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This textbook provides a basic overview of current approaches in psychological psychotherapy and counselling. The foundations consist of the four pillars of psychotherapy and counselling: depth-psychological, learning-theoretical, humanistic and systemic approaches. The views of humanity, theoretical background, therapeutic relationship, techniques used and goals in counselling used in these approaches are presented comparatively. Numerous example cases and excerpts from conversations illustrate the complex theoretical models and typical procedures in practice. Additional chapters are related to empirically confirmed findings on verifiable effective factors in psychotherapy, common elements and differences between psychotherapy and psychosocial counselling, and the significance of one=s view of humanity and the relationship aspect in the context of psychotherapy and counselling.
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Seitenzahl: 341
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Cover
Titelei
Vorwort
1 Einführung
1.1 Psychotherapie und psychosoziale Beratung: Gemeinsamkeiten und Unterschiede
1.2 Lässt sich das Psychotherapiekonzept auf das Beratungskonzept übertragen?
1.3 Das Menschenbild in Psychotherapie und Beratung
1.4 Wirkfaktoren und Merkmale von Psychotherapie und Beratung
1.4.1 Der wichtigste Faktor: Die Beziehung
2 Eine Einführung in den psychoanalytischen Ansatz
2.1 Sigmund Freud: Biographische Aspekte
2.2 Das psychoanalytische Menschenbild
2.3 Theoretischer Hintergrund der Psychoanalyse
2.3.1 Die Persönlichkeitstheorie
2.3.2 Die Neurosentheorie
2.3.3 Die psychoanalytische Entwicklungslehre
2.4 Wie sieht psychoanalytische Beratung/Therapie aus?
2.4.1 Widerstand
2.4.2 Übertragung
2.4.3 Exkurs: Entwicklungspsychologie
2.4.4 Gegenübertragung
2.4.5 Die Arbeit an und mit der Beziehung: Asymmetrie, Abstinenzregel, Arbeitsbündnis
2.4.6 Therapeutische Techniken: Deuten, Konfrontieren, Durcharbeiten
2.4.7 Klientenverhalten: Wiederholen, Erinnern, Einsicht
2.4.8 Das Setting
2.4.9 Diagnostik in der Psychoanalyse: Das Erstgespräch
2.4.10 Gesprächsführung im biographischen Erstgespräch
2.4.11 Wann wird die Therapie beendet? Therapieziel
2.4.12 Weiterentwicklungen
3 Eine Einführung in den klientenzentrierten Ansatz
3.1 Carl Ransom Rogers: Biographische Aspekte
3.2 Das humanistische Menschenbild
3.3 Theoretischer Hintergrund des klientenzentrierten Ansatzes
3.3.1 Die Persönlichkeitstheorie und die Störungslehre
3.4 Wie sieht klientenzentrierte Beratung/Therapie aus?
3.4.1 Die drei Basismerkmale einer hilfreichen Beziehung
4 Eine Einführung in den systemischen Ansatz
4.1 Die Gründung und Entstehung des systemischen Ansatzes
4.2 Das systemische Menschenbild
4.3 Theoretischer Hintergrund des systemischen Ansatzes
4.3.1 Die Theorie des Systems und die Störungslehre
4.4 Wie sieht systemische Beratung/Therapie aus?
4.4.1 Therapeutische Techniken im systemischen Ansatz
4.4.2 Weitere Interventionsstrategien
4.4.3 Der Beziehungsaspekt: Das Arbeitsbündnis und die Allparteilichkeit
4.4.4 Das Setting
4.4.5 Widerstand: Wenn die Hausaufgaben nicht gemacht werden
4.4.6 Diagnostik in der Familienberatung: Das Erstgespräch
4.4.7 Exkurs: Genogramm
4.4.8 Wann wird die Therapie/Beratung beendet?
4.4.9 Weiterentwicklungen
4.5 Die Lösungsorientierte Beratung
4.5.1 Prinzipien der Beratungsform
4.5.2 Techniken
4.5.3 Phasen der Beratung
4.5.4 Die Rolle der Beraterperson: Sich entbehrlich zu machen
5 Eine Einführung in den verhaltenstherapeutischen Ansatz
5.1 Gründungsväter der Verhaltenstherapie: Biographische Aspekte
5.2 Das verhaltenstheoretische Menschenbild
5.3 Theoretischer Hintergrund der Verhaltenstherapie
5.3.1 Persönlichkeitskonzept und Störungslehre
5.4 Wie sieht verhaltensorientierte Beratung/Therapie aus?
5.4.1 Verhaltensdiagnostik
5.4.2 Systematische Desensibilisierung
5.4.3 Operante Verstärker in der Anwendung
5.4.4 Selbstsicherheitstraining
5.4.5 Kognitive Umstrukturierung verzerrter Sichtweisen
5.4.6 Diagnostik in der Verhaltenstherapie: Das Erstgespräch
5.4.7 Bemerkungen zum Beziehungsaspekt in der Verhaltenstherapie
5.4.8 Das Setting
5.4.9 Gibt es in der Verhaltenstherapie Widerstand?
5.4.10 Weiterentwicklungen
Literatur
Stichwortverzeichnis
Die Autorin
Prof. Dr. Annette Boeger hat den Lehrstuhl für Entwicklungspsychologie am Fachbereich Bildungswissenschaften der Universität Duisburg-Essen inne. Sie ist approbierte Psychotherapeutin mit einer Ausbildung in Gesprächspsychotherapie und in systemisch-psychoanalytischer Familientherapie.
4., aktualisierte Auflage
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4., aktualisierte Auflage 2024
Alle Rechte vorbehalten© W. Kohlhammer GmbH, StuttgartGesamtherstellung: W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart
Print:ISBN 978-3-17-043580-3
E-Book-Formate:pdf: ISBN 978-3-17-043581-0epub: ISBN 978-3-17-043582-7
»Die Theorie bestimmt, was wir beobachten können.«Albert Einstein
»Die Wahrheit wird deutlicher durch die Vielzahl der Perspektiven,die sich auf einen Sachverhalt richten.«Berger und Luckmann
Die Idee zu vorliegendem Buch entwickelte sich aus der Durchführung der Einführungsvorlesung »Psychologische Beratungsansätze« für Studierende der Sozialen Arbeit. Die Vorlesung hat das Ziel, einen fundierten Überblick über Psychotherapieverfahren zu geben, und setzt kein Vorwissen voraus. Zur Vorstellung kommen die klassischen vier Richtungen: Die Psychoanalyse, der humanistische Ansatz am Beispiel der klientenzentrierten Gesprächspsychotherapie, die Verhaltenstherapie und der systemische Ansatz. Diese stellen die Grundpfeiler der Psychotherapie dar. Sie sind am weitesten verbreitet und werden aktuell diskutiert – besonders im Hinblick auf Wirksamkeit und Kassenzulassung.
Mit Blick auf die Grundlagenorientierung und den Umfang des Buches, das eine in Bezug auf die Klausurvorbereitung verträgliche Länge aufweisen sollte, war eine Einschränkung auf wesentliche Richtungen und Schwerpunkte unerlässlich. Weitere Ansätze wie etwa die aus der humanistischen Psychologie entwickelte Gestalttherapie, das Psychodrama und die Transaktionsanalyse konnten deshalb in der Darstellung nicht berücksichtigt werden.
Auch auf andere darstellenswerte Aspekte musste verzichtet werden. Das betrifft z. B. eine ausführliche historische Entwicklung der vorgestellten Ansätze sowie die Diskussion von Kontextmerkmalen von Beratung/Therapie wie etwa ethische Aspekte, die Bedeutung von Supervision, die Schweigepflicht. Dem interessierten Leser, der interessierten Leserin steht eine Vertiefung zahlreicher Themen offen. Literaturhinweise laden dazu ein.
Bei der Darstellung der vier Ansätze wurde eine vergleichende Perspektive eingenommen. Als Vergleichskriterien wurden das Menschenbild der jeweiligen Richtung, die Beziehung zwischen Beraterperson und Klient/in, die Bedeutung der Techniken und die Therapiezielsetzung gewählt. Da das Menschenbild – sowohl des jeweiligen Therapiegründers als auch der jeweiligen Therapeutin/Beraterin – jeden Behandlungsansatz prägt und damit den Umgang mit den Klienten/innen bestimmt, erschien eine Auseinandersetzung damit unerlässlich.
Weiterhin finden Beratung und Therapie in einem Interaktionsprozess statt bzw. werden als Interaktionsprozess definiert; der Beziehungsaspekt hat sich als sehr bedeutsam für den Therapieerfolg erwiesen. Deshalb werden alle Ansätze auch unter einer vergleichenden Thematisierung dieses Aspekts vorgestellt. Dabei wird der Interaktionsprozess unter dem Blickwinkel des aus der Psychoanalyse stammenden Konzepts der Übertragung und Gegenübertragung diskutiert, da diese als weit verbreitete Muster menschlicher Beziehungsgestaltung angesehen werden, die ebenfalls im Therapie- und Beratungsprozess eine bedeutende Rolle einnehmen.
Der Wunsch der Studierenden nach praktischer Umsetzung des Gehörten regte zur Erläuterung an zahlreichen Fallbeispielen und gelegentlichen Rollenspielen an, die das Theoretische veranschaulichen und erlebbar machen sollten. Nach diesem Vorbild ist auch das vorliegende Lehrbuch aufgebaut: Beispiele, sowohl für komplexe theoretische Begriffe als auch für Gesprächstechniken, dienen der Veranschaulichung und sollen außerdem eine kurzweilige Auseinandersetzung mit der Thematik erleichtern.
Im Text wird zwischen Beratung und Therapie bei der Wortwahl nicht unterschieden: Eine therapeutische Grundhaltung bzw. therapeutische Techniken können sowohl im beraterischen als auch im therapeutischen Kontext angewendet werden. Die meisten Therapierichtungen machen keinen Unterschied zwischen Beratung und Therapie, auch wenn kontextuelle und konzeptionelle Unterschiede zwischen beiden bestehen. Auf diese wird eingegangen.
Auch werden Forschungsergebnisse zu Wirkfaktoren im Therapieprozess dargestellt und diskutiert.
Ich würde mich freuen, wenn vorliegende Darstellung nicht nur eine kognitive, sondern auch eine persönliche Auseinandersetzung z. B. unter dem Blickwinkel der Auseinandersetzung mit dem eigenen Menschenbild als prägend für die eigene helfende Tätigkeit zur Folge hätte. Wenn weiterhin der Eindruck haften bleibt, dass der Interaktionsprozess, d. h. die Beraterin-Klientin-Beziehung, ein wesentlicher, professioneller Bestandteil einer erfolgreichen Beratung/Therapie ist, wäre ein weiteres wichtiges Ziel erreicht.
Als Zielgruppe sind Studierende und Berufstätige psychosozialer Arbeitsfelder angesprochen (Sozialarbeit, Pädagogik, Heilpädagogik), die sich einen fundierten Überblick über Psychotherapieverfahren verschaffen wollen. Möglicherweise dient die Auseinandersetzung als Entscheidungshilfe bei der Wahl einer Ausbildungsrichtung. Auch Psychologiestudierende, welche die gegenwärtig in der universitären Psychologie leider nur gering vorhandene Methodenvielfalt bedauern, sind herzlich dazu eingeladen, ihr Blickfeld zu erweitern.
Die (Fall)beispiele – stark abgewandelt – entstammen zum Teil eigenen Beratungs- bzw. Therapiegesprächen. Ich bin deshalb meinen ehemaligen Klienten und Klientinnen zu Dank verpflichtet, denn ohne die mit ihnen gemachten Erfahrungen wäre die Gestaltung einer solchen Vorlesung bzw. Lehrbuchs erheblich mühsamer geworden.
Danken möchte ich Frau Ute Stritzel für die Erledigung vielfältiger, mit der Herstellung des Buches verbundenen Tätigkeiten. An dieser Stelle sei an sie ein grundsätzliches Dankeschön für ihre immer freundliche, hilfsbereite und kompetente Erledigung aller Aufgaben ausgesprochen. Frau Winhuysen danke ich sehr herzlich für ihre engagierte Arbeit am Layout des Buches und für ihre kreativen Ideen. Mein Dank geht auch an den Lektor des Kohlhammer Verlags, Herrn Dr. Burkarth, für die freundliche Unterstützung.
Auf ein Glossar wurde verzichtet: Alle Fachbegriffe werden im Text erklärt und an Beispielen erläutert. Fremdworte werden weitgehend übersetzt.
Da die ständige Anwendung verschiedener Geschlechtsformen das Lesen erschwert und überdies sich bei vorliegender Thematik sowohl auf der beraterisch-therapeutischen als auch auf der Hilfe suchenden Seite überwiegend Frauen befinden, wurde im Folgenden überwiegend die weibliche Form gewählt. Manchmal konnten auch geschlechtsneutrale Formen verwendet werden (»Beraterperson«). Nicht-weibliche Menschen sind selbstverständlich immer mitgemeint.
Die Ratsuchenden werden im Folgenden mit »Klient/in« bezeichnet. Dieser von Rogers eingeführte Begriff soll sowohl die Selbstverantwortung als auch die Ebenbürtigkeit der Ratsuchenden betonen. Er drückt aus, dass sie nicht »behandelt« werden wie medizinische Patientinnen. Der Begriff des/r Klienten/in hat sich in der Therapie- und Beratungsliteratur durchgesetzt, nur in der medizinisch dominierten Psychoanalyse nicht. Deshalb findet sich bei der Darstellung der Psychoanalyse, speziell bei der Wiedergabe von Zitaten, gelegentlich der Begriff des »Patienten«.
Im Folgenden werden vier psychologische Grundkonzepte der Psychotherapie dargestellt (▸ Abb. 1.1). Gleichermaßen stellen sie auch die Grundlage psychosozialer Beratung dar.
Abb. 1.1:Säulen der Psychotherapieund Grundlagen der psychosozialen Beratung
1.
Die psychoanalytisch orientierte Beratung geht davon aus, dass weit zurückliegende, emotional berührende Erlebnisse das gegenwärtige Erleben der Klientin prägen. Individuelle Störungen liegen in der eigenen Biographie begründet. Die Beziehung zwischen Therapeutin und Klientin steht im Vordergrund.
2.
Die klientenzentrierte Beratung geht von einem selbstgesteuerten, wachstumsfähigen Individuum aus. Damit die Klientin sich selbst verwirklichen kann, ist ein wachstumsförderndes Beratungsklima notwendig. Die Beraterin muss bestimmte Bedingungen schaffen (eine Atmosphäre der Akzeptanz, Empathie und Echtheit). Damit steht die Therapeutin-Klientin-Beziehung im Vordergrund.
3.
Verhaltenstheoretische Beratung orientiert sich an den Lerntheorien; hiernach ist alles Verhalten gelernt und kann auch wieder verlernt bzw. modifiziert werden. Das trifft auch für bestimmte negative Denkmuster zu, die verändert werden können. Erreichen lässt sich dies durch bestimmte Techniken. Das Symptom steht im Vordergrund.
4.
Systemische Ansätze: Familienberatung. Menschen leben in sozialen Gefügen und bilden dynamische Systeme. Die Beziehungen innerhalb eines Systems sind intensiv. Sie funktionieren nach einer eigenen Dynamik und verändern sich ständig. Die Beziehungen im System stehen im Vordergrund.
Die Abgrenzung zwischen psychosozialer Beratung und Psychotherapie ist nicht einfach und erscheint teilweise widersprüchlich. Beginnen wir mit rechtlich vorgegebenen Unterschieden: Nach dem im Jahre 1998 erlassenen Psychotherapeutengesetz (PsychThG) wird Psychotherapie in der Heilkunde verortet und soll sich mit der Behandlung psychischer Störungen befassen. Die Psychotherapie – so sie als »anerkanntes« Verfahren gilt und das sind Verfahren der Psychoanalyse und der davon abgeleiteten Tiefenpsychologie sowie die Verhaltenstherapie und die Familientherapie – kann nur von approbierten Psychotherapeuten/innen durchgeführt werden und wird von den Krankenkassen erstattet. Häufig findet sie in freier Praxis statt. Die Approbation ist gekoppelt an eine Psychotherapieausbildung in den so genannten Richtlinienverfahren (siehe oben: Psychoanalyse, Verhaltenstherapie, Familientherapie) und setzt ein Studium der Psychologie oder Medizin voraus. Psychosoziale Beratung dagegen findet im institutionellen Rahmen statt und ist in der Regel kostenfrei. Die Psychotherapie behandelt Störungen mit Krankheitswert, die Arbeitsunfähigkeit zur Folge haben. Dazu zählen u. a. neurotische Störungen und Konflikte, seelische Behinderungen als Folgezustände körperlicher Erkrankungen und Entwicklungsdefizite, falls psychodynamische Faktoren wesentlichen Anteil daran haben. Psychosoziale Beratung greift bei aktuellen Lebenskrisen, in denen die Bewältigungskapazitäten des Einzelnen überfordert sind. Manchmal ist eine Abgrenzung nicht einfach, weil etwa auch Probleme wie z. B. Partnerschaftskonflikte, Selbstwertkrisen oder Motivationsprobleme während der Ausbildung psychotherapeutisch behandelt werden. Das sind aber keine Krankheiten im eigentlichen Sinne, wie Barabas (2007, S. 1210 f) bemerkt. Eine formale Abgrenzung zwischen Störungen mit Krankheitswert und beeinträchtigenden Konflikten aus der Lebenswelt ist also bei genauerem Hinsehen nicht unbedingt eindeutig, es gibt fließende Übergänge.
Sowohl im beraterischen Kontext als auch im therapeutischen Kontext sind die gleichen Berufsgruppen anzutreffen, sofern beides im institutionellen Rahmen stattfindet. Angehörige psychosozialer Berufsgruppen können ebenfalls eine beraterische oder psychotherapeutische Ausbildung machen, allerdings ohne die Approbation zu erlangen. Eine Ausnahme stellt die Approbation zum/r Kinder- und Jugendlichentherapeuten/in dar. Diese kann auch mit dem Studienabschluss der Pädagogik oder Sozialpädagogik erworben werden.
Psychotherapie und Beratung haben zunächst inhaltlich viele Überschneidungspunkte (Engel et al. 2007, S. 36). Rein äußerlich betrachtet, wird man in beiden Kontexten häufig kaum Unterschiede feststellen.
•
Ablauf: Es finden professionelle Gespräche über die seelische Verfassung und die persönlichen Probleme der Klientin statt. Im Rahmen eines Interaktionsprozesses soll die Ratsuchende mehr Klarheit über die eigenen Probleme und ihre Bewältigung gewinnen.
•
Interventionen: Auch die Interventionen sind ähnlich, da sowohl Beratung als auch Psychotherapie auf die gleichen Grundkonzepte zurückgreifen.
•
Entwicklung von Ressourcen: Sowohl in Therapie als auch in Beratung geht es immer um die Entwicklung persönlicher Ressourcen und die Stärkung der Problemlösekompetenz.
•
Asymmetrische Beziehung: Bei beiden Interventionsformen muss von einem asymmetrischen Prozess gesprochen werden, auch wenn manche Konzepte die Gleichgewichtigkeit des Gegenübers betonen: Die ratsuchende oder therapieaufsuchende Person fühlt sich in ihrer Situation hilflos und sucht professionelle Hilfe auf.
•
Vertrauensvolle Beziehung: Beide Formen können nur erfolgreich sein, wenn sich auf Seiten der Klientin eine vertrauensvolle Beziehung zur Beraterin/Therapeutin einstellt.
•
Freiwilligkeit: Beratung und Therapie finden in der Regel freiwillig statt. Demzufolge ist die Klientin motiviert und veränderungsbereit. Beides kann jedoch auch staatlich verordnet werden (z. B. Therapieauflage für den Täter bei sexuellem Missbrauch oder Schwangerschaftskonfliktberatung).
•
Gruppen- und Einzelsitzungen: Sowohl Psychotherapie als auch Beratung können in einer dyadischen (Zweier-) Situation als auch in einer Gruppensitzung stattfinden.
•
Dauer: Während eine Beratung eher kurzfristig angelegt ist und ca. 3 – 5 Sitzungen umfasst, kann eine Therapie u. U. mehrere Jahre dauern.
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Kosten: Die Beratung ist kostenfrei im Rahmen der psychosozialen Betreuung (Sozialgesetzgebung), die Therapie ist eine Kassenleistung und muss beantragt werden.
•
Zugangsweg: Demzufolge ist bei der Beratung der Zugangsweg offen für jeden, das Angebot ist im Vergleich zur Therapie niederschwellig. Der Zugang zur Therapie erfolgt dagegen über ein Gutachten zur Therapiebedürftigkeit, welches von der Krankenkasse genehmigt werden muss.
•
Anwendungsfeld und Zielsetzung: Die Bezeichnung Psychotherapie (griech.: Heilen der Seele) steht als Oberbegriff für alle Formen psychologischer Verfahren, die ohne Einsatz medikamentöser Mittel stattfinden. Sie zielen auf die Behandlung psychischer und psychosomatischer Krankheiten, Leidenszustände oder Verhaltensstörungen ab und auf eine Veränderung und Entwicklung der Persönlichkeit. Damit haben sie einen kurativen (heilenden) Anspruch.Demgegenüber ist das Anwendungsfeld der psychosozialen Beratung erheblich weiter und umfasst zahlreiche Beratungsfelder der Pädagogik und der Sozialen Arbeit. Sie ist nicht auf Heilen ausgerichtet, sondern gibt relativ gesunden Menschen Hilfestellung bei der Auseinandersetzung mit allen Arten psychosozialer Schwierigkeiten, allgemeinen Lebensproblemen, kritischen Lebensereignissen, welche die Persönlichkeit »nicht zutiefst beeinträchtigen« (vgl. Engel et al. 2007, S. 38; Nestmann et al. 2007, S. 599; Großmaß, 2007, S. 100).
Außerdem ist psychosoziale Beratung nach Engel et al. (2007, S. 35) doppelt verortet: Sie hat nicht nur den Auftrag, anhand von professionellen Beratungsmethoden zu beraten; sie muss darüber hinaus gewünschte Informationen sachkundig erteilen.Da sich Beratung eher mit relativ ungestörten Personen befasst (Nußbeck, 2019, S. 22), liegt der Fokus bei der Beratung ausschließlicher auf der Stärkung von Ressourcen. Beratung findet häufig unter einem rehabilitativen Aspekt (Bewältigung von Krankheit, Kompensation von Behinderungen) oder einem präventiven (vorbeugenden) Aspekt statt: In letzterem Fall sollen durch Beratungsangebote Probleme erst gar nicht entstehen. Beratung kann aber auch kurativen Charakter haben und hat in diesem Fall die größte Nähe zur Psychotherapie.
Abb. 1.2:Stärkung von Ressourcen durch die Beraterperson (aus Biedermann, 1994, S. 23).
Merke
Psychosoziale Beratung und Psychotherapie bieten auf der Basis professioneller Konzepte Hilfestellung bei der Lösung von Problemen, der Bewältigung von Krisen und dem Aufbau von Ressourcen. Die Psychotherapie als Teil des medizinischen Versorgungssystems geht dabei von einem Krankheitsmodell aus, richtet ihr Augenmerk eher auf innerpsychische Probleme (Ausnahme: Familientherapie) und zielt auf eine Änderung der Person und ihres Verhaltens. Die psychosoziale Beratung findet in vielfältigsten Tätigkeitsfeldern statt; sie betont mehr den lebensweltlichen Kontext, in dem die Konflikte entstehen. Im Gegensatz zur Psychotherapie hilft sie zusätzlich konkret durch Informationsvermittlung und ist damit direktiver. Beide Konzepte setzen den Veränderungswillen der Ratsuchenden voraus; Veränderungen können nur auf der Basis einer vertrauensvollen Beziehung stattfinden.
In den letzten Jahren ist ein breites Spektrum von internetbasierten Interventionen entstanden, die noch weiteren Aufschwung durch die Corona-Pandemie 2019 – 2021 erhalten haben. Bei der Online-Beratung/-Therapie werden Interventionen überwiegend über das Medium Internet vermittelt. Beraterperson und Klientin befinden sich nicht in einem Raum (face to face), sondern sind per E-Mail, SMS, Chat, Telefon oder Videoschaltung verbunden. Diese Art des Kontakts wird auch als E-Mental-Health bezeichnet. Online-Beratung ist ein weit verbreitetes, niederschwelliges und kostenloses Angebot der Wohlfahrtsverbände im psychosozialen Bereich. Neben der schon lange existierenden Telefonseelsorge sind z. B. Familien- und Eheberatungsstellen, Pro-Familia und die Erziehungsberatungsstellen zu nennen. Inzwischen ist auch die Telefonseelsorge um Mail- und Chat-Seelsorge erweitert worden.
Die internetbasierten Interventionen können nach Berger, Klein und Moritz (2017) nach verschiedenen Kriterien eingeteilt werden. So können Online-Formate nach dem Ausmaß des Kontakts zur Therapeutenperson unterschieden werden. Ungeleitete Selbsthilfegruppen und Apps ohne Kontakt zur Therapeutenperson stehen einer Internet-Beratung oder -Therapie mit regelmäßigem Therapeutenkontakt analog zu einer traditionellen Therapie gegenüber. Beratungsprozesse können auch danach unterschieden werden, ob sie textbasiert sind und zeitverzögert ablaufen (Mail-Therapie) oder als Chat-Therapie synchron ablaufen.
Die Online-Beratung bietet im Vergleich zur face to face-Beratung/-Therapie sowohl Vor- als auch Nachteile. Ein wichtiger Unterschied der Online-Beratung zur face to face-Beratung ist die Anonymität. Das kann eine schnellere Offenlegung der eigenen Probleme bewirken und auch dabei helfen, stark tabuisierte Themen leichter anzusprechen. Weiterhin können die Anfragen und Problemschilderungen unabhängig von Öffnungszeiten erfolgen. Schüchterne Menschen mit sozialen Ängsten können Nähe und Distanz selbst steuern. Die Beratung ist unverbindlicher und kann schnell wieder abgebrochen werden. Eine face to face-Beratung/-Therapie kann aber auch in einen Online-Kontakt umgewandelt und dann als Blended-Format fortgeführt werden. Dies ist von großem Vorteil, z. B. im Fall einer Erkrankung der Klientin, einer Pandemie, wie sie etwa Corona dargestellt hat, und auch bei Umzug der Klientin in eine andere Stadt. Die große Reichweite von Online-Beratung bedeutet auch eine leichte Verbreitbarkeit etwa von Selbsthilfe-Programmen. Das ist besonders für Menschen in dünn besiedelten, ländlichen Gebieten von Vorteil.
In Bezug auf Psychotherapien ist zu diskutieren, ob eine Begegnung von Mensch zu Mensch in einem solchen Kontext überhaupt möglich ist. Nicht nur in einer Chat-Beratung, auch in einer Video-Beratung fehlen mitunter nonverbale Signale wie Mimik, Gestik, Blickkontakt oder sind zeitverzögert zu sehen. Es kann leichter zu Missverständnissen in der Kommunikation kommen oder die Internetverbindung kann in einem wichtigen Gesprächsmoment abreißen. All dies sind mögliche Hindernisse für einen empathischen, therapeutischen Umgang.
Die Anwendung von Online-Therapien hängt wesentlich von dem jeweiligen therapeutischen Konzept ab. Bei therapeutischen Ansätzen, für die die therapeutische Beziehung der zentrale Wirkfaktor ist und für die die Suche nach den Ursachen der Störung Vorrang hat, ist diese Form der Therapie kritisch zu sehen. Dazu zählen die Psychoanalyse und die Klientenzentrierte Therapie. Für die Verhaltenstherapie, die mit zahlreichen Interventionen im Rahmen von Hausaufgaben arbeitet, stellt diese Form der Kommunikation kein Problem dar (Justen-Horsten, 2018). Viele Online-Interventionen basieren daher auf Methoden der Kognitiven Verhaltenstherapie und sind störungsspezifisch angelegt. Sie sind darauf ausgerichtet, Klientinnen mit Depressionen oder mit Angststörungen zu behandeln. Verhaltenstherapeutinnen zeigen sich auch zufriedener mit Video-Therapie als anders ausgerichtete Therapeutenpersonen, die diese Form der Therapie eher als Notlösung empfinden (Gumz et al., 2021; Beck-Hiestermann et al., 2021; Ahn & Scheidt, 2023).
Einige zentrale Probleme der Online-Beratung/-Therapie sind noch nicht zufriedenstellend geklärt. So kann etwa die Vertraulichkeit der Daten durch unverschlüsselte Kommunikation über den privaten E-Mail-Account der Patientin gefährdet sein. Vertraulichkeit und Schweigepflicht gelten bei Online-Kontakten genauso wie bei face to face-Kontakten. Weiterhin ist es schwieriger, den äußeren Rahmen zu begrenzen. So können E-Mails noch spät abends gelesen und beantwortet werden. Vom Prinzip kann die Therapeutenperson 24 Stunden per E-Mail kontaktiert werden.
Die Wirksamkeit von Online-Therapie wurde in über 100 Studien wissenschaftlich nachgewiesen (Hedman et al., 2012). Meist wurden dabei jedoch Selbsthilfeprogramme mit konventionellen Therapien verglichen. Internetbasierte Interventionen, die Kontakt mit der Therapeutenperson beinhalten, haben sich in vielen Studien als wirksamer erwiesen als Selbsthilfeprogramme ohne Kontakt zur Therapeutenperson. Letztere weisen hohe Abbruchquoten auf (Berger et al., 2017).
Achtung: Liebe Leserin und lieber Leser: Dieses Kapitel fällt Ihnen leichter nach dem Studium der vier Ansätze!
Wie dargestellt, sind die Gemeinsamkeiten zwischen Beratung und Psychotherapie groß und die Übergänge fließend. Besonders, wenn Beratung unter dem kurativen Aspekt stattfindet, sind die Unterschiede gering.
Weder in der Literatur zur Familientherapie noch zur Verhaltenstherapie lassen sich Hinweise auf eine differentielle Indikation bezüglich Beratung und Therapie finden. Borg-Laufs (2007, S. 636) etwa betont die Gemeinsamkeiten hinsichtlich Beziehungsgestaltung, Technik und Durchführung zwischen verhaltensorientierter Beratung und Therapie. Allerdings lehnt er – im Einklang mit zahlreichen anderen Autoren – die Definition von Beratung als »kleine Therapie« ab und beschreibt Beratung vielmehr als erheblich weitergehend, da sie den lebensweltlichen Kontext zusätzlich stärker einbezieht. Die Bedingungen in der Umwelt, welche die Verhaltensprobleme verursachen und aufrechterhalten, müssen zusätzlich zu den individuellen Problemen verändert werden. Dies geschieht durch verhaltenstherapeutische Methoden und sozialarbeiterische Interventionen.
Beim psychoanalytischen Ansatz steht die Beziehung zwischen Beraterin und Klientin und die bewusste und unbewusste Wahrnehmung dieser Beziehung im Mittelpunkt. Die Beachtung dieser Beziehungserwartungen schließt nach Argelander (1985, S. 168) aber keineswegs die Hilfestellung bei schwierigen Lebenssituationen aus. Rauchfleisch bezeichnet diese gleichzeitige Berücksichtigung sowohl der inneren Dynamik als auch der sozialen Realität als »bifokales« Vorgehen (Rauchfleisch, 2004, S. 90). Genau wie in Psychotherapien entstehen auch in Beratungssituationen gefühlsmäßige Übertragungen auf die Beraterperson, die auf Konflikte mit frühen Bezugspersonen zurückzuführen sind und die mit der aktuellen Situation nur wenig zu tun haben. Die Beraterperson wird damit zu einer Projektionsfläche für Ängste, Wünsche und Konflikte, die frühen Bezugspersonen gelten. Bei der Beraterperson werden ebenfalls durch das Gegenüber Gefühle ausgelöst, was als Gegenübertragung bezeichnet wird (▸ Kap. 2.4.2, ▸ Kap. 2.4.4).
Warum ist die Beachtung dieser Übertragungsvorgänge und Gegenübertragungsvorgänge auch in einer Beratungssituation, die zeitlich befristet ist und oft nur der Informationserteilung dient, sinnvoll? Zunächst entlastet das Wissen um Übertragungsprozesse die Beraterperson, sie kann gelassener mit schwierigen Interaktionen in der Beratung umgehen (Rauchfleisch, 2006, S. 168). Viele Beziehungskonflikte zwischen Beraterperson und Klientin können als Ausdruck dieser Übertragungs- und Gegenübertragungsprozesse verstanden werden. Aufgrund des Verständnisses dieser Prozesse wird es möglich, mit Beziehungskonflikten konstruktiver umzugehen. Die Beachtung von Übertragungsphänomenen sollte in allen Beratungssituationen stattfinden, unabhängig vom theoretischen Modell. Ihre Beachtung kann Beratungsabbrüche verhindern, weil übertragungsbedingte Konflikte angesprochen und bearbeitet werden.
Der klassische klientenzentrierte Ansatz macht ebenfalls keinen Unterschied zwischen Beratung und Psychotherapie. Es hätte Rogers Grundeinstellung widersprochen, zwischen beiden Bereichen zu unterscheiden. Er betont vielmehr, dass die von ihm entwickelten Merkmale eines hilfreichen Gesprächs eine geeignete und hilfreiche Kommunikationsform für alle Lebensbereiche seien. Allerdings haben vereinzelt Autoren/innen versucht, das klientenzentrierte Beziehungsangebot in Bezug auf Beratung zu differenzieren und zu modifizieren (Sander, 2007; Biermann-Ratjen et al., 2016). Nach dem klientenzentrierten Therapiekonzept bestehen Störungen des Individuums aus einer Inkongruenz (Unvereinbarkeit) zwischen zwei inneren Tendenzen (▸ Kap. 3.3.1). Laut Sander (2007, S. 336 ff) geht es bei der Beratung dagegen eher um eine erlebte Inkongruenz zwischen Anforderungen aus der Umwelt und dem Eigenerleben. Dies ist z. B. der Fall, wenn Lebensereignisse als belastend wahrgenommen werden und gleichzeitig die eigenen Bewältigungskapazitäten als gering eingeschätzt werden. Bei der Beratung spielt also die Bearbeitung des Selbst der Klientin eine geringere Rolle als bei der Psychotherapie. Die Gesprächsthemen der klientenzentrierten Beratung sind demzufolge eher an den Belastungen der Außenwelt und an der Entwicklung von Handlungskompetenzen orientiert als das bei der klientenzentrierten Psychotherapie der Fall ist. Biermann-Ratjen et al. (2016, S. 242 ff) gehen einen Schritt weiter, wenn sie sogar einen Widerspruch zwischen der Rolle der Sozialarbeiterin und der klientenzentrierten Haltung herausarbeiten: Der öffentliche Auftrag, den die Sozialarbeiterin hat (z. B. ein Kind aus der Familie zu nehmen), verlangt von ihr Beurteilung, Kontrolle und Verwaltung. Diese Aufgabe begrenzt und widerspricht den klientenzentrierten Möglichkeiten.
Ebenfalls kann der Wunsch einer Klientin nach Informationen (finanzielle Ansprüche, Umgangsrecht usw. im Scheidungsfall) eine klientenzentrierte Haltung, etwa als Widerspieglung der Gefühle, unangemessen erscheinen lassen: Die Klientin möchte Informationen haben und sich nicht mit ihren Gefühlen auseinandersetzen. Möglicherweise verbirgt sich aber hinter dem Wunsch nach Informationen der Wunsch nach Unterstützung und Hilfestellung bei der psychischen Verarbeitung der Krisensituation. Empathie würde also in diesem Fall nicht das Widerspiegeln von Gefühlen bedeuten, sondern das Verstehen, was die Klientin wirklich will und das darauffolgende Eingehen auf diesen Wunsch. Die Aufgabe der Beraterin ist es also, das Beziehungsangebot der Klientin wahrzunehmen. Darüber hinaus muss sie sich selbst und ihre eigenen Gefühle in Bezug auf die Klientin wahrnehmen. Über diese Wahrnehmung der eigenen Gefühle erhält die Sozialarbeiterin Aufschluss darüber, was die Klientin will. Nur dann kann sie nach Bierman-Ratjen et al. (2003) angemessene Hilfsangebote finden. Nichts anderes meint die Psychoanalyse mit den Prozessen der Übertragung und Gegenübertragung.
Merke
Versuche, Psychotherapiekonzepte auf Beratungsmodelle zuzuschneiden, finden sich in der Literatur nur spärlich. Insbesondere das in der Sozialarbeit verbreitete klientenzentrierte Konzept bedarf aufgrund des weiten Handlungsfeldes einiger Modifikationen. So kann eine Sozialarbeiterin einer Beratungsstelle, die bei Entscheidungskonflikten Hilfestellung gibt, eher non-direktiv vorgehen als die Kollegin vom Allgemeinen Sozialdienst, die u. U. Entscheidungen ohne Zustimmung der Klientin treffen muss. In letzterem Fall ist der für eine Beratung nötige Vertrauensaufbau sehr erschwert. Einsichtsorientierte Verfahren eignen sich dann nur bedingt, da die Sozialarbeiterin ihre non-direktive Haltung verlassen muss. Umso zentraler ist die Beachtung des Beziehungskontextes in jedwedem Beratungskontext. Hier greift das Beziehungsmodell der Übertragung und Gegenübertragung aus der Psychoanalyse, welches auch in der klientenzentrierten Literatur vorgeschlagen wird. Je eher die Beratung kurativen Charakter hat, desto eher kann die Beraterin Methoden aus der Psychotherapie anwenden, sei sie psychoanalytisch, klientenzentriert, familientherapeutisch oder verhaltensorientiert ausgerichtet. Je mehr jedoch die psychosoziale Tätigkeit auch typische sozialarbeiterische Aufgaben umfasst, wie Informationsvermittlung oder das Treffen von Entscheidungen gegen den Willen der Klientin, desto eher ergeben sich beraterische und therapeutische Begrenzungen.
Mit dem Begriff Menschenbild wird die Vorstellung, das Bild, das jemand vom Wesen des Menschen hat, bezeichnet. Es enthält das Selbstbild und das Bild von anderen Menschen und besteht aus Annahmen und Überzeugungen über den Menschen, die nicht nachgewiesen sind. Zuschreibungen von Eigenschaften und Ursachen von Eigenschaften spielen dabei eine wichtige Rolle. Damit lässt sich das Menschenbild als eine subjektive Theorie, eine Alltagstheorie oder auch als Weltanschauung bezeichnen.
Menschenbilder sind »persönliche Theorien« (Fahrenberg, 2008, S. 11, S. 305), die im Gegensatz zu wissenschaftlichen Theorien weniger differenziert und ausgearbeitet sind; es sind keine wissenschaftlichen Erkenntnisse, die empirisch geprüft sind.
Auch Forscher und Forscherinnen haben ein subjektives Bild vom Menschen. Meist bildet dieses die Grundlage für Persönlichkeitstheorien, die sich z. B. fragen: Welches ist die grundlegende Natur des Menschen? Ist er ein irrationales, von unbewussten Trieben gesteuertes Wesen oder ist er selbst bestimmt und rational? Hat die Vergangenheit einen wesentlichen Einfluss auf sein gegenwärtiges Handeln oder ist der Mensch ausgerichtet auf die Zukunft? Ist sein Verhalten von der Umwelt abhängig und steuerbar oder entscheidet er selbst aufgrund von inneren Prozessen?
Alle psychologischen Theorien über den Menschen gehen davon aus, dass es wichtige Faktoren in seiner Umgebung oder innerhalb seines Organismus gibt, die sein Verhalten bestimmen. Extrempositionen, die heute nicht mehr in ihrer Ausschließlichkeit vertreten werden, nehmen Freud und Skinner ein. Während Skinner den Menschen als passives Opfer der Umwelt ansah, beschäftigte sich Freud ausschließlich mit dem, was im Inneren einer Person vorgeht. Sicher kann man sagen, dass die hier vorgestellten Menschenbilder, welche die Grundlage für die jeweilige Persönlichkeitstheorie und das jeweilige psychotherapeutische Konzept bilden, nicht ausschließlich gesehen werden können; sie stellen vielmehr Mosaikteile eines Gesamtbildes der Persönlichkeit dar.
Man kann mit Pervin (2005, S. 490) übereinstimmen, dass wir alle Persönlichkeitsforscher und -forscherinnen sind: Menschen entwickeln Theorien über Menschen und ihr Verhalten. Diese Theorien sind implizit, d. h. wir machen sie uns nicht bewusst, wir reflektieren sie nicht, sie bestimmen aber unser Verhalten. Unser individuelles Menschenbild ist biographisch begründet. Es entstammt unserer eigenen Lebenserfahrung und beruht letztlich auf den Erfahrungen mit bedeutsamen Bezugspersonen. Diese Erfahrungen sind verantwortlich für unsere Meinung über den Menschen und diese Meinung beweisen wir uns täglich selbst, indem wir ausschnitthaft nur das wahrnehmen, was in dieses Bild passt. Auch das Menschenbild einer Beraterperson stammt aus ihrer individuellen Lebenserfahrung, vielleicht wird es ergänzt durch die Berufserfahrung.
Es ist nun die Aufgabe der psychotherapeutisch/beraterisch und auch pädagogisch Tätigen, sich ihr eigenes handlungsleitendes Menschenbild, das sie als etwas ganz Selbstverständliches ansieht, bewusst zu machen und zu reflektieren. Die Reflektion über das eigene Menschenbild ist deshalb unerlässlich, weil es das professionelle Handeln bestimmt: Bin ich überzeugt davon, dass der Mensch ohne Anleitung und Kontrolle nicht zurechtkommt, weil er sonst seinen negativen Impulsen nachgibt, oder glaube ich an die positiven Wachstumskräfte im Menschen? Ein solches Nachdenken über das eigene Menschenbild führt zur Auseinandersetzung mit der eigenen Biographie, was aus weiteren Gründen sinnvoll ist: Als Beraterperson kann ich anderen Menschen nur soweit helfen, wie ich selbst mit der Lösung entsprechender Probleme in meinem eigenen Leben gekommen bin. Deshalb enthalten alle Curricula beraterischer und psychotherapeutischer Ausbildungen so genannte Selbsterfahrungseinheiten, die diese Auseinandersetzung mit sich selbst, dem eigenen Menschenbild und dem Selbstverständnis als Beraterperson ermöglichen.
Seit den 1960er Jahren (Frank, 1961) gibt es Forschungen zur Wirksamkeit von psychotherapeutischen Methoden. Wichtige Studien aus letzter Zeit stammen von Grawe (Grawe et al., 2001; Grawe, 1995, 1999, 2000, 2011). Einen Überblick über die Forschung bieten u. a. Hautzinger und Eckert (2007). Da Psychotherapie und Beratung, insbesondere, wenn es sich um kurative Beratung handelt, zahlreiche Überschneidungen aufweisen, wird im Folgenden davon ausgegangen, dass die Befunde zu Wirkfaktoren bei Psychotherapie auch auf Beratungsprozesse zutreffen.
Eine Richtung, die nach allgemeinen, den unterschiedlichen Psychotherapierichtungen zugrunde liegenden positiven Wirkfaktoren sucht, vertritt Frank (1961). Franks These lautet, dass es nicht die Techniken selbst sind, sondern die Funktionen, die sie entfalten, welche zu positiven Wirkungen führen. Demnach bietet der Therapiekontext laut Frank Lernchancen für neues Fühlen, Denken und Handeln. Er trägt zur Hoffnung auf Besserung bei, er gewährt Erfolgserlebnisse und eine vertrauensvolle Beziehung. Grawe entwickelte auf der Basis der Auswertung zahlreicher Psychotherapiestudien ein Modell genereller, psychotherapeutischer Wirkfaktoren. Sein Modell basiert ebenfalls auf der Idee, dass positive Wirkungen auf verschiedene Weise herbeigeführt werden können und sich deshalb die verschiedenen Psychotherapiekonzepte nicht ausschließen, sondern ergänzen. Er beschreibt folgende vier wesentliche Wirkfaktoren, wobei allerdings Zusammenhänge zwischen diesen Wirkfaktoren nicht erläutert werden:
In der Therapie sollen die vorhandenen positiven Möglichkeiten, Fähigkeiten, Motivationen der Klientin herausgestellt und genutzt werden Die Klientin soll sich in ihren positiven Seiten erfahren und in diesen bestärkt werden. Der Therapieerfolg hängt maßgeblich davon ab, ob und in welchem Ausmaß die Klientin ihre Therapeutin als unterstützend und den Selbstwert aufbauend erlebt. Der Blick auf die Ressourcen und nicht auf die Defizite findet sich insbesondere beim lösungsorientierten Ansatz und auch in der Familientherapie.
Hier wird die Klientin in der therapeutischen bzw. beraterischen Situation mit ihren Problemen konfrontiert, sie muss sich mit ihnen real auseinandersetzen. Ihr eigener Beitrag zur Entstehung des Problems wird thematisiert. Beim klientenzentrierten Ansatz geschieht dies, indem die emotionalen Erfahrungen der Klientin in Worte gefasst werden. In der Psychoanalyse werden die Probleme im Rahmen der Übertragung deutlich und im weiteren Verlauf thematisiert. In der Verhaltenstherapie setzt die Klientin sich mit ihren Problemen auseinander, indem sie mit realen Angstauslösern konfrontiert wird.
Die Klientin erfährt, dass sie etwas bewältigen und etwas bewirken kann. Hiermit sind konkrete Hilfen gemeint, wie sie die Verhaltenstherapie anbietet (Angstreduktionsmaßnahmen, Verstärker). Grawe (2011) bezeichnet das als bewältigungsorientierte Hilfe. Auch in der klientenzentrierten Therapie erfährt die Klientin, dass sie etwas bewirken kann, z. B. löst sie Empathie beim Gegenüber aus. In der Thematisierung der Gegenübertragung vermittelt die psychoanalytisch ausgerichtete Therapeutin ihre emotionale Reaktion, nämlich das, was die Klientin bei ihr ausgelöst hat.
Damit ist die Auseinandersetzung mit den Gründen für die Symptome, das Verhalten und Erleben der Klientin gemeint. Es geht weiterhin um die Klärung der Bedeutung, die das Symptom für die Klientin hat. Dieser Aspekt ist insbesondere bei den psychoanalytischen Richtungen, aber auch beim klientenzentrierten Ansatz zentral. Grawe bezeichnet diese Vorgehensweise als klärungsorientiert.
Als weiteren Wirkfaktor, der zugleich als der bedeutsamste angesehen wird und die vier Wirkfaktoren umschließt, nennt Grawe die therapeutische Beziehung (vgl. auch Lammers & Schneider, 2009). Die therapeutische Beziehung ist inzwischen einer der am häufigsten untersuchten Wirkfaktoren von Psychotherapie/Beratung. Eine erfolgreiche Therapie ist zu bedeutsamen 30 % auf die therapeutische Beziehung zurückzuführen, während nur 15 % des Erfolgs auf therapeutischen Strategien beruhen (Norcross, 2011). Manche Psychotherapeutinnen – unabhängig von ihrer Ausbildungsrichtung – sind erfolgreicher als andere, was wiederum wahrscheinlich in hohem Maße mit der gelungenen Beziehung zu der Klientin/dem Klienten zu tun hat und in geringerem Maße auch mit positiven Erwartungen auf Seiten der Klientin, nicht aber mit speziellen Techniken (Wampold & Imel, 2015).
Die große Bedeutung einer gelungenen Therapeut-Klient-Beziehung für den Erfolg der Therapie haben sowohl der psychoanalytische als auch der klientenzentrierte Ansatz seit Langem erkannt. Bei beiden ist der Beziehungsaspekt von zentraler Bedeutung.
Das Modell nach Grawe stellt zwar zentrale Wirkmechanismen zusammen, macht allerdings keine Aussage darüber, bei welchen Störungen welcher der vier Faktoren besonders wirksam ist. Beherzigt man den Befund, dass der Beziehungsaspekt das zentrale Vehikel für den therapeutischen Erfolg ist, dann ist die Anwendung bestimmter Techniken als sekundär anzusehen und nur insoweit wirksam, wie die therapeutische Beziehung funktioniert. Das Passungsmodell von Hautzinger und Eckert (2007, S. 24) spiegelt den Zusammenhang von Wirkfaktoren und Beziehungsaspekt sowie Zusammenhänge zwischen den Wirkfaktoren wider (▸ Abb. 1.3).
Demnach ist es möglicherweise für die Klientin gar nicht ausschlaggebend, welche Art von Therapie oder Beratung sie macht. Vielmehr ist für eine erfolgreiche Therapie dann das « Passungsproblem« entscheidender: Wie gut passen Therapeutin und Klientin zusammen? Erst als zweites stellt sich die Frage: Wie gut passt die spezielle Therapiemethode zu der speziellen Klientin?
Abb. 1.3:Wirkfaktoren und Passungen im therapeutisch/beraterischen Prozess (Reprinted by permission of Springer Nature: Springer, Wirkfaktoren und allgemeine Merkmale der Psychotherapie by M. Hautzinger, J. Eckert © 2007)
Merke
Die Diskussion um allgemeine Wirkfaktoren im Rahmen von Psychotherapie und Beratung macht deutlich, dass ein schulenspezifisches Denken nicht mehr zeitgemäß ist. Wirkungsvolle Therapien setzen eine Therapeutin/Beraterin voraus, die Ressourcen wahrnimmt und fördert, die sich mit Störungen auskennt, die weiterhin Ursachen für die Störungen berücksichtigt, klärungs- und bewältigungsorientiert arbeitet und überdies und zuallererst eine Expertin für Beziehungsaspekte ist. Allerdings bleiben zahlreiche Fragen gegenwärtig noch offen: Welche der Wirkfaktoren wirken bei welchen Klienten/innen mit welcher Störung und in welcher Kombination mit welchen anderen Wirkfaktoren am besten?
So unerlässlich also eine gute Passung zwischen Therapeuten- und Klientenperson mit den zentralen Merkmalen Vertrauen und empathische Einfühlung (vgl. dazu insbesondere ▸ Kap. 3.4.1) für den Therapieerfolg ist, so schädliche Auswirkungen hat eine misslingende Beziehung. Die Therapeutenperson selbst wird dann zum Risikofaktor für eine gelingende Beratung/Therapie. Schleu (2017, S. 36 f) analysierte Beschwerden von Klienten und Klientinnen an den Ethikverein und stellt Empathieversagen im Sinne fehlender Wertschätzung, Entwertungen, emotionaler Kälte und mangelnder Einfühlung als Begleit- oder sogar Kernmerkmal aller Beschwerden heraus. Neben fehlender Empathie werden mangelnde Selbstkritik, dominantes Verhalten, narzisstische Größenfantasien und vielfältige Formen der Grenzüberschreitung auf Seiten der Therapeutenperson als gravierende therapeutische Fehler genannt (Castonguay et al., 2010). Ein weiteres Merkmal einer misslingenden Psychotherapie/Beratung, die in der Therapeutenperson begründet liegt, sind massive eigene Probleme, die nicht bearbeitet werden. Die Leitlinien der Psychotherapievereine (vgl. Schleu, 2017, S. 27) beinhalten Regeln zur Aufklärungspflicht, zum Machtmissbrauch, zur Verantwortung zur eigenen Fortbildung und Supervision und zur Abstinenz der Therapeutenperson. Werden diese Regeln in der Therapie verletzt, prüft der Ethikverein den speziellen Fall. Schleu hat zahlreiche Fallbeispiele zusammengestellt, anhand derer sie therapeutische Fehler, die in der Regel Grenzverletzungen darstellen, verdeutlicht (Schleu 2017, S. 23 ff; Schleu & Hillebrand, 2016, S.764 ff). Je nach Schweregrad ordnet sie diese in »Yellow Flag»- und »Red Flag«-Fehler ein (vgl. Schleu, 2017, S. 63). Die rote Fahne muss z. B. gehisst werden bei grenzverletzender Rahmenbedingung der Therapie/Beratung wie etwa der fehlenden Aufklärung über die Dauer der Therapiesitzung. Auch eine fehlende schriftliche Dokumentation des Therapieverlaufs oder eine Verletzung der Schweigepflicht gehört dazu. Ökonomische Grenzverletzung liegt vor, wenn Klienten/innen mehr bezahlen als das Honorar der Krankenkasse beträgt oder wenn sie zusätzliche Arbeiten als Gärtner oder Putzhilfe für die Therapeutenperson verrichten (Schleu 2017, S. 39 ff). Als soziale Grenzverletzung wird der Kontakt zwischen Therapeut/in und Klient/in außerhalb der Therapie bezeichnet. Dazu gehören etwa Treffen im Café, der Besuch desselben Fitnesscenters oder der Verkauf einer Immobilie an die Klientin. Die gravierendste Grenzverletzung stellt der sexuelle Missbrauch dar, der ein Straftatbestand ist. Aber auch alle subtileren sexuellen Grenzverletzungen, die keine Straftat im engeren Sinne darstellen, richten therapeutisch großen Schaden an. Alle hier beschriebenen Grenzverletzungen sind »Rote Fahnen«-Fehler. Da auch Psychotherapeuten/innen verletzlich sind, ihre eigenen Grenzen nicht immer kennen und schwere Belastungen im Verlauf ihres eigenen Lebens erleben und verarbeiten müssen, muss mit therapeutischen Fehlern trotz qualifizierter Ausbildung immer gerechnet werden. Es sollte deshalb für psychotherapeutisch und beraterisch Tätige eine professionelle Selbstverständlichkeit sein, sich regelmäßig mit dem eigenen Verhalten und den eigenen Problemen therapeutisch und im Rahmen von Supervision auseinanderzusetzen. Auf diese Weise können sie sich selbst vor dem Begehen und ihre Klienten vor dem Erleiden schwerer Fehler schützen.
Verständnisfragen
•Arbeiten Sie einige wesentliche Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen Psychotherapie und psychosozialer Beratung heraus.
•Was ist mit dem Begriff »Menschenbild« gemeint?
•Nennen Sie grundlegende Wirkfaktoren von Psychotherapie und Beratung.
•Welche Passungsprobleme beeinflussen den Erfolg einer Psychotherapie/Beratung?
Kritisch denken!
•Reflektieren Sie Ihr eigenes Menschenbild. Welche Haltung haben Sie Ihren Mitmenschen gegenüber?
•Was ist Ihre persönliche Überzeugung? Ist die Anwendung spezieller Techniken oder die Beziehung zur/zum Klientin/en bedeutsamer für den psychotherapeutischen Erfolg? Begründen Sie Ihre Meinung.
Abb. 2.1:Freud mit seiner Tochter Anna
Freud (1856 – 1939) wurde als erstes von sieben Kindern einer jüdischen Kaufmannsfamilie im heutigen Tschechien geboren. Angeblich trug er bei seiner Geburt eine »Glückshaube« (ein Teil der Fruchtblase befand sich auf Freuds Kopf), worauf der Mutter prophezeit wurde, dass sie der Welt einen großen Mann geschenkt habe.
1860 zog die Familie nach Wien, wo Freud fast sein ganzes Leben verbrachte. Er studierte zunächst Medizin. Nach Fortbildungen in Physiologie und Psychiatrie machte er sich einen Namen auf dem Forschungsgebiet der zerebralen Kinderlähmung und der Aphasien. Ursprünglich hatte Freud den Wunsch, Wissenschaftler zu werden; seine Professur an der Wiener Universität wurde aber aus persönlichen und rassistischen Gründen etwa ein Jahrzehnt lang verschleppt. Freud eröffnete daraufhin eine Praxis als Nervenarzt und verbrachte ein Forschungssemester bei dem weltberühmten Psychiater Charcot in Paris, der seine Patientinnen mit Hypnose behandelte. Hier begannen Freuds erste Schritte in eine Richtung, die ihn in den folgenden Jahrzehnten wissenschaftlich und gesellschaftlich immer mehr isolieren sollte. Charcot arbeitete mit so genannten hysterischen Patientinnen, bei denen keinerlei organische Ursachen für ihre vielfältigen körperlichen Symptome gefunden werden konnten. Er versetzte sie in Hypnose und gab ihnen Aufträge, die den Krankheitszustand nach der Hypnose für einige Zeit verbesserten. Nach Freud lag bei diesen Patientinnen offensichtlich eine ungehemmte Herrschaft einer inneren Kraft vor, die ihren Ausdruck in einer körperlichen Symptomatik fand. Für diese Kraft prägte er später den Begriff des Unbewussten. Solche Gedankengänge waren für Freuds Wiener Kollegen nicht nur unseriös, sondern unvorstellbar, da Freud von Krankheiten sprach, denen die biologische Basis fehlte.
Zurück in Wien arbeitete Freud zunächst mit der Hypnose, wandte sich aber bald einer neuen Methode zu, einer Technik, die er von seinem Freund Breuer, einem Internisten, gelernt hatte. Diese « talking cure« (Redekur) bestand darin, die Patientin lange und intensiv aussprechen zu lassen. Das hatte oft heilende Wirkung auf die Symptome der « Hysterikerinnen«, die sowohl Breuer als auch Freud aufsuchten wegen verschiedener Leiden wie etwa Lähmungen, Blindheit oder Ohnmachtsanfällen, für die kein organisches Korrelat zu finden war und die deshalb von den Hausärzten nicht eingeordnet werden konnten. Nach Breuer hatte das Aussprechen eine heilende, eine kathartische (reinigende) Wirkung. Im Gegensatz zu Breuer interessierte sich Freud für die Inhalte des Erzählten. Die Interpretation dessen und auch der Lebensgeschichte seiner Patientinnen brachte ihn immer mehr zu der Erkenntnis von der zentralen Bedeutung der Sexualität in der Persönlichkeitsentwicklung