Erinnerung eines Mädchens - Annie Ernaux - E-Book

Erinnerung eines Mädchens E-Book

Annie Ernaux

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Beschreibung

Nobelpreis für Literatur 2022

Mit schonungsloser Genauigkeit erzählt Annie Ernaux von ihrer ersten sexuellen Begegnung – von Macht, Ohnmacht und Unterwerfung. Von einer Wunde, die niemals ausgeheilt ist. Und vom teuer bezahlten Erkennen des eigenen Werts.
Sommer 1958: Annie Duchesne wird 18 Jahre alt. Sie arbeitet als Betreuerin in einer Ferienkolonie. Sie findet in eine Clique, zusammen feiern sie Feten, genießen ihre Jugend. Und Annie ist in H. verliebt, mit ihm hat sie ihr erstes Mal. Eine Nacht, die einen anhaltenden Schock bedeutet. Auch weil H. sie fortan ignoriert, weiß sie nicht, wohin mit sich und lässt sich auf andere ein. Schnell ist sie verfemt. Was folgt, sind Ausgrenzung, der Hohn der anderen, ihre eigene Scham.
Und Schweigen. Denn über 55 Jahre braucht Annie Ernaux, um sich dieser »Erinnerung der Scham« stellen zu können. »Annie Ernaux gelingt es ganz hervorragend, in ihrem Roman noch einmal zu der innerlich zerrissenen, verliebten, magersüchtigen, ehrgeizigen jungen Frau zu werden, die sie war, als alles in ihr ins Wanken geriet.« Iris Radisch, Die Zeit

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Seitenzahl: 182

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Cover for EPUB

Titel

Annie Ernaux

Erinnerung eines Mädchens

Aus dem Französischen von Sonja Finck

Suhrkamp

Impressum

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eBook Suhrkamp Verlag Berlin 2018

Der vorliegende Text folgt der 4. Auflage der Ausgabe des suhrkamp taschenbuchs 5022.

© der deutschen Ausgabe Suhrkamp Verlag Berlin 2018© Editions Gallimard, Paris, 2016

Der Inhalt dieses eBooks ist urheberrechtlich geschützt. Alle Rechte vorbehalten. Wir behalten uns auch eine Nutzung des Werks für Text und Data Mining im Sinne von § 44b UrhG vor.Für Inhalte von Webseiten Dritter, auf die in diesem Werk verwiesen wird, ist stets der jeweilige Anbieter oder Betreiber verantwortlich, wir übernehmen dafür keine Gewähr. Rechtswidrige Inhalte waren zum Zeitpunkt der Verlinkung nicht erkennbar. Eine Haftung des Verlags ist daher ausgeschlossen.

Umschlaggestaltung: Brian Barth

Umschlagfoto: Annie Ernaux mit 18 Jahren. Mit freundlicher Genehmigung der Autorin

eISBN 978-3-518-75887-8

www.suhrkamp.de

Widmung

I know it sounds absurd but please tell me who I am.

Supertramp

Motto

»Eins noch«, sagte sie. »Ich schäme mich für nichts, was ich getan habe. Man muss sich nicht schämen, wenn man jemanden liebt und das auch ausspricht.«

Doch das war gelogen. Die Scham über ihre Hingabe, ihren Brief, ihre unerwiderte Liebe würde sie immer quälen, würde immer in ihr brennen, bis an ihr Lebensende.

Und so sehr tat es ja gar nicht weh! Sicher nicht mehr, als sich still und heimlich ertragen ließe. Es war eine Erfahrung, und das hatte auch etwas Gutes.

Man könnte jetzt ein Buch schreiben und ihn zu einer Hauptfigur machen oder ernsthaft mit dem Musizieren beginnen – oder sich umbringen.

Rosamond Lehmann Dunkle Antwort

Erinnerung eines Mädchens

Übersicht

Cover

Titel

Impressum

Widmung

Inhalt

Informationen zum Buch

Cover

Titel

Impressum

Widmung

Motto

Es gibt Menschen

Es war ein Sommer

Auch ohne Foto sehe ich sie

Ein Schwarz-Weiß-Foto

Zitatnachweise

Informationen zum Buch

Es gibt Menschen

Es gibt Menschen, die überwältigt werden von der Gegenwart anderer, von ihrer Art zu sprechen, die Beine übereinanderzuschlagen, eine Zigarette anzuzünden. Die gebannt sind von ihrer Präsenz. Eines Tages, vielmehr eines Nachts, werden sie mitgerissen vom Begehren und Willen eines anderen, eines Einzigen. Was sie zu sein glauben, verschwindet. Sie lösen sich auf und sehen ein Abbild ihrer selbst handeln, gehorchen, erfasst vom unbekannten Lauf der Dinge. Sie können nicht mithalten mit dem Willen des Anderen. Er ist ihnen immer ein Stück voraus. Sie holen ihn nie ein.

Keine Unterwerfung, keine Einwilligung, nur die unfassbare Wirklichkeit, die einen denken lässt, »was geschieht mir gerade« oder »das geschieht gerade mir«, bloß gibt es da schon kein Ich mehr, jedenfalls nicht mehr dasselbe. Es gibt nur noch den anderen, den Herrn der Situation, der Gesten, des nächsten Moments, den er allein kennt.

Dann geht der Andere, man gefällt ihm nicht mehr, er hat das Interesse verloren. Er lässt einen mit der Wirklichkeit allein, zum Beispiel einem schmutzigen Schlüpfer. Er lebt nur noch in seiner eigenen Zeit. Man bleibt allein zurück, allein mit der Gewohnheit, ihm, jetzt schon, zu gehorchen. Allein in einer Zeit ohne Herr.

Von nun an haben andere leichtes Spiel, sie können mit dir machen, was sie wollen, sich in deine Leere stürzen, du verweigerst ihnen nichts, spürst sie kaum. Du wartest weiter auf den Herrn, darauf, dass er dir die Gnade erweist, dich zu berühren, wenigstens noch ein Mal. Und dann tut er es, eines Nachts, mit all der Macht, die er über dich hat und nach der du dich mit jeder Faser gesehnt hast. Am nächsten Morgen ist er weg. Aber das ist dir egal, die Hoffnung, ihn wiederzusehen, ist längst zu deinem Lebenszweck geworden, dafür machst du dich zurecht, lernst du, bestehst du deine Prüfungen. Er wird zurückkommen, und du wirst seiner würdig sein, mehr noch, du wirst ihn betören, du wirst so viel schöner, klüger und selbstsicherer sein als die unscheinbare Person, die du vorher gewesen bist.

Alles, was du tust, tust du für den Herrn, den du dir heimlich gegeben hast. Aber du arbeitest an deinem Selbstwert und entfernst dich, ohne es zu merken, unweigerlich von ihm. Dein Wahn wird dir bewusst. Du willst ihn nicht mehr wiedersehen, nie mehr. