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Scott nimmt rasend schnell ab. Sein korpulentes Aussehen ändert sich trotzdem nicht. Und noch unheimlicher: Wenn er auf die Waage steigt, zeigt sie jeweils das gleiche Gewicht an, egal wie viel er momentan trägt, ob Kleidung oder gar Hanteln. Scott hat Angst, dass man ihn zum medizinischen Versuchskaninchen macht. Aber er muss es jemand erzählen. Zu Dr. Ellis hat er Vertrauen, aber auch der weiß keinen Rat.
In seiner netten Wohngegend in der Kleinstadt Castle Rock gerät Scott in einen eskalierenden Kleinkrieg. Der Hund der neuen Nachbarn – zwei Lesben – verrichtet sein Geschäft ständig bei ihm im Vorgarten. Die eine Frau ist eigentlich recht freundlich, die andere aber eiskalt. Die beiden haben gerade ein Restaurant eröffnet, von dem sie sich viel erhoffen. Die Einwohner von Castle Rock wollen aber nichts mit Homopaaren zu tun haben, da ist großer Ärger vorprogrammiert. Als Scott endlich kapiert, was Vorurteile in einer Gemeinschaft anrichten, überwindet er den eigenen Groll und tut sich mit den beiden zusammen. Merkwürdige Allianzen, der jährliche Stadtlauf und Scotts mysteriöses Leiden fördern bei sich und anderen eine Menschlichkeit zutage, die zuvor unter einer herzlosen Bequemlichkeit vergraben lag.
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Seitenzahl: 148
Das Buch
Scott nimmt rasend schnell ab. Sein korpulentes Aussehen ändert sich trotzdem nicht. Und noch unheimlicher: Wenn er auf die Waage steigt, zeigt sie jeweils das gleiche Gewicht an, egal wie viel er momentan trägt, ob Kleidung oder gar Hanteln. Scott hat Angst, dass man ihn zum medizinischen Versuchskaninchen macht. Aber er muss es jemand erzählen. Zu Dr. Ellis hat er Vertrauen, aber auch der weiß keinen Rat.
In seiner netten Wohngegend in der Kleinstadt Castle Rock gerät Scott in einen eskalierenden Kleinkrieg. Der Hund der neuen Nachbarn – zwei Lesben – verrichtet sein Geschäft ständig bei ihm im Vorgarten. Die eine Frau ist eigentlich recht freundlich, die andere aber eiskalt. Die beiden haben gerade ein Restaurant eröffnet, von dem sie sich viel erhoffen. Die Einwohner von Castle Rock wollen aber nichts mit Homopaaren zu tun haben, da ist großer Ärger vorprogrammiert. Als Scott endlich kapiert, was Vorurteile in einer Gemeinschaft anrichten, überwindet er den eigenen Groll und tut sich mit den beiden zusammen. Merkwürdige Allianzen, der jährliche Stadtlauf und Scotts mysteriöses Leiden fördern bei sich und anderen eine Menschlichkeit zutage, die zuvor unter einer herzlosen Bequemlichkeit vergraben lag.
Der Autor
Stephen King, 1947 in Portland, Maine, geboren, ist einer der erfolgreichsten amerikanischen Schriftsteller. Bislang haben sich seine Bücher weltweit über 400 Millionen Mal in mehr als 50 Sprachen verkauft. Für sein Werk bekam er zahlreiche Preise, darunter 2003 den Sonderpreis der National Book Foundation für sein Lebenswerk und 2015 mit dem Edgar Allan Poe Award den bedeutendsten kriminalliterarischen Preis für Mr. Mercedes. 2015 ehrte Präsident Barack Obama ihn mit der National Medal of Arts. 2018 erhielt er den PEN America Literary Service Award für sein Wirken, gegen jedwede Art von Unterdrückung aufzubegehren und die hohen Werte der Humanität zu verteidigen.
Seine Werke erscheinen im Heyne-Verlag.
STEPHEN KING
ERHEBUNG
ROMAN
Aus dem Amerikanischenvon Bernhard Kleinschmidt
Zum Gedenken anRichard Matheson
1
Gewichtsverlust
Scott Carey klopfte an die Tür der Eigentumswohnung, und Bob Ellis (den alle in Highland Acres immer noch Doctor Bob nannten, obwohl er seit fünf Jahren im Ruhestand war) ließ ihn herein. »Na, Scott, da bist du ja. Pünktlich um zehn. Was kann ich für dich tun?«
Scott war ein stattlicher Mann, eins dreiundneunzig in Socken, mit einer anständigen Wampe. »Das weiß ich auch nicht recht. Wahrscheinlich gar nichts, aber … ich habe ein Problem. Hoffentlich kein großes, aber vielleicht doch.«
»Eines, worüber du mit deinem regulären Arzt nicht sprechen willst, ja?« Mit seinen vierundsiebzig Jahren hatte Ellis schütteres silberweißes Haar und hinkte ein bisschen, was ihn auf dem Tennisplatz allerdings kaum behinderte. Da hatten er und Scott sich kennengelernt und angefreundet. Enge Freunde waren sie wohl nicht, aber Freunde auf jeden Fall.
»Ach, bei dem war ich schon«, sagte Scott. »Zur Vorsorgeuntersuchung, die längst überfällig war. Blutbild, Urin, Prostata, das ganze Programm. Alles in Ordnung. Der Cholesterinspiegel ist ein bisschen hoch, aber noch im grünen Bereich. Ich hatte mir nämlich Sorgen wegen Diabetes gemacht. Im Internet stand, das wäre am wahrscheinlichsten.«
Abgesehen von den Klamotten jedenfalls. Die Sache mit den Klamotten fand sich auf keiner Website, ob medizinisch oder sonst wie ausgerichtet. Mit Diabetes hatte das bestimmt nichts zu tun.
Ellis führte ihn ins Wohnzimmer, von dessen großem Erkerfenster man einen Blick auf das vierzehnte Grün der Wohnanlage in Castle Rock hatte, wo er mit seiner Frau jetzt lebte. Gelegentlich spielte er eine Runde, hielt sich jedoch eher an Tennis. Für Golf begeisterte sich seine Frau, was nach Scotts Vermutung der Grund war, weshalb die beiden hier wohnten, wenn sie nicht gerade den Winter in einer ebenfalls sportlich orientierten Anlage in Florida verbrachten.
»Falls du Myra vermissen solltest, die ist in ihrer methodistischen Frauengruppe«, sagte Ellis. »Glaube ich wenigstens, es kann auch irgendein städtischer Ausschuss sein. Morgen fährt sie jedenfalls nach Portland, wo sich die Mykologische Gesellschaft von Neuengland trifft. Die Frau schwirrt durch die Gegend wie eine wild gewordene Hummel. Zieh deine Jacke aus, setz dich und sag mir, worum es geht.«
Obwohl es erst Anfang Oktober und nicht besonders kalt war, trug Scott seinen North-Face-Parka. Er zog ihn aus und legte ihn neben sich auf das Sofa. In den Taschen klimperte es.
»Wie wär’s mit einem Kaffee? Oder Tee? Außerdem ist vom Frühstück noch Gebäck da, glaube ich, falls …«
»Ich nehme gerade ständig ab«, sagte Scott unvermittelt. »Darum bin ich hier. Die Sache ist irgendwie ziemlich komisch. Früher habe ich mich vor der Waage im Bad immer gedrückt, weil die mir in den letzten zehn Jahren oder so nichts Erfreuliches mitgeteilt hat. Jetzt stelle ich mich gleich morgens früh drauf.«
Ellis nickte. »Ich verstehe.«
Derhat keinen Grund, sich vor der Waage zu drücken, dachte Scott. Meine Großmutter hätte ihn wohl als dürre Bohnenstange bezeichnet. Wenn das Schicksal ihm nicht den Schwarzen Peter zuschiebt, lebt er wahrscheinlich noch zwanzig Jahre. Vielleicht wird er sogar hundert.
»Das Waagenvermeidungssyndrom ist mir durchaus bekannt. Als ich noch die Praxis hatte, ist mir das ständig begegnet. Mit dem Gegenteil – zwanghaftem Wiegen – hatte ich ebenfalls zu tun, normalerweise bei Bulimie und Anorexie. Danach siehst du allerdings kaum aus.« Er beugte sich vor und klemmte die Hände zwischen die dürren Oberschenkel. »Dir ist doch klar, dass ich im Ruhestand bin, oder? Ich kann dir zwar Ratschläge geben, aber was verschreiben geht nicht. Und mein Rat wird wahrscheinlich lauten, dass du noch mal deinen regulären Arzt aufsuchen und ihm alles gestehen solltest.«
Scott lächelte. »Ich befürchte, der würde mich sofort zu irgendwelchen Tests ins Krankenhaus stecken. Dabei habe ich gerade erst letzten Monat einen tollen Auftrag an Land gezogen. Es geht darum, verknüpfte Websites für eine Kaufhauskette zu erstellen. Die Einzelheiten erspare ich dir lieber, aber es ist ein Traumjob. Ich hatte einfach großes Glück, den zu bekommen. Und das Ganze kommt mir sehr zupass, weil ich arbeiten kann, ohne von Castle Rock weggehen zu müssen. Das ist das Gute am Computerzeitalter.«
»Aber wenn du krank wirst, kannst du gar nicht arbeiten«, sagte Ellis. »Du bist ein kluger Kerl, Scott, und du weißt bestimmt, dass Gewichtsverlust nicht nur auf Diabetes hinweisen kann, sondern auch auf Krebs. Unter anderem. Um wie viel Kilo geht es eigentlich?«
»Um dreizehn.« Scott blickte durchs Fenster auf die weißen Golfmobile, die unter dem blauen Himmel über grünes Gras fuhren. Als Foto hätte das gut auf die Website von Highland Acres gepasst. Bestimmt hatten die eine – wie alle heutzutage, selbst Budenbesitzer, die am Straßenrand Maiskolben und Äpfel verkauften –, aber die hatte jedenfalls nicht er erstellt. Er beschäftigte sich jetzt mit größeren Sachen. »Bisher.«
Bob Ellis grinste. Die Zähne, die er dabei zeigte, waren noch alle die eigenen. »Das ist eine ganze Menge, schon klar, aber es schadet dir meiner Meinung nach nicht, sie zu verlieren. Für jemand von deiner Größe bewegst du dich auf dem Tennisplatz ganz gut, und im Fitnesscenter verbringst du bekanntlich allerhand Zeit an den Maschinen. Wenn man zu viele Kilos mit sich herumschleppt, belastet das nicht nur das Herz, sondern den ganzen Organismus. Was du ja bestimmt schon weißt. Aus dem Internet.« Er verdrehte die Augen, worauf Scott lächelte. »Wie viel wiegst du jetzt?«
»Rat mal«, sagte Scott.
Ellis lachte. »Was meinst du, wo wir hier sind, bei einer Quizshow? ’nen Blumentopf gibt es jedenfalls nicht zu gewinnen!«
»Wie lange warst du Hausarzt – so an die fünfunddreißig Jahre, ja?«
»Zweiundvierzig.«
»Dann zier dich nicht so. In der Zeit hast du Tausende Patienten gewogen.« Scott erhob sich, groß und wuchtig in seinen Jeans, seinem Flanellhemd und den abgewetzten Stiefeln. Er sah eher wie ein Waldarbeiter oder Cowboy als wie ein Webdesigner aus. »Rat mal, wie schwer ich bin. Zu meinem Schicksal kommen wir später.«
Dr. Bob Ellis ließ seinen geübten Blick an den hundertdreiundneunzig Zentimetern von Scott Carey – mit Stiefeln waren es eher hundertachtundneunzig – auf und ab wandern. Besondere Aufmerksamkeit schenkte er dem über den Gürtel hängenden Bauch und den langen Oberschenkelmuskeln, aufgebaut durch die Beinpressen und Hackenschmidt-Geräte, auf die er selbst inzwischen verzichtete. »Knöpf das Hemd auf, und zieh es auseinander.«
Als Scott das tat, kam ein graues T-Shirt mit dem Aufdruck UNIVERSITY OF MAINE ATHLETIC DEPARTMENT zum Vorschein. Ellis konnte eine breite, muskulöse Brust sehen, in der sich allerdings jene Fetteinlagerungen entwickelten, die Scherzbolde gern als Männertitten bezeichneten.
»Ich würde sagen …« Er zögerte. Jetzt schien ihn die Herausforderung doch zu reizen. »Ich würde sagen, hundertsieben Kilo. Vielleicht auch hundertzehn. Das heißt, dass du vor dem Gewichtsverlust mehr als hundertzwanzig gewogen hast. Ich muss schon sagen, auf dem Tennisplatz hast du dich damit gut geschlagen. So viel hätte ich nicht erwartet.«
Scott erinnerte sich daran, wie froh er gewesen war, als er am Monatsanfang endlich den Mut aufgebracht hatte, sich auf die Waage zu stellen. Regelrecht begeistert sogar. Dass er seither stetig abgenommen hatte, war besorgniserregend, wohl wahr, aber nur ein bisschen. Es lag an den Klamotten, dass sich seine Sorgen in Furcht verwandelt hatten. Man brauchte kein Gesundheitsportal, um zu wissen, dass das mit den Klamotten nicht nur merkwürdig war; es war verdammt aberwitzig.
Draußen rollte ein Golfmobil vorüber, in dem zwei Männer mittleren Alters saßen, einer in rosa, der andere in grünen Hosen, beide übergewichtig. Die beiden könnten sich echt was Gutes tun, wenn sie das Ding abstellen und ihre Runde zu Fuß absolvieren würden, dachte Scott.
»Scott?«, sagte Ellis. »Hörst du noch zu, oder bist du völlig in den Wolken?«
»Ich höre zu«, sagte Scott. »Als wir das letzte Mal Tennis gespielt haben, hab ich tatsächlich hundertzehn gewogen. Das weiß ich, weil ich mich anschließend endlich auf die Waage gestellt und beschlossen habe, ein paar Kilo abzunehmen. Im dritten Satz hatte ich nämlich keine Puste mehr. Aber heute Morgen habe ich knapp siebenundneunzig gewogen.«
Er setzte sich neben seinen Parka (in dem es wieder klimperte). Ellis betrachtete ihn aufmerksam. »Mir kommst du nicht wie siebenundneunzig Kilo vor, Scott. Entschuldige, dass ich das sage, aber du siehst ein ganzes Stück schwerer aus.«
»Aber gesund?«
»Ja.«
»Nicht krank.«
»Nein. Jedenfalls nicht dem Augenschein nach, aber …«
»Habt ihr eine Waage? Bestimmt habt ihr eine. Los, prüfen wir es nach!«
Ellis sah ihn einen Moment nachdenklich an, weil er sich fragte, ob das eigentliche Problem von Scott mit den grauen Zellen hinter den Augenbrauen zu tun hatte. Nach seiner Erfahrung hatten hauptsächlich Frauen eine neurotische Beziehung zu ihrem Gewicht, obwohl das bei Männern durchaus auch vorkam. »Na gut, dann tun wir das eben. Komm mit.«
Er führte Scott in ein Arbeitszimmer voller Bücherregale. An einer der Wände hing eine gerahmte Anatomietafel, an einer anderen eine Reihe Diplome. Scott starrte auf den Briefbeschwerer, der zwischen dem Computer und dem Drucker stand. Ellis folgte seinem Blick und lachte. Er nahm den Schädel vom Tisch und warf ihn Scott zu.
»Der ist aus Plastik, nicht aus Knochen, also kannst du ihn gerne fallen lassen. Ein Geschenk von meinem ältesten Enkel. Der ist dreizehn, was offenbar das Alter der geschmacklosen Geschenke ist. Komm hierher, dann sehen wir mal, was sich ergibt.«
In der Ecke stand eine Arztwaage mit einem Querstab, auf dem man zwei Gewichte, eines groß und eines klein, verschieben konnte, bis er sich im Gleichgewicht befand. Ellis tätschelte die Waage. »Als ich im Stadtzentrum meine Praxis zugemacht habe, habe ich nur zwei Dinge behalten: die Anatomietafel an der Wand und das Ding hier. Es ist eine von Seca und die beste medizinische Waage, die man je hergestellt hat. Ein Geschenk von meiner Frau, vor vielen Jahren, und du kannst mir glauben, dass der niemand je vorgeworfen hat, keinen Geschmack zu haben. Oder geizig zu sein.«
»Ist sie exakt?«
»Sagen wir mal, wenn ich einen Viertelzentnersack Mehl draufstelle und der laut Anzeige bloß vierundzwanzig Pfund wiegt, würde ich zum Laden fahren und reklamieren. Du solltest natürlich die Stiefel ausziehen, wenn du dein richtiges Gewicht auch nur annähernd erfahren willst. Und wieso hast du deine Jacke mitgebracht?«
»Das wirst du gleich sehen.« Anstatt die Stiefel auszuziehen, zog Scott sogar seinen Parka mit den klimpernden Taschen wieder an. Voll bekleidet, und das auch noch für einen wesentlich kälteren Tag, trat er auf die Waage. »Leg los!«
Unter Berücksichtigung von Schuhwerk und voller Bekleidung stellte Ellis die Waage großzügig auf hundertfünfzehn Kilo ein, um dann zu tarieren. Er schob das Gegengewicht erst zügig, dann stückchenweise weiter. Die Zunge der Anzeige blieb bei hundertzehn, hundertfünf und sogar noch bei hundert am Anschlag, was er für unmöglich gehalten hätte. Selbst ohne Parka und Stiefel sah Scott Carey einfach schwerer aus. Ellis hätte sich zwar um ein paar Pfund verschätzen können, aber um derart danebenzuliegen, hatte er in seinem Leben eigentlich zu viele übergewichtige Männer und Frauen gewogen.
Erst bei knapp siebenundneunzig Kilo war der Stab im Gleichgewicht.
»Da wird doch der Hund in der Pfanne verrückt«, sagte Ellis. »Ich muss das Ding neu kalibrieren lassen.«
»Das glaube ich nicht«, sagte Scott. Er trat von der Waage und steckte die Hände in die Jackentaschen. Er holte jeweils eine Handvoll Vierteldollarmünzen hervor. »Die habe ich jahrelang in einem antiken Nachttopf gesammelt. Als Nora mich verlassen hat, war der fast voll. Ich habe mindestens fünf Pfund Metall in jeder Tasche, vielleicht sogar mehr.«
Ellis sagte nichts. Er war sprachlos.
»Ist dir jetzt klar, wieso ich nicht zu Dr. Adams gehen wollte?« Scott ließ die fröhlich klingelnden Münzen in die Jackentaschen zurückrieseln.
Ellis fand seine Stimme wieder. »Nur damit wir uns richtig verstehen – zu Hause hast du dasselbe Gewicht gemessen?«
»Ohne die geringste Abweichung. Meine Waage ist so eine Personenwaage von Ozeri und vielleicht nicht so gut wie die da, aber ich habe sie überprüft, und sie stimmt. Jetzt pass auf. Ich lege beim Strippen sonst zwar gern Discomusik auf, aber da wir im Club schon gemeinsam in der Umkleide waren, können wir jetzt wohl drauf verzichten.«
Scott schlüpfte aus seinem Parka und hängte ihn über einen Stuhl. Dann stützte er sich erst mit der einen und dann mit der anderen Hand auf dem Schreibtisch von Doctor Bob ab, um die Stiefel auszuziehen. Als Nächstes kam das Flanellhemd, und schließlich löste er den Gürtel und stieg aus seinen Jeans, bis er in Boxershorts, T-Shirt und Socken dastand.
»Den Rest könnte ich zwar auch noch ausziehen, aber ich glaube, ich habe genügend abgelegt, um die Sache zu demonstrieren«, sagte er. »Das ist es nämlich, was mir Angst macht. Das mit den Klamotten. Deshalb wollte ich mit einem Freund sprechen, der den Mund halten kann, und nicht mit meinem regulären Arzt.« Er deutete auf die Kleidungsstücke und die Stiefel auf dem Boden und dann auf den Parka mit seinen ausgebeulten Taschen. »Was meinst du, wie viel das ganze Zeug wiegt?«
»Samt den Münzen? Mindestens sechs Kilo. Vielleicht sogar acht. Willst du es wiegen?«
»Nein«, sagte Scott.
Er stellte sich wieder auf die Waage. Es war nicht nötig, die Gewichte zu verschieben. Die Zunge zeigte weiterhin auf siebenundneunzig Kilo.
Scott zog sich an, dann gingen die beiden ins Wohnzimmer zurück. Ellis schenkte jedem eine winzige Portion Woodford Reserve ein, und obwohl es erst zehn Uhr morgens war, lehnte Scott nicht ab. Als er sein Glas mit einem einzigen Schluck leerte, entzündete der Whiskey in seinem Magen ein tröstliches Feuer. Bob nippte zweimal daran, als wollte er die Qualität prüfen, bevor er den Rest hinunterkippte. »Also, das ist ganz und gar ein Ding der Unmöglichkeit«, sagte er, während er das leere Glas auf ein Tischchen stellte.
Scott nickte. »Ein weiterer Grund, weshalb ich Dr. Adams nicht darauf aufmerksam machen wollte.«
»Weil es dann im System auftauchen würde«, sagte Ellis. »Es würde aktenkundig. Außerdem würde er tatsächlich darauf bestehen, dass du dich bestimmten Tests unterziehst, um herauszubekommen, was da eigentlich los ist.«
Scott sprach es zwar nicht aus, dachte jedoch, dass Dr. Adams nicht nur auf irgendwelchen Untersuchungen bestanden hätte.In Gewahrsam nehmen war der Gedanke, den er im Sprechzimmer im Sinn gehabt hatte. Daraufhin hatte er beschlossen, den Mund zu halten und stattdessen mit seinem im Ruhestand befindlichen Freund darüber zu reden.
»Du siehst nach etwa hundertzehn Kilo aus«, sagte Ellis. »Fühlst du dich auch so?«
»Nicht so richtig. Als ich noch so viel gewogen habe, hab ich mich ein bisschen … hm … schlurfig gefühlt. Den Ausdruck gibt es wohl nicht so richtig, aber was Besseres fällt mir nicht ein.«
»Ich finde, es ist ein guter Ausdruck«, sagte Ellis. »Egal ob er im Wörterbuch steht oder nicht.«
»Es lag nicht bloß am Übergewicht, obwohl ich wusste, dass ich welches hatte. Dazu mein Alter und …«
»Die Scheidung?« Ellis fragte das auf seine sanfteste Doctor-Bob-Art.
Scott seufzte. »Klar, die auch. Die hat einen Schatten auf mein Leben geworfen. Jetzt geht’s schon besser, das heißt, mir geht’s besser, aber der Schatten ist noch da. Das kann ich nicht bestreiten. Körperlich habe ich mich allerdings nie schlecht gefühlt; ich bin weiterhin dreimal die Woche ins Studio gegangen und erst beim dritten Satz außer Puste gekommen, aber trotzdem war ich einfach … na ja, schlurfig halt. Jetzt fühle ich mich nicht mehr so, zumindest nicht mehr so sehr.«
»Du hast mehr Energie.«
Scott überlegte, dann schüttelte er den Kopf.