Psychische Störungen bei Säuglingen, Klein- und Vorschulkindern - Alexander von Gontard - E-Book

Psychische Störungen bei Säuglingen, Klein- und Vorschulkindern E-Book

Alexander von Gontard

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Beschreibung

Psychological disturbances are just as frequent among small children as they are in older children, but they are often not adequately recognized and treated. The aim of this textbook is to provide a comprehensive, well-founded and practically relevant overview of the variety of psychological disturbances that may arise between birth and the start of school. The textbook is based on interdisciplinary guidelines, new classification systems, current research results and the author=s many years of practical experience. Each disturbance is presented in detail, with specific recommendations for diagnosis and treatment.

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Der Autor

Alexander von Gontard, 1973–1981 Studium der Humanmedizin an der Universität Freiburg und der University of Edinburgh, 1981 Promotion über »The development of child psychiatry in 19th-century England and Scotland«, 1981–1983 Ausbildungsstipendiat der DFG am Institut für Humangenetik der Universität Heidelberg, 1983–1987 Assistenzarzt an der Universitätskinderklinik Mannheim, 1987–1991 Assistenzarzt an der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie der Universität Marburg, 1991–2003 Oberarzt an der Klinik und Poliklinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie der Universität zu Köln (seit 1996 Leitender Oberarzt), 1997 Habilitation: »Enuresis im Kindesalter – psychiatrische, somatische und molekulargenetische Zusammenhänge«. Facharzt für Kinderheilkunde, Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychotherapeutische Medizin, ärztlicher Zusatztitel »Psychotherapie«.

2003 Berufung zum Lehrstuhlinhaber und Professor, sowie Ernennung zum Direktor der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie, Universitätsklinikum des Saarlandes, Homburg. Forschungsschwerpunkte Ausscheidungsstörungen, Verhaltensphänotypien, psychische Störungen bei Säuglingen, Klein- und Vorschulkindern, Spiritualität, Psychotherapie, Sandspieltherapie. Zahlreiche deutschsprachige und internationale Veröffentlichungen, Buchkapitel und Monographien.

Alexander von Gontard

Psychische Störungen bei Säuglingen, Klein- und Vorschulkindern

Ein praxisorientiertes Lehrbuch

Verlag W. Kohlhammer

Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwendung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechts ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

Pharmakologische Daten, d. h. u. a. Angaben von Medikamenten, ihren Dosierungen und Applikationen, verändern sich fortlaufend durch klinische Erfahrung, pharmakologische Forschung und Änderung von Produktionsverfahren. Verlag und Autoren haben große Sorgfalt darauf gelegt, dass alle in diesem Buch gemachten Angaben dem derzeitigen Wissensstand entsprechen. Da jedoch die Medizin als Wissenschaft ständig im Fluss ist, da menschliche Irrtümer und Druckfehler nie völlig auszuschließen sind, können Verlag und Autoren hierfür jedoch keine Gewähr und Haftung übernehmen. Jeder Benutzer ist daher dringend angehalten, die gemachten Angaben, insbesondere in Hinsicht auf Arzneimittelnamen, enthaltene Wirkstoffe, spezifische Anwendungsbereiche und Dosierungen anhand des Medikamentenbeipackzettels und der entsprechenden Fachinformationen zu überprüfen und in eigener Verantwortung im Bereich der Patientenversorgung zu handeln. Aufgrund der Auswahl häufig angewendeter Arzneimittel besteht kein Anspruch auf Vollständigkeit.

Die Wiedergabe von Warenbezeichnungen, Handelsnamen und sonstigen Kennzeichen in diesem Buch berechtigt nicht zu der Annahme, dass diese von jedermann frei benutzt werden dürfen. Vielmehr kann es sich auch dann um eingetragene Warenzeichen oder sonstige geschützte Kennzeichen handeln, wenn sie nicht eigens als solche gekennzeichnet sind.

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1. Auflage 2019

Alle Rechte vorbehalten

© W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Gesamtherstellung: W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Print:

ISBN 978-3-17-031671-3

E-Book-Formate:

pdf:      ISBN 978-3-17-031672-0

epub:   ISBN 978-3-17-031673-7

mobi:   ISBN 978-3-17-031674-4

Für den Inhalt abgedruckter oder verlinkter Websites ist ausschließlich der jeweilige Betreiber verantwortlich. Die W. Kohlhammer GmbH hat keinen Einfluss auf die verknüpften Seiten und übernimmt hierfür keinerlei Haftung.

Inhalt

 

 

Vorwort

Einleitung

1 Psychische Störungen im Vorschulalter allgemein

1.1 Klassifikation

1.1.1 Multiaxiales Klassifikationssystem nach ICD-10

1.1.2 Klassifikation nach DSM-5

1.1.3 Klassifikationssystem DC: 0-5

1.1.4 Deutsche Leitlinien

1.2 Prävalenz

1.2.1 Allgemeine Prävalenz

1.2.2 Versorgungsprävalenz

1.3 Diagnostik

1.3.1 Allgemeine Diagnostik

1.3.2 Standardisierte Diagnostik

1.4 Therapie

1.4.1 Beratung

1.4.2 Psychoedukation

1.4.3 Psychotherapie

1.5 Zusammenfassung und Empfehlungen

Entscheidungsbaum: Diagnostik und Therapie allgemein nach den AWMF-Leitlinien

2 Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung (ADHS)

2.1 Definition und Klassifikation

2.1.1 ICD-10

2.1.2 DSM-5

2.1.3 DC: 0-5

2.2 Prävalenz

2.2.1 Persistenz

2.3 Diagnostik

2.4 Klinik

2.5 Ätiologie

2.6 Therapie

2.6.1 Psychotherapie der ADHS

2.6.2 Pharmakotherapie der ADHS

2.7 Verlauf und Prognose

2.8 Zusammenfassung und Empfehlungen

Entscheidungsbaum: Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung (ADHS) nach den AWMF-Leitlinien

3 Störung des Sozialverhaltens mit oppositionellem Verhalten (ODD)

3.1 Definition und Klassifikation

3.1.1 ICD-10

3.1.2 DSM-5

3.1.3 DC: 0-5

3.2 Prävalenz

3.3 Diagnostik

3.4 Klinik

3.5 Ätiologie

3.6 Therapie

3.7 Verlauf und Prognose

3.8 Zusammenfassung und Empfehlungen

Entscheidungsbaum: Störung des Sozialverhaltens mit oppositionellem Verhalten (ODD) nach den AWMF-Leitlinien

4 Ausscheidungsstörungen

4.1 Definition und Klassifikation

4.1.1 Ab dem Alter von fünf Jahren: Enuresis nocturna und funktionelle Harninkontinenz

4.1.2 Ab dem Alter von vier Jahren: Enkopresis

4.1.3 Unter dem Alter von vier Jahren: Toilettenverweigerungssyndrom und Toilettenphobie

4.2 Prävalenz

4.3 Diagnostik

4.4 Klinik

4.5 Ätiologie

4.6 Therapie

4.7 Verlauf und Prognose

4.8 Zusammenfassung und Schlüsselempfehlungen

Entscheidungsbäume: Ausscheidungsstörungen nach den AWMF-Leitlinien

5 Posttraumatische Belastungsstörungen (PTBS)

5.1 Definition und Klassifikation

5.1.1 ICD-10

5.1.2 DSM-5

5.1.3 DC: 0-5

5.2 Prävalenz

5.3 Diagnostik

5.4 Klinik

5.5 Ätiologie

5.6 Therapie

5.7 Verlauf und Prognose

5.8 Zusammenfassung und Empfehlungen

Entscheidungsbaum: PTBS (Posttraumatische Belastungsstörung) nach den AWMF-Leitlinien

6 Bindungsstörungen

6.1 Definition und Klassifikation

6.1.1 Bindungsstörungen

6.1.2 Bindungstheorie

6.2 Prävalenz

6.3 Diagnostik

6.4 Klinik

6.4.1 Reaktive Bindungsstörung

6.4.2 Soziale Bindungsstörung mit Enthemmung

6.5 Ätiologie

6.6 Therapie

6.7 Verlauf und Prognose

6.8 Zusammenfassung und Empfehlungen

Entscheidungsbaum: Bindungsstörungen nach den AWMF-Leitlinien

7 Depressive Störungen

7.1 Definition und Klassifikation

7.1.1 ICD-10

7.1.2 DSM-5

7.1.3 DC: 0-5

7.2 Prävalenz

7.3 Diagnostik

7.4 Klinik

7.5 Ätiologie

7.6 Therapie

7.7 Verlauf und Prognose

7.8 Zusammenfassungen und Empfehlungen

Entscheidungsbaum: Depressive Störungen nach den AWMF-Leitlinien

8 Angststörungen

8.1 Definition und Klassifikation

8.1.1 ICD-10

8.1.2 DSM-5

8.1.3 DC: 0-5

8.1.4 Faktorenanalysen

8.2 Prävalenz

8.3 Diagnostik

8.4 Klinik

8.4.1 Selektiver Mutismus

8.4.2 Störung mit Inhibition gegenüber Neuem

8.5 Ätiologie

8.6 Therapie

8.7 Verlauf und Prognose

8.8 Zusammenfassung und Empfehlungen

Entscheidungsbaum: Angststörungen nach den AWMF-Leitlinien

9 Anpassungsstörungen

9.1 Definition und Klassifikation

9.1.1 ICD-10

9.1.2 DSM-5

9.1.3 DC: 0-5

9.2 Prävalenz

9.3 Diagnostik

9.4 Klinik

9.5 Ätiologie

9.6 Therapie

9.7 Verlauf und Prognose

9.8 Zusammenfassung

Entscheidungsbaum: Anpassungsstörungen nach den AWMF-Leitlinien

10 Sensorische Verarbeitungsstörungen

10.1 Definition und Klassifikation

10.1.1 Regulationsstörungen nach den deutschen Leitlinien

10.1.2 Internationale Entwicklungen

10.1.3 ICD-10 und DSM-5

10.1.4 DC: 0-5

10.2 Prävalenz

10.3 Diagnostik

10.4 Klinik

10.5 Ätiologie

10.6 Therapie

10.7 Verlauf und Prognose

10.8 Zusammenfassung und Empfehlungen

Entscheidungsbaum: Sensorische Verarbeitungsstörungen (Regulationsstörungen) nach den AWMF-Leitlinien

11 Essstörungen

11.1 Definition und Klassifikation

11.1.1 ICD-10

11.1.2 DSM-5

11.1.3 DC: 0-3R

11.1.4 Atypische Essstörungen nach WCEDCA

11.1.5 Faktorenanalysen von Essstörungen

11.1.6 DC: 0-5

11.2 Prävalenz

11.3 Diagnostik

11.4 Klinik

11.4.1 Regulations-Fütterstörung

11.4.2 Fütterstörung der reziproken Interaktion

11.4.3 Frühkindliche Anorexie

11.4.4 Sensorische Nahrungsverweigerung

11.4.5 Fütterstörung assoziiert mit medizinischen Erkrankungen

11.4.6 Fütterstörung assoziiert mit Insulten des gastrointestinalen Traktes

11.5 Ätiologie

11.6 Therapie

11.6.1 Regulations-Fütterstörung

11.6.2 Fütterstörung der reziproken Interaktion

11.6.3 Frühkindliche Anorexie

11.6.4 Sensorische Nahrungsverweigerung

11.6.5 Fütterstörung assoziiert mit medizinischen Erkrankungen

11.6.6 Fütterstörung assoziiert mit Insulten des gastrointestinalen Traktes

11.7 Verlauf und Prognose

11.8 Zusammenfassung und Empfehlungen

Entscheidungsbaum: Essstörungen nach den AWMF-Leitlinien

12 Schlafstörungen

12.1 Definition und Klassifikation

12.1.1 ICD-10

12.1.2 DSM-5

12.1.3 DC: 0-5

12.2 Prävalenz

12.3 Diagnostik

12.4 Klinik

12.5 Ätiologie

12.6 Therapie

12.6.1 Psychoedukation

12.6.2 Positive Routinen

12.6.3 Unmodifizierte Extinktion

12.6.4 Graduierte Extinktion

12.6.5 Faded Bedtime

12.6.6 Festgelegtes Wecken (Scheduled awakening)

12.7 Verlauf von Prognose

12.8 Zusammenfassung und Empfehlungen

Entscheidungsbaum: Schlafstörungen nach den AWMF-Leitlinien

13 Exzessive Schreistörung

13.1 Definition und Klassifikation

13.1.1 ICD-10 und DSM-5

13.1.2 DC: 0-5

13.1.3 Andere Klassifikationen

13.2 Prävalenz

13.3 Diagnostik

13.4 Klinik

13.5 Ätiologie

13.6 Therapie

13.7 Verlauf und Prognose

13.8 Zusammenfassung und Empfehlung

Entscheidungsbaum: Exzessive Schreistörung nach den AWMF-Leitlinien

14 Weitere Störungen

14.1 Autismus-Spektrum-Störungen

14.1.1 ICD-10

14.1.2 DSM-5

14.1.3 DC: 0-5

14.1.4 Diagnostik

14.1.5 Therapie

14.2 Trichotillomanie

14.2.1 ICD-10

14.2.2 DSM-5

14.2.3 DC: 0-5

14.2.4 Klinik

14.2.5 Therapie

14.3 Pathologisches Hautzupfen (Dermatomanie)

14.4 Zwangsstörungen

14.5 Ticstörungen

14.5.1 ICD-10

14.5.2 DSM-5

14.5.3 DC: 0-5

14.5.4 Klinik

14.6 Andere Störungen

15 Beziehungsstörungen

15.1 Definition und Klassifikation

15.1.1 DC: 0-3R

15.1.2 DC: 0-5

15.1.3 Beziehungsstörung (1. Achse)

15.1.4 Beziehungskontext (2. Achse)

15.2 Prävalenz

15.3 Diagnostik

15.4 Klinik

15.4.1 Depressive Störungen

15.4.2 Essstörungen

15.4.3 Posttraumatische Belastungsstörungen

15.4.4 Angststörungen

15.4.5 Andere elterliche psychische Störungen

15.5 Ätiologie

15.6 Therapie

15.7 Verlauf und Prognose

15.8 Zusammenfassung und Empfehlungen

16 Ausblick

Abkürzungen

Literatur

Anhang I: Amerikanische Leitlinien zur Diagnostik psychischer Störungen von Säuglingen und Kleinkindern

Anhang II – Klassifikation DC: 0-3 R (2005) (nach ZERO TO THREE 2005)

Achse 1

Posttraumatische Belastungsstörung (100.)

Deprivation-/Misshandlungsstörung (150.)

Störungen des Affekts (200.)

Verlängerte Trauerreaktion (210.)

Angststörungen der frühen Kindheit (220.)

Störung mit Trennungsangst (221.)

Spezifische Phobie (222.)

Störung mit sozialen Ängsten (soziale Phobie) (223.)

Generalisierte Angststörung (224.)

Angststörung, nicht näher bezeichnet (225.)

Depression der frühen Kindheit (230.)

Typ I: Major Depression (231.)

Typ II: Depressive Störung, nicht näher bezeichnet (232.)

Emotionale Störung gemischt (240.)

Anpassungsstörung (300.)

Regulationsstörung der sensorischen Verarbeitung (400.)

Überempfindlicher Typ (410.)

Typ A ängstlich/vorsichtig (411.)

Typ B: Negativ/oppositionell (412.)

Unterempfindlicher/unterreagierender Typ (420.)

Stimulationssuchender/impulsiver Typ (430.)

Schlafstörungen (500.)

Einschlafstörungen (510)

Durchschlafstörungen (520.)

Fütterstörungen (600.)

Regulationsfütterstörung (601.)

Fütterstörung der reziproken Interaktion (602.)

Frühkindliche Anorexie (603.)

Sensorische Nahrungsverweigerung (604.)

Fütterstörung assoziiert mit medizinischen Erkrankungen (605.)

Fütterstörung assoziiert mit Insulten des gastrointestinalen Traktes (606.)

Störungen der Bezogenheit und der Kommunikation (700.)

Multisystemische Entwicklungsstörung (710.)

Andere Störungen (800.)

Achse 2: Beziehungsstörungen

Überinvolvierte Beziehungsstörung

Unterinvolvierte Beziehungsstörung

Ängstlich/angespannte Beziehungsstörung

Ärgerlich/ablehnende Beziehungsstörung

Verbal misshandelnde Beziehungsstörung

Körperlich misshandelnde Beziehungsstörung

Sexuell misshandelnde Beziehungsstörung:

Anhang III – Klassifikation DC: 0-5 (2016) (nach THERO TO THREE 2016)

Achse I - Klinische Störungen

Neurobiologische Entwicklungsstörungen (Störungen der neuronalen und mentalen Entwicklung)

Sensorische Verarbeitungsstörungen

Angststörungen

Affektive Störungen

Zwangsstörungen und verwandte Störungen

Schlafstörungen

Essstörungen

Schreistörungen der frühen Kindheit

Trauma-, Belastungs- und Deprivationsstörungen

Beziehungsstörungen

Stichwortverzeichnis

Vorwort

 

 

Psychische Auffälligkeiten sind im frühen Kindesalter mindestens genauso häufig wie zum späteren Zeitpunkt: ca. 14–26% aller Kleinkinder zeigen klinisch relevante psychische Störungen, 9–12% sogar mit täglichen Beeinträchtigungen. Dennoch werden Auffälligkeiten dieses Lebensalters häufig übersehen, nicht adäquat diagnostiziert und als nicht behandlungsbedürftig angesehen.

Nachdem im englischsprachigen Raum die Berücksichtigung der Besonderheiten von psychischen Störungen bei jungen Kindern schon lange etabliert ist, haben sich auch in Deutschland in den letzten Jahren positive Entwicklungen abgezeichnet. Ambulanzen, Tageskliniken und stationäre Angebote für Kinder und ihre Eltern wurden etabliert. Psychische Störungen von jungen Kindern werden in kinderärztlichen und kinderpsychiatrischen Praxen, Frühförderstellen, Beratungsstellen, Kindertagesstätten und Kindergärten zunehmend berücksichtigt. Auch Präventionsprogramme wurden entwickelt. Wissenschaftlich zeigt sich eine rasant expandierende Forschungsaktivität, sowohl mit repräsentativen bevölkerungsbezogenen Studien, wie auch zur Diagnostik und Therapie. Die Evidenzbasis für viele Empfehlungen ist deutlich gestiegen.

Von daher ist es sinnvoll, das Lehrbuch »Säuglings- und Kleinkindpsychiatrie« (von Gontard, 2010a), das erste deutschsprachige Lehrbuch zu dem Thema, komplett zu überarbeiten und zu ergänzen. Dieses Lehrbuch war der erste Versuch, im deutschsprachigen Bereich das Gebiet der Säuglings- und Kleinkindpsychiatrie darzustellen. Als Vorbild galt das hervorragende Handbuch (Handbook of Preschool Mental Health) von Luby (2006), das 2017 neu aufgelegt wurde, in dem einzelne Störungsbilder von ausgewiesenen Experten ausführlich zusammengefasst wurden. »Säuglings- und Kleinkindpsychiatrie« lieferte eine Diskussionsgrundlage der interdisziplinären deutschen Leitlinien (AWMF 028/041), die – basierend auf dem Forschungsstand – im Konsens nach konstruktiven Diskussionen und Veränderungen verabschiedet und 2015 verabschiedet wurde (von Gontard et al. 2015). In diesem Zusammenhang möchte ich allen Mitwirkenden bei diesen Leitlinien für ihre kollegiale Zusammenarbeit und ihre aktiven Beiträge in diesem mehrjährigen Prozess danken, der zu einem tragfähigen Konsens geführt hat.

Das vorliegende Buch beruht einerseits auf den neuen Leitlinien, andererseits unterscheidet es sich wesentlich in mehreren Punkten von ihnen. Von den Leitlinien wurde vor allem der Titel »psychische Störungen bei Säuglingen, Klein- und Vorschulkindern« übernommen. Der Titel drückt aus, dass es die gesamte Altersspanne von Geburt bis zur Einschulung umfasst, d. h. von 0–5, bzw. in Deutschland und vielen anderen Ländern von 0–6 Jahren. Andererseits betont er neutral, dass das Buch psychische Störungen behandelt, die auch bei jungen Kindern sehr gut diagnostiziert und behandelt werden können. Somit können Leid, Beeinträchtigungen und Entwicklungsrisiken schon im frühen Alter vermieden oder zumindest vermindert werden. Dieses Ziel ist bei jungen Kindern nur im multiprofessionellen und interdisziplinären Diskurs zu erreichen – und nicht durch ein Fachgebiet alleine.

Dieses Lehrbuch unterscheidet sich in weiteren Aspekten von den Leitlinien. Seit dieser Zeit sind wieder viele neue Originalarbeiten erschienen, wie auch neue Klassifikationssysteme. Zum einen wurden von der der amerikanischen psychiatrischen Vereinigung das DSM-5 Klassifikationssystem (APA, 2013; Falkai und Wittchen, 2015) veröffentlicht. Zum anderen ist die neue Klassifikation für psychische Störungen bei jungen Kindern, die DC: 0-5 (2016) der Zero to Three Organisation, erschienen, das die bisherige DC: 0-3R (2005) ablöst. Sowohl die DSM-5, wie auch die DC: 0-5 wurden berücksichtigt. Es wurde versucht, gerade diese vielen neuen Entwicklungen und Forschungsergebnisse der letzten Jahre zu integrieren.

Die bewährte Gliederung des Buchs »Säugling- und Kleinkindpsychiatrie« wurde beibehalten, aber in wichtigen Punkten ergänzt. Autismus-Spektrum-Störungen wurden als wichtige tiefgreifende Entwicklungsstörungen, die schon im frühen Alter vorhanden sind, aufgenommen. Das exzessive Schreien, das in der Vergangenheit als belastende Symptomatik eingeordnet wurde, wird als eigenständige Störung behandelt. Andere, seltenere Störungen, die auch junge Kinder betreffen, wie selektiver Mutismus und Zwangsstörungen, werden ausführlicher dargestellt. Schlüsselempfehlungen und Flussschemata mit Entscheidungsbäumen runden die Kapitel ab. Im Anhang wurden die Diagnosekriterien des neuen Klassifikationssystems DC: 0-5 (2016) übersetzt, um die Grundlagen für eine Diagnosestellung nachzuvollziehen.

