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Erinnerung an die Zukunft E-Book

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Beschreibung

Das II. Vaticanum hat das Selbstverständnis der katholischen Kirche erneuert und eine dialogische Öffnung zur Moderne vollzogen. Das große und erfreulich positive Echo, das der vorliegende Band gefunden hat, ist Anlass für diese aktualisierte und um einige Beiträge erweiterte Neuauflage. "Hier kommt der neueste Stand der Forschung zur Sprache. Studierende und Lehrende der Theologie werden auf dieses Kompendium kaum verzichten können." (S. Pemsel-Maier)

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Erinnerungan die Zukunft

Das Zweite Vatikanische Konzil

Herausgegebenvon Jan-Heiner Tück

Impressum

2., aktualisierte und erweiterte Auflage 2013

© Verlag Herder GmbH, Freiburg im Breisgau 2013

Alle Rechte vorbehalten

www.herder.de

Umschlaggestaltung: Verlag Herder

ISBN (E-Book) 978-3-451-80034-4

ISBN (Buch) 978-3-451-33568-6

Inhalt

Das Konzil – „ein großartiges Werk des Heiligen Geistes“ Vorwort zur zweiten Auflage

Geleitwort

Christoph Kardinal Schönborn, Erzbischof von Wien

Erinnerung an die Zukunft. 50 Jahre Zweites Vatikanisches Konzil. Einleitung

Jan-Heiner Tück, Wien

… in mundo huius temporis … Die Bedeutung des Zweiten Vatikanischen Konzils im kulturellen Transformationsprozess der Gegenwart: Das Textcorpus des Zweiten Vatikanischen Konzils ist ein konstitutioneller Text des Glaubens

Peter Hünermann, Tübingen

Das Zweite Vatikanische Konzil als kirchlicher Diskurs über die Moderne. Ein philosophischer Beitrag zur Frage nach der Hermeneutik des Konzils

Hans Schelkshorn, Wien

Die Verbindlichkeit des Konzils. Die Hermeneutik der Reform als Interpretationsschlüssel

Jan-Heiner Tück, Wien

Postkonziliare Interpretationskonflikte. Nachtrag zur Debatte um die Verbindlichkeit des Konzils

Jan-Heiner Tück, Wien

I. Die erneuerte Liturgie als sichtbarste Frucht des Konzils

Gipfelpunkt und Quelle. Intention und Rezeption der Liturgiekonstitution Sacrosanctum Concilium

Albert Gerhards, Bonn

Pastoralliturgische Erneuerungen des Konzils – und ihre Impulse für die Zukunft

Johann Pock, Wien

Die Mysterientheologie Odo Casels und die Liturgiereform

Helmut Hoping, Freiburg i. Br.

Die Einheit der Liturgie in der Vielfalt der Riten und Formen. Zwei Entwicklungen aus der jüngeren Vergangenheit

Hans-Jürgen Feulner, Wien

II. Das erneuerte Selbstverständnis der Kirche

Die Kirchenkonstitution Lumen gentium. Programmatische Vision – Kompromisstext – Ansatz für einen Paradigmenwechsel

Christoph Theobald, Paris

Volk Gottes – Leib Christi – Communio im Hl. Geist. Zur Ekklesiologie im Ausgang vom Zweiten Vatikanischen Konzil

Walter Kardinal Kasper, Rom

Extra ecclesiam nulla salus. Das Modell der gestuften Kirchenzugehörigkeit und seine dialogischen Potentiale

Jan-Heiner Tück, Wien

Primat des Papstes und Kollegialität der Bischöfe. Konsensmodell oder Quadratur des Kreises?

Thomas Prügl, Wien

Berufen zur Heiligkeit. Anmerkungen zum 5. Kapitel von Lumen gentium

Marianne Schlosser, Wien

Der eschatologische Charakter der Kirche nach Lumen gentium – Anstöße für eine Kirche der Zukunft

Christian Stoll, Wien

Ein Paradigmenwechsel. Das mariologische Schlusskapitel der Kirchenkonstitution

Karl-Heinz Menke, Bonn

Das Konzil am Grab. Das Grabmal Pauls VI. und der „Pakt der Katakomben“ als Verständnishilfen für den ästhetischen Perspektivenwechsel des Konzils

Kurt Appel / Sebastian Pittl, Wien

Das Zweite Vatikanische Konzil und das Kirchenrecht

Ludger Müller, Wien

III. Ökumenische Öffnung und Dialog mit den Religionen

Ökumene im Wandel. Zum Zukunftspotential des Ökumenismusdekrets Unitatis redintegratio

Kurt Kardinal Koch, Rom

Öffnung und Grenzen. Das Ökumenismusdekret aus evangelischer Sicht

Bischof Michael Bünker, Wien

Verhaltene Öffnung, verhaltene Freude? Zur orthodoxen Rezeption des Ökumenismusdekrets

Ioan Moga, Wien

Schwesterkirchen – ja, aber … Zum Verhältnis der katholischen Kirche zur Orthodoxie

Rudolf Prokschi, Wien

Nostra aetate – Grundsatzerklärung über die Beziehungen der Kirche zu den Religionen

Johann Figl / Ernst Fürlinger, Wien

IV. Offenbarung, Schrift und Tradition

Theologie mit Seele. Der Stellenwert der Schriftauslegung nach der Offenbarungskonstitution Dei Verbum

Thomas Söding, Bochum

Zwei antagonistische Modelle der Schriftauslegung in Dei Verbum?

Ludger Schwienhorst-Schönberger, Wien

Nicht nur legitim, sondern unerlässlich … Die historischkritische Methode nach Dei Verbum 12 und den folgenden kirchlichen Dokumenten

Roman Kühschelm, Wien

Der Wandel im Offenbarungsverständnis. Vatikanum I – Vatikanum II – weiterführende Perspektiven

Johann Reikerstorfer, Wien

V. Kirche und Moderne

Glaubenspastoral zwischen Innen und Außen. Gnadentheologische Überlegungen zum Weltdienst der Kirche

Ottmar Fuchs, Tübingen

Christliche Sozialethik in der Moderne. Der kaum rezipierte Ansatz von Gaudium et spes

Ingeborg Gabriel, Wien

Kirche im Dialog mit der modernen Welt – Illusion oder Notwendigkeit? Zur Aktualität von Gaudium et spes

Slavomír Dlugoš / Sigrid Müller, Wien

Würdigung und Kritik des neuzeitlichen Atheismus in Gaudium et spes

Rudolf Langthaler, Wien

Die Sorge für den Frieden als Element der kirchlichen Sendung und die Rolle der Menschenrechte

Konrad Hilpert, München

Gegenwart als locus theologicus. Für eine migrationssensible Theologie im Anschluss an Gaudium et spes

Regina Polak / Martin Jäggle, Wien

VI. Religions- und Gewissensfreiheit

Das Recht, ungehindert die Wahrheit zu suchen. Die Erklärung über die Religionsfreiheit Dignitatis humanae

Eberhard Schockenhoff, Freiburg i. Br.

Personenregister

Autorenverzeichnis

Das Konzil – „ein großartiges Werk des Heiligen Geistes“

Vorwort zur zweiten Auflage

Als Ereignis in der Kirche ist das Konzil eine noch nicht abgeschlossene Angelegenheit.

Joseph Ratzinger1

Das Zweite Vatikanische Konzil ad acta zu legen und als abgeschlossene Angelegenheit zu betrachten hieße, seine Erneuerungspotentiale leichtfertig aufs Spiel zu setzen. Das Konzil ist ein Ereignis der Kirche, es hat eine Vielzahl von Dokumenten hinterlassen, deren Impulse das Leben der Kirche bis heute prägen. Kritiker machen das Konzil für die anhaltende Krise der Kirche verantwortlich. Sie sprechen von Anpassung an den Zeitgeist und monieren einen Verrat an der Lehrtradition der Kirche. Dem ist entgegen zu halten, dass die Krise bereits vor dem Konzil eingesetzt hat und wohl noch größere Ausmaße angenommen hätte, wenn das Konzil nicht wirksame Impulse der Erneuerung zur Überwindung der Krise gesetzt hätte. Diese Erneuerungsimpulse, die auf die weitere Tradition von Schrift und Kirchenvätern zurückgreifen, gilt es um der Zukunft der katholischen Kirche willen auch heute präsent zu halten. Das zumindest ist die Absicht des vorliegenden Bandes, der erfreulicherweise nach kurzer Zeit in eine erweiterte zweite Auflage gehen kann. Aus diesem Anlass wurde die Einleitung aktualisiert und um die Angabe einiger Neuerscheinungen ergänzt. Überdies wurden den Beiträgen zur Kirchenkonstitution Lumen gentium Aufsätze zur eschatologischen Bestimmung der Kirche (Christian Stoll) sowie zur Debatte um das mariologische Schlusskapitel (Karl-Heinz Menke) beigefügt; die Kommentare zur Pastoralkonstitution Gaudium et spes konnten durch Beiträge zum Dialog mit der Moderne (Slavomír Dlugoš/Sigrid Müller) und zur Lehre von Frieden und Gerechtigkeit in einer globalen Welt im Ausgang von der Enzyklika Pacem in terris (Konrad Hilpert) erweitert werden. Schließlich wurde ein Nachtrag zur anhaltenden Debatte um den Verbindlichkeitsgrad des Konzils beigefügt, der auf einen Beitrag von Walter Kardinal Brandmüller über postkonziliare Interpretationsprobleme Bezug nimmt (Jan-Heiner Tück).

Wie der Titel des Buches anzeigt, ist es die leitende Absicht, die Wegweisungen des Konzils in Erinnerung zu rufen und für die künftige Selbstverständigung der Kirche fruchtbar zu machen. Papst Franziskus hat dieses Anliegen jüngst unterstrichen, als er in seiner Predigt am 16. April 2013 sagte: „Das Konzil war ein großartiges Werk des Heiligen Geistes […]. Aber heute, 50 Jahre danach, müssen wir uns fragen: Haben wir da all das getan, was uns der Heilige Geist im Konzil gesagt hat? In der Kontinuität und im Wachstum der Kirche, ist da das Konzil zu spüren gewesen? Nein, im Gegenteil: Wir feiern dieses Jubiläum und es scheint, dass wir dem Konzil ein Denkmal bauen, aber eines, das nicht unbequem ist, das uns nicht stört. Wir wollen uns nicht verändern und es gibt sogar auch Stimmen, die gar nicht vorwärts wollen, sondern zurück: Das ist dickköpfig, das ist der Versuch, den Heiligen Geist zu zähmen. So bekommt man törichte und lahme Herzen.“ Diesem päpstlichen Wort ist nichts hinzuzufügen.

Wien, Pfingsten 2013Jan-Heiner Tück

Geleitwort

Für die Generation, der ich angehöre, ist das Konzil nicht Geschichte, sondern erlebte Gegenwart, eine Gegenwart freilich, die fünfzig Jahre Wirkungsgeschichte hat. Als junger Dominikaner habe ich das Konzil mit Begeisterung als Aufbruch erlebt. In der Folgezeit aber ereignete sich mancher Einbruch, ja zum Teil manch dramatischer Abbruch. In wenigen Jahren haben sich unsere Klöster radikal verändert, sind geschrumpft und wurden zum Teil geschlossen. Viele ähnliche Erfahrungen prägten die Nachkonzilszeit. Und doch sind auch die Aufbrüche nicht zu übersehen: Viele neue Gemeinschaften blühten auf und vor allem gelang der Schritt zu einer echten Weltkirche.

Fünfzig Jahre danach gilt es, innezuhalten und sich neu auf die Kernaussagen des Konzils zu besinnen. Leitstern bleiben dabei die Worte des seligen Papstes Johannes XXIII. am 11. Oktober 1962 in der Eröffnungsansprache Gaudet Mater Ecclesia: „Erleuchtet vom Licht des Konzils, so vertrauen Wir fest, wird die Kirche an geistlichen Gütern zunehmen und, mit neuen Kräften von daher gestärkt, unerschrocken in die Zukunft schauen.“1 Der Blick in die Zukunft prägte die Arbeit des Konzils und so hat es für die Katholische Kirche und ihre Zukunft tragfähige Vorgaben gegeben. Es brachte eine Öffnung zu den anderen christlichen Konfessionen, zu den anderen Religionen und zur Welt hin. Vieles, was uns heute selbstverständlich erscheint, wurde durch die Beschlüsse des Konzils ermöglicht. Am deutlichsten spürbar ist dies sicher in der Liturgiereform. Fünfzig Jahre nach der Eröffnung sind die Texte des Konzils für das katholische Selbstverständnis wie für das kirchliche Handeln leitend. Gleichzeitig steht das Konzil aber auch im Mittelpunkt intensiver Auseinandersetzungen: „Ist es bis jetzt noch nicht oder nur mangelhaft umgesetzt?“, so fragen die Einen, während es für Andere einen Bruch mit der Tradition bedeutet. Wie aber hat Papst Johannes XXIII. seine großartige Initiative verstanden? Wie hat sein Nachfolger, Papst Paul VI., das Konzil gewollt? Was wollten die Konzilsväter, die Bischöfe aus aller Welt? Aber die eigentliche Frage war für die Konzilsväter damals und bleibt für uns Katholiken heute: Was will Jesus Christus von seiner Kirche, von uns?

Das Konzil hat die Kirche als Mysterium, als universales Sakrament des Heils bezeichnet und ganz von Christus her verstanden. Daher hat das Konzil sich diese Frage gestellt: Was will Jesus von seiner Kirche in dieser Welt heute? Wie kann die Kirche Christus, das Licht der Völker, in die Welt hinaus tragen? Große Themen wie Liturgie, Offenbarung, Kirche, der Platz der Christen in der Welt, das Verhältnis der christlichen Konfessionen zueinander, die Haltung zu den anderen Religionen und zu Nichtgläubigen oder die Gewissensfreiheit, sind heute so aktuell wie damals. Und so ist eine Erinnerung an das Konzil immer auch eine Orientierung für die Zukunft.

Die Katholisch-Theologische Fakultät der Universität Wien hat den Auftakt zu diesem Konzilsjubiläum mit zwei Tagungen begangen, die einer Relecture der Konzilstexte gewidmet waren. Der vorliegende Band dokumentiert die Vorträge dieser beiden Tagungen, die versuchen, die Dokumente des Konzils neu zu lesen, im Kontext heutiger Fragen und im Blick auf neue Herausforderungen zu interpretieren und so Wegweisungen für die Zukunft der Kirche zu gewinnen. Als Erzbischof von Wien und Großkanzler der Katholisch-Theologischen Fakultät danke ich allen, die ihre wissenschaftliche Arbeit in den Dienst dieses Projektes gestellt und so zum Gelingen der Tagungen beigetragen haben. Die Erfahrung der Geschichte zeigt, dass die Rezeption eines großen Konzils oft lange Zeit und viel Geduld erfordert. Möge dieser Band ein Schritt auf dem Weg der Realisierung des Konzils sein. Sein Reichtum wartet immer noch auf die volle Entfaltung.

+ Christoph Kardinal SchönbornErzbischof von Wien

Erinnerung an die Zukunft

50 Jahre Zweites Vatikanisches KonzilEinleitung

Jan-Heiner Tück, Wien

Pius ist nicht der letzte der Päpste … Lasst uns glauben, und ein neuer Papst und ein wieder versammeltes Konzil können das Boot vielleicht flottmachen.

John Henry Newman1

Das Konzil kam 50 Jahre zu spät, es hat Antworten auf Fragen gegeben, die keiner mehr gestellt hat, die damals versammelten Bischöfe waren überwiegend bürgerlicher Herkunft und haben die bedrängende Situation der Armen übersehen. Das ist die provokante Bilanz, die der jüngst verstorbene Befreiungstheologe José Comblin (1932–2011) vor einigen Jahren in der Zeitschrift Concilium gezogen hat.2

Das große Interesse, welches das Symposium Erinnerung an die Zukunft – 50 Jahre II. Vatikanisches Konzil an der Universität Wien gefunden hat, spricht eine andere Sprache. Es zeigt, dass den Antworten, die damals gegeben wurden, auch heute noch einiges zugetraut wird. Dennoch kann man sich fragen, wie die Geschichte der katholischen Kirche verlaufen wäre, wenn der lähmende Antimodernismus frühzeitig abgewendet worden wäre, wenn die Kirche schon zu Beginn des 20. Jahrhunderts eine kraftvolle Selbsterneuerung eingeleitet, eine ökumenische Öffnung vollzogen und den Dialog mit der Moderne aufgenommen hätte. Die Frage ‚Was wäre gewesen, wenn?‘ kann vor der „retrospektiven Fatalitätsillusion“3 bewahren, dass alles so kommen musste, wie es gekommen ist, und das Bewusstsein für ungenutzt gebliebene Handlungsspielräume und unausgeschöpfte Potentiale schärfen. Allerdings erzeugt die Frage nach historisch möglichen, aber nicht wahrgenommenen Alternativen und verpassten Chancen nicht selten nostalgische Emotionslagen.

Lenken wir daher den Blick auf das Konzil selbst, dessen Ankündigung und Verwirklichung noch in der Mitte des 20. Jahrhunderts kaum jemand für möglich gehalten hätte. Nachdem das I. Vatikanum dem Papst ein Maximum an lehramtlichen und jurisdiktionellen Kompetenzen zugesprochen hatte, war unter Theologen die Auffassung vorherrschend, die Einberufung eines weiteren Konzils zur Verständigung über den Weg der Kirche erübrige sich von selbst, es handele sich um eine rein theoretische Möglichkeit ohne Aussicht auf Verwirklichung. Dennoch haben die Päpste Pius XI. (eher flüchtig) und Pius XII. (ziemlich gründlich) die Idee eines neuen Konzils erwogen, um das I. Vatikanum, das 1870 wegen Ausbruch des deutsch-französischen Krieges vorzeitig abgebrochen werden musste, weiterzuführen und zu vervollständigen. Pius XII. wollte nach der Katastrophe des Zweiten Weltkriegs die katholische Einheit machtvoll demonstrieren und gegenwärtige Irrtümer in Theologie und Philosophie klar zurückweisen. Er ließ Kommissionen einsetzen – wurde aber des Konzilsprojekts nach Studium der Akten überdrüssig und kam zu der Ansicht, durch zentrale lehramtliche Akte dieselben Maßnahmen effizienter und sparsamer durchführen zu können. Die Irrtümer der Zeit, insbesondere „gefährliche“ Tendenzen in Philosophie und Theologie, wurden 1950 in der defensiv gehaltenen Enzyklika Humani generis zurückgewiesen, die man als letztes Aufflackern des Antimodernismus deuten kann. Mit der Veröffentlichung wurde die théologie nouvelle, die eine Erneuerung der Kirche aus dem Geist von Schrift und Patristik anstrebte, weiter in Misskredit gebracht und einer ihrer führenden Vertreter, Henri de Lubac SJ, lehramtlich zensiert.4 Ein Zeichen für die katholische Einheit aber setzte Pius XII. im selben Jahr durch die Verkündigung des Dogmas von der leiblichen Aufnahme Mariens in den Himmel5 – nicht ohne zuvor den Weltepiskopat brieflich konsultiert zu haben.6 Ein Konzil unter Pius XII. hätte wohl „die Inhalte von Humani generis festgeschrieben und als krönenden Abschluss dann das Mariendogma verkündet“7.

Der betagte „Übergangspapst“ Johannes XXIII., der am 28. Oktober 1958 überraschend aus dem Konklave hervorgegangen war und schon durch die Wahl des Namens andeutete, dass er die Tradition der Pius-Päpste nicht ungebrochen fortsetzen wollte, fasste hingegen wenige Tage nach seiner Wahl den Entschluss, das Projekt eines Konzils zur Erneuerung der Kirche wieder aufzunehmen, verband damit allerdings ganz andere Akzentsetzungen als seine Vorgänger. Einer „Eingebung“ (ispirazione) folgend, wie er im Sinne einer spirituellen Selbstdeutung wiederholt bekundete, studierte er Konzilsakten, führte vertrauliche Gespräche mit den engsten Mitarbeitern und kündigte am 25. Januar 1959, dem Ende der Gebetsoktav für die Einheit der Christen, vor den 17 in Rom anwesenden Kardinälen nach einem Gottesdienst in der Basilica di San Paolo fuori le mura „ein wenig vor Bewegung zitternd, aber zugleich mit demütiger Entschlossenheit des Vorsatzes“ ein Ökumenisches Konzil an.8 Die Überraschung war groß, die Reaktion der Kardinäle verhalten bis ablehnend. „Von den 74 Kardinälen, die schriftlich von der Rede des Papstes in Kenntnis gesetzt worden waren, antworteten nur 24 zustimmend, 38 Kardinäle reagierten gar nicht, die übrigen begnügten sich mit Empfangsbestätigungen. Allerdings gab es auch Ausnahmen. Giovanni Battista Montini, Erzbischof von Mailand, veröffentlichte schon am 26. Januar 1959 in seiner Diözese eine zustimmende Erklärung.“9 Der Roncalli-Papst selbst hatte im Augenblick der Ankündigung, die neben einer Diözesansynode für Rom auch die Revision des bestehenden Codex iuris canonici von 1917 umfasste, noch keine fixe Idee, wie das Konzil verlaufen sollte. Über die technischen und kommunikationspraktischen Fragen, wie sich über zweitausend Bischöfe in der Konzilsaula verständigen sollten, hatte er keine klaren Vorstellungen, allerdings sorgte er gegenüber kurialen Verschleppungswünschen mit Nachdruck für eine zügige Vorbereitung. „In Anbetracht seines Alters hatte er es eilig.“10

In seiner Eröffnungsansprache Gaudet mater ecclesia vom 11. Oktober 1962 gab Johannes XXIII. dann einige Vorgaben: pastoral ausgerichtet solle das Konzil sein und auf die Beilegung von Lehr- und Disziplinarfragen verzichten. Die antiökumenische und wenig dialogische Geisteshaltung müsse überwunden werden. Es sei besser, „das Heilmittel der Barmherzigkeit“ anzuwenden als die „die Waffen der Strenge“ zu gebrauchen, um den „Schatz des Glaubens“ weiterzugeben. Dem Glauben müsse eine zeitgemäße Fassung gegeben werden, ohne ihn dadurch der Zeit anzugleichen. Aggiornamento lautete das päpstliche Programmwort, das aufhorchen ließ. Die Einsicht, dass die Sprache der kirchlichen Lehrverkündigung geschichtlichen Wandlungen unterliegt und der Glaube in jeder Zeit neu verstehend angeeignet werden muss, hat Johannes XXIII., der Kirchenhistoriker auf der cathedra Petri, in seiner Eröffnungsansprache mit wünschenswerter Deutlichkeit ausgesprochen: „Denn eines ist die Substanz der tradierten Lehre, d. h. des depositum fidei; etwas anderes die Formulierung, in der sie dargelegt wird.“11 Diese pontifikale Unterscheidung zwischen Glaubensgehalt und Sprachgestalt, die für eine hermeneutisch ansetzende Glaubensvermittlung wesentlich ist, wird unterlaufen, wenn Tradition eingefroren und die wörtliche Wiederholung von überkommenen Lehr- und Glaubensformeln zum Siegel der Rechtgläubigkeit erhoben wird. Man kann die Bedeutung des Vorstoßes in seiner Tragweite erst ermessen, wenn man sich klar macht, dass noch die Enzyklika Humani generis die strikte Beibehaltung der theologischen Schulsprache eingeschärft hatte: „Was aber die Theologie betrifft, so ist es die Absicht mancher, die Bedeutung des Dogmas möglichst auszudünnen und das Dogma selbst von der in der Kirche seit langem gebräuchlichen Ausdrucksweise und von den bei den katholischen Lehrern geltenden philosophischen Begriffen frei zu machen, damit in der Darlegung der katholischen Lehre zur Redeweise der Heiligen Schrift und der heiligen Väter zurückgekehrt werde. Sie hegen die Hoffnung, dass das Dogma der Elemente entkleidet, die nach ihren Worten der göttlichen Offenbarung fremd sind, fruchtbar mit den Lehrmeinungen derer verglichen werden könne, die von der Einheit der Kirche getrennt sind, und dass man auf diesem Wege Schritt für Schritt zu einer gegenseitigen Angleichung des katholischen Dogmas und der Ansichten der Andersgläubigen gelangen könne.“12 Das legitime Interesse, die Identität des Glaubens zu wahren, erzeugt allerdings dann, wenn Veränderungen und Herausforderungen der Zeit ausgeblendet werden, Relevanzeinbußen und Klagen über den Bedeutungsverlust. Den „Unglückspropheten“, welche die Welt in pessimistischen Farben malen, erteilte der Roncalli-Papst eine Absage und sprach von einem „neuen Pfingsten“, das die Kommunikationsbarrieren zwischen Kirche und moderner Welt, aber auch innerhalb der Kirche überwinden sollte.13

Dennoch ist im Vorfeld des Konzils eine Schere zwischen der öffentlichen Erwartungshaltung, die durch einschlägige theologische Publikationen14, aber auch die wachsende Aufmerksamkeit der Medien15 erzeugt wurde, und jenen 70 vorbereiteten Schemata festzustellen, die ganz nach Art der römischen Schultheologie gearbeitet sind und die Neuaufbrüche der biblischen, der ökumenischen und liturgischen Bewegung kaum oder gar nicht aufgreifen. Nach einhelliger Einschätzung so unterschiedlicher Theologen wie Dominique Chenu, Yves Congar, Jean Daniélou, Hans Küng, Karl Rahner, Joseph Ratzinger und Edward Schillebeeckx waren die vorbereiteten Dokumente völlig unzureichend, um eine Erneuerung der Kirche angesichts der gewandelten Herausforderungen der Zeit voranzubringen. Auch unter den Konzilsvätern mehrten sich Sorgen, dass das Konzil nach der Regie der kurialen Instanzen ablaufen und die von den Vorbereitungskommissionen erarbeiteten 70 Schemata lediglich bekräftigen sollte.16 Die Ansammlung von Texten, die einen Folianten von über 2000 Seiten gefüllt hätte, gab Anlass zu der Befürchtung, „das Konzil werde am Schluss eine Art Super-Dogmatik verabschieden, die jeder weiteren Arbeit wie ein schwerer Mühlstein im Wege liegen würde.“17

Das Konzil wäre tatsächlich zu Ende gewesen, ehe es eigentlich begonnen hätte, wären die vorbereiteten Schemata von den Bischöfen lediglich abgesegnet worden. Aber es kam anders. Durch die Interventionen der Kardinäle Achille Liénart (Lille) und Joseph Frings (Köln), beide hochangesehene Mitglieder des Präsidialrats, in der ersten Generalversammlung am 13. Oktober 1962 wurde der kuriale Plan durchkreuzt, die Mitglieder der Vorbereitungskommissionen einfach zu Mitgliedern der Konzilskommissionen wählen zu lassen. Der überraschende Antrag auf Abänderung der Geschäftsordnung sollte drei Tage Aufschub gewähren, um sich in Ruhe über qualifizierte Kandidaten zu verständigen und die Kommissionslisten eigenständig festlegen zu können. Er fand in der Konzilsaula trotz amtlichen Beifallsverbots spontanen Applaus und überwältigende Zustimmung. Durch diesen Akt episkopaler Selbstbehauptung, der von Marcel Lefebvre später als „revolutionärer Komplott“ kritisiert, von Joseph Ratzinger aber als Durchbruch „zu selbstständiger Willensbildung“18 gewürdigt wurde, konnte eine glatte Kontinuität zwischen der vorkonziliaren Arbeit und dem Konzil vereitelt werden. „Der Anspruch eines Monopols der Auslegung der Lehre, den Kardinal Ottaviani, der Präfekt des hl. Offiziums und Präsident der Theologischen Vorbereitungskommission, gefordert hatte – stets natürlich mit dem Vermerk ‚mit der Approbation des Heiligen Vaters‘ – war zurückgewiesen worden.“19 Damit aber war zugleich der Anstoß zu einem wahrhaft konziliaren Prozess gegeben, der eine eigene kollegiale Dynamik unter den Bischöfen entfalten sollte und mitnichten als „Bruch der konziliaren Legitimität“ und „Gewaltakt“20 zu deuten ist. „Es ist etwas ganz anderes, eigene Gedanken zu haben, als gezwungen zu sein, die Gedanken der anderen zu übernehmen“, bringt Kardinal Bernardin Gantin das Ereignis nachträglich auf den Punkt – und fügt an: „Das war eine Konfrontation, die den Weg zum Geist der Kollegialität geöffnet hat.“21

Schon die Selbstwahrnehmung der Kirche veränderte sich auf dem Konzil durch die Präsenz von Bischöfen aus Lateinamerika, Afrika und Asien.22 Die eurozentrische Perspektive, die noch das I. Vatikanum dominiert hatte, wurde aufgebrochen. Die Armen und Marginalisierten in den sog. Missionskirchen waren auf einmal nicht nur Objekt der Diskussion, sondern bestimmten diese – wenn auch erst anfangshaft – durch eigene Repräsentanten mit. Diese Veränderung der kirchlichen Gesprächssituation von einer eurozentrischen zu einer kulturell polyzentrischen Perspektive23 entspricht den geopolitischen Verschiebungen, die sich in der Mitte des 20. Jahrhunderts abzeichnen. Das Ende der kolonialen Vorherrschaft Europas lässt auch im intellektuellen Diskurs selbstbewusste Stimmen der sog. Dritten Welt auf den Plan treten, die das Denken der europäischen Moderne nicht einfach übernehmen, sondern kritisch befragen – Frantz Fanons viel beachtetes Buch Les damnés de la terre (1961) ist dafür ein signifikantes Beispiel. Die Anwesenheit der Bischöfe Lateinamerikas, Afrikas und Asiens auf dem Konzil veranlasst Karl Rahner, vom II. Vatikanum als dem „ersten amtlichen Selbstvollzug der Kirche als Weltkirche“24 zu sprechen. Der Versuch von Kardinal Giacomo Lercaro (Bologna)25 und Teilen des lateinamerikanischen Episkopates, die „Armen“ zur Achse der konziliaren Selbstverständigung zu machen, ist – trotz mancher Spuren in den verabschiedeten Dokumenten – gleichwohl gescheitert. Darin ist der eingangs zitierten Einschätzung von José Comblin Recht zu geben.26

Auch wenn die Bischöfe die eigentlichen Akteure des Konzils gewesen sind, so waren doch auch qualifizierte Laienvertreter in der Aula anwesend. Das Konzil hat nicht nur theoretisch die Lehre von der Kirche als dem Volk Gottes den Ausführungen über die hierarchische Verfassung der Kirche vorangestellt (vgl. LG, Kap. II) und die Lehre vom gemeinsamen Priestertum aller Gläubigen aufgrund von Taufe und Firmung wiederholt in Erinnerung gerufen (SC 14; LG 9–11; AA 3; PO 2; AG 15), es hat – zumindest anfangshaft – auch Laien am Diskurs über die Erneuerung der Kirche teilhaben lassen. Nachdem Johannes XXIII. bereits in seiner Enzyklika Pacem in terris (1963) die Frauenfrage ausdrücklich als ein „Zeichen der Zeit“ gewürdigt hatte, haben an der dritten und vierten Sitzungsperiode auch Auditorinnen teilgenommen, die teilweise durch Mitwirkung an der Kommissionsarbeit (wie Rosemary Goldie) oder Beratungstätigkeit bei bischöflichen Interventionen (wie Getrud Ehrle) zumindest indirekt Einfluss auf die Konzilsdebatten nehmen konnten – der „Anfang eines Anfangs“?27

Aber auch die Fremdwahrnehmung der anderen fließt in die Selbstwahrnehmung der Kirche ein. Anstatt die eigene Identität als „kämpfende Kirche“ (ecclesia militans) in Abgrenzung zur Welt, zu den Nichtkatholiken und Nichtchristen zu bestimmen, wie es das vorbereitete Schema De Ecclesia vorsah, wird die Perspektive der anderen ausdrücklich als Herausforderung angenommen. Schon die Frage von Papst Paul VI. am Beginn der zweiten Sitzungsperiode: „Ecclesia, quid dicis de teipsa – Kirche, was sagst du über dich selbst?“28 zeigt an, dass es auf dem Konzil um eine Reflexion der Kirche auf sich selbst geht. Dieser reflexive Zug der ekklesiologischen Selbstverständigung ist als spezifisch modern gewürdigt worden, zumal er die Außenperspektiven, die das kirchliche Selbstverständnis herausfordern, ausdrücklich mit einbezieht. Statt die Identität der katholischen Kirche in scharfer Abgrenzung zu den anderen Konfessionen, den anderen Religionen und der modernen Welt zu profilieren, erfolgt die ekklesiologische Selbstverständigung des Konzils ausdrücklich im Horizont der anderen.

Schon die Einladung offizieller nicht-katholischer Beobachter über das Einheitssekretariat ist eine signifikante Geste. Die Präsenz ausgewählter Repräsentanten der Kirchen des Ostens und der reformatorischen Tradition übt einen nicht zu unterschätzenden Einfluss auf die Konzilsdebatten aus. Ob man ‚über‘ die anderen spricht, die ‚eigene‘ Identität in Abgrenzung zu den anderen bestimmt oder diese gar diskursiv zum Verschwinden bringt – oder ob man ‚mit‘ ihnen spricht und eine Sprache sucht, die ihrem Selbstverständnis gerecht wird, ist ein erheblicher Unterschied. So wurden aus Häretikern und Schismatikern, die letztlich nur durch Rückkehr in den Schoß der römischkatholischen Kirche Heil finden können29, getrennte Brüder im Glauben, mit denen man sich in vielem verbunden wusste und deren Anwesenheit die ökumenische Sensibilität der Debatten gesteigert hat. Durch informelle Kontakte zu Bischöfen und Konzilstheologen, aber auch durch Eingaben an das Einheitssekretariat konnten sie Anregungen und Kritik anbringen und so indirekt Einfluss auf die konziliare Selbstverständigung nehmen.

Auch das Verhältnis zu den anderen Religionen wurde auf eine neue Grundlage gestellt. Das Konzil, der erste amtliche Vollzug von Weltkirche, realisiert, dass in einer globalisierten Welt unterschiedliche Religionen koexistieren. Das Christentum ist nicht die einzige Religion, wie es aus einer eurozentrischen, von bestimmten mittelalterlichen Traditionen geprägten Perspektive erscheinen mochte. Es gibt Regionen des Globus, in denen allen Missionsbemühungen zum Trotz das Christentum bislang kaum Fuß fassen konnte, ja vielleicht nie Fuß fassen wird. Das ist eine Wirklichkeit, die kirchenamtlich erstmals auf dem II. Vatikanum als Herausforderung wahr- und angenommen wird. Um eines friedlichen Zusammenlebens willen ist es auch hier wesentlich, eine Haltung der Anerkennung und des Respekts zu finden. Das Konzil zieht in der Erklärung Nostra aetate die Lehre aus der Geschichte, wenn es zunächst Wegmarken für ein neues Verhältnis zwischen Kirche und Judentum setzt und jede Form von Antisemitismus ablehnt. Aus „Gottesmördern“ können auf dieser Linie die „bevorzugten und älteren Brüder im Glauben“ werden, wie Johannes Paul II. die Juden bei seinem Besuch der Großen Synagoge von Rom 1986 nennen wird.30 Auch gegenüber dem Islam und den anderen Weltreligionen bemüht man sich um eine Haltung, die das Gemeinsame stärkt, Spuren des Guten und Wahren anerkennt, ohne den christologischen Universalitätsanspruch zurückzunehmen.

Von Anfang an war die „ganze Menschheit“ als Adressat des Konzils im Blick. Schon die Botschaft an die Welt31, die auf eine Anregung von Dominique Chenu zurückgeht und als erste Antwort auf die Erwartungen an das Konzil verstanden werden kann, setzt hier ein wichtiges Zeichen. Aber auch im Textcorpus des Konzils finden sich immer wieder Passagen, die ausdrücklich die wissenschaftlich-technischen, sozialen und kulturellen Veränderungen beleuchten, die das Zusammenwachsen der einen Welt befördern – ein Prozess, der heute unter dem Stichwort der Globalisierung beschrieben wird. Kirche als universales Heilssakrament hat letztlich alle Menschen zu Adressaten (vgl. LG 1, GS 1). Diese universale Ausrichtung führt im konziliaren Selbstverständigungsprozess dazu, dass am Ende selbst die Grenzlinie zwischen Gläubigen und Nichtgläubigen nicht mehr so scharf gezogen wird. Statt Atheisten als ‚Heiden‘ und ‚Ungläubige‘ zu kennzeichnen, werden sie als suchende ‚Menschen guten Willens‘ gewürdigt (vgl. LG 16; GS 19–22). Die Solidarität mit den Suchbewegungen der modernen Welt verbindet sich hier mit dem selbstkritischen Bewusstsein, den Nichtglaubenden möglicherweise durch eigenes Fehlverhalten den Zugang zum Glauben verstellt zu haben.

Wenn nicht alles täuscht, ist der dialogische Aufbruch momentan wieder gefährdet. 50 Jahre nach Abschluss des Konzils und angesichts einer durchaus immer noch anhaltenden konfliktträchtigen Wirkungsgeschichte32 gibt es Stimmen, die nach schärferer Abgrenzung verlangen, die die Kirche als Gegenwelt zum forcierten Pluralismus der Spätmoderne empfehlen.33 Die Schleifung der Bastionen, die Hans Urs von Balthasar bereits 1952 in einer viel gelesenen Streitschrift gefordert hatte, soll rückgängig gemacht werden, den Akteuren des Konzils wird vorgeworfen, sich dem Druck der Medien gebeugt und einem oberflächlichen Optimismus geöffnet zu haben.34 Solche Einschätzungen hängen sicher damit zusammen, dass es im Namen der dialogischen Öffnung hier und dort zu Identitätsdiffusionen und Konturverlusten gekommen ist. Weder die chamäleonhafte Anpassung an die Trends der Zeit noch die antimodernistische Restauration der Kirche als Bastion der Wahrheit entsprechen allerdings dem Grundanliegen des II. Vatikanum, das die Rückbesinnung auf die Quellen von Schrift und Tradition mit einem wachen Gespür für die Zeichen der Zeit verbunden hat. Die Theologie des ressourcement, die hinter die nachtridentinisch gegenreformatorisch verengte Tradition der Neuscholastik auf die Quellen von Bibel und Patristik zurückgreift, und die Schärfung des zeitdiagnostischen Sensoriums gehören zusammen.

Das Konzil hat universalkirchlich verbindliche Weichenstellungen vorgenommen. Die Erinnerung an diese Weichenstellungen, die vom Weltepiskopat nahezu einmütig verabschiedet und von Papst Paul VI. promulgiert wurden, ist für die Zukunft der katholischen Kirche konstitutiv. Die Konzilstexte geben zu erkennen, was die nach innen und die nach außen geltenden Eckpunkte des kirchlichen Selbstverständnisses in den gesellschaftlichen Transformationsprozessen der Gegenwart sind. Auch die säkulare Öffentlichkeit orientiert sich an diesen Aussagen, wenn sie wissen will, wie sich die Kirche selbst versteht. Damit ist zugleich verbunden, dass sich die Kirche selbst auf diese Weichenstellungen hin ansprechen lässt, dass sie ihr konkretes Tun daran messen lässt. Die Aufhebung der Exkommunikation der vier Bischöfe der Piusbruderschaft hat wohl auch darum ein weltweites Echo erzeugt, weil der Eindruck entstehen konnte, wichtige Aussagen des Konzils würden um der Aussöhnung mit den Traditionalisten willen zur Disposition gestellt.

Hinzu kommt der Streit um die Frage, wie die Konzilsdokumente zu lesen sind. Es ist bekannt, dass der Grundsatz der klassischen Konzilshermeneutik, die Dokumente von den verurteilten Lehrpositionen her zu lesen, beim II. Vatikanum nicht greift. Es hat bewusst auf dogmatische Lehrverurteilungen verzichtet und eine pastoral darlegende Sprache gewählt. Darüber hinaus handelt es sich bei nicht wenigen Konzilsdokumenten um Kompromisstexte, die verbindlich den fast einmütigen Konsens des versammelten Weltepiskopats wiedergeben, in denen sich aber gegenläufige, nicht immer vermittelte Aussagen finden. Daher verwundert es nicht, dass in der gegenwärtigen Debatte unterschiedliche Lesarten im Raum stehen: Den einen gehen die Reformen, die das II. Vatikanum angestoßen hat, nicht weit genug, sie berufen sich auf den Geist des Konzils, um über den Buchstaben mancher Texte hinausgehen zu können und die Dynamik des Wandels ungeduldig fortzuschreiben. Anderen hingegen geht die postkonziliare Erneuerung schon lange zu weit, sie stellen die Verbindlichkeit der Konzilsbeschlüsse in Frage und suchen die Reformimpulse unter Verweis auf die nachtridentinische Tradition als Irrweg zu entlarven.35Eine dritte Lesart, die von einer ganzen Gruppe von Theologen favorisiert wird und unterschiedliche Nuancierungen findet, setzt sich für eine geduldige Relecture der Konzilsdokumente ein, um Verkürzungen in der nachkonziliaren Rezeption gegenzusteuern und Orientierungsmarken für die kirchliche Selbstverständigung heute zu finden. Der aktuelle Streit um die Zukunft der Kirche, der zuletzt im Memorandum der Theologinnen und Theologen, aber auch im „Aufruf zum Ungehorsam“ der österreichischen Pfarrerinitiative36 viel beachtete Artikulationen gefunden hat, ist damit auch ein Streit um die Deutung des Konzils.

Kaum zufällig hat sich Papst Benedikt XVI., neben Hans Küng einer der wenigen noch lebenden Mitakteure des II. Vatikanums37 (beide wurden vom Münchner Dogmatiker Michael Schmaus als „theologische Teenager“ auf dem Konzil bezeichnet), gleich in seiner ersten Weihnachtsansprache an die römische Kurie vom Dezember 2005 zur Frage der Konzilshermeneutik geäußert. Der Papst lehnt Lesarten ab, die unter dem Vorzeichen des Bruchs oder der Diskontinuität stehen und eine Zäsur zwischen der vor- und der nachkonziliaren Kirche ansetzen.38 Er selbst wirbt nicht, wie ihm manche Kritiker unterstellt haben, für eine Lesart der Kontinuität, sondern für eine Hermeneutik der Reform, bei der Kontinuität im Grundsätzlichen und Diskontinuität im Blick auf Einzelfragen zusammengehen.39 Offen ist allerdings, wie eine solche Hermeneutik der Reform genau ausbuchstabiert werden soll.

Der hier nur schematisch angedeutete Konflikt der Interpretationen zeigt, dass wir uns 50 Jahre nach dem Konzil in einem folgenreichen Übergang befinden. Das kommunikative Gedächtnis, das sich auf Akteure und Zeitzeugen des Konzils und damit auf mündliche Überlieferungen stützen kann, weicht mehr und mehr – um eine Unterscheidung von Jan Assmann aufzunehmen40 – dem kulturellen Gedächtnis, das auf das Textcorpus der verabschiedeten Dokumente, aber auch auf die Vorstufen, das weit gestreute Material von Tagebuchaufzeichnungen und Korrespondenzen der Konzilstheologen und Bischöfe zurückgreift. Schon früh hat die durch Giuseppe Alberigo angestoßene historische Aufarbeitung des Konzilsverlaufs auf diesen Übergang reagiert, die neuerdings durch ein Lexikon flankiert wird, das instruktive Kurzbiographien der wichtigsten Konzilsakteure bietet.41

Peter Hünermann hat in einem wichtigen Aufsatz von 2005 den konstitutionellen Rang der Konzilsdokumente hervorgehoben und das Textcorpus des Konzils mit einem Verfassungsdokument verglichen.42 Er hat damit eine pontifikale Replik durch Benedikt XVI. provoziert, die bislang kaum beachtet worden ist.43 Schon wenige Wochen später hat der Papst auf Hünermanns Vergleich reagiert und in seiner bereits erwähnten Weihnachtsansprache festgehalten, bei einem solchen Vergleich „missverstehe man bereits im Ansatz die Natur eines Konzils als solchem. Es wird so als eine Art verfassunggebende Versammlung betrachtet, die eine alte Verfassung außer Kraft setzt und eine neue schafft. Eine verfassunggebende Versammlung braucht jedoch einen Auftraggeber und muss dann von diesem Auftraggeber, also vom Volk, dem die Verfassung dienen soll, ratifiziert werden. Die Konzilsväter besaßen keinen derartigen Auftrag, und niemand hatte ihnen jemals einen solchen Auftrag gegeben; es konnte ihn auch niemand geben, weil die eigentliche Kirchenverfassung vom Herrn kommt.“ Der Papst macht demnach zwei Differenzen geltend: 1. Ein verfassunggebendes Organ setzt eine neue Verfassung in Kraft, indem es eine alte abrogiert, dadurch entsteht verfassungsrechtlich eine Diskontinuität.44 2. Zugleich weist er darauf hin, dass eine verfassunggebende Versammlung im politischen Bereich eines Auftraggebers bedarf, der sie legitimiert und die erarbeitete neue Verfassung dann auch ratifiziert. Die Versammlung der Bischöfe auf dem Konzil geht demgegenüber auf keine demokratische Legitimationsinstanz zurück, da die Kirchenverfassung – wie es abgekürzt heißt – vom Herrn selbst komme. Bischöfe werden durch Handauflegung und Gebet sakramental ordiniert, die Mitglieder einer verfassunggebenden Versammlung werden gewählt. „Der Ursprung aller Souveränität ruht seinem Wesen nach im Volk (nation)“45, heißt es programmatisch in der französischen Menschenrechtserklärung. Dadurch wird eine weitere Differenz deutlich, die Benedikt XVI. zwar nicht erwähnt, aber ebenfalls im Auge gehabt haben dürfte, dass nämlich verfassunggebende Versammlungen die Verfassung einer Nation erarbeiten, während das Zweite Vatikanische Konzil die Bischöfe der Weltkirche versammelt und daher transnationalen Charakter hat. Bemerkenswert ist, dass auch Karl Rahner die Analogie eher kritisch beurteilt, wenn er notiert, „dass ein Konzil vom Wesen der Kirche her keine so außerordentliche Sache ist, wie es zunächst scheinen könnte, so dass man es fast wie eine verfassunggebende Versammlung im Unterscheid zu einem gewöhnlichen Parlament auffassen könnte.“46 Auch Rahner hebt darauf ab, dass sich die Kirche „nicht einfachhin als ein demokratischer oder charismatischer Zusammenschluss von unten her“ verstehe, sie sei vielmehr „eine von Christus selbst durch die Bestellung des Apostelkollegiums unter Petrus als seinem Haupt von oben her autoritativ begründete Gesellschaft“47. Nicht das Volk, sondern der Gesamtepiskopat mit und unter dem Papst ist demnach Träger der höchsten Gewalt in der Kirche – und diese höchste Gewalt, die in der Kirche immer besteht, tritt auf dem Konzil als kollegiales Handlungssubjekt zusammen.

Nun, die von Benedikt XVI. und Karl Rahner angesprochene Differenz wird auch von Peter Hünermann nicht übersehen. Er betont ausdrücklich, dass die Legitimation des Konzils und seine Autorität eine wesentlich andere sei als die einer verfassunggebenden Versammlung im staatlichen Bereich. Die Autorität der Bischöfe komme von Jesus Christus, sie unterscheide sich von der Autorität gewählter Volksvertreter. Man könnte hinzufügen, dass sich dies auch auf die Arbeitsweise auswirkt: es ist ein Unterschied, ob die Sitzungen im Namen des Volkes eröffnet werden oder mit einer feierlichen Liturgie, die das Gebet um den Beistand des Geistes und entsprechende Einmütigkeit umschließt.48 Seit dem Konzil von Vienne 1311 wird zur Konzilseröffnung der Hymnus Veni creator spiritus gesungen. Unbeschadet dieser grundlegenden Unähnlichkeit zwischen verfassunggebender Versammlung und Konzil hat Peter Hünermann auf ein ganzes Bündel von Ähnlichkeiten hingewiesen, die der Papst in seiner Weihnachtsansprache unerwähnt lässt: 1. eine tiefe Krise als Anlass der Einberufung; 2. die hohe Repräsentativität des Gremiums und die auf Dauer angelegten Beschlüsse, die grundlegende Übereinstimmungen fixieren; 3. der Rückgriff auf wegweisende Traditionen, die im Blick auf neue Herausforderungen aktualisiert werden, was von der Arbeitsweise her den Rückgriff auf Experten erforderlich macht; 4. der Charakter der Texte, die Rahmenvorgaben machen, aber für konkrete Ausgestaltungen Leerfelder und Handlungsspielräume offen lassen; 5. die Form der Zustimmung: wie Verfassungen angenommen werden müssen, so bedürfen auch Konzilsentscheidungen, selbst wenn sie vom Episkopat unterzeichnet und vom Papst promulgiert werden, der Rezeption durch das Volk Gottes, um ihre orientierende Kraft entfalten zu können.49

Diese Aspekte, die sowohl für Verfassungstexte als auch für die Konzilsdokumente kennzeichnend sind, scheint der Papst nicht weiter für diskussionswürdig zu halten, wenn er den Verdacht äußert, der Vergleich zwischen verfassunggebender Versammlung und Konzil solle eine Hermeneutik des Bruches und der Diskontinuität befördern, die er schon früh und zu Recht als unsachgemäß zurückgewiesen hat.50 Das ist aber keineswegs zwangsläufig der Fall. Hünermann selbst hebt vielmehr auf den konstitutionellen Rang der Texte ab, die ihre Verbindlichkeit erst durch die nahezu einmütige Verabschiedung durch den Gesamtepiskopat und den Papst erhalten haben. Es geht ihm darum, selektive Lesarten zurückzuweisen, die sich entweder auf die Aussagen der konservativen Minorität oder auf die der progressiven Majorität stützen. Steinbruchexegese, die einzelne Stichworte aus den Dokumenten herbeizitiert, ist damit als unsachgemäß abgewiesen.51 In diesem Punkt hätte sich der Papst mit dem Tübinger Theologen durchaus treffen können.

Ich will die Analogie zwischen verfassunggebenden Texten und den Dokumenten des Zweiten Vatikanischen Konzils hier nicht weiter vertiefen.52 Sie sollte nur deutlich machen, welch hohen Stellenwert die Konzilsdokumente für das Selbstverständnis der katholischen Kirche haben. Unter den sechzehn Dokumenten, die das Konzil verabschiedet hat, finden sich, was das literarische Genus anlangt, Konstitutionen, Dekrete und Erklärungen. Die vier Konstitutionen haben lehramtlich das größte Gewicht. Der Aufriss dieses Sammelbandes ist daher – wie schon das Programm des Wiener Symposiums – an den Konstitutionen des Konzils orientiert, die Wegweisendes im Blick auf die Liturgie, die Kirche, die Offenbarung und die Kirche in der Moderne gesagt haben.

Einleitend stellt Peter Hünermann (Tübingen) seine These von den Konzilsdokumenten als konstitutionelle Texte des Glaubens noch einmal vor und vertieft sie im Blick auf grundlegende Weichenstellungen des Konzils für den Weg der Kirche ins Dritte Jahrtausend. Sein Beitrag wird flankiert durch einen Aufsatz von Hans Schelkshorn (Wien), der die konziliare Selbstverständigung im philosophischen Diskurs der Moderne näher verortet. Jan-Heiner Tück (Wien) diskutiert neuere Wortmeldungen, die an die abgestufte Verbindlichkeit der Konzilsaussagen erinnern, um das Gespräch mit den Traditionalisten zu erleichtern, und votiert für eine Hermeneutik der Reform als Schlüssel zur Interpretation des Konzils. Im Anschluss daran widmet sich der erste Teil des vorliegenden Bandes der Liturgiekonstitution Sacrosanctum concilium, die am 4. Dezember 1963 als erstes Dokument des Konzils verabschiedet wurde. In ihr findet sich die berühmte Aussage von der Liturgie als „Gipfelpunkt und Quelle des kirchlichen Lebens“. Kirche lebt aus dem Hören auf das Wort des Evangeliums und aus der Feier der heiligen Geheimnisse. Die nachkonziliare Erneuerung der Liturgie ist die wohl „sichtbarste Frucht des Konzils“ – die Einführung der Landessprachen53, der Wechsel der Zelebrationsrichtung, das Prinzip der tätigen Teilnahme aller Gläubigen am Gottesdienst sind dafür klare Anzeichen. Die Motive der Anbetung und des Mysteriencharakters der Liturgie scheinen demgegenüber in den pastoralliturgischen Diskursen der Nachkonzilszeit etwas in den Hintergrund getreten zu sein. Die Tatsache, dass gegenwärtig über eine„Reform der Reform“ diskutiert wird, zeigt, dass die erneuerte Liturgie von manchen schon wieder als erneuerungsbedürftig eingestuft wird. Schriftsteller wie Martin Mosebach haben sprachmächtig und mit provozierender Einseitigkeit auf – wirkliche oder vermeintliche – Defizite der Liturgiereform hingewiesen und gerade in kirchendistanzierten Intellektuellenkreisen dafür einige Zustimmung gefunden.54 Joseph Kardinal Ratzinger selbst hat mit seinem viel beachteten Buch Geist der Liturgie (2000) den Blick auf die theologischen Grundlagen des Gottesdienstes zurückgelenkt und eine polyphone liturgietheologische Neubesinnung angestoßen. Sein Versuch als Papst, den Streit um die Liturgie zu befrieden und durch das Schreiben Summorum Pontificum von 2007 neben der ordentlichen Form auch eine außerordentliche Form des einen römischen Ritus zuzulassen, mithin den Gebrauch des Missale von 1962 wieder freizugeben, hat nicht nur Zustimmung gefunden.55 Vor diesem Hintergrund beleuchtet Albert Gerhards (Bonn) die erste Konstitution und stellt das Motiv des Paschamysteriums und das Motiv der actuosa participatio als zwei Brennpunkte einer Ellipse dar. Die Liturgiekonstitution hätte ohne die Vordenker der liturgischen Bewegung nicht verfasst werden können. Helmut Hoping (Freiburg i. Br.) erinnert daher an Odo Casels Theologie des Kultmysteriums, während Johann Pock (Wien) die Bedeutung Romano Guardinis und die pastoralliturgischen Impulse des Klosterneuburger Theologen Pius Parsch würdigt und fortschreibt. Hans-Jürgen Feulner (Wien) schließlich beleuchtet die Einheit der Liturgie in der Vielfalt ihrer Riten und geht besonders der Frage nach, wie die aus dem Anglikanismus übergetretenen Geistlichen ihre eigene Liturgietradition einbringen können.

Die dogmatische Konstitution Lumen gentium, die am 21. November 1964 verabschiedet wurde, hat die Grundlagen für das erneuerte Selbstverständnis der Kirche gelegt. Das gegenreformatorisch verengte Verständnis von Kirche als hierarchisch geordneter societas perfecta, das noch das vorbereitete Schema De ecclesia weithin bestimmte, wurde revidiert und Kirche – unter Rückgriff auf biblische und patristische Quellen – als Mysterium, als universales Heilssakrament, als Volk Gottes und Communio beschrieben. Lumen gentium hat die heilsgeschichtliche Verankerung der Kirche im Wirken des dreifaltigen Gottes betont und die Vieldimensionalität von Kirche durch eine Pluralität biblischer Metaphern deutlich gemacht. Die Monopolstellung des Leib-Christi-Begriffs in der lehramtlichen Ekklesiologie vor dem Konzil wurde so aufgebrochen. Zugleich konnte durch den Volk-Gottes-Begriff die Verbindung zwischen alt- und neutestamentlicher Heilsgeschichte besser artikuliert und die gemeinsame Berufung aller Gläubigen vor jeder hierarchischen Ausdifferenzierung betont werden. Die Aussage, dass die Kirche Jesu Christi in der römisch-katholischen Kirche verwirklicht ist (subsistit in), aber nicht lückenlos mit ihr identisch ist (est), hat eine vorsichtige ökumenische Öffnung eingeleitet, insofern nun auch die nichtkatholischen Kirchen und kirchlichen Gemeinschaften als Faktor der Heilsführung Gottes gewürdigt wurden. Zugleich wurde die Sakramentalität des Bischofsamtes neu herausgestellt und die steile Primatslehre des I. Vatikanums durch das Prinzip der bischöflichen Kollegialität ausbalanciert. Christoph Theobald (Paris) unternimmt eine differenzierte Relecture der Kirchenkonstitution. Er stellt zunächst die programmatische Vision von Lumen gentium heraus, notiert Verschiebungen und Einseitigkeiten in der nachkonziliaren Rezeption, ortet unausgeglichene Spannungen und Kompromisse und legt schließlich Ansatzpunkte für einen Paradigmenwechsel frei, welcher der verschärften Diasporasituation des kirchlichen Lebens heute entsprechen könnte. Walter Kardinal Kasper (Rom) beleuchtet die ekklesiologischen Leitbegriffe ‚Volk Gottes‘, ‚Leib Christi‘ und ‚Communio des Heiligen Geistes‘, welche die nachkonziliaren Debatten über die Kirchenkonstitution dominiert haben. Ergänzend dazu werden weitere ekklesiologische Einzelthemen wie das Modell der gestuften Kirchenzugehörigkeit durch Jan-Heiner Tück, das kontroverse Verhältnis zwischen Primat und Episkopat durch Thomas Prügl (Wien) und die allgemeine Berufung zur Heiligkeit durch Marianne Schlosser (Wien) erörtert. Die delikate Frage, ob der Codex im Licht des Konzils – oder umgekehrt das Konzil im Licht des Codex zu lesen ist, behandelt der Kirchenrechtler Ludger Müller, während Kurt Appel und Sebastian Pittl (alle Wien) an das Grabmal Pauls VI. und den Pakt der Katakomben erinnern, um das fast vergessene Randthema der Armen neu ins Zentrum zu rücken.

Die Öffnung im Blick auf die nichtkatholischen Kirchen, die Lumen gentium programmatisch vollzieht, wird im Ökumenismusdekret Unitatis redintegratio weiter ausbuchstabiert. Kurt Kardinal Koch (Rom), seit 2010 Präsident des päpstlichen Rates für die Einheit der Christen, würdigt unter dem Titel „Ökumene im Wandel“ die Zukunftspotentiale des Dokuments. Michael Bünker (Wien), Bischof der evangelischen Kirche von Österreich und Generalsekretär der Gemeinschaft Evangelischer Kirchen in Europa, sondiert Öffnung und Grenzen des Ökumenismusdekrets und geht dabei auch auf die dornige Frage nach der Deutung des „subsistit in“ ein. Der rumänischorthodoxe Theologe Ioan Moga (Wien) erörtert die zwiespältige Reaktion auf Unitatis redintegratio aus ostkirchlicher Sicht, während Rudolf Prokschi (Wien) den Begriff ‚Schwesternkirchen‘ untersucht, der für die Beschreibung des Verhältnisses von römisch-katholischer und orthodoxer Kirche wichtig geworden ist. Über die innerchristliche Ökumene hinaus weist schließlich der Beitrag von Johann Figl und Ernst Fürlinger (beide Wien), der das gewandelte Verhältnis der katholischen Kirche zu den nichtchristlichen Religionen in Nostra aetate in den Blick nimmt.

Die Offenbarungskonstitution Dei verbum – am 18. November 1965 verabschiedet – hat ein vertieftes Verständnis der Offenbarung eingeleitet. Wurde Offenbarung vom I. Vatikanum her56 primär als Instruktion, als Übermittlung göttlicher Dekrete und Weisungen verstanden, so wird Offenbarung nun als Selbstmitteilung Gottes beschrieben – gewissermaßen als Kommunikationsvorgang, der die Gläubigen in die Gottesfreundschaft einführt. Zugleich hat sich Dei verbum differenziert über das Verhältnis von Schrift und Tradition geäußert und die Anwendung der historisch-kritischen Methode in der Exegese befürwortet, ohne die theologische Auslegung der biblischen Schriften zu vernachlässigen, wie Thomas Söding (Bochum) in seinem Beitrag verdeutlicht. Die Debatte, wie das Verhältnis zwischen historischer Kritik und theologischer Schriftauslegung zu gewichten ist, wird im Anschluss an DV 12 von Ludger Schwienhorst-Schönberger und Roman Kühschelm (beide Wien) geführt. Johann Reikerstorfer (Wien) hingegen würdigt das Dokument aus fundamentaltheologischer Sicht und mahnt Fortschreibungen im Offenbarungsbegriff an, die auf die Situation des Gottvermissens in Erfahrungen abgründigen Leidens eingehen.

Die Pastoralkonstitution Gaudium et spes schließlich hat die dialogische Öffnung zur Moderne vollzogen und die Herausforderungen des wissenschaftlich-technischen Fortschritts, der Globalisierung und Wandlungsdynamik moderner Gesellschaften aufgenommen. Die katholische Kirche sieht sich selbst in die Transformationsprozesse hineingestellt und ist aufgerufen, an unterschiedlichen Orten das Evangelium zu bezeugen. Die Außenorte in die Binnenverständigung hineinzuholen, das ist die Dynamik des Konzils, die der Tübinger Pastoraltheologe Ottmar Fuchs in die Gegenwart hinein fortschreibt. Ingeborg Gabriel (Wien) hingegen beschreibt den Wechsel von einer Hermeneutik der Abgrenzung zu einer solchen der Anerkennung und sucht von GS her theologische Impulse für die Sozialethik fruchtbar zu machen. Martin Jäggle und Regina Polak (beide Wien) stellen die Gegenwart als locus theologicus heraus und treten für eine migrationssensible Theologie ein. Den neuzeitlichen Atheismus hat das Konzil als „eine der ernstesten Gegebenheiten unserer Zeit“ gewürdigt und neben einer Analyse der unterschiedlichen Spielarten des Atheismus zugleich den Glauben als Heilmittel dagegen empfohlen, wie Rudolf Langthaler (Wien) deutlich macht, nicht ohne die Rückfrage zu stellen, ob die Metaphorik des Therapeutischen nicht doch von einem epistemologisch unausgewiesenen Überlegensheitsbewusstsein geleitet ist, die für das Gespräch mit Nichtglaubenden kontraproduktiv sein kann.

Ein Dokument, an dem die Öffnung der Kirche zur Moderne paradigmatisch abgelesen werden kann, ist die Erklärung Dignitatis humanae. Papst Pius IX. hat in seinem Syllabus errorum von 1864 die Religionsfreiheit als „Pest des Indifferentismus“57 verworfen. Noch 1960 äußert sich Kardinal Alfredo Ottaviani, der als Präfekt des Heiligen Offiziums von Johannes XXIII. mit der Vorbereitung des Konzils betraut war, kritisch über einen novissimus liberalismus catholicus und hält in eingängigem Katechismus-Stil über das Verhältnis von katholischer Kirche und Staat fest:

„Du sagst vielleicht, die katholische Kirche braucht zweierlei Maß und Gewicht. Denn wo sie selbst herrscht, will sie die Rechte der Andersgläubigen einschränken, wo sie aber eine Minderheit der Bürger bildet, verlangt sie gleiche Rechte wie die anderen. Darauf ist zu antworten: In der Tat, zweierlei Gewicht und Maß ist anzuwenden, das eine für die Wahrheit, das andere für den Irrtum.“58

Das II. Vatikanum hat die Religions- und Gewissensfreiheit ausdrücklich anerkannt, aber zugleich an die Pflicht der Wahrheitssuche gebunden. Dies gehört zu den unhintergehbaren Errungenschaften des Konzils. Die Frage, ob dieser Perspektivwechsel, den die Piusbruderschaft bis heute als Verrat an der Tradition einstuft, eine Hermeneutik der Diskontinuität nahelegt oder nicht doch im Sinne einer Hermeneutik der Reform gedeutet werden kann, erörtert abschließend der Freiburger Moraltheologe Eberhard Schockenhoff.

Ein größeres Projekt kann nur gelingen, wenn viele Schultern bereit sind, die Arbeit mitzutragen. Daher möchte ich abschließend allen danken, die an der Vorbereitung und Durchführung des Wiener Symposiums „Erinnerung an die Zukunft – 50 Jahre Zweites Vatikanisches Konzil“ mitgewirkt haben.59 Zunächst allen Referentinnen und Referenten, die aus Rom, Paris, Tübingen, Freiburg, Bonn und Wien zusammengekommen sind, um das Erbe des Konzils neu aufzuschlüsseln und für Gegenwart und Zukunft fruchtbar zu machen, darüber hinaus den Kolleginnen und Kollegen der Arbeitsgruppe für die inhaltliche Planung sowie Frau Dekanatsdirektorin Eva Gliederer, Anna Bachofner und Michaela Feiertag für die Organisation und Durchführung der Tagung. Es ist ein schönes Zeichen der Verbundenheit zwischen der Katholisch-Theologischen Fakultät der Universität Wien und der Erzdiözese Wien, dass Christoph Kardinal Schönborn, der zugleich Magnus cancellarius der Fakultät ist, dem Band ein Geleitwort beigegegen hat. Ohne den tatkräftigen Einsatz der wissenschaftlichen Mitarbeiter des Lehrstuhls für Dogmatik und Dogmengeschichte, Markus Andorf und Christian Stoll, hätte die Buchwerdung nicht so zügig verlaufen können. Ihnen sei für wertvolle Hilfen beim Korrekturlesen, bei der Vereinheitlichung der Zitation und dem Formatieren der Beiträge ebenso Dank gesagt wie dem Lektor des Verlags Herder, Herrn Dr. Stephan Weber, für die bewährt reibungslose und kompetente Zusammenarbeit. Möge der Sammelband mit dazu beitragen, dass die Dokumente des Konzils auch für den künftigen Weg der Kirche in Erinnerung bleiben und ihre orientierende Kompassfunktion entfalten können.

Wien, Pfingsten 2012Jan-Heiner Tück

… in mundo huius temporis …

Die Bedeutung des Zweiten Vatikanischen Konzils im kulturellen Transformationsprozess der Gegenwart: Das Textcorpus des Zweiten Vatikanischen Konzils ist ein konstitutioneller Text des Glaubens

Peter Hünermann, Tübingen

Zur Eröffnung des Wiener Symposions „Erinnerung an die Zukunft“ möchte ich einige Gedanken über „die Bedeutung des II. Vatikanums im kulturellen Transformationsprozess der Gegenwart“ vortragen und mit einer Vorbemerkung beginnen, die das Konzil als ein gefährliches Unternehmen kennzeichnet.

Ich möchte dies in wenigen Strichen begründen.

Wir stehen nicht nur in Europa, sondern in ähnlicher Weise in Kanada und den USA wie in den lateinamerikanischen Ländern in einer tiefgreifenden Kirchenkrise. Es zerbröselt gleichsam der Sockel, auf dem das Glaubensleben der Menschen, die Kirche, in den zurückliegenden Jahrhunderten gebaut war. Der rapide Rückgang der Gottesdienstbesucher, das Ausscheren der jüngeren Bevölkerungsschichten aus dem Überlieferungsprozess des Glaubens, sind beängstigend. Der Schrumpfungsprozess der geistlichen Berufungen in Korrelation zu den katholischen Bevölkerungszuwächsen ist inzwischen zu einem immensen Problem geworden. Das Konzil war angetreten unter der Hoffnung auf ein neues Pfingsten. Ist nicht das Gegenteil der Fall?

Darüber hinaus ziehen sich – quer durch die Gemeinschaft der Glaubenden – scharfe Auseinandersetzungen um das Verständnis des Konzils. Sie sind wie trennende Gräben in der kirchlichen Landschaft. Was steht in kathpedia, der von Linz aus gesteuerten katholischen Enzyklopädie nicht alles zu lesen! Es hat mir die Sprache verschlagen.

Nach der Ansprache Papst Benedikts in Freiburg, einer Begegnung mit hochengagierten Christen, Männern und Frauen, hatte man den Eindruck: Es gibt keinen Dialog in der Kirche. Kirche wird administriert. In diesem Kontext die Bedeutung des Konzils in einem Vortrag erörtern: Ein gefährliches, weil der akuten Gefahr von Missverständnissen, Verwirrungen, Streitereien ausgesetztes Unternehmen.

Hinzu kommt, dass das Corpus der Konstitutionen, Dekrete und Erklärungen des Zweiten Vatikanischen Konzils keineswegs in allem völlig ausgeglichen und transparent ist. Um ein Bild zu gebrauchen: Das Konzil hat den riesigen Acker, Gottes Saatfeld, umgebrochen, aber die Schollen liegen noch groß und schwer da. Es muss geeggt und gesät werden, damit der Acker Frucht trägt. Von daher die gesteigerte Gefährlichkeit des Versuchs, in einem Beitrag die Bedeutung des II. Vatikanums mit seinen vielen Dokumenten im unübersichtlichen kulturellen Transformationsprozess der Gegenwart zu umreißen.

1

Dieses Unternehmen trägt nur Frucht, wenn wir uns gemeinsam einlassen auf die Regel, die Ignatius von Loyola am Beginn seines Exerzitienbüchleins dem, der die Exerzitien gibt, und dem Exerzitanten ans Herz legt: „… dass jeder gute Christ bereitwilliger sein soll, die Behauptung des Nächsten zu retten als sie zu verdammen; und wenn er sie nicht retten kann, so frage er, wie er sie verstehe …“. Nur so kann die Isolierung, können die Sprachlosigkeiten, die Unterstellungen von Einseitigkeiten und Missverständnissen überwunden werden.

Wir beginnen mit einer These, welche die Überschrift des Vortrages erläutert und die Gliederung anzeigt:

Dem Zweiten Vatikanischen Konzil kommt in der Abfolge der Konzilien eine eigene Stellung zu:

Veranlasst durch die Moderne,

stellt das Zweite Vatikanische Konzil eine theologische Besinnung auf die gesamte Traditionsgeschichte der Kirche dar,

konzentriert in zwei Reihen von Eckpunkten.

Dadurch wird die Katholizität der Kirche in neuer Weise aufgedeckt.

Die einzelnen Zeilen geben jeweils die Abfolge der Argumentation wieder.

Wir beginnen mit der ersten Zeile:

1. „Dem Zweiten Vatikanischen Konzil kommt in der Abfolge der Konzilien eine eigene Stellung zu“

Christoph Theobald hat in seiner großen fundamentaltheologischen Untersuchung „La réception du Concile Vatican II“2 seinen ersten Teil überschrieben: „Qu’est-ce que c’est qu’un concile?“ Seine These lautet: Der Streit um das Zweite Vatikanische Konzil beruht darauf, dass die Identität, das eigene Profil des Konzils nicht erkannt ist. So arbeitet er auf den ersten einhundert Seiten seines Werkes zunächst das unterschiedliche Profil der für Ost und West gemeinsamen Konzilien von Nikaia bis ins 9. Jahrhundert aus, deren Ziel jeweils die Überwindung einer Häresie war und die Wiedergewinnung des consensus antiquitatis sowie des vertikalen und zeitgenössischen Konsensus. Dies ergibt einen anderen Typus von Konzilien als in den mittelalterlichen Generalsynoden, in denen es wesentlich um die Reform der Kirche an Haupt und Gliedern geht, und zwar in je unterschiedlicher Weise von der cluniazensischen Reform bis zu den Konzilien von Konstanz, Basel, Ferrara-Florenz. Trient und das I. Vatikanum bilden demgegenüber nochmals je eigene Gestalten. Und das Zweite Vatikanische Konzil?

2. „Veranlasst durch die Moderne“

Im Vorwort und in der expositio introductiva in Gaudium et spes (GS 1–3 u. GS 4–10) charakterisieren die Konzilsväter in prägnanter Weise die sachliche Veranlassung des Konzils: „Heute befindet sich das Menschengeschlecht in einer neuen Epoche seiner Geschichte, in der sich tiefgehende und rasche Veränderungen Schritt für Schritt über den gesamten Erdkreis ausbreiten“ (GS 4,2). In GS 5,1 wird diese Neuprägung so charakterisiert: „Die heutige Unruhe der Herzen und die Veränderung in den Lebensbedingungen sind mit einer umfassenderen Umwandlung der Dinge verbunden (ampliori rerum transmutatione connectuntur), durch die bewirkt wird, dass bei der Ausbildung des Geistes die mathematischen und die Naturwissenschaften bzw. vom Menschen selbst handelnden Wissenschaften in der Ordnung des Handelns oder die aus diesen Wissenschaften hervorgehenden technischen Fertigkeiten ein wachsendes Gewicht erlangen. Dieser wissenschaftliche Geist formt die kulturelle Anschauung und die Denkweisen anders als früher. Die technischen Fertigkeiten schreiten so weit voran, dass sie das Antlitz der Erde umformen. … Auch über die Zeiten weitet der menschliche Geist gewissermaßen seine Herrschaft aus: Über die Vergangenheit mit Hilfe der historischen Erkenntnisse über die Zukunft durch Prognose und Planung. In ihrem Fortschritt verhelfen Biologie, Psychologie und Sozialwissenschaften nicht nur den Menschen zu einer besseren Erkenntnis seiner selbst, sondern sie helfen ihm auch, unter Anwendung technischer Methoden auf das Leben der Gesellschaften unmittelbar Einfluss auszuüben“.

Diese Auswirkungen von Wissenschaft, Forschung, Technik, die damit verbundenen Produktions- und Wirtschaftsformen, die enormen Machtzuwächse verwandeln nicht nur das traditionelle Ethos, sie betreffen ebenso den Glauben und das religiöse Leben. Auf der einen Seite, so konstatiert Gaudium et spes, „läutert das schärfere Urteilsvermögen das religiöse Leben von einem magischen Weltverständnis“. „Andererseits aber entfernen sich breite Volksmassen praktisch von der Religion“ (GS 7).

Es ist erstaunlich, wie genau die Konzilsväter die Situation charakterisiert haben. Sie haben die zahlreichen Systeme vor Augen, in denen Menschen in globaler Weise zu leben beginnen: Wirtschaftssysteme, Bildungssysteme, Rechtssysteme, die Systeme der Arbeit, Gesellschaftssysteme, Staatssysteme, die das Leben der Menschen vermitteln und von Grund auf verändern. Diese Systeme prägen das Leben, weil hier hochkomplexe, aus vielen Teilen und Momenten bestehende Organisationsstrukturen gebildet sind, die mit wissenschaftlichen Begriffen fassbar sind. Mit der traditionellen Ontologie ist diese Realität nicht mehr zu fassen. Was die Konzilsväter nicht zu Stande bringen, ist die philosophisch-begriffliche Analyse dieses radikal veränderten Lebenskontextes. Sie haben nur sehr anfängliche Kenntnisse von Kant, Fichte, Schelling, Hegel,3 von Maréchal und Blondel, von Husserl und Heidegger4. Sie sind weitgehend geprägt von der Neuscholastik und vertraut mit einer Theologie, die ganz selbstverständlich als wissenschaftliches Instrumentar die aristotelischen Begriffe „Wesen“ bzw. „natura“, „Substanz“, „Bewegung“, „Ursache“, „Ziel“ gebrauchte, wobei der Prototyp des Seienden, das analogatum princeps, der natürliche Gegenstand ist. Mit diesem Begriff war seit der griechischen klassischen Philosophie die Vorstellung von einer gestuften Rangfolge der Naturen verbunden. Das formale Prinzip Gott zu denken nach Art der via eminentiae ist von Anselm formuliert worden: Id quo maius cogitari nequit. Und noch bei Descartes wird Gott substantia infinita genannt, Spinoza spricht von Deus sive substantia, und für Leibniz ist Gott die unendliche Monade im Unterschied zu den anderen Monaden.

Die Aneignung des transzendentalen und phänomenologischen Denkens5 wie die Durchdringung des modernen Systemdenkens, die damit verknüpfte gründende Funktion der Freiheit im Bezug auf alle Regelsetzung – nun nicht aus der Sicht der Philosophie – vielmehr aus der Sicht des Glaubens und der Theologie steht noch ganz in den Anfängen. Karl Rahner sucht in seiner Dissertation „Geist in Welt“ im Ausgang von Thomas von Aquin einen Zugang dazu. Die „katholische Heideggerschule“, repräsentiert etwa durch Max Müller, Johannes B. Lotz, Bernhard Welte, Gustav Siewerth, Ferdinand Ulrich, sucht die Daseinsanalyse Heideggers und das transzendentale Denken mit dem thomanischen Gedanken der participatio des Seins und der thomanischen Fortschreibung der augustinischen Illuminationslehre in Gestalt der impressio primae veritatis zu verbinden. Das Grundanliegen Maréchals, die Thomas-Rezeption Rousselots, die Ansätze Blondels von seiner Handlungsphilosophie her, eine „immanente Apologie“ aufzubauen, zielen in dieselbe Richtung. Der Aufsatz Henri de Lubacs: „Vom Erkennen Gottes“6 und vor allem die große Arbeit Surnaturel von 1946 bilden Ansätze eines vom Freiheitswesen Mensch ausgehenden, genuin transzendentalen theologischen Denkens, wichtige theologische Sachfragen anzugehen. Dies gilt insbesondere für Surnaturel, in dem de Lubac die überlieferte Gnadenlehre, die vom Begriff der natura hominis ausging und von daher nach der „übernatürlichen Zusatzsausstattung“ fragte, jetzt in einer transzendentalen Reflexion auf die Liebe verortet, die in einem wesentlich nur im Vollzug zu denkenden göttlich-menschlichen Freiheitsgeschehen zu verstehen ist. Ähnliches gilt für die Aufdeckung der Geschichtlichkeit der Theologie durch Chenu.7

Erst nach dem Konzil legt Hermann Krings in seinem Aufsatz: „Freiheit, ein Versuch, Gott zu denken“8 erstmals – soweit ich sehe – die Skizze eines neuen „Gottesdenkens“ vor, das vom Menschen als „Freiheitswesen“ ausgeht und zugleich das neue Sprechen von Gott thematisiert. Es ist eine Skizze, die scharf die gewandelte „Denkform“ herausstellt und damit abgrenzbar macht von der überlieferten Weise des „Gottesdenkens“ und der damit verbundenen Wirklichkeitserfahrung. Es ist eine Skizze, die sich in ihren Sachaussagen mit dem Grundanliegen von Emanuel Levinas trifft, allerdings einen wesentlich leichteren Zugang für die Theologen bereithält.9 Fast zeitgleich wird von Alfons Auer die theologische Arbeit: „Autonome Moral“ (1971) vorgelegt. Auch hier bildet den Ausgangspunkt der Mensch als Freiheitswesen, der gerade so der von Gott angesprochene und auf ihn hin ausgerichtete und von ihm bewegte ist. 1973 veröffentlicht Wilhelm Korff „Norm und Sittlichkeit“, 1976 Franz Böckle seine „Fundamentalmoral“.

Fazit: Das Zweite Vatikanische Konzil sieht sich herausgefordert durch eine neue Epoche der Menschheit, die so tiefgreifende Veränderungen mit sich bringt, dass sich große Scharen von Menschen vom Glauben, von der überlieferten Religion abwenden. Der Papst und die Konzilsväter sehen die Situation sehr klar, sie haben noch nicht die begriffliche Zurüstung, um diese Situation in ihrer Komplexität philosophisch-theologisch transparent zu machen und damit von der vorauf gehenden Epoche scharf und deutlich abzugrenzen. Was tut das Konzil? Die dritte Zeile gibt Auskunft darüber.

3. „Das Zweite Vatikanische Konzil stellt eine theologische Besinnung auf die gesamte Traditionsgeschichte der Kirche dar“

Dieses Faktum zeigt sich zunächst in der breiten Bezugnahme auf die Bibel und vor allen Dingen auf das Neue Testament. Allein das Neue Testament wird 1280 Mal angeführt und damit häufiger als in allen vorausgehenden Konzilien der Kirche zusammen genommen.10 Im Unterschied etwa zu den sehr spärlichen Zitaten der Schrift in den mittelalterlichen und neuzeitlichen Konzilien, in denen die Schrifttexte als dicta probantia dienen, um so in einer gleichsam geschichtslosen Weise eine Wahrheit des Glaubens zu bekräftigen, stellt das Konzil seine Aussagen von vornherein in einen heilsgeschichtlichen biblischen Zusammenhang und gewinnt dadurch die Möglichkeit, sowohl die alttestamentlichen Texte wie die mannigfaltigen neutestamentlichen Texte ihrem eigenen Duktus entsprechend einzubeziehen. Die Sprecher der Kommissionen, die die zu diskutierenden Textentwürfe erläutern, verweisen immer wieder auf exegetische moderne Arbeiten um herauszustellen, welche Bedeutungen, die in der Auslegungstradition mit gewissen biblischen Texten verbunden waren, hier nicht gemeint sind oder nur in einer gewissen Hinsicht bejaht werden. In einem breiten Maß wird ebenfalls die patristische Theologie aufgenommen.11 Häufig finden sich patristische Texte zitiert in Kontexten, in denen Einseitigkeiten der mittelalterlichen und gegenreformatorischen Theologie, z. B. im Blick auf das Verständnis des Bischofsamtes etc., aufgesprengt werden. Auf der anderen Seite finden sich zahlreiche mittelalterliche Texte im Kontext der Gnaden-, der Sakramenten- und der Ordenstheologie, wobei hier auffällt, dass Kernsätze zitiert, allerdings in einem anderen Begründungszusammenhang gestellt werden, so dass die mittelalterliche Denkform nicht zum Tragen kommt.

Eine Reflexion auf den relativ breiten Rückgriff des Konzils auf moderne lehramtliche Texte, insbesondere Enzykliken, zeigt, wie hier Stellen herausgegriffen werden, die einen vorweisenden Charakter haben.

Mit diesem Hinweis auf die Auseinandersetzung der Konzilsväter mit den zitierten Texten ist aber lediglich ein materialer Hinweis auf Sinn und Intention der Texte gegeben. Die Frage stellt sich doch: Wie wird dieses „Material“ gesehen, wie werden diese Dinge verknüpft, verbunden. Erst daraus ergibt sich ja, was gesagt und intendiert ist.

Um auf diese Fragen eine Antwort zu erhalten, wurde im Band 5 von Herders theologischem Kommentar zum Zweiten Vatikanischen Konzil12 im Hinblick auf die Konzilstexte methodisch die Form einer sprachpragmatischen Untersuchung gewählt. Sie erlaubt es, im Ausgang von einer Fülle von empirischen Daten wie Veranlassung und Sprechsituation, Sprechende, Adressaten, das Werden des Textes, die Gestalt des Textes, – nämlich seine Einheit, seine Struktur, seine Grundzüge – die Bedeutung, den Sinn dieses Textcorpus zu bestimmen. Es ist jenes neu Generierte, das durch diese kommunikativen, vielfältigen Handlungen entspringt.