Enuresis - Alexander von Gontard - E-Book

Enuresis E-Book

Alexander von Gontard

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Beschreibung

Enuresis gehört zu den häufigsten Störungen des Kindes- und Jugendalters und ist mit einem hohen Leidensdruck für die Betroffenen verbunden. Es lassen sich verschiedene Subtypen des Einnässens identifizieren, die sich in der Behandlung deutlich unterscheiden. Die Neubearbeitung des Bandes vermittelt die von deutschen und internationalen Fachgesellschaften und Arbeitsgruppen geforderten Standards in der Diagnostik und Therapie von Enuresis. Der Band fasst zunächst den aktuellen Stand der Forschung hinsichtlich Klassifikation, Kormorbidität, Ätiologie, Pathogenese und Behandlung zusammen. Anschließend stellt der Band anhand von Leitlinien praxisorientiert das Vorgehen bei der Diagnostik und Verlaufskontrolle, Behandlungsindikation sowie bei der Therapie vor. Dabei wird die Bedeutung und Wirksamkeit von nicht pharmakologischen Interventionen bei Kindern mit Ausscheidungsstörungen betont und das Vorgehen in der Standardurotherapie sowie der speziellen Urotherapie veranschaulicht. Auch neue therapeutische Konzepte, wie Schulungsprogramme für Kinder und Jugendliche mit Therapieresistenz und die transkutane elektrische nervale Stimulation (TENS), werden dargestellt. Zahlreiche Materialien, die sich in der Diagnostik des Einnässens sowie in der Urotherapie bewährt haben, werden zur Verfügung gestellt und erleichtern die Umsetzung der Leitlinien in die klinische Praxis.

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Alexander von Gontard

Enuresis

3., vollständig überarbeitete Auflage

Leitfaden Kinder- und Jugendpsychotherapie

Band 4

Enuresis

Prof. Dr. Alexander von Gontard

Herausgeber der Reihe:

Prof. Dr. Manfred Döpfner, Prof. Dr. Dr. Martin Holtmann, Prof. Dr. Franz Petermann

Begründer der Reihe:

Manfred Döpfner, Gerd Lehmkuhl, Franz Petermann

Prof. Dr. med. Alexander von Gontard, geb. 1954. Facharzt für Kinderheilkunde, Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapeutische Medizin. Seit 2003 Direktor der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie des Universitätsklinikums des Saarlandes und dort Leiter einer Spezialambulanz für Ausscheidungsstörungen. Forschungsschwerpunkt: Ausscheidungsstörungen bei Kindern und Jugendlichen.

Die erste und zweite Auflage des Buches sind unter der Autorenschaft von Alexander von Gontard und Gerd Lehmkuhl erschienen.

Wichtiger Hinweis: Der Verlag hat gemeinsam mit den Autoren bzw. den Herausgebern große Mühe darauf verwandt, dass alle in diesem Buch enthaltenen Informationen (Programme, Verfahren, Mengen, Dosierungen, Applikationen, Internetlinks etc.) entsprechend dem Wissensstand bei Fertigstellung des Werkes abgedruckt oder in digitaler Form wiedergegeben wurden. Trotz sorgfältiger Manuskriptherstellung und Korrektur des Satzes und der digitalen Produkte können Fehler nicht ganz ausgeschlossen werden. Autoren bzw. Herausgeber und Verlag übernehmen infolgedessen keine Verantwortung und keine daraus folgende oder sonstige Haftung, die auf irgendeine Art aus der Benutzung der in dem Werk enthaltenen Informationen oder Teilen davon entsteht. Geschützte Warennamen (Warenzeichen) werden nicht besonders kenntlich gemacht. Aus dem Fehlen eines solchen Hinweises kann also nicht geschlossen werden, dass es sich um einen freien Warennamen handelt.

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Hogrefe Verlag GmbH & Co. KG

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Deutschland

Tel. +49 551 999 50 0

Fax +49 551 999 50 111

[email protected]

www.hogrefe.de

Satz: Beate Hautsch, Göttingen

Format: EPUB

3., vollständig überarbeitete Auflage 2018

© 2002, 2009 und 2018 Hogrefe Verlag GmbH & Co. KG, Göttingen

(E-Book-ISBN [PDF] 978-3-8409-2934-2; E-Book-ISBN [EPUB] 978-3-8444-2934-3)

ISBN 978-3-8017-2934-9

http://doi.org/10.1026/02934-000

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Diese Bestimmungen gelten gegebenenfalls auch für zum E-Book gehörende Audiodateien.

Anmerkung:

Sofern der Printausgabe eine CD-ROM beigefügt ist, sind die Materialien/Arbeitsblätter, die sich darauf befinden, bereits Bestandteil dieses E-Books.

Zitierfähigkeit: Dieses EPUB beinhaltet Seitenzahlen zwischen senkrechten Strichen (Beispiel: |1|), die den Seitenzahlen der gedruckten Ausgabe und des E-Books im PDF-Format entsprechen.

|V|Einleitung: Grundlagen und Aufbau des Buches

Enuresis gehört zu den häufigsten Störungen des Kindes- und Jugendalters und ist mit einem hohen subjektiven Leidensdruck für die Betroffenen verbunden. Neuere Forschungsergebnisse haben zeigen können, dass die bisherige Einteilung nach Tageszeit – nachts, tags oder nachts und tags – und nach dem Vorliegen einer trockenen Periode – primär: bisher noch nie länger trocken gewesen; sekundär: Rückfall nach einem trockenen Intervall, üblicherweise von mindestens 6 Monaten – nicht ausreicht. Es lassen sich viele verschiedene Subtypen des Einnässens unterscheiden, die sich hinsichtlich der Ätiologie, der Pathogenese, der psychischen Komorbidität und vor allem der Behandlung deutlich unterscheiden. Diese Vielfalt an „Syndromen“ des Einnässens spiegelt sich in dem Klassifikationssystem der International Children’s Continence Society (ICCS) wider, welches vor kurzem ergänzt und revidiert wurde (Austin et al., 2016). Obwohl für die verschiedenen Subformen des Einnässens empirisch begründete, effektive Behandlungsmethoden vorliegen, werden diese aufgrund therapeutischer Vorlieben und Vorurteile oft nicht eingesetzt. Man muss deshalb auch heutzutage feststellen, dass viele Kinder mit einer Einnässproblematik überhaupt nicht oder mit nicht effektiven Maßnahmen behandelt werden.

Der hier vorliegende vierte Band der Reihe „Leitfaden Kinder- und Jugendpsychotherapie“ erscheint in einer dritten Auflage und versucht, diese Lücke zu schließen. Er ist praxis- und therapieorientiert konzipiert und basiert auf dem aktuellen Stand der empirisch gesicherten Kenntnisse und den klinischen Erfahrungen. Insofern soll er ärztlichen und psychologischen Psychotherapeuten sowie Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeuten helfen, die von den deutschen und internationalen Fachgesellschaften und Arbeitsgruppen geforderten Standards in Diagnostik und Therapie umzusetzen. Während in der vorherigen 2. Auflage eine kleinere Überarbeitung vorgenommen wurde, wurde in der jetzigen 3. Auflage eine umfassende Überarbeitung notwendig aus mehreren Gründen:

Zum einen hat gerade in den letzten acht Jahren eine zunehmende Forschungsaktivität über Ausscheidungsstörungen stattgefunden, die sich in vielen, vor allem englischsprachigen Veröffentlichung niedergeschlagen hat. Diese wichtigen Entwicklungen der letzten Jahre werden in diesem Band integriert.

Zum anderen wurde 2015 eine neue Leitlinie zur „Enuresis und nicht organischen (funktionellen) Harninkontinenz bei Kindern und Jugendlichen“ verabschiedet und bei der AWMF (Arbeitsgemeinschaft der wissenschaftlichen medizinischen Fachgesellschaften) veröffentlicht (Kuwertz-Bröking & von Gontard, 2015). Besonders zu betonen ist, dass diese Leitlinien im interdisziplinären Konsens und auf einer höheren Stufe der Evidenz (S2k) als die bisherigen Leitlinien (S1) entwickelt wurden. Die Empfehlungen in diesem Leitfaden beruhen auf dieser aktuellen Leitlinie.

Diese Leitlinie betont die Bedeutung und Wirksamkeit von nicht pharmakologischen Interventionen bei Kindern mit Ausscheidungsstörungen, die international unter dem Sammelbegriff „Urotherapie“ zusammengefasst werden. Neben der Standardurotherapie wird eine spezielle Urotherapie differenziert, die beide viele Elemente der Beratung, Psychoedukation, Informationsvermittlung und Verhaltenstherapie integriert haben. In anderen europäischen Ländern ist die Professionalisierung der Urotherapie weiter fortgeschritten als in Deutschland.

Ferner wurden von der International Children’s Continence Society (ICCS), der international führenden Gesellschaft zu Ausscheidungsstörungen bei Kindern, nicht nur die Standardisierung und Definitionen der Störungen neu bearbeitet (Austin et al., 2016), sondern darüber hinaus eine Vielzahl an speziellen Dokumenten mit praxisrelevanten Empfehlungen veröffentlicht, die im jeweiligen Kontext in diesem Leitfaden erläutert werden.

|VI|Eine weitere wichtige Neuerung war die Entwicklung von Schulungsprogrammen für Kinder und Jugendliche mit therapieresistenten Formen der Enuresis und der Harninkontinenz (Equit et al., 2013a, 2015). Diese Ergänzung des therapeutischen Repertoires ist wichtig, da somit Patienten, die nicht auf die Standardtherapie ansprechen (die immer zuerst erfolgen soll), eine wirksame ambulante Therapieoption geboten wird. Erste Untersuchungen haben gezeigt, dass sich bei vielen bisher therapieresistenten Kindern nicht nur Trockenheit, sondern auch eine Reduktion von Verhaltenssymptomen erreichen lässt. Dadurch können fast alle Kinder ambulant behandelt werden – und die Indikation zu einer teilstationären oder sogar stationären Behandlung muss immer seltener gestellt werden.

Zuletzt hat sich die Praxis der Diagnostik und Therapie von Ausscheidungsstörungen im Laufe der Jahre optimiert. Manche neuen Materialien haben sich im Alltag bewährt, während andere nicht wesentlich zur Behandlung beitragen. Ein Ziel dieses überarbeiteten Leifadens war es deshalb auch, entbehrliche Materialien aus früheren Ausgaben zu streichen und sich auf die wichtigen, praxisrelevanten zu konzentrieren.

Als Störung mit einer körperlichen Primärsymptomatik (dem Einnässen) und einer deutlich erhöhten somatischen Komorbidität ist es unerlässlich, dass alle einnässenden Kinder kinderärztlich untersucht und die begleitenden Symptome (wie Harnwegsinfekte) mitbehandelt werden. Die vollständige medizinische und psychiatrische Literatur zum Thema Einnässen wurde erstmals in der Monographie „Management of disorders of bladder and bowel control in childhood“ (von Gontard & Nevéus, 2006) umfassend dargestellt. Das neueste internationale Standardlehrbuch zu dem Thema ist „Pediatric Incontinence – evaluation and clinical management“ (Franco et al., 2015). Es darf für weiterführende Hinweise und Literatur auf diese Monographien verwiesen werden.

Ein Ziel dieses Bandes ist es, eine praxisorientierte Therapieanweisung für ärztliche und nicht ärztliche Therapeuten zusammenzustellen. Der Schwerpunkt liegt dabei eindeutig auf den Materialien zur Diagnostik und Therapie, die in der Spezialambulanz für Ausscheidungsstörungen an der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie, Universitätsklinikum des Saarlandes, seit 2003 entwickelt wurden.

Wie bei den bisherigen Bänden in dieser Reihe beruhen die Empfehlungen auf den Leitlinien zur „Enuresis und nicht organischen (funktionellen) Harninkontinenz bei Kindern und Jugendlichen“ der AWMF (Kuwertz-Bröking & von Gontard, 2015), an der auch die Deutsche Gesellschaft für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie zusammen mit den kinder- und jugendpsychiatrischen, kinder- und jugendmedizinischen und urologischen Berufsverbänden beteiligt waren.

Der Leitfaden unterteilt sich in insgesamt fünf Kapitel:

1 Im ersten Teil des Buches wird der Stand der Forschung hinsichtlich der Symptomatik, der Komorbidität, der Pathogenese, des Verlaufs und der Therapie in den für die Formulierung der Leitlinien relevanten Aspekten zusammenfassend dargestellt. Es wird auf selektierte, wichtige Literaturstellen hingewiesen.

2 Im zweiten Teil werden die Leitlinien zu folgenden Bereichen formuliert und ihre Umsetzung in die klinische Praxis dargestellt: Diagnostik und Verlaufskontrolle; Behandlungsindikation; Therapie.

3 Im dritten Kapitel werden Verfahren kurz beschrieben, die für die Diagnostik, die Verlaufskontrolle und Behandlung eingesetzt werden können.

4|VII| Das vierte Kapitel enthält ausführliche Materialien zur Diagnostik und Therapie und stellt damit einen Schwerpunkt dieses Bandes dar. Diese Materialien können in der vorliegenden Form kopiert und direkt eingesetzt oder entsprechend modifiziert werden.

5 Im fünften Kapitel wird für jede Subform der Enuresis ein Fallbeispiel angeführt, das die Umsetzung der Leitlinien in die klinische Praxis illustriert. Der Schwerpunkt der Behandlung liegt dabei auf einem symptomorientierten, verhaltenstherapeutischen Vorgehen. Ein abschließender, längerer Fall soll dagegen verdeutlichen, dass bei einer entsprechenden Komorbidität ein symptomorientiertes Vorgehen nicht immer ausreicht, sondern durch andere therapeutische Interventionen ergänzt werden muss.

Beim Einnässen handelt es sich nicht um eine einheitliche Störung, sondern um klinisch und ätiologisch unterschiedliche Syndrome, die jeweils getrennt behandelt werden müssen. Deshalb wird zur übersichtlichen Orientierung in den meisten Abschnitten folgendes Schema beibehalten:

Enuresis nocturna (nächtliches Einnässen):

Gegebenenfalls mit den Subformen:

Primäre Enuresis nocturna (PEN)

Primäre monosymptomatische Enuresis nocturna (PMEN)

Primäre nicht monosymptomatische Enuresis nocturna (PNMEN)

Sekundäre Enuresis nocturna (SEN)

Sekundäre monosymptomatische Enuresis nocturna (SMEN)

Sekundäre nicht monosymptomatische Enuresis nocturna (SNMEN)

Nicht organische (funktionelle) Harninkontinenz (Einnässen tags)

Gegebenenfalls mit den Subformen:

Dranginkontinenz (DI)

Harninkontinenz bei Miktionsaufschub (MA)

Detrusor-Sphinkter-Dyskoordination (DSD)

seltene Formen

Außerdem wird dieser Band durch den kompakten „Ratgeber Einnässen“ (von Gontard & Lehmkuhl, 2012) ergänzt, der Informationen für Betroffene, Eltern, Lehrer und Erzieher enthält. Der Ratgeber informiert kurz über die Symptomatik, Ursachen, den Verlauf und Behandlungsmöglichkeiten bei Kindern, die nachts wie auch tags einnässen. Dieser Ratgeber liegt nun auch in englischer Sprache vor (von Gontard, 2016a).

Danken möchte ich in diesem Zusammenhang allen ärztlichen und nicht ärztlichen Kollegen, die im Laufe der Jahre im Rahmen der Spezialambulanz für Ausscheidungsstörungen in Homburg zu der Entwicklung der hier dargestellten Empfehlungen beigetragen haben.

Inhaltsverzeichnis

Einleitung: Grundlagen und Aufbau des Buches

1 Stand der Forschung

1.1 Klassifikation, Untergruppen und Symptomatik

1.1.1 Klassifikationen nach ICD-10 und DSM-5

1.1.2 Neue ICCS-Klassifikation

1.1.3 Prävalenz

1.1.4 Differenzialdiagnose

1.2 Komorbide Störungen

1.2.1 Komorbide psychische Störungen

1.2.2 Kormorbide somatische Störungen

1.2.3 Komorbides Einkoten (Enkopresis) und Obstipation

1.3 Pathogenese

1.3.1 Genetik

1.3.2 Neurobiologische Befunde

1.3.3 Neuroendokrinologische Befunde

1.3.4 Urodynamische Befunde

1.3.5 Psychosoziale Faktoren

1.4 Verlauf

1.5 Therapie

1.5.1 Verhaltenstherapeutische Interventionen

1.5.2 Pharmakotherapie

1.5.3 Multimodale Therapie

1.5.4 Schulungsprogramme

1.5.5 Andere Therapien

2 Leitlinien

2.1 Leitlinien zur Diagnostik und Verlaufskontrolle

2.1.1 Exploration der Eltern

2.1.2 Exploration des Kindes

2.1.3 Fragebogen und Protokolle

2.1.4 Testpsychologische Untersuchung

2.1.5 Körperliche Untersuchung

2.1.6 Spezielle Diagnostik

2.1.7 Verlaufskontrolle

2.2 Leitlinien zur Behandlungsindikation

2.2.1 Standardurotherapie

2.2.2 Apparative Verhaltenstherapie (AVT)

2.2.3 Kombinationsbehandlungen

2.2.4 Transkutane elektrische Nervenstimulation (TENS)

2.2.5 Medikamentöse Behandlungsansätze

2.2.6 Kombinierte Behandlungsansätze

2.2.7 Schulungsprogramme

2.2.8 Teilstationäre oder stationäre Therapie

2.2.9 Entbehrliche Therapiemaßnahmen

2.3 Leitlinien zur Therapie

2.3.1 Beratung der Eltern und des Kindes/des Jugendlichen (Standardurotherapie)

2.3.2 Operante verhaltenstherapeutische Ansätze

2.3.3 Apparative Verhaltenstherapie (AVT)

2.3.4 Kombinationsbehandlungen

2.3.5 Biofeedback-Verfahren

2.3.6 Transkutane elektrische Nervenstimulation (TENS)

2.3.7 Medikamentöse Behandlungsansätze

2.3.8 Schulungsverfahren

2.3.9 Therapie bei den verschiedenen Unterformen der Enuresis

3 Verfahren zur Diagnostik und Therapie

3.1 Elterninformationen

3.2  Anamneseleitfaden

3.3 Elternfragebogen

3.4 Körperschemata

3.5 Kinderfragebogen

3.6  Beobachtungsbogen und -protokolle sowie Verlaufsbogen

3.7 Informationsblätter für Kinder

4 Materialien

5 Fallbeispiele

5.1 Primäre monosymptomatische Enuresis nocturna

5.2 Primäre nicht monosymptomatische Enuresis nocturna mit Miktionsaufschub

5.3 Dranginkontinenz

5.4 Harninkontinenz bei Miktionsaufschub

5.5 Detrusor-Sphinkter-Dyskoordination

5.6 Fallbeispiel eines komplizierten Verlaufes

6 Literatur

|1|1 Stand der Forschung

1.1 Klassifikation, Untergruppen und Symptomatik

Allgemein kann die Enuresis als ein unwillkürlicher Harnabgang ab einem Alter von 5 Jahren nach Ausschluss organischer Ursachen definiert werden. Diese Definition findet sich in den beiden gängigen Klassifikationsschemata, der ICD-10 der Weltgesundheitsorganisation (WHO/Dilling et al., 2016; Remschmidt et al., 2001) und des DSM-5 der amerikanischen Psychiatrie-Gesellschaft (American Psychiatric Association, 2013; American Psychiatric Association/Falkai et al., 2015). In beiden Diagnoseschemata wird die Enuresis als psychische Störung und nicht als Entwicklungsstörung oder körperliche Erkrankung klassifiziert, was in dem Zusatz „nicht organische Enuresis“ (ICD-10-Forschungskriterien; WHO/Dilling et al., 2016) ausgedrückt wird.

Tabelle 1: Klassifikation der Enuresis nach DSM-5 und ICD-101

DSM-5

ICD-10 Klinische Kriterien

Name

Enuresis

Enuresis F98.0

Definition

wiederholter, willkürlicher und unwillkürlicher Urinabgang

unwillkürlicher Harnabgang (nach ICD-Forschung: auch willkürlich)

Alter

chronologisches Alter: 5 Jahre (oder gleichwertige Entwicklungsstufe)

chronologisch: 5 Jahre; geistiges Intelligenzalter: 4 Jahre

Häufigkeit

mindestens zweimal/Woche oder bedeutsames Leiden und Beeinträchtigung in sozialen, schulischen und sonstigen Funktionsbereichen

nicht angegeben (ICD-Forschung: zweimal/Monat < 7 Jahre; einmal/Monat > 7 Jahre)

Dauer

mindestens 3 konsekutive Monate

nicht angegeben (ICD-Forschung: 3 Monate)

Ausschlusskriterien

körperliche Erkrankung (Diabetes, Spina bifida, Epilepsie oder Wirkung einer Substanz wie Diuretikum, Antipsychotikum)

Epilepsie, neurologische Inkontinenz, strukturelle Veränderungen des Harntraktes, medizinische Erkrankungen; andere psychische Störungen,|2|die die ICD-10-Kriterien erfüllen; Enuresis Hauptdiagnose (bei Komorbidität mit anderen emot. Störungen): nur wenn mehrfach wöchentl. Einnässen, zeitliche Kovarianz der Symptomatik; Diagnose Enkopresis: wenn Enuresis und Enkopresis zusammen auftreten

Subtypen

Enuresis nocturna, Enuresis diurna, Enuresis nocturna und diurna

nicht angegeben

Primär

nicht angegeben

Verlängerung der normalen infantilen Inkontinenz

Sekundär

nicht angegeben

nach einer Periode bereits erworbener Blasenkontrolle

Obwohl die Klassifikation nach ICD-10 und DSM-5 relativ ähnlich ist, gibt es einige Unterschiede, wie in Tabelle 1 dargestellt. Obwohl diese Differenzen minimal sind, werden durch unterschiedliche Definitionen verschiedene Populationen von einnässenden Kindern erfasst. Zudem sind einige Aspekte der Definitionen dringend revisionsbedürftig, da sie dem aktuellen Stand der Forschung nicht entsprechen, zum Teil nicht korrekt und sogar im praktischen Einsatz hinderlich sind (von Gontard, 2011, 2013a). Von daher werden die einzelnen Aspekte dieser beiden Klassifikationsschemata kritisch diskutiert und durch die aktuelle Einteilung der International Children’s Continence Society (ICCS) ergänzt, auf der auch die deutschen Leitlinien beruhen (Kuwertz-Bröking & von Gontard, 2015).

1.1.1 Klassifikationen nach ICD-10 und DSM-5

Wie aus Tabelle 1 ersichtlich, behandeln beide Klassifikationsschemata die Enuresis, als ob es sich um eine einheitliche Störung handelt. Nach der ICCS-Klassifikation (Austin et al., 2016) muss der Begriff „Enuresis“ sehr viel restriktiver eingesetzt werden. „Enuresis“ (oder „Enuresis nocturna“) bezeichnet deskriptiv jede Form des intermittierenden nächtlichen Einnässens – unabhängig von möglichen Begleitsymptomen oder angenommenen Ursachen.

Für die meisten Kinder, die intermittierend tags einnässen, sollte der Begriff „nicht organische (funktionelle) Harninkontinenz“ verwendet werden. Nicht organisch und funktionell sind synonyme Begriffe, die in der deutschen Sprache beide verwendet werden können. Aus diesem Grund wurden beide synonyme Begriffe in |3|den deutschen Leitlinien zusammengefasst (Kuwertz-Bröking & von Gontard, 2015). Da der Begriff „funktionell“ im Englischen nicht gebräuchlich ist, findet er sich in den ICCS-Empfehlungen nicht. Harninkontinenz deutet an, dass eine Störung der Blasenfunktion vorliegt, die mit dem ungewollten Harnabgang assoziiert ist. Eine Harninkontinenz kann organisch sein, z. B durch Fehlbildungen (strukturell), durch eine Störung der Blaseninnervierung (neurogen) oder durch andere Erkrankungen (Diabetes, Harnwegsinfekte) bedingt sein. Der Begriff nicht organisch oder funktionell deutet an, dass keine körperliche oder sonstige medizinisch bedingte Blasenfunktionsstörung vorliegt, sondern, dass diese durch angeborene oder erworbene Funktionsstörungen bedingt ist. Solche funktionellen Auffälligkeiten lassen sich praktisch bei allen tags einnässenden Kindern nachweisen. Dagegen ist der Begriff „Enuresis diurna“ obsolet und sollte nicht verwendet werden (Austin et al., 2016).

Wie weiter in Tabelle 1 ersichtlich, wird die Enuresis zum Teil auch als ein willkürliches Einnässen aufgefasst. Nach eigener klinischer Erfahrung ist das nächtliche Einnässen immer unwillkürlich und wird von den meisten Kindern als wenig beeinflussbar und mit hohem Leidensdruck erlebt. Dagegen ist die elterliche Implikation, ein Kind nässe absichtlich ein, häufig mit gravierenden Interaktionsproblemen assoziiert. Diese Konstellation wurde von dem englischen klinischen Kinderpsychologen Richard Butler als „parental intolerance“ (elterliche Intoleranz) beschrieben (Butler, 1994).

Wenn ein Kind tatsächlich willkürlich einnässt, handelt es sich fast immer um ein Zeichen einer schweren, zugrunde liegenden psychischen Störung. So kann im stationären Bereich immer wieder bei Kindern nach schweren Deprivations- und Misshandlungserlebnissen beobachtet werden, dass sie in Abfalleimer, Schubladen oder absichtlich neben die Toilette Wasser lassen. In diesen Fällen ist es wenig hilfreich, von einer Enuresis zu sprechen.

Die Definition der Enuresis ab einem Alter von 5 Jahren ist allgemein anerkannt und sinnvoll, da im Alter von 4 Jahren über 20 % der Kinder noch einnässen. Bei einer so hohen Prävalenz handelt es sich um ein physiologisches, reifungsbedingtes Phänomen und natürlich nicht um eine Störung. Obwohl Kinder mit einer geistigen Behinderung eindeutig häufiger einnässen, ist der Zusatz eines kognitiven Entwicklungsalters ab 4 Jahren nicht sinnvoll. Allein durch diese Einschränkungen wird das Einnässen bei vielen Kindern mit geistiger Behinderung als Störung ausgeschlossen, mit der Konsequenz, dass sie die erforderliche Diagnostik und Therapie nicht erhalten. Nach eigenen Untersuchungen sind Ausscheidungsstörungen bei Kindern mit Intelligenzminderung für Eltern hoch belastend und sollten, wie auch bei Kindern mit durchschnittlicher Intelligenz, ab einem chronologischen Alter von 5 Jahren untersucht und behandelt werden (von Gontard, 2013b).

Die Häufigkeiten werden mit zweimal pro Woche (DSM-5) bis einmal pro Monat (ICD-10-Forschungskriterien) angegeben. Durch diese großen Differenzen werden völlig unterschiedliche Gruppen von Kindern erfasst. Im DSM-5 wird als ergänzendes Kriterium die klinisch relevante Belastung und Einschränkung in sozialen, schulischen und sonstigen Bezügen als Alternative zur Häufigkeitsdefinition von zweimal pro Woche angeführt. Diese vagen Angaben berücksichtigen zwar den subjektiven Leidensdruck der Kinder, verhindern jedoch für Forschungszwecke eine einheitliche und verbindliche Definition.

|4|Dagegen scheint die Dauer von mindestens 3 Monaten, in der das Symptom Einnässen vorhanden sein muss, sinnvoll. Wenn eine Enuresis zum Beispiel nur einen Monat bestanden hat, ist die Wahrscheinlichkeit der spontanen Rückbildung hoch.

Wie in diesem Leitfaden ausgeführt, müssen natürlich organische Ursachen und medizinische Erkrankungen ausgeschlossen werden – oder als komorbide Störungen berücksichtigt werden. Die Beispiele, die im DSM-5 erwähnt werden, sind nicht praxisrelevant. So kann es in Ausnahmefällen während eines epileptischen Anfalls zum Einnässen kommen – aber eine Epilepsie spielt als organische Ursache differenzialdiagnostisch keine Rolle. Auch ist es in der Praxis unwahrscheinlich, dass ein Kind wegen eines Diuretikums einnässt.

Nach den ICD-10-Kriterien ist die Angabe von anderen psychischen Störungen als Ausschlusskriterium völlig unsinnig. Bei den Subtypen der Enuresis und der Harninkontinenz variieren psychische Begleitstörungen sowohl bezüglich Häufigkeit als auch Form (von Gontard et al., 2011a). Diese zum Teil spezifischen Komorbiditäten könnten bei den derzeitigen ICD-10-Definitionen nicht erfasst werden. Auch eine Enkopresis als Ausschlusskriterium ist wenig hilfreich, da beide sehr häufig koexistieren. Von daher empfehlen wir dringend, die Enuresis detailliert zu klassifizieren und zusätzlich jede weitere psychische Störung zu erfassen.

Die Einteilung der Subtypen nach Tageszeit (nocturna, diurna, nocturna et diurna) ist notwendig, reicht jedoch nicht aus. Stattdessen sollten die spezifischen Subtypen jeweils diagnostiziert werden. Zudem geht es eigentlich darum, ob ein Kind im Schlaf oder im Wachzustand einnässt. Auch die Einteilung in primär (noch nie trocken) und sekundär (Rückfall nach trockener Periode) ist ausgesprochen sinnvoll, jedoch ohne genaue Intervallangabe wenig aussagekräftig. In der Literatur wurden historisch für die Definition des trockenen Intervalls eine Dauer von 1, 3, 6 und 12 Monaten vorgeschlagen. Allein durch die (willkürliche) Längendefinition des trockenen Intervalls werden wiederum unterschiedliche Gruppen von einnässenden Kindern beschrieben.

Am häufigsten wird die Definition des trockenen Intervalls von 6 Monaten verwendet, die auch von der ICCS (Austin et al., 2016) und den deutschen Leitlinien (Kuwertz-Bröking & von Gontard, 2015) übernommen wurde. Nach eigenen Untersuchungen zeigte sich, dass Kinder mit einer primären und sekundären Enuresis nocturna sich bezüglich somatischer Faktoren wenig unterschieden. Dagegen fanden sich bei Kindern mit einer sekundären Enuresis nocturna deutlich höhere Raten von Verhaltenssymptomen und psychosozialen Belastungen.

Wie unten ausgeführt, fehlen bei den ICD-10- und DSM-5-Definitionen viele weitere wichtige, therapieleitende Unterscheidungen, die sich international etabliert haben.

1.1.2 Neue ICCS-Klassifikation

Nach neueren Erkenntnissen ist es sinnvoll, vier Subgruppen beim Einnässen nachts und mehrere bei der nicht organischen (funktionellen) Harninkontinenz tags zu unterscheiden. Dies Einteilung findet sich in der Klassifikation der International Children’s Continence Society (ICCS) (Austin et al., 2016). Es handelt sich dabei |5|um einen internationalen und interdisziplinären Konsens, der sich weltweit in Praxis und Forschung etabliert hat.

Zunächst unterscheidet die ICCS zwischen einer kontinuierlichen und einer intermittierenden Harninkontinenz (vgl. Tabelle 2). Kontinuierlich bedeutet, dass konstant Harn träufelt. Diese ist selten und fast immer organisch bedingt. Deshalb empfehlen die AWMF-Leitlinien, dass bei einer kontinuierlichen Harninkontinenz eine intensive somatische Diagnostik durchgeführt werden soll, da sie fast ausschließlich organisch bedingt ist.

Fast alle anderen Inkontinenzformen sind intermittierend, d. h. es gibt lange Phasen in denen sich die Blase füllt (Füllungsphase) und kurze Phasen (Entleerungsphasen), während denen es zur Miktion oder zum Einnässen kommt. Selten kann das intermittierende Einnässen organisch bedingt sein, meistens ist es nicht organisch, oder eben funktionell. Das intermittierende Einnässen kann zudem im Schlaf (Enuresis oder Enuresis nocturna) oder im Wachzustand auftreten (nicht organische [funktionelle]) Harninkontinenz am Tag.

Dieser Leitfaden wird sich ausschließlich mit Diagnostik und Therapie der häufigen, nicht organisch bedingten, intermittierenden Formen des Einnässens beschäftigen. Zu den organischen Inkontinenzformen darf auf die Fachliteratur verwiesen werden (Dietz et al., 2001; von Gontard & Nevéus, 2006; Franco et al., 2015). Die Unterschiede zwischen der kontinuierlichen und der intermittierenden Harninkontinenz sind in Tabelle 2 zusammengefasst.

Tabelle 2: Unterschiede zwischen der kontinuierlichen und intermittierenden Harninkontinenz (Austin et al., 2016)

Kontinuierliche Harninkontinenz

Intermittierende Harninkontinenz

Häufigkeit

sehr selten

häufig

Definition

Ununterbrochener Harnabgang, Träufeln

abgrenzbare Füllungsphase (trocken) und Entleerungsphase (nass)

Ursache

Fast immer organisch

selten organisch, fast immer nicht-organisch (funktionell)

Weitere allgemeine Definitionen sind in der ICCS-Klassifikation zu berücksichtigen, wie in Tabelle 3 dargestellt.

|6|Tabelle 3: Allgemeine Kriterien und Definitionen der ICCS (Austin et al., 2016)

Definition

Kommentar

Intermittierendes (nicht kontinuierliches) Einnässen im Schlaf (auch Mittagsschlaf) wird als Enuresis (oder Enuresis nocturna) bezeichnet.

Es werden vier Subtypen unterschieden (vgl. Tabelle 4).

Intermittierendes Einnässen tags im Wachzustand wird als nicht organische (funktionelle) Harninkontinenz bezeichnet. Am häufigsten ist die funktionelle Harninkontinenz am Tag (ohne organische Ursachen). Der Begriff Enuresis diurna ist obsolet und sollte nicht verwendet werden.

Es werden neun Subtypen unterschieden (vgl. Tabelle 5).

Beim gemeinsamen Einnässen im Schlaf und tags werden zwei Diagnosen vergeben: eine Diagnose für die Subform der Enuresis (die per Definition nicht-monosymptomatisch ist) und eine für den Subtyp der Harninkontinenz am Tag.

Jede Diagnose wird deskriptiv erfasst.

Organische Ursachen (neurogen, strukturell und durch andere medizinischen Faktoren bedingt) müssen ausgeschlossen werden.

Es ist auch möglich, dass sowohl eine organische, als auch eine funktionelle Störung vorliegen. In diesem Fall werden deskriptiv wieder zwei Diagnosen vergeben.

Ein chronologisches Mindestalter von 5;0 Jahren muss vorliegen.

Dies bedeutet, dass auch bei Kindern mit Intelligenzminderung die Diagnose ab einem Alter von 5;0 Jahren gestellt wird.

Das Einnässen muss mindestens 3 Monate bestanden haben.

Sporadisches Einnässen (kürzer als 3 Monate) wird nicht als Störung bezeichnet.

Mindestens eine Episode pro Monat muss vorliegen.

Weitere Frequenzangaben:

< 1 Episode/Monat: Symptom, aber keine Störung

≥ 1 Episode/Monat: Störung

≥ 4 Episoden/Woche: häufiges Einnässen

< 4 Episoden/Woche: seltenes Einnässen

|7|1.1.2.1 Enuresis nocturna

Die Enuresis (oder Enuresis nocturna) bezeichnet jede Form des intermittierenden Einnässens im Schlaf, d. h. auch während des Mittagsschlafs. Beide Begriffe können hierfür synonym verwendet werden, d. h. entweder nur der kurze Name „Enuresis“, oder eben die etablierte Bezeichnung „Enuresis nocturna“. Sie teilt sich zunächst auf in die primäre und die sekundäre Enuresis (vgl. Tabelle 4):

Primäre Enuresis nocturna (PEN) besagt, dass Kinder nachts einnässen und noch nie länger als 6 Monate hintereinander trocken waren. Es werden zwei Formen unterschieden:

Die primäre monosymptomatische Enuresis nocturna (PMEN) wird durch ein Einnässen im Schlaf ohne längeres trockenes Intervall (6 Monate) und ohne Zeichen einer Blasenfunktionsstörung (wie Drangsymptome, Aufschub oder Dyskoordination) definiert. Der Begriff „monosymptomatisch“ deutet an, dass das nächtliche Einnässen das einzige („Mono-“) Zeichen („Symptomatik“) darstellt. In anderen Worten, es handelt sich nicht um eine Störung der Blase, sondern wie unten ausgeführt, um eine Reifungs-Regulationsstörung des zentralen Nervensystems. Ein typisches klinisches Zeichen ist das Einnässen mit großen Urinmengen. Tatsächlich konnten Untersuchungen nachweisen, dass manche Kinder mit dieser Form des Einnässens im Durchschnitt mehr Urin bilden, was auch als Polyurie bezeichnet wird. Diese Urinmengen können bei einzelnen Kindern das Fassungsvolumen der Blase übersteigen. Eltern berichten typischerweise, dass „das Bett schwimmt“, das heißt, Schlafanzug und Bettlaken sind nicht nur feucht, sondern triefend nass. Ferner ist typisch, dass die Kinder sehr tief schlafen und trotz Rütteln und Ansprache kaum erweckbar sind.

Bei der Diagnose der monosymptomatischen Enuresis nocturna finden sich tagsüber keinerlei Auffälligkeiten beim Wasserlassen. Wenn ein Miktionsprotokoll (siehe unten) ausgefüllt wird, gehen die Kinder normal häufig auf die Toilette (ideal 7-mal, normal 5- bis 7-mal pro Tag), die Urinmengen tagsüber sind altersentsprechend, sie klagen nicht über heftigen Harndrang, halten den Urin nicht zurück und können ihn ohne Probleme entleeren. Auch koten sie nicht ein und sind auch nicht verstopft.

Die primäre, nicht monosymptomatische Enuresis nocturna (PNMEN) ist definiert durch ein nächtliches Einnässen ohne längeres trockenes Intervall (6 Monate), jedoch mit typischen Zeichen einer Blasenfunktionsstörung, wie sie Kinder mit einem Tageseinnässen auch aufweisen (Typen 4 bis 6). In anderen Worten, es finden sich Zeichen von Störungen der Füllungs- oder Entleerungsphase der Blase, ohne dass die Kinder tags einnässen. Die praktische Konsequenz bei diesen nicht monosymptomatischen Formen ist, dass immer die Tagesproblematik zuerst behandelt werden muss, bevor man das nächtliche Einnässen therapiert.

Der Begriff sekundäre Enuresis nocturna (SEN) bedeutet, dass das Kind nachts einnässt, aber schon einmal 6 Monate oder länger hintereinander trocken war – unabhängig davon, in welchem Alter und ob die Trockenheit spontan oder durch Behandlung erreicht wurde. Die Diagnose einer sekundären Enuresis nocturna ist so wichtig, da die Rate von psychischen Begleitstörungen, die zum Teil sepa|8|rat behandelt werden müssen, deutlich erhöht ist. Wieder werden zwei Subtypen unterschieden:

Die sekundäre monosymptomatische Enuresis nocturna (SMEN) wird definiert als ein Einnässen nachts nach einem Rückfall nach einer trockenen Periode von üblicherweise 6 Monaten – ohne Zeichen einer Blasendysfunktion.

Dagegen bezeichnet die sekundäre nicht monosymptomatische Enuresis nocturna (SNMEN) ein nächtliches Einnässen nach einem trockenen Intervall von mindestens 6 Monaten mit den gleichen Zeichen der Blasendysfunktion wie bei der primären nicht monosymptomatischen Enuresis nocturna (PNMEN).

Tabelle 4: Übersicht über Formen des nächtlichen Einnässens

Längstes trockenes Intervall < 6 Monate

Längstes trockenes Intervall > 6 Monate

Allgemein

Primäre Enuresis nocturna (PEN)

Sekundäre Enuresis nocturna (SEN)

Keine Blasenfunktionsstörungen tagsüber*

Primäre monosymptomatische Enuresis nocturna (PMEN)

Sekundäre monosymptomatische Enuresis nocturna (SMEN)

Blasenfunktionsstörungen tagsüber* vorhanden

Primäre nicht monosymptomatische Enuresis nocturna (PNMEN)

Sekundäre nicht monosymptomatische Enuresis nocturna (SNMEN)

Anmerkung: *Zeichen von Drang, Aufschub, Dyskoordination, Verstopfung, Einkoten; d. h. ähnlich wie bei der funktionellen Harninkontinenz, jedoch kein Einnässen tagsüber.

Therapieleitend ist die wichtigere Unterscheidung in monosymptomatisch und nicht monosymptomatisch. Bei der letzteren muss die Blasendysfunktion nach sorgfältiger Diagnostik zuerst behandelt werden. Dagegen ist die Therapie bei primären und sekundären Formen gleich. Die sekundären fallen nur durch die höhere Rate von komorbiden psychischen Störungen auf.

Wenn ein Kind tags und nachts einnässt, werden nach der neuen ICCS-Klassifikation (Austin et al., 2016) zwei Diagnosen vergeben: eine für die Enuresis und eine für die funktionelle Harninkontinenz. Kotet ein Kind auch noch ein, sind es drei Diagnosen.

1.1.2.2 Nicht organische (funktionelle) Harninkontinenz am Tag

Eine weitere Hauptgruppe stellt die funktionelle Harninkontinenz (Einnässen tagsüber oder tagsüber/nachts) dar.

Bei Kindern, die nur tagsüber oder kombiniert tagsüber und nachts einnässen, können drei häufige und mehrere seltene Formen unterschieden werden. Üblicher|9|weise werden primäre und sekundäre Formen nicht differenziert. Die wichtigsten Leitsymptome sind in Tabelle 5 zusammengefasst.