Dieses Lehrbuch spiegelt zugleich die Erfahrungen und die Beschäftigung des Autors mit der Problematik wieder. An der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie am Universitätsklinikum des Saarlandes wurde seit dem Jahr 2003 der Schwerpunkt der psychischen Störungen bei Säuglingen, Klein- und Vorschulkindern etabliert und ein integriertes Versorgungskonzept mit ambulanten, teilstationären und stationären Angeboten aufgebaut. In einer Spezialambulanz für Säuglinge, Klein- und Vorschulkinder können Kinder bis zu fünf Jahren ambulant untersucht und behandelt werden. Kinder ab dem Alter von vier Jahren können tagesklinisch behandelt werden. Und schließlich können junge Kinder mit schweren Störungen zusammen mit ihren Eltern auf der Eltern-Kind-Station behandelt werden. Dieses abgestufte Konzept ermöglicht es, für die jeweiligen Bedürfnisse von jungen Kindern und ihren Eltern das optimale Therapiesetting anzubieten.

Dieses Lehrbuch beruht somit einerseits auf der vorhandenen Literatur, anderseits auf den Erfahrungen der ambulanten, teilstationären und stationären Arbeit an unserer Klinik. Es sei hiermit allen Mitarbeitern und Mitarbeiterinnen gedankt, die mit hohem Engagement diese Spezialangebote an unserer Klinik in den letzten Jahren aufgebaut haben.

Es ist zu wünschen, dass die Erkenntnisse zu psychischen Störungen bei jungen Kindern breit von verschiedenen Berufsgruppen in der Versorgung angewendet werden, um Kindern und ihren Eltern die bestmöglichen Behandlungen und Hilfen zu gewähren.

Saarbrücken, im Mai 2018

Alexander von Gontard

Einleitung

 

 

Das Säuglings- und Kleinkind- und Vorschulalter, d. h. das Alter von der Geburt bis zur Einschulung, ist durch eine rasche Entwicklungsdynamik gekennzeichnet. Im deutschen Sprachbereich wird traditionell unterschieden zwischen dem Neugeborenenalter (1.–4. Woche), dem Säuglingsalter (1.–12. Monat) und der entwicklungspsychologisch langen Altersspanne des Kleinkindalters (ab dem 2. Lebensjahr). Der Begriff Vorschulalter ist im Deutschen wenig gebräuchlich.

Im angelsächsischen Bereich wird eine andere Einteilung vorgenommen, die entwicklungspsychologisch sehr viel sinnvoller ist, wobei die Altersangaben sich bei verschiedenen Autoren unterscheiden können. Als »Infants« werden junge Kinder im Alter von ca. 0–18 Monaten bezeichnet. Der lateinische Wortstamm »Infans« bedeutet »noch nicht redend«, »stumm«, d. h. »Infancy« bezeichnet das Alter vor dem Spracherwerb. »Toddlers« sind Kleinkinder im Alter von ca. 18 Monaten bis 3 Jahren. »To toddle« bedeutet »mit kleinen, unsicheren Schritten laufen«, was dem typischen Gangbild dieses Alters entspricht. Schließlich bezeichnet der Begriff »Preschoolers« ältere Kleinkinder im Alter von ca. 4–5 Jahren. Der Name deutet an, dass es sich um Kinder vor der Einschulung handelt, bei denen typischerweise gerade die kognitive Entwicklung enorme Sprünge macht.

Da in jedem Altersabschnitt auch typische entwicklungspsychopathologische Auffälligkeiten auftreten können, sind in den letzten Jahren spezielle Handbücher zu diesen drei Altersabschnitten erschienen. Zu erwähnen sind dabei besonders das »Handbook of Infant Mental Health« von Zeanah (3. Auflage 2012), das sich besonders dem ersten Altersabschnitt der »Infancy« widmet. Das »Handbook of Infant, Toddler, and Preschool Mental Health Assessment« von Del Carmen, Wiggins und Carter (2004) widmet sich ausschließlich und detailliert diagnostischen Fragestellungen. Das Vorschulalter ist der Hauptfokus von »Behavior Problems in Preschool Children« von Campbell (2004) und dem hervorragenden Handbuch von Luby (2006): »Handbook of Preschool Mental Health«, das 2017 in einer zweiten Auflage erschienen ist. Im deutschen Sprachbereich sind in den letzten Jahren zunehmend Bücher über psychische Störungen bei jungen Kindern erschienen, wenn auch nicht, wie im angelsächsischen Bereich, gestaffelt nach Entwicklungsabschnitten.

Mehrere epidemiologische Studien konnten zeigen, dass psychische Störungen im frühen Kindesalter mindestens genauso häufig wie in späteren Lebensphasen sind. Wie von Egger und Angold (2006a) zusammengefasst, zeigen ca. 14–26% aller Kleinkinder klinisch relevante psychische Störungen. Dennoch werden Auffälligkeiten dieses Lebensalters häufig übersehen, nicht adäquat diagnostiziert und als nicht behandlungsbedürftig betrachtet (Alakortes et al. 2017). So werden nur 11–25% der Kleinkinder mit Verhaltensstörungen tatsächlich zur Diagnostik und Therapie vorgestellt (Egger und Angold 2006a, Knapp et al. 2007). In manchen Regionen scheint die Inanspruchnahme noch niedriger zu liegen: So erhielten in einer Studie nur 3% der 4-jährigen Kinder mit einer DSM-IV-Diagnose tatsächlich professionelle Hilfe (Lavigne et al. 2009). Selbst in Norwegen mit einer guten medizinischen Versorgung erhielten nur 10,7% der 5-Jährigen und 25,2% der 7-Jährigen mit einer psychischen Störung professionelle Hilfe (Wichström et al. 2014). In einer Stellungnahme der amerikanischen kinderärztlichen Vereinigung weisen Gleason et al. (2016a) darauf hin, dass gerade wirksame, evidenzbasierte Therapien oft für junge Kinder nicht zur Verfügung stehen und nur eine Minderheit der Kinder diese erhalten.

Dies liegt überwiegend daran, dass die Beschäftigung mit psychischen Störungen bei jungen Kindern – im Vergleich zu älteren Kindern und Jugendlichen – noch ein vernachlässigtes Gebiet darstellt, aber in den letzten Jahren erfreulicherweise eine rasante Entwicklungsdynamik aufweist. Gerade in dem letzten Jahrzehnt ist eine Fülle von Arbeiten publiziert worden. Dabei sind drei Trends besonders begrüßenswert: Während früher Fallberichte oder Arbeiten über selektierte Patientengruppen publiziert wurden, liegen für viele Störungen repräsentative, bevölkerungsbezogene, epidemiologische Studien vor. Gerade durch den Bezug auf nicht selektierte Gruppen von gesunden, unbetroffenen Kindern konnten viele Annahmen zu Häufigkeit, Schweregrad, Symptomatik und Ätiologie revidiert werden. Der Verlauf der Störungen sowie der intervenierenden Variablen konnten zunehmend erfasst werden, weil manche dieser bevölkerungsbezogenen Studien nicht nur einen Querschnitt, sondern auch einen Langzeitverlauf beinhalteten. Ein weiterer positiver Trend zeigt sich in der Zunahme von qualitativ hochwertigen Therapiestudien, z. B. mit einem randomisiert kontrollierten Design. Dadurch ist es möglich, Therapieempfehlungen auf einer zunehmend besseren Evidenzbasis aussprechen zu können.

Bei der Sichtung der Literatur der letzten Jahre wurde deutlich, dass manche Störungen sehr intensiv erforscht wurden, andere sehr viel weniger. Zu den Störungen mit hoher Forschungsaktivität gehören die Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung (ADHS), die Störung des Sozialverhaltens mit oppositionellem Verhalten (ODD – Oppositional Defiant Disorder), die Autismus-Spektrum-Störungen (ASS), die posttraumatische Belastungsstörung (PTBS) und die Schlafstörungen. Die intensive Beschäftigung mit den externalisierenden Störungen (ADHS und ODD) ist wichtig wegen der Tendenz zur Chronifizierung und Persistenz vom Kleinkind-, über das Schul-, Jugend- und sogar das Erwachsenenalter. Über andere genauso wichtige Problembereiche wie die depressiven, Angst-, Ess- und Fütterstörungen liegen sehr viel weniger Publikationen vor. Über die Anpassungsstörungen bei Vorschulkindern fand sich sogar keine einzige spezifische Arbeit. Diese Ungleichverteilung ist mit Sicherheit bedingt durch die Vorlieben und Spezialisierung einzelner Forschungsgruppen sowie durch mögliche Förderschwerpunkte. Es ist zu wünschen, dass die bisher »vernachlässigten« psychische Störungen in Zukunft mit mehr Aufmerksamkeit bedacht werden.

Trotz der unausgewogenen Datenlage hat sich für alle Störungen eine kategoriale Ausrichtung bewährt. Natürlich sind Verhaltenssymptome dimensional verteilt und eine scharfe Abgrenzung zwischen Störung und Normalverhalten sowie von einer Störung zur anderen ist nicht für alle Problembereiche möglich. Dennoch betonen Angold und Costello (2009), dass die bisherigen traditionellen Klassifikationen nach ICD und DSM auch für das Kindesalter in Praxis und Forschung ausgesprochen erfolgreich waren. Mit entsprechenden Modifikationen können sie sinnvoll bis zum Alter von zwei Jahren eingesetzt werden. Für jüngere Kinder unter zwei Jahren sind alternative Klassifikationen wie z. B. das DC: 0–5 notwendig, die jedoch weiter empirisch validiert werden müssen.

Aus diesem Grund wird in diesem Buch dem Plädoyer für eine kategoriale Einteilung von psychischen Störungen bei Vorschulkindern zugestimmt. Einwände, dass emotionale und Verhaltenssymptome in diesem Alter sich dimensional über ein Spektrum verteilen und deshalb nicht klaren Störungsbildern zugeteilt werden können, zeigen sich in Praxis und Forschung nicht (Angold und Egger 2004). Auch dem Einwand, dass eine Unterscheidung zwischen der eigentlichen »kindlichen« Störung und Auffälligkeiten in der Beziehung nicht möglich sei, muss widersprochen werden. Es ist sehr gut möglich, diskrete Störung des Kindes zu identifizieren – während Auffälligkeiten in der Beziehung separat klassifiziert werden können. Wie von Klitzing et al. (2015) es in ihrer fundierten Übersicht zusammenfassten: »Die gebotene Vorsicht bei der psychopathologischen Einschätzung von Symptomen in den ersten Lebensjahren sollte den Diagnostiker nicht daran hindern, Störungen in ihrer Einbettung in das interaktive Beziehungsgeschehen frühzeitig zu erkennen und einer Behandlung zuzuführen«.

Anderseits gilt der Einwand, dass die bisherigen Klassifikationssysteme die Entwicklungsdynamik des Vorschulalters nicht genügend berücksichtigen, tatsächlich. Einzelne Kriterien, wie Dauer einer Störung oder einzelne Symptome, müssen für das junge Alter modifiziert werden. Das Thema der Klassifikation ist von daher zentral für psychische Störungen bei Säuglingen, Klein- und Vorschulkindern. Wie aus den späteren Kapiteln ersichtlich wird, stehen vier verschiedene Klassifikationssysteme zur Verfügung:

•  Die ICD-10 der Weltgesundheitsorganisation mit dem entsprechenden multiaxialen Klassifikationssystem für Kinder und Jugendliche (WHO 1993, Remschmidt et al. 2001). Eine Anpassung der ICD-10 Klassifikation für junge Kinder wurde nicht vorgenommen. Auch sind die revidierten ICD-11 Kriterien sind leider noch nicht veröffentlicht. Bis dahin bleibt die ICD-10 die Grundlage der Diagnosestellung in Deutschland und vielen anderen Ländern.

•  Die DSM-5 der amerikanischen psychiatrischen Vereinigung (APA 2013; Falkai und Wittchen 2015). Während die ICD-10 und DSM-5 für viele Störungen weitgehend übereinstimmen, divergieren sie z. B. erheblich bei der Definition von Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörungen (ADHS nach DSM-5) und hyperkinetischen Störungen (HKS nach ICD-10). Gegenüber der vorherigen DSM-IV sind manche Störungen in der aktuellen DSM-5 für junge Kinder günstiger, aber noch nicht optimal formuliert.

•  Eine Revision und Modifikation der bisherigen DSM-IV-Kriterien für das Vorschulalter wurde von der amerikanischen kinderpsychiatrischen Vereinigung vorgenommen (AACAP, 2003). Diese wurden als »Research Diagnostic Criteria – Preschool Age« (RDC-PA 2002) bezeichnet. Sie können sogar für manche Kinder bis zum Alter von sieben Jahren sinnvoll sein. Leider liegt noch keine entsprechende Revision der DSM-5-Kriterien vor.

•  Ein gänzlich neues Klassifikationssystem für junge Kinder wurde seit den 1980er Jahren entwickelt, die DC: 0-3 (1994) und die DC: 0-3R (2005). Die deutschen Leitlinien beruhen auf dieser letzteren Klassifikation, die zusammengefasst im Anhang II abgedruckt ist. Die neuste Auflage dieser Zero-to-Three-Klassifikation, die DC: 0–5 (2016), liegt bisher nur in englischer Sprache vor. Diese Neuauflage berücksichtigt – wie auch die deutschen AWMF-Leitlinien (von Gontard et al. 2015) – das Alter von 0 bis 5 Jahren. Sie enthält viele Neuerungen, die die Praxis und Forschung der nächsten Jahre beeinflussen werden. Eine Übersetzung der Kriterien findet sich deshalb im Anhang III.

Dieses Buch behandelt nach einer allgemeinen Einleitung zwölf der wichtigen psychischen Störungen des Säuglings- und Kleinkindalters. Zur Vereinfachung wird der Begriff »Vorschulalter« für die gesamte Zeitspanne von 0 bis 5 Jahren gewählt. Es werden dabei ausschließlich Störungen der ersten Achse referiert, d. h. psychische und im Kind diagnostizierbare Störungen.

Speziell werden behandelt: ADHS, ODD, Ausscheidungsstörungen, posttraumatische Belastungsstörungen, Bindungsstörungen, depressive Störungen, Angststörungen, Anpassungsstörungen, Regulationsstörungen, Fütterstörungen, Schlafstörungen, die exzessive Schreistörung, ASS und andere Störungen. Jedes Kapitel folgt dabei einem ähnlichen Verlauf: Die Definition und Klassifikation wird ausführlich behandelt und, soweit Daten vorhanden sind, die Prävalenz referiert. Auf spezielle Aspekte der Diagnostik folgen dann Aspekte der klinischen Ausprägung. Nach der Abhandlung von Ätiologie und Pathogenese werden wirksame und bewährte Behandlungskonzepte vorgestellt, wobei der therapeutische Schwerpunkt bei Säuglingen und Kleinkindern eindeutig auf der Psychotherapie liegt. Für einzelne Störungen wie z. B. ADHS kann auch bei jungen Kindern eine Pharmakotherapie sinnvoll sein. Das Unterkapitel »Verlauf und Prognose« behandelt jeweils die Frage, wie sich die Krankheit weiterentwickelt. Die wichtigsten Empfehlungen und Aspekte evidenzbasierter Einschätzungen zusammengefasst. Die Schlüsselempfehlungen der deutschen Leilinien werden im Wortlaut wiedergegeben, versehen mit dem Hinweis auf Änderungen seit Erscheinen der Leitlinien. Flussschemata und Entscheidungsbäume stellen die Empfehlungen grafisch dar. Die AWMF gibt drei Empfehlungsgrade vor: starke Empfehlung (soll – soll nicht), Empfehlung (sollte – sollte nicht) und Empfehlung offen (kann erwogen werden – kann verzichtet werden). Diese drei Grade finden sich in den Schlüsselempfehlungen der Leitlinien, die auf dem S2k-Niveau verabschiedet wurden, d. h. im interdisziplinären Konsens nach Vorgaben der AWMF. Bei diesen S2k-Leitlinien wird die Evidenzstärke nicht berechnet. Deshalb werden am Ende der Kapitel nur Schätzungen der Evidenz angegeben. Da viele verschiedene Evidenzeinteilungen in Publikationen zu finden sind, folgt dieses Buch aus Gründen der Einheitlichkeit den Evidenzgraden, die von dem Oxford Centre for Evidence-Based Medicine (2009) herausgegeben und in Tabelle 1 zusammengefasst wurden. Der Grad der Evidenz bezeichnet dabei die Güte der vorliegenden Daten, auf denen eine Empfehlung beruht. In anderen Worten: Auch Empfehlungen auf einem niedrigen Evidenzgrad (4-5) können wirksam sein – nur reicht die Datenlage nicht aus, um eine allgemein gültige Empfehlung aussprechen zu können. Dagegen beruhen Empfehlungen auf einem hohen Grad der Evidenz (1 oder 2) auf hochwertigen Studien, die zum jetzigen Zeitpunkt eine entsprechende, allgemeine Empfehlung zulassen.

Manche Autoren wie z. B. Abrams und Khoury (2016) empfehlen eine vereinfachte Einteilung mit einem Zusammenführen der Untergruppen empfehlen. Basierend auf diesen Graden können Therapieempfehlungen klassifiziert werden: Grad A (Evidenz 1), Grad B (Evidenz 2 oder 3), Grad C (Evidenz 4), Grad D (keine Empfehlung möglich). Dennoch wird in diesem Buch die ausführlichere und detailliertere Einteilung des Oxford Centre for Evidence-Based Medicine (2009) beibehalten. Dies mag auf den ersten Blick verwirrend und kompliziert wirken, ist aber in der Praxis gut handhabbar. Da die Leitlinien konsensbasiert ohne Evidenzberechnung verabschiedet wurden, kann der Evidenzgrad am Ende jedes Kapitels, wie schon erwähnt, nur geschätzt werden.

Neben den ausführlich behandelnden Störungsbildern finden sich in Kapitel 14 weitere Störungen des jungen Kindesalters. Es handelt sich dabei um gut etablierte Störungen, die nach den bisherigen Klassifikationssystemen sicher diagnostiziert werden können und auch in der DC: 0-5 (2016) aufgeführt sind. Dazu gehören der selektive Mutismus und Zwangsstörungen. Andererseits sind es

Tab. 1: Grad der Evidenz (zusammengefasst nach Oxford Centre for Evidence-Based Medicine: http://www.cebm.net/oxford-centre-evidence-based-medicine-levels-evidence-march-2009)

Zusammenfassung: Grad der EvidenzGrad der Evidenz nach OxfordArt der Evidenz

neu definierte Störungen wie die Dysregulierte Ärger- und Aggressionsstörung der frühen Kindheit, die in vielen Behandlungskontexten noch nicht eingeführt sind und z. T. wissenschaftlich überprüft werden müssen. Es würde den Rahmen dieses Buches sprengen, diese Störungen ausführlich und auf hohem Standard zu behandeln. Es darf dabei auf weiterführende, schon vorhandene Literatur hingewiesen werden.

Schließlich wird in Kapitel 15 die Beziehungsstörung zwischen Bezugspersonen und Kind separat erfasst und klassifiziert. Dieses Vorgehen ist innovativ, denn es wird versucht, die Störung einer Beziehung (und nicht die psychische Störung eines Individuums) zu definieren. Die Beziehungsstörung nach Achse I der DC: 0-5 (2016) signalisiert ein schweres Versagen in der Versorgung des Kindes, das ernste Folgen und Gefährdungen nach sich zieht. Für leichtere Auffälligkeiten in der Interaktion wird empfohlen, den Beziehungskontext zu erfassen. Dieser ist auf der zweiten Achse in dem Klassifikationssystem DC: 0-5 (2016) aufgeführt. Die Beziehungsstörung ist für junge Kinder so wichtig, dass die Leitlinien empfehlen, diese zu erfassen oder auszuschließen. Sie soll auch dann diagnostiziert werden, wenn keine weitere Achse I-Störung vorliegt. Zumindest eine Beratung ist bei einer Beziehungsstörung ohne weitere kindliche Störung indiziert, um ungünstige Verläufe und Gefährdung des Kindes zu reduzieren.

Einige Störungen des Vorschulalters (d. h. der Zeitspanne bis zur Einschulung von 0–5 Jahren) können im Rahmen dieses Buches nicht behandelt werden. Dazu zählen zum Beispiel körperliche Erkrankungen und Behinderungen, die traditionell Aufgaben der Kinderheilkunde sind. Auch wird nicht speziell auf die Bedürfnisse von Kindern mit Intelligenzminderung, d. h. geistiger Behinderung, eingegangen. Ferner werden Teilleistungsstörungen, die traditionell Aufgabe der Frühförderung sind, nicht separat behandelt. Zu diesen zählen z. B. umschriebene Entwicklungsstörungen der Motorik, des Sprechens, der Sprache und anderer spezifischer kognitiver Funktionen. Für diese drei Gruppen (körperliche Erkrankungen, geistige Behinderung, Teilleistungsstörungen) gilt, dass die Rate von komorbiden psychischen Störungen eindeutig erhöht ist. Diese Risikogruppen benötigen deshalb eine besonders intensive Diagnostik und Therapie möglicher psychischer Störungen – im Vergleich zu anderen Kindern mit typischer Entwicklung.

Zum Schluss finden sich im Anhang des Buches Materialien, die in der Praxis hilfreich sein können: Zum einen eine Übersetzung der amerikanischen Leitlinien zur Diagnostik psychischer Störungen von Säuglingen und Kleinkindern. Die Diagnosekriterien der bisherigen DC: 0-3R (2005) werden ebenfalls aufgeführt, um die Veränderungen zu der aktuellen DC: 0-5 (2016) nachvollziehen zu können. Zuletzt findet sich eine kondensierte Zusammenfassung der wichtigen DC: 0-5 (2016) Klassifikation, die bisher noch nicht in der deutschen Sprache erhältlich ist. Da in diesem Buch immer wieder auf diese wichtige Klassifikation Bezug genommen wird und sie möglicherweise nicht allen Lesern geläufig ist, können die Kriterien somit leicht nachgeschlagen werden.

1          Psychische Störungen im Vorschulalter allgemein

 

1.1       Klassifikation

Störungen im Vorschulalter zeigen gegenüber denen älterer Kinder und Jugendlicher Besonderheiten. Es wurden deshalb in der Vergangenheit verschiedene Einwände dagegen erhoben, dass die Identifikation von psychischen Störungen in diesem Alter, die bei Egger und Angold (2006a) zusammengefasst sind, überhaupt sinnvoll und möglich ist. Man befürchtete, dass erstens das Vorschulalter eine so rasche Entwicklungsdynamik aufweise, dass valide Symptome oder Cluster von Symptomen überhaupt nicht gemessen werden könnten. Da manche Kinder individuelle Entwicklungsverläufe zeigen, die von Normen abweichen können, wurde zweitens in Frage gestellt, ob psychische Störungen überhaupt von Entwicklungsvarianten abgrenzbar seien. Drittens kritisierte man, dass die DSM- und ICD-Klassifikationen nicht genügend Entwicklungsaspekte berücksichtigen würden. Viertens wurde eine Stigmatisierung durch psychiatrische Diagnosen befürchtet, die die Selbstwahrnehmung des Kindes und elterliche Einstellungen negativ beeinflussen könnten. Und fünftens wurde kritisiert, dass Beziehungsaspekte mit den versorgenden Erwachsenen so unmittelbar wirksam seien, dass sie von der kindlichen Problematik nicht abgetrennt werden könnten.

Egger und Angold (2006a) weisen darauf hin, dass genau dieselben Kritikpunkte vor dreißig Jahren allgemein auch bei psychischen Störungen bei Schulkindern und Jugendlichen vorgebracht wurden. Die Entwicklung der allgemeinen Kinder- und Jungendpsychiatrie der letzten Jahrzehnte zeigte hingegen, dass diese Befürchtungen unbegründet sind und dass im Gegenteil eine kategorial ausgerichtete Klassifikation sich für die Praxis und Forschung ausgesprochen bewährt hat. In ihrer kritischen Übersicht kommen Angold und Costello (2009) deshalb zu dem Schluss, dass

•  Kategoriale Diagnosen meist extreme Ausprägungen von kontinuierlich verteilten Symptomen repräsentieren;

•  DSM-Kategorien sich gut replizieren ließen;

•  Viele Störungsbilder, die auf Untersuchungen an Erwachsenen basieren, sich auch Im Vorschulalter zeigen und sich in der Praxis bewährt haben;

•  Sich die häufigsten psychiatrischen Diagnosen bis zum Alter von zwei Jahren nachweisen lassen;

•  Unter dem Alter von zwei Jahren jedoch alternative Klassifikationen notwendig sind, wie z. B. die DC:0–5 (2016). Seit der Veröffentlichung von Egger und Angold (2006a) hat sich gezeigt, dass dieser Zugang auch sehr gut bei Kindern bis zu fünf Jahren geeignet ist.

Von daher erscheint es theoretisch, logisch und praktisch sinnvoll, auch für das frühe Kindesalter eine kategoriale Einteilung von Störungsbildern zu übernehmen. Dabei stehen drei Klassifikationssysteme zur Verfügung, die sich sinnvoll ergänzen, wie im Folgenden aufgeführt.

1.1.1     Multiaxiales Klassifikationssystem nach ICD-10

Das multiaxiale Klassifikationssystem für psychische Störungen des Kindes- und Jugendalters nach der ICD-10 der WHO (WHO 1993, Remschmidt et al. 2001). Die ICD-10 bildet in Europa und in weiten Teilen der Welt immer noch die Grundlage der kinderpsychiatrischen Praxis mit gut definierten Störungsbildern, die sich zum Teil auch im Vorschulalter replizieren lassen. Leider gibt es keine Anpassung der ICD-10-Kriterien speziell für Störungen von jungen Kindern, sodass die ICD-10 nur im Tandem mit der DC: 0-5 (2016) sinnvoll angewendet werden kann. Die ICD-11 wird seit mehreren Jahren erwartet, ist aber bisher noch nicht erschienen.

In dem multiaxialen Klassifikationssystem (MAS) werden insgesamt sechs Achsen unterschieden, die jeweils individuell zu erfassen sind. Die sechs Achsen umfassen:

1.  Achse: Das klinisch-psychiatrische Syndrom

2.  Achse: Umschriebene Entwicklungsstörungen und Teilleistungsstörungen

3.  Achse: Das Intelligenzniveau

4.  Achse: Die körperliche Symptomatik

5.  Achse: Assoziierte aktuelle abnorme psychosoziale Umstände

6.  Achse: Die globale Beurteilung des psychosozialen Funktionsniveaus

Da vorausgesetzt wird, dass die MAS der ICD-10 allgemein bekannt ist, wird sie in diesem Zusammenhang nicht weiter vertieft. Eine altersspezifische Adaptation bzw. Modifikation der Kriterien für das Vorschulalter gibt es, wie oben schon erwähnt, für die ICD-10 nicht. Die multiaxiale mehrdimensionale Bereichsdiagnostik (MBD) der Sozialpädiatrie orientiert sich ebenfalls an der ICD-10 (Bode et al., 2009). Der 3. Bereich der MBD ist identisch mit der 1. Achse der MAS. Beide stellen den Hauptfokus dieses Buches dar, nämlich die Erfassung der psychischen Störung des Kindes.

1.1.2     Klassifikation nach DSM-5

Die DSM-5 (APA 2013; Falkai und Wittchen 2015) wird in Nordamerika, anderen Ländern und vor allem in vielen Forschungsprojekten verwendet. Bei manchen Diagnosen bringt die DSM-5 einen deutlichen Vorteil gegenüber der ICD-10, z. B. bei der Neufassung von Essstörungen. Trotz vieler Überschneidungen divergieren die Kriterien für manche Diagnosen vor allem bei AHDS (DSM-5) versus HKS (ICD-10) erheblich, sodass die Unterschiede genau beachtet werden müssen.

Während die bisherigen DSM-IV-Kriterien speziell mit einer altersentsprechender Anpassung für junge Kinder revidiert wurden (die Research Diagnostic Criteria – PreschoolAge (RDC-PA 2002, AACAP 2003, www.infantinstitute.org), steht eine Überarbeitung der DSM-5 Kriterien noch aus. Die Autoren der RDC-PA-Kriterien hatten dabei versucht, mehrere Grundprinzipien zu berücksichtigen:

•  Eine enge Anbindung an DSM-IV-Kriterien: Diese sollten möglichst beibehalten werden, um eine Vergleichbarkeit mit älteren Kindern zu ermöglichen. Eine Veränderung sollte nur erfolgen, falls sie empirisch begründbar ist oder wenn einzelne Items für das Vorschulalter nicht passend sind.

•  Keine Annahme von »internalen« Zuständen, Kognitionen und Emotionen: Wegen des eingeschränkten sprachlichen Ausdrucks können junge Kinder Gefühle und Gedanken nicht ausdrücken; sie können deshalb auch nicht eingeschätzt werden. Ein Einschluss von internalen Zuständen als Diagnosekriterien wäre deshalb Spekulation.

•  Kein Einschluss von elterlichem Verhalten in die Diagnosekriterien der kindlichen Störung: Die Störung erfolgt nach phänomenologischen Prinzipien der kindlichen Symptome und nicht nach möglicher Ätiologie durch Symptome der Eltern-Kind-Beziehung.

•  Eine klare Unterscheidung zwischen Symptomen und Beeinträchtigungen: Nur Symptome, nicht z. B. Beeinträchtigungen in der Familie und im Kindergarten, sollen zur Diagnose herangezogen werden.

•  Klare Unterscheidung zwischen Symptomen und Diagnostikinstrumenten: Nur die Symptome an sich und nicht die Methodik der Erfassung gehören zu den Diagnosekriterien.

Die Verwendung von DSM-Kriterien mit altersentsprechender Modifikation macht durchaus Sinn, wie mehrere faktorenanalytische Studien im Vorschulalter zeigen konnten. Die Validität DSM-IV-basierter Syndrome wurde z. B. von Sterba et al. (2007) anhand von 1073 Kindern im Alter von 2–5 Jahren untersucht. In einer Faktorenanalyse konnten drei emotionale Syndrome differenziert werden: Soziale Phobie, Trennungsangst und Depression/generalisierte Ängste. Im Gegensatz zu älteren Kindern scheinen somit erhebliche Überlappungen zwischen depressiven und generalisierten Angststörungen vorzuliegen. Zudem konnten drei externalisierende Syndrome unterschieden werden: Oppositionell verweigernd/Störung des Sozialverhaltens (ODD/CD), Hyperaktivität/Impulsivität und Unaufmerksamkeit. Die Autoren kommen zu dem Schluss, dass die DSM-Störungen sich sehr wohl im Vorschulalter abbilden lassen: »Psychopathology appears to be differentiated among preschoolers as much as it is among older children and adolescents. We conclude that it is as reasonable to apply the DSM-IV nosology to preschoolers as it is to apply it to older individuals.« In einer weiteren Studie konnten bei 2–6-jährigen Vorschulkindern grob die DSM-IV-typischen Angststörungen durch Faktorenanalyse nachgewiesen werden. Fünf Faktoren konnten trotz Überlappungen identifiziert werden: Soziale Phobie, Trennungsangst, generalisierte Angst, Zwangsstörungen und Angst vor körperlicher Verletzung (Spence et al. 2001). Wichström und Berg-Nielsen (2014) kamen aufgrund einer detaillierten Faktorenanalyse bei 995 4-jährigen Kindern zu dem Schluss, dass Symptomcluster sehr gut mit den DSM-IV-Kategorien übereinstimmen. Auch Möricke et al (2013) konnten anhand einer Faktorenanalyse von 6330 14 bis 15 Monate alten Kleinkindern klar umschriebene Verhaltensprofile identifizieren. 5,7% der Kinder zeigten Vorläufer von Angst-, affektiven und tiefgreifenden Entwicklungsstörungen, und 6,4% von Sprachstörungen. Die Autoren folgern, dass sich selbst in diesem jungen Alter spezifische Verhaltens- und Entwicklungsprofile nachweisen lassen.

Zusammengefasst sprechen diese Studien dafür, dass viele DSM-basierte Diagnosen im Vorschulalter Sinn machen. Mit entsprechender Modifikation können valide, therapieleitende Diagnosen schon bei jungen Kindern gestellt werden.

Da die beiden Klassifikationsschemata (ICD-10 und DSM-5) zusammengefasst dennoch nicht alle Besonderheiten des Alters von 0–5 Jahren genügend erfassen, ist die Entwicklung der DC: 0-5 (2016) ein Meilenstein in der Erfassung psychischer Störungen bei jungen Kindern. Die DC: 0-5 (2016) bietet fundierte und aktuelle Kriterien von den wichtigsten Störungsbildern speziell für das junge Alter von Geburt bis zur Einschulung. Die Diagnosekriterien finden sich im Anhang III. Da die deutschen Leitlinien noch auf dem Klassifikationssystem DC: 0–3R (2005) basieren, sind auch diese Kriterien im Anhang II wiedergegeben.

1.1.3     Klassifikationssystem DC: 0-5 (2016)

Die Einführung eines eigenen Klassifikationssystems speziell für junge Kinder wurde von der »Task Force Zero-to-Three: National Center for Infants, Toddlers and Families« ab 1987 verfolgt. Bei der Zero-to-Three handelt es sich um ein globales, nicht kommerzielles wissenschaftliches Institut mit dem Fokus auf einer Verbesserung der seelischen Gesundheit von jungen Kindern. Babys und Kleinkindern soll zu einem guten Start ins Leben verholfen werden, u. a. durch die Schaffung von Standards zur Erkennung von psychischen Störungen. Das ursprüngliche Zero-to-Three-Klassifikationsschema (DC: 0–3) wurde erstmals 1994 veröffentlicht und 1999 ins Deutsche übersetzt (Zero-to-Three: Diagnostische Klassifikation 0–3 1999). Die DC: 0–3 wurde klinisch eingesetzt und durch mehrere wissenschaftliche Untersuchungen überprüft (Zusammenfassung siehe Emde und Wise 2003). Es wurde dabei deutlich, dass die Definition für manche Störungen revidiert und ihre Operationalisierung verbessert werden musste. Die Vorschläge zur Revision finden sich in der revidierten Version DC: 0–3R (2005), die jetzt durch die DC: 0-5 (2016) ersetzt wurde. Das Ziel war es, deskriptive und atheoretische Kriterien zu schaffen, die nicht auf unbestätigten Attributionen oder Interferenzen von inneren seelischen Zuständen beruhen, sondern auf sichtbare und erhebbare Zeichen und Symptome. Das Altersspektrum wurde von 0 bis 5 Jahre erweitert und neue Störungen wurden hinzugefügt. Angaben zur Dauer der Symptomatik, Einschränkungen bei der Diagnosevergabe und Beeinträchtigungen durch die Störung wurden ergänzt. Die Autoren betonen ausdrücklich, dass es sich bei der DC: 0-5 (2016) um eine Ergänzung, aber keinen Ersatz der DSM-5 und der ICD-10 handelt.

Die DC: 0-5 (2016) ist ebenfalls multiaxial aufgebaut und unterscheidet fünf Achsen:

1.  Achse: Klinische (psychische) Störung

2.  Achse: Beziehungskontext

3.  Achse: Medizinische Diagnosen

4.  Achse: Psychosoziale Stressoren

5.  Achse: Entwicklungskompetenzen

Mit Abstand am wichtigsten ist die erste Achse. Sie bildet den Hauptfokus dieses Buchs. In Tabelle 2 sind deshalb alle Diagnosen der ersten Achse mit Hauptdiagnosen sowie den Subtypen aufgeführt. Man sieht auf den ersten Blick entscheidende Veränderungen gegenüber der bisherigen DC: 0-3R (2005) Klassifikation.

Als erstes finden sich die sogenannten Störungen der mentalen und neuronalen Entwicklung. Dieser sperrige Begriff ist im Englischen eleganter ausgedrückt als »neurodevelopmental disorders« (neurobiologische Entwicklungsstörungen). Diese Störungen beginnen früh im Leben, haben oft eine genetische Ätiologie und haben neurobiologische Korrelate. Die wichtigsten sind die Autismus-Spektrum-Störungen und Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung und ihre Vorläufer. Diese Vorläufer sind neue Kategorien, die weiter durch Studien validiert werden müssen. Die Globale Entwicklungsstörung gehört eigentlich zur 3. Achse der MAS (Intelligenz), die Störungen der Sprache und Motorik zur 2. Achse der MAS (Teilleistungsstörungen). Sie werden deshalb in diesem Buch nicht gesondert behandelt.

Der mehrdeutige Begriff der »Regulationsstörungen« ist in der DC: 0-5 (2016) vollkommen verschwunden und konsequenterweise durch »Sensorische Verarbeitungsstörungen« ersetzt. Neben den klassischen Angststörungen, sind der »Selektive Mutismus« und die »Störung mit Inhibition gegenüber Neuem« als neue Störungen aufgenommen. Ausgehend von dem Temperamentsmerkmal der Behavioralen Inhbition entwickeln manche Kinder eine Furcht gegenüber allem Neuen – nicht nur gegenüber fremden Menschen wie bei der sozialen Phobie.

Die depressive Störung bei jungen Kindern wurde in den letzten Jahren intensiv beforscht. Dagegen benötigt die dysregulierte Ärger- und Aggressionsstörung noch der weiteren empirischen Validierung.

Neu ist die gesamte Gruppe der Zwangsstörungen und verwandten Störungen, die in der frühen Kindheit bisher zu wenig beachtet und deshalb übersehen wurden. Die Schlafstörungen wurden durch die partielle Aufwachstörung und Albträumen ergänzt. Ein Rückschritt gegenüber der DC: 0-3R (2005) ist die Vereinfachung der Essstörungen in drei übergeordnete Kategorien. Die bisherige Einteilung in sechs unterschiedliche Subtypen war in der Praxis ausgesprochen hilfreich und soll deshalb in diesem Buch auch beibehalten werden.

Das exzessive Schreien wurde in der DC: 0-5 (2016) als eigene Störung klassifiziert – nicht wie bisher in der DC: 0-3R (2005) als belastendes Symptom.

Sinnvoll ist es, alle traumaassoziierte Störungen in einer Rubrik zusammenzufassen. Auch ist es korrekt, die bisherige verlängerte Trauerreaktion nicht als Anpassungsstörung, sondern als schwere eigene komplizierte Störung zu konzeptualisieren, da der Verlust einer nahen Bezugsperson für junge Kinder noch gravierender ist als in späteren Lebensphasen.

Eine Innovation ist es auch, eine schwere Beziehungsstörung gleichrangig als Störung der ersten Achse einzuführen. Die zweite Achse der DC: 0-5 (2016) erfasst dagegen den Beziehungskontext, d. h. auch bei leichteren Auffälligkeiten der Interaktion.

Natürlich sind die Störungen, die in Tabelle 2 aufgeführt sind, nicht umfassend. Es fehlen wichtige Störungen, wie z. B. die Störungen des Sozialverhaltens oder der Ausscheidungsstörungen, die in der DC: 0-5 (2016) nicht berücksichtig sind.

Tab. 2: Übersicht über Störungen der Achse I nach DC: 0-5 (2016)

HauptdiagnosenSubtypen/Unterdiagnosen

Die Achsen III, IV und V der Zero-to-Three haben in der klinischen Arbeit so wenig Relevanz, dass gut auf sie verzichtet werden kann. Zudem liegt mit dem multiaxialen Klassifikationssystem der ICD-10 schon ein bewährtes Instrument vor, um verschiedene Ebenen oder Achsen psychischer Störungen zu erfassen. Mit dem folgenden, von den deutschen Leitlinien (von Gontard et al. 2015) vorgeschlagenen Vorgehen wird man in der klinischen Praxis den Störungen im Vorschulalter am ehesten gerecht:

1.  Klassifikation nach den bewährten sechs Achsen der MAS der ICD-10

2.  Als Ergänzung Diagnosen der Achse I nach der DC: 0–5 (2016)

Wenn Diagnosen beider Klassifikationssysteme zutreffen, dann sollen auch beide Diagnosen aufgeführt werden. Nur wenn sowohl die ICD-10 und die DC: 0-5 (2016) Diagnosen nicht zutreffen, kann es sinnvoll sein, auf das DSM-5-Klassifikationssystem zurück zu greifen und auch dies zu benennen. Wie schon erwähnt, liegen noch keine modifizierten DSM-5-Kriterien für junge Kinder vor, wie sie für die DSM-IV erarbeitet wurden (RDC-PA 2002).

1.1.4     Deutsche Leitlinien

Die ersten Leitlinien zu Diagnostik und Therapie psychischer Störungen im Säuglings-, Kindes- und Jugendalter (Schmidt und Poustka 2007) beruhten auf einem S1-Niveau, d. h. auf Experteneinschätzungen, die von den kinder- und jugendpsychiatrischen Fachgesellschaft abgesegnet wurden. Bei den Empfehlungen einzelner Störungen wurden damals nicht speziell auf die Besonderheiten des Vorschulalters eingegangen. In einem Kapitel werden die so genannten Regulationsstörungen im Säuglings- und Kleinkindalter (0–3 Jahre) separat behandelt. Die Klassifikationsvorschläge der deutschen Leitlinien wichen von den internationalen Entwicklungen deutlich ab und behandelten als so genannte »Regulationsstörungen« vor allem die drei Problembereiche exzessives Schreien, Schlaf- und Fütterstörungen. Ferner plädierten die Autoren der deutschen Leitlinien damals für einen dimensionalen Ansatz – im Gegensatz zu den internationalen Entwicklungen, die ein kategoriales Vorgehen auch bei jungen Kindern befürworten.

Dagegen basieren die neuen Leitlinien zu psychischen Störungen im Säuglings-, Kleinkind- und Vorschulalter (AWMF Nr.: 028/041) auf dem S2k-Niveau, d. h. auf einen interdisziplinären Konsens nach den Vorgaben der Arbeitsgemeinschaft wissenschaftlich medizinischer Fachgesellschaften (AWMF) (von Gontard et al. 2015). In vielen Sitzungen und Überarbeitungen wurden Schlüsselempfehlungen, eine Lang- und eine Kurzversion der Leitlinie verabschiedet. Beteiligt waren kinder- und jugendpsychiatrische, kinder- und jugendmedizinische, psychotherapeutische und viele sonstige Fachverbände. Da es sich um eine S2k-Leitlinie (und nicht um eine S2e- oder eine S3-Leitlinie) handelt, wurde der Grad der Evidenz für diese Leitlinien nicht bestimmt und deshalb nicht angegeben. Die Empfehlungen beruhen auf einem formalen Konsensusfindungsprozess, der sich auf die bisherige Forschungslage (und damit indirekt auf der Grad der Evidenz) stützt.

Es wurden auf der Grundlage von ICD-10 bzw. DSM-IV (inzwischen DSM-5) kategoriale, deskriptive Diagnosen (nicht Dimensionen) bevorzugt. Dabei wurden diejenigen Krankheitsbilder berücksichtigt, für die eine adäquate Validität für das Vorschulalter vorliegt. Es wurden insgesamt zwölf der wichtigsten psychischen Störungen des Säuglings- und Kleinkindalters aufgenommen. Es handelt sich dabei ausschließlich um Störungen der ersten Achse (MAS, ICD-10; DC. 0-3R), bzw. dem 3. Bereich der MBD, d. h. um beim Kind diagnostizierbare psychische Störungen. Darüber hinaus wurde betont, dass subklinische Symptome eine klinische Relevanz können haben, auch wenn sie nicht vollständig den Kriterien für eine Störung entsprechen. In solchen Fällen kann eine Beratung, aber keine Therapie indiziert sein.

Eine Anpassung der Kriterien an das jeweilige Entwicklungsalter ist für manche Diagnosen unbedingt erforderlich, deren Ergänzung durch das damalige Klassifikationssystem der Zero-to-Three-Organisation (DC: 0–3R 2005) vorgenommen wurde (das inzwischen durch die DC: 0-5 ersetzt wurde). Beziehungsstörungen wurden separat klassifiziert, d. h. die zweite Achse der DC:0-3R (2005) wurde in jedem Fall berücksichtigt. Nach der DC: 0-5 (2016) wird die zentrale Bedeutung der Beziehungsstörung für das Wohl des Kindes unterstrichen, in dem sie sogar als Störung der ersten Achse definiert wurde.

Zuletzt orientieren sich die Leitlinien eindeutig an der internationalen Terminologie, wobei die Versorgungssituation in Deutschland berücksichtigt wurde. Die Leitlinie richtet sich an alle Berufs- und Fachgruppen, die Kompetenzen in der Diagnostik und Therapie von psychischen Störungen bei jungen Kindern aufweisen. Es werden gezielt Hinweise auf die Qualifikation von einzelnen Berufsgruppen (z. B. in der Behandlung spezieller Störungen) gegeben. Von wesentlicher Bedeutung ist die Multi- und Interdisziplinarität in einem Netzwerk von sachkompetenten Institutionen mit Ärzten, Psychotherapeuten, Psychologen und Therapeuten, die ggf. sozialgesetzbuchübergreifend (z. B. Gesundheitssystem und Jugendhilfe) zusammenwirken.

Eine wichtige Festlegung der Leitlinien war das Mindestalter, bei dem eine Störung diagnostiziert werden kann, wie in Tabelle 3 dargestellt. Dies bedeutet, dass bei Kindern unter diesem Minimumalter die jeweiligen Störungen nicht diagnostiziert werden sollen.

Tab. 3: Psychische Störungen des Kindes: Minimumalter (AWMF Leitlinie 028/041)

StörungMinimumalter zur Diagnose

Wichtige Aspekte wurden von den Leitlinien ausgespart. Es wurden nicht körperliche Erkrankungen und Behinderungen thematisiert, die primär Aufgaben der Kinder- und Jugendmedizin, insbesondere der Neuropädiatrie, sind. Eine genaue körperliche Diagnostik zum Ausschluss organischer Erkrankungen ist Grundlage der Diagnostik und Therapie psychischer Störungen im Vorschulalter. Primärer Ansprechpartner sind hierfür der betreuende Kinder- und Jugendarzt, z. B. im Rahmen der Früherkennungs-Untersuchungen, und der Neuropädiater. Bei allen Kindern mit psychischen Problemen ist in der Regel eine Betreuung in einem multi- und interdisziplinären Netzwerk notwendig, bei dem die professionellen Kompetenzen verschiedener Berufsgruppen nach störungsspezifischer, differentieller Indikationsstellung sinnvoll kombiniert und ergänzt werden.

Auch wurde nicht speziell auf die Bedürfnisse von Kindern mit globaler Entwicklungsstörung (EQ < 70) und mit Intelligenzminderung, d. h. geistiger Behinderung mit einem IQ < 70 eingegangen. Ferner wurden Teilleistungsstörungen und spezifische Entwicklungsstörungen, die traditionell Aufgabe der Sozialpädiatrischen Zentren und Frühförderung sind, nicht thematisiert. Zu diesen zählen z. B. umschriebene Entwicklungsstörungen der motorischen Funktionen, des Sprechens, der Sprache und anderer spezifischer kognitiver Funktionen. Für eine aktuelle Übersicht zu diesen wichtigen Problembereichen bei Vorschulkindern darf auf Marrus und Hall (2017) verwiesen werden.

Für alle diese drei Gruppen (körperliche Erkrankungen, geistige Behinderung, Teilleistungsstörungen) gilt, dass die Rate von komorbiden psychischen Störungen eindeutig erhöht ist. Diese Risikogruppen benötigen deshalb eine besonders intensive Diagnostik und Therapie möglicher psychischer Störungen – im Vergleich zu anderen Kindern mit regelrechter Entwicklung.

Dennoch sind die neuen Leitlinien ein wichtiger Schritt vorwärts in der Konzeptualisierung von psychischen Störungen von jungen Kindern, der zudem von verschiedenen Disziplinen und Berufsgruppen in einer konstruktiven Art erarbeitet wurden.

1.2       Prävalenz

1.2.1     Allgemeine Prävalenz

Epidemiologische, d. h. bevölkerungsbezogene Studien bieten die Möglichkeit, repräsentative Angaben zur Häufigkeit und zum Verlauf psychischer Störungen in der Bevölkerung zu erfassen. Alle Studien an Zentren oder Institutionen werden durch Selektionseffekte zu einer Verzerrung der Ergebnisse führen. Allerdings hängt auch die Qualität der epidemiologischen Studie sehr davon ab, welche Methodik verwendet wurde, z. B. wie die Probanden rekrutiert und welche Instrumente eingesetzt wurden.

Im Vorschulalter gibt es zunehmend qualitativ gute epidemiologische Studien (McDonnell und Glod 2003). Eine gute Übersicht findet sich bei Skovgaard (2010). Abhängig von der Methodik (Fragebogenverfahren gegenüber Interviews) und Definitionen schwankte die allgemeine Prävalenz für psychische Störungen bei 2- bis 5-jährigen Kindern zwischen 7,3% bis 18,4%. In ihrer klassischen Übersicht kommen Egger und Angold (2006a) zum Schluss, dass global 14–26% aller Vorschulkinder klinisch relevante Störungen zeigen – 9–12% sogar mit deutlichen Beeinträchtigungen im Alltag.

Deutsche Studien

Die wichtigste deutsche Studie zur Feststellung von Gesundheitsstörungen im Kindesalter in Deutschland ist der Kinder- und Jugend-Gesundheits-Survey (KiGGS) des Robert-Koch-Instituts (Hölling et al. 2007). Hierin wurde bei 84,2% der Jungen und bei 89,4% der Mädchen zwischen 3 und 6 Jahren keine Verhaltensauffälligkeiten gefunden, 8,9% bzw. 6,9% waren grenzwertig und 6,9% bzw. 3,7% psychisch auffällig (insgesamt waren 8,0% der Kinder grenzwertig und 5,3% auffällig). Bezüglich der Subskalen des SDQ-Fragebogens (Goodman 1997 – nur auffällige Befunde) zeigten: 6,6% der 3–6-jährigen Kinder emotionale Probleme, 15,8% Verhaltensprobleme, 8,2% Hyperaktivitätsprobleme und 9,5% Probleme mit Gleichaltrigen (Hölling et al. 2007). Sechs Jahre später hatten die Verhaltensprobleme signifikant zugenommen und die Probleme mit Gleichaltrigen abgenommen – alle anderen Skalenwerte blieben stabil (Hölling et al. 2014).

In einer weiteren deutschen Studie (HAGES) wurden bei 1950 Kindern und Jugendlichen im Alter von 4–18 Jahren die CBCL- und YSR-Fragebögen eingesetzt. 10–18% aller Kinder hatten dabei klinisch relevante Problemscores (Barkmann und Schulte-Markwort 2005).

Internationale Studien

Wichtige, ausgewählte bevölkerungsbezogene Prävalenzstudien sind in Tabelle 4 aufgeführt. Diese Tabelle ist der Arbeit von Egger und Angold (2006a) entnommen und wurde durch neuere Studien ergänzt. Neuere Arbeiten verwendeten DSM-IV-Kriterien, während die älteren Studien sich – historisch bedingt – an den DSM-III-Kriterien orientierten. Die Stichprobengröße variierte zwischen 100 und über 4000 Kindern, die untersuchte Altersspanne umfasste das Alter von 2 bis 6 Jahren. Die meisten Studien verwendeten strukturierte psychiatrische Interviews, die älteren beruhten auf Fragebögen und klinischer Konsensusfindung, die methodisch unzuverlässiger sind.

Zunehmend wurden Studien weltweit durchgeführt. Global zeigt die Tabelle 4, dass tatsächlich 14–26% der 2–6-jährigen Kinder die Kriterien für eine DSM-Diagnose erfüllen. Nach den neueren Studien ist die Spanne der Prävalenzzahlen relative einheitlich zwischen 12,5% und 18%. Dies bedeutet, dass Vorschulkinder genauso häufig von einer psychischen Störung betroffen sind wie ältere Kinder und Jugendliche, wie zuletzt auch neuere epidemiologische Studien (allerdings nur mit Fragebogenverfahren) zeigen konnten

In der brasilianischen Pelotas-Studie von 3585 Kindern im Alter von 6 Jahren erfüllten 13,2% eine Diagnose nach DSM-IV und 12,8% nach ICD-10. Jungen (14,7%) waren häufiger betroffen als Mädchen (11,7%) nach DSM-IV (Petesco et al. 2014). Die Prävalenzen einzelner Störungen sind in der Tabelle 4 aufgeführt.

In einer neuen norwegischen Studie wurde mit strukturierten Interviews (PAPA) eine Prävalenz von 7,1% für psychische Störungen (12,5% mit Enkopresis) bei 4-jährigen Kindern erhoben (Wichström et al. 2012). Diese qualitativ hochwertige Studie liefert auch wichtige Daten zur Komorbidität (siehe unten). In einer isländischen Studie lag die Rate von psychischen Störungen bei 4–6-jährigen Kindern, ebenfalls mit einem strukturierten Interview erhoben, bei 10,1% (18% mit Ausscheidungsstörungen) (Gudmundsson et al. 2012). Die amerikanische Studie von Bufferd et al. (2011) erbrachte die höchste Gesamtprävalenz von 27.4%.

Alle Studien zeigen, dass sich eine Vielzahl von psychischen Störungen mit standardisierten Instrumenten auch in bevölkerungsbezogenen Studien identifizieren lassen. Nicht alle Störungen wurden in jeder Studie erfasst, z. B. fehlen in den meisten Untersuchungen Hinweise auf das Vorliegen von Ausscheidungsstörungen (bis auf Wichström et al. 2012 und Gudmundsson et al. 2012).

Tab. 4: Prävalenz von DSM-basierten Störungen im Vorschulalter

Petresco et al. 2014Gudmundsson et al. 2012Bufferd et al. 2011Wichström et al. 2012Egger und Angold 2006aLavigne et al. 1996Keenan et al. 1997Earls 1982

Andere wichtige epidemiologische Studien sind in Tabelle 4 nicht aufgeführt. So konnten Lavigne et al. (2009) zeigen, dass bei älteren Vorschulkindern externalisierende Störungen überwiegen. Von 796 vierjährigen Kindern hatten 12,8% ein ADHS und 13,4% ein ODD – die Raten für eine generalisierte Angststörung, Depression oder Dysthymie betrugen jeweils weniger als 1%.

Während die bisher referierten Studien sich den älteren 2–5-jährigen Vorschulkindern widmeten, wurden in den letzten Jahren erstmals repräsentative Studien über das Verhalten von jungen Kleinkindern (d. h. Infants und Toddlers) durchgeführt. Allerdings neigen Eltern, wie auch Krankenschwestern dazu, Verhaltensproblem bei 12 Monate alten Säuglingen zu übersehen (Alakortes et al. 2017). Nur 3,9% der Mütter, 3,2% der Väter und 1,4–1,8% der Kinderkrankenschwestern waren besorgt über die Entwicklung des Kindes im Gegensatz zu einer systematischen Erfassung der Symptome. Deshalb ist in dieser Altersgruppe eine gute Methodik besonders wichtig.

Für die gleiche Altersgruppe (18 Monate) wurde erstmals die Prävalenz kategorialer psychischer Störungen nach Zero-to-Three, wie auch nach ICD-10 in Dänemark untersucht (Skovgaard et al. 2007). Bei der Copenhagen Child Birth Cohort (CCC 2000) handelt es sich um eine Geburtskohorte von 2155 Neugeborenen, von denen eine Zufallsstichprobe von 210 Kindern im Alter von 18 Monaten untersucht wurde. Beeindruckend ist der Umfang der eingesetzten Instrumente, unter anderem Interviews, Fragebögen, standardisierte Beobachtungsinstrumente und Entwicklungstests. Im Gegensatz zu anderen epidemiologischen Untersuchungen wurden nicht nur Fragebögen verwendet, sondern auch eine komplette kinderpsychiatrische Diagnostik durchgeführt, sodass zuverlässige Diagnosen gestellt werden konnten. Zusammengefasst erfüllten nach dieser methodisch hochwertigen Studie 16,1% der Kinder die Kriterien für eine psychische Störung nach ICD-10 und 18,5% nach DC:0–3R. Dies bedeutet, dass die Prävalenz psychischer Störungen auch bei jungen 1,5-jährigen Kindern durchaus vergleichbar ist mit den älteren 2–5-jährigen Kindern mit einer Prävalenz von 14–26% (Egger und Angold 2006a). Die Prädiktoren für eine psychische Störung des Kindes in Alter von 18 Monaten waren Sprachentwicklungsstörungen, kognitive Defizite und Störungen der sozialen Interaktion. Prädiktoren für eine Beziehungsstörung im Alter von 18 Monaten waren ungewollte Schwangerschaften und negative Erwartungen der Eltern im Säuglingsalter (Skovgaard et al. 2008). Selbst viele Jahre später wirken solche frühen Risikofaktoren nach. In der gleichen dänischen Studie waren Symptome des Säuglingsalters wichtige und signifikante Prädiktoren für ADHS und Autismus-Spektrum-Störungen (ASS) im Alter von 5 bis 7 Jahren. Für ADHS waren es Probleme der Aktivität und des Interesses, sowie Interaktionsprobleme; für ASS waren es oral-motorische Probleme, allgemeine Entwicklungsprobleme, und wiederum Probleme der Aktivität, des Interesses und der Interaktion (Elberling et al. 2014).

Interessant ist ferner der Vergleich der ICD-10- und DC: 0-3 (1994) Diagnosen in der dänischen bevölkerungsbezogenen Studie, wie in Tabelle 5 dargestellt. Es ist dabei erstaunlich, dass trotz der Unterschiede der beiden Klassifikationssysteme die Prävalenzzahlen für viele Störungen durchaus vergleichbar sind. Die Hauptunterschiede betreffen die Störungen HKS und Störung des Sozialverhaltens, die nur nach ICD-10, aber nicht in DC:0–3 vorgesehen sind, und die Regulationsstörungen, die bei DC:0–3 definiert sind, aber keiner ICD-10-Diagnose entsprechen.

Tab. 5: Psychische Störungen mit 18 Monaten: (ICD-10 und DC:0–3: 1. Achse) (Skovgaard et al. 2007)

ICD-10 DC:0–3

In der gleichen Arbeit wurden auch die Beziehungsstörungen der 2. Achse der DC: 0-3R (2005) erfasst, sodass erstmals repräsentative Angaben zur Häufigkeit von Beziehungsstörungen vorliegen. Wie in Tabelle 6 ersichtlich, lag bei 8,5% der Eltern-Kind-Paare eine Beziehungsstörung vor. Mit Abstand am häufigsten war die unterinvolvierte Beziehungsstörung nach DC: 0-3 mit 5,2% ( Kap. 15). Diese differenzierte qualitative Unterscheidung von Beziehungsstörungen gibt es in der DC: 0-5 (2016) leider nicht mehr.

Die klassische Arbeit von Egger und Angold (2006a) weist auf andere, wichtige Ergebnisse und Zusammenhänge hin. Nicht nur sind 14–26% aller Kinder von einer DSM-Diagnose betroffen, sondern bei 9–12% geht diese Diagnose mit schweren Beeinträchtigungen im Alltag einher. Das Kriterium der

Tab. 6: Beziehungsstörungen mit 18 Monaten (DC:0–3 – 2. Achse) (Skovgaard et al. 2007)

Beeinträchtigung wurde bei allen Diagnosen nach DC: 0-5 (2016) als ein wichtiger Aspekt berücksichtigt.

Dagegen ist das Versorgungsangebot unzureichend, da nur 11–25% der Kleinkinder mit einer Diagnose auch tatsächlich vorgestellt werden. Auch Marcus et al. (2017) betonen, dass es einen erheblichen Mangel an Kinderpsychiatern mit einer Spezialisierung auf Vorschulkinder gibt in den USA. Dadurch erhalten Vorschulkinder seltener eine adäquate Behandlung als ältere Kinder. Das gleiche gilt auch für die Versorgungssituation in Deutschland.

Von der Tendenz her sind ältere Vorschulkinder häufiger von einer Störung betroffen als jüngere Kleinkinder. Global sind Jungen häufiger gestört als Mädchen. Nicht geklärt ist, ob es tatsächlich einen Altersgipfel mit drei Jahren gibt, wie von manchen Autoren behauptet wird. Schließlich weisen die Autoren daraufhin, dass auch im Vorschulalter viele Störungen nicht isoliert auftreten, sondern dass mehrere Störungen gleichzeitig auftreten können. Die Komorbidität mehrerer Störungen spielt bei jungen Kindern eine wichtige Rolle (Egger und Angold 2006a). Epidemiologische Querschnittstudien sind zudem nur Momentaufnahmen – Langzeitverläufe einzelner Störungen können nur in Longitudinal-Studien erfasst werden, wie Angold und Egger (2007) in einer weiteren Arbeit festgestellt haben.

Während die Rate von psychischen Störungen bei jungen Kindern weltweit gleich hoch liegt, scheint die Rate in den letzten Jahrzehnten nicht zugenommen zu haben. In ihrer systematischen Übersicht konnten Bor et al. (2014) zeigen, dass bei Vorschulkindern tatsächlich keine Zunahme nachzuweisen ist. Lediglich bei internalisierenden Störungen bei jugendlichen Mädchen zeigt sich eine Zunahme.

Komorbidität

Viele Störungen treten bei jungen Kindern nicht isoliert auf, sondern gleichzeitig mit anderen komorbiden Störungen (Egger und Angold 2006a). Die oben erwähnte norwegische Studie von Wichström et al. (2102) liefert eine detaillierte Analyse der Komorbidität. Vierjährige Kinder mit einer ADHS haben ein 8,7-fach erhöhtes Risiko für eine andere komorbide Störung und 49,1% sind davon betroffen. Für eine ODD ist das Risiko 17,0-fach höher (65,4%), für eine sonstige Störung des Sozialverhaltens 44,2-fach höher (84,6%), für eine Angststörung 4,2-fach höher (32,9%) und für eine depressive Störung 27,4-fach höher (76,8%). Dies bedeutet für die Praxis, dass nachdem eine Störung bei einem jungen Kind festgestellt wurde, sorgfältig nach weiteren Störungen geschaut werden sollte.

Persistenz

Neben einer hohen, allgemeinen Querschnittsprävalenz zeigen psychische Störungen eine hohe Persistenz im Verlauf von 3 bis 6 Jahren (Bufferd et al. 2012). So konnten Bufferd et al. (2012) zeigen, dass 50,4% der Kinder mit psychischen Störungen im Alter von 3 Jahren diese auch im Alter von 6 Jahren aufwiesen. Die Wahrscheinlichkeit war um 4,74-fach erhöht. Diese sorgfältige Studie an 462 Kindern wurde mit einem strukturierten Interview durchgeführt und liefert wichtige Verlaufsdaten für einzelne Störungen, wie in der nächsten Tabelle 7 aufgeführt. Die Prävalenzzahlen bleiben hoch, oder steigen sogar an. Einzelne Störungen persistieren über diese drei Jahre hinweg, vor allem die Angststörungen (die sogenannte homotypische Kontinuität). Bei anderen wechseln die Diagnosen beim einzelnen Kind (die sogenannte heterotypische Kontinuität), zum Beispiel von einer Angst- zu einer depressiven Störung oder einer ODD.

Dass psychische Symptome selbst bei sehr jungen Kindern persistieren, zeigte auch die große Studie mit fast 6000 12 bis 18 Monate alten Kindern, die 1,5 Jahre später nachuntersucht wurden (McCue Horwitz et al. 2012). Die Wahrscheinlichkeit für psychische Auffälligkeiten im Altern von 30 bis 36 Monaten war 9.18 höher bei den auffälligen Kindern. Der zweite entscheidende Risikofaktor waren depressive Störungen

Tab. 7: Kontinuität psychischer Störungen im Vorschulalter (Bufferd et al. 2012)

Alter 3 Jahre (n=462)Alter 6 Jahre (n=462)OR für Diagnose mit 6 Jahren*

*Odds Ratios konnten nicht für alle Störungen berechnet werden

der Bezugspersonen (Odds Ratio 13,54-fach höher). Die Studie zeigt, dass sich selbst bei Säuglingen und jungen Kleinkindern psychische Symptome nicht »auswachsen«.

Anhand vom SDQ-Fragebogen (Goodman 1997) konnten Klein et al. (2015) eine moderate Stabilität von psychischen Gesamtsymptomen vom Alter von 51 Monaten (6,9% auffällig) bis zum Alter von 72 Monaten (5,7% auffällig) nachweisen. Diese deutsche Studie untersuchte eine repräsentative Stichprobe von 1034 Kindern.

Verläufe

Vom zeitlichen Langzeitverlauf lassen sich nach Angold und Egger (2007) fünf Verlaufsformen von Störungen bei jungen Kindern unterscheiden:

•  Frühbeginnende Störungen mit langfristiger Beeinträchtigung: Zu diesen gehören typischerweise die tiefgreifenden Entwicklungsstörungen, aber auch ADHS und zum Teil Störungen des Sozialverhaltens. Diese Störungen beginnen in der frühen Kindheit und haben die Tendenz, über das gesamte Kindes- und Jugendalter, zum Teil bis zum Erwachsenenalter zu persistieren.

•  Entwicklungsabhängige Störungen: Bei diesen ist typisch, dass die Symptomatik häufig bei jungen Kindern auftritt und mit zunehmendem Alter sich zurückbildet. Klassischerweise zählen die Ausscheidungsstörungen zu dieser Gruppe; so zeigt das nächtliche Einnässen eine spontane Remissionsrate von 15% im Jahr. Während alle Säuglinge »inkontinent« sind, sind es nur 0,5–1% der Erwachsenen.

•  Störungen mit Altersgipfeln und -tälern: Diese Störungen beginnen ebenfalls im frühen Kindesalter, zeigen aber im weiteren Verlauf Schwankungen in der Prävalenz mit Altersgipfeln. Zu diesen gehört z. B. die Störung des Sozialverhaltens mit oppositionellem Verhalten.

•  Störungen mit einer Häufigkeitszunahme im späteren Kindes- und Jugendalter