowohl direkt auf die psychische Verfassung auswirken als auch von psychosozialen Faktoren (Gefühle der Überforderung, Ausmaß der Partnerschaftszufriedenheit, Unterstützung durch den/die Partner*in und die Familie) abgefedert oder verstärkt werden können (Kühnert, 2007).

1.4.2 Entwicklungsaufgaben-Modelle

Die zwei bekanntesten Modelle stammen von Havighurst und Erikson. Der Amerikaner Robert Havighurst (1976) interviewte Amerikaner*innen unterschiedlicher Altersgruppen zu wichtigen Einschnitten in ihrem Leben und erstellte auf dieser Basis zentrale, allgemeingültige Themen, die er als alterstypische Aufgaben formulierte. Die folgende Auflistung zeigt die von Havighurst formulierten Entwicklungsaufgaben für den gesamten Lebenslauf. Deutsche Forscher*innen konnten die Relevanz der Aufgaben ebenfalls für deutsche Stichproben nachweisen (Dreher & Dreher, 1985). Die Entwicklungsaufgaben wurden im Laufe der Zeit überarbeitet und ergänzt (Hurrelmann & Quenzel, 2013; Fend, 2005; Waters & Sroufe, 1983); die Ergänzungen sind in den nachfolgenden Auflistungen bzw. im Text berücksichtigt.

Das Entwicklungsaufgabenmodell von Erik Erikson weist Parallelen zu Havighursts Konzept auf. Es ist jedoch globaler und weniger konkret in den zu bewältigenden Entwicklungsaufgaben. Für jede Lebensphase gibt Erikson nur eine einzige Aufgabe vor, die er als Entwicklungskrise bezeichnet (Erikson, 1988). Auf beide Modelle wird im weiteren Verlauf Bezug genommen. Die folgenden Entwicklungsaufgaben im Lebenslauf stammen von Havighurst (1976, S. 88 ff.). Die Aufgaben des Jugendalters wurden mit den Überarbeitungen von Hurrelmann und Bauer (2018) und Fend (2005) ergänzt.

Alterstypische Entwicklungsaufgaben

Frühe Kindheit (0 – 6 Jahre)

·

Fähigkeit zu laufen

·

Fähigkeit, feste Nahrung aufzunehmen

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Fähigkeit zu sprechen

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Fähigkeit, die Ausscheidungsvorgänge zu kontrollieren

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Fähigkeit, Geschlechtsunterschiede wahrzunehmen, und sexuelle Scham

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Bildung von Konzepten und Erlernen sprachlicher Begriffe zur Beschreibung der physischen und sozialen Realität

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Bereitschaft, lesen zu lernen

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Fähigkeit, zwischen Recht und Unrecht zu unterscheiden, und Entwicklung eines Gewissens

Mittlere Kindheit (6 – 12 Jahre)

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Erlernen von Fähigkeiten, die für normales Spielen nötig sind

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Aufbau einer gesunden Einstellung zur eigenen Person als einem wachsenden Organismus

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Fähigkeit, mit Altersgenossen zurechtzukommen

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Erlernen einer passenden männlichen und weiblichen Rolle

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Entwicklung grundlegender Fertigkeiten im Lesen, Schreiben und Rechnen

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Entwicklung von Konzepten, die für das Verstehen des alltäglichen Lebens notwendig sind

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Weitere Entwicklung von Gewissen, Moral und Wertmaßstäben

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Erreichen persönlicher Unabhängigkeit

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Entwicklung einer Einstellung gegenüber sozialen Gruppen und Institutionen

Adoleszenz (12 – 18 Jahre)

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Aufbau neuer und reifer Beziehungen zu Gleichaltrigen

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Aufbau intimer Beziehungen zu Gleichaltrigen

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Klärung der Geschlechtsrolle

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Akzeptanz der körperlichen Veränderungen und effektive Nutzung des Körpers

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Emotionale Unabhängigkeit von den Eltern und anderen Erwachsenen

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Erwerb intellektueller Kompetenzen

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Erwerb sozialer Kompetenzen

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Entwicklung eines individuellen Lebensplans

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Verantwortungsvoller Umgang mit Konsum und Freizeit

Frühes Erwachsenenalter (18 – 35 Jahre)

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Wahl eines Partners/einer Partnerin

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Lernen in einer Liebesbeziehung zu leben

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Gründung einer Familie

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Erziehen von Kindern

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Führen eines Haushalts

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Beginn des Berufslebens

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Verantwortung als Bürger*in übernehmen

Mittleres Erwachsenenalter (ca. 35 – 65 Jahre)

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Eigene Kinder darin unterstützen, verantwortliche und glückliche Erwachsene zu werden

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Erreichen sozialer und öffentlicher Verantwortung als Erwachsener

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Erreichen und Aufrechterhalten befriedigender Leistungen im Beruf

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Entwicklung angemessener Freizeitaktivitäten

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Pflege der Partnerschaftsbeziehung

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Akzeptanz der und Anpassung an die physiologischen Veränderungen des mittleren Lebensalters

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Anpassung an alte Eltern

Späteres Erwachsenenalter (ab 60 Jahre)

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Anpassung an das Nachlassen der Kräfte und der Gesundheit

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Anpassung an den Ruhestand und ein vermindertes Einkommen

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Anpassung beim Tod der/des Partners*in

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Aufbau einer expliziten Angliederung an die eigene Altersgruppe

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Flexible Annahme und Anpassung der sozialen Rollen

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Aufbau befriedigender Lebensumstände

Eriksons Acht-Stufen-Modell der Entwicklung stellt die lebenslange Entwicklung der Identität in den Mittelpunkt. Das lebenslange Suchen und Finden von Identität ist für Erikson das zentrale Thema des Menschen. Eine Identität zu erwerben, im Sinne einer Vorstellung von sich selbst als Person, ist so bedeutsam, weil sie Struktur, Sinn und Handlungshilfe gibt.

Er formuliert für jede Lebensphase ein zentrales Thema, das einen Aspekt der Identität darstellt und einen Gegensatz beinhaltet. Der einzelne Mensch muss eine Balance zwischen diesen gegensätzlichen Polen finden. Dieser Konflikt stellt nach Erikson die Triebfeder für die Entwicklung dar. Erikson bezieht auch die Bezugspersonen und ihren Beitrag zum Gelingen der Aufgabe ein:

1.

Säuglingsalter

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Urvertrauen (▶ Kap. 2.5) gegen Urmisstrauen: »Ich bin, was man mir gibt« (1. Jahr)

2.

Frühe Kindheit

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Autonomie (▶ Kap. 2.4) gegen Scham und Zweifel: »Ich bin, was ich will« (1.–3. Lebensjahr)

3.

Kindheit

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Initiative gegen Schuldgefühl: »Ich bin, was ich mir vorstellen kann zu werden« (3.–5. Lebensjahr)

4.

Schulalter

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Werksinn gegen Minderwertigkeit: »Ich bin, was ich lerne« (6.–12. Lebensjahr).

5.

Jugendalter

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Ich-Identität (▶ Kap. 3.1) gegen Ich-Identitätsdiffusion: »Ich bin, was ich bin« (12.–18. Lebensjahr)

6.

Frühes Erwachsenenalter

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Intimität gegen Isolation: »Wir sind, was wir lieben« (18.–30. Lebensjahr)

7.

Mittleres Erwachsenenalter

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Generativität (▶ Kap. 5.2) gegen Stagnation: »Ich bin, was ich bereit bin zu geben« (30 – 60. Lebensjahr)

8.

Hohes Erwachsenenalter

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Ich-Integrität (▶ Kap. 6.5) gegen Verzweiflung: »Ich bin, was ich mir angeeignet habe« (ab 60. Lebensjahr)

Die Aufgabe der ersten Phase ist die Entwicklung von Urvertrauen: Ein Grundgefühl, dass die Welt ein sicherer Ort ist und Menschen verlässlich und liebevoll sind. Diese Lebenseinstellung entsteht aufgrund eines liebevollen und zuverlässigen Elternverhaltens. Eine optimistische Lebenseinstellung hat hier ihren Ursprung: Die Zuversicht, dass alles zu einem guten Ende kommt, auch wenn es im Moment noch recht finster aussieht.

In der darauffolgenden Autonomiephase beginnt das Kleinkind, das Wort »Ich« zu benutzen; es versucht, seinen eigenen Willen gegen den der Eltern durchzusetzen. Erste Erprobungen des eigenen Willens äußern sich in dem zu beobachtenden so genannten Trotzverhalten und stellen einen wichtigen Schritt in der Persönlichkeitsentwicklung dar. Das Kind lernt mit seinen Aggressionen umzugehen und sich auf angemessene Weise durchzusetzen. Damit findet ein bedeutsamer Fortschritt in der Selbststeuerung statt (▶ Abb. 1.4).

Abb. 1.4:Trotzphase (angefertigt von Sabrina Hilz)

Die Konfrontation mit anderen Personen bedeutet Abgrenzung und das Entstehen von Selbstbestimmtheit: Das Kind beginnt, eine eigene Identität zu entwickeln. Es exploriert in dieser Phase mit großer Aktivität die Umwelt. Es entwickelt ein gutes Selbstwertgefühl, wenn die Eltern es bei seinem Drang, die Welt zu erobern, bestärken. Stellen sie es jedoch bei unweigerlichen Misserfolgen bloß und begrenzen seinen Explorationsdrang, entstehen nach Erikson beim Kind Scham und Zweifel.

In der nächsten Stufe entwickelt das Kind eine männliche oder weibliche Geschlechtsidentität. Das gleichgeschlechtliche Elternteil wird zum Vorbild, das in Fantasiespielen imitiert wird. Eltern sollten sich als Vorbild bereitstellen und das Kind nicht als Konkurrenz betrachten.

In der dann folgenden Grundschulzeit erwirbt das Kind die Kulturtechniken Lesen, Schreiben und Rechnen. Das Ich wird gestärkt durch eigene Leistungen (Werksinn). Falls es entmutigt wird durch Misserfolge, die ihren Ursprung z. B. in einer Lese-Rechtschreib-Schwäche haben können, entsteht ein Minderwertigkeitsgefühl.

Im Jugendalter wird das Identitätsthema besonders aktuell, geht es in dieser Phase doch darum, die bisherigen Erfahrungen zu einer Ich-Identität zusammenzufügen und z. B. Fragen der Geschlechtsidentität, Zukunftsplanung und Berufswahl erfolgreich zu beantworten.

Nur auf der Basis einer gefestigten Identität gelingt im frühen Erwachsenenalter eine intime, vertrauensvolle Beziehung, in der ein Sich-Öffnen und Sich-im-Gegenüber-Verlieren und -Wiederfinden möglich wird.

Das weitere Erwachsenenalter ist von einer Fülle neuer Rollen (Elternrolle, Großelternrolle, Partner*in-sein, Berufskolleg*in-sein) geprägt und schafft somit neue Identitäten wie z. B. die Mutter- oder Vateridentität. Mit dem Konzept der Generativität stellt Erikson die Weitergabe von Wissen und Erfahrung an nachfolgende Generationen in den Mittelpunkt dieser Phase.

Im hohen Alter ist das Ziel ein Aussöhnen mit dem bisherigen Leben und eine daraus folgende Lebenszufriedenheit. Andernfalls entsteht Verbitterung.

Man kann davon ausgehen, dass viele Menschen in den westlichen Gesellschaften ähnlich wie soeben beschrieben ihren Lebensweg durchlaufen: Sie gewinnen Selbstvertrauen, das sie benötigen, um sich abzulösen und ihren eigenen Weg zu gehen. Sie erwerben vielfältige Kompetenzen, binden sich an eine Liebesbeziehung und bekommen Kinder. Später werden sie Großeltern und genießen nach einem langen Berufsleben ihren Ruhestand. Kritisch ist aber anzumerken, dass Entwick