Die Dranginkontinenz (DI) ist definiert durch einen ungewollten Harnabgang mit überstarkem Harndrang. Sie wird deshalb auch als „überaktive Blase“ bezeichnet („Overactive bladder“ oder OAB). Es handelt sich hierbei um eine meist entwicklungsbedingte Funktionsstörung der Blase, die die Füllungsphase betrifft. Die Blase lässt sich nicht passiv füllen, sondern beginnt, sich während der Füllung zu kontrahieren. Diese Kontraktionen werden nicht adäquat vom zentralen Nervensystem (ZNS) unterdrückt. Dadurch kommt es zu dem Gefühl des Harndranges, zu häufigen Toilettengängen mit jeweils kleinen Urinmengen. Nach neueren Erkenntnissen handelt es sich bei der DI nicht um eine Funktionsstörung der Blase alleine, sondern eben um ein Inhibitionsdefizit des ZNS (Franco, 2007).

Wenn man ein Miktionsprotokoll ausfüllen lässt, finden sich typischerweise häufige Toilettengänge (über 7, zum Teil bis 20-mal pro Tag) mit jeweils Mengen, die weit unter der Altersnorm liegen. Es wird von Eltern häufig beschrieben, dass sie bei dem Harndrang ihrer Kinder sofort eine Toilette aufsuchen müssen. Dies wird als imperativer Harndrang bezeichnet. Manche Eltern schildern, dass sie bei Autofahrten direkt an den Randstreifen heranfahren müssen oder beim Einkaufen z. T. mehrfach Kaufhaustoiletten aufsuchen müssen.

Die Kinder versuchen, diesem Harndrang mit Haltemanövern zu begegnen. Dabei spannen sie die Beckenbodenmuskulatur an, pressen die Oberschenkel zusammen, hüpfen von einem Bein auf das andere, und so weiter. Mädchen gehen häufig in Hockstellung und entlasten so den Beckenboden. Oft setzen sie sich z. B. während der Schulstunden auf ihre Ferse und zögern so den Harndrang bis zur Pause hinaus. Bei den Haltemanövern wirken die Kinder häufig abwesend durch ihre Konzentration auf den Drang. Trotz der Haltemanöver kommt es meist wiederholt am Tag zum Einnässen von kleinen Urinmengen, vor allem bei zunehmender Ermüdung im Laufe des Nachmittags und Abends. Dadurch, dass die Unterhose fast immer feucht, aber nicht unbedingt nass ist, kann sich die Haut im Genitalbereich entzünden und gerötet sein. Auch kommt es häufiger zu Harnwegsinfekten und anderen medizinischen Komplikationen.

Zusammengefasst handelt es sich bei der Dranginkontinenz damit um eine physiologisch bedingte „überaktive Blase“, d. h. es kommt zu spontanen, nicht zentral inhibierten Kontraktionen der Blasenmuskulatur, die eine normale Füllung der Blase verhindern. Aus diesem Grund wird die Dranginkontinenz auch „Overactive bladder“ (OAB) genannt. Alle klinischen Zeichen, wie auch die meisten psychischen Begleitsymptome entstehen als sekundäre Folge dieser Grundstörung.

Eine „überaktive Blase“ ist ferner eine häufige Subform der nicht-monosymptomatischen Enuresis nocturna. Sie kann sich auch ohne jede Inkontinenz als „erhöhte diurnale Miktionsfrequenz“, oder eben als die klassische Dranginkontinenz, d. h. als eine Form der funktionellen Harninkontinenz tags, manifestieren, die schwerpunktmäßig in diesem Leitfaden behandelt wird.

Die Harninkontinenz bei Miktionsaufschub (MA) ist durch ein habituelles Hinauszögern des Wasserlassens gekennzeichnet, sodass es trotz Einsatz von Haltemanövern zum Einnässen tagsüber kommt (von Gontard et al., 2016a). Der sporadische, vorübergehende Miktionsaufschub an sich kann eine sehr nützliche Eigenschaft sein, wenn nämlich ein Wasserlassen in einer sozialen Situation gerade nicht möglich ist. Problematisch wird der Miktionsaufschub, wenn er zu |10|einer Gewohnheit wird, d. h. habituell eingesetzt wird. Manche Kinder schieben natürlich den Toilettengang auf ohne einzunässen. Der habituelle Miktionsaufschub ist deshalb auch eine häufige Subform der nicht-monosymptomatischen Enuresis nocturna. Und zuletzt kann der habituelle Miktionsaufschub Ursache für eine Harninkontinenz am Tag sein, wie in diesem Kontext ausgeführt.

Es handelt sich dabei um eine psychogen bedingte, erworbene Störung. Das wichtigste Zeichen sind die seltenen Toilettengänge (weniger als 5-mal pro Tag), die oft erst mit dem Ausfüllen eines Miktionsprotokolls deutlich werden. Typischerweise schieben die Kinder den Toilettengang in bestimmten Situationen auf, z. B. in der Schule, aus Ekel vor verschmutzten Toilettenräumen, beim Heimweg von der Schule oder beim Spielen, oder während Computer-, Handy-, Tablet- und Fernsehnutzung. Oft haben die Kinder Angst, etwas zu verpassen oder anschließend nicht mehr in das Spiel integriert zu werden. Mit zunehmender Dauer des Miktionsaufschubes wird der Harndrang immer stärker, sodass Haltemanöver, wie bei der Dranginkontinenz, eingesetzt werden. Mit anderen Worten: Aufgrund der Haltemanöver kann man diese beiden häufigen Formen des Tagseinnässens nicht unterscheiden. Wenn die Miktion nicht weiter aufgeschoben werden kann, kommt es schließlich zum Einnässen. Häufig sind die Kinder verstopft (obstipiert) und koten ein (Enkopresis).

Zusammengefasst liegt bei der Harninkontinenz bei Miktionsaufschub keine angeborene Blasenfunktionsstörung vor, sondern sie entwickelt sich im Sinne eines erlernten Verhaltens oder als Teilaspekt einer Störung des Sozialverhaltens mit oppositionellem Verhalten. Zusätzlich kann sich eine Harninkontinenz mit Miktionsaufschub in einzelnen Fällen aus einer Dranginkontinenz entwickeln, wenn übermäßig Haltemanöver eingesetzt werden, um den Drang zu unterdrücken, und sich dadurch ein habituelles Hinauszögern des Toilettengangs etabliert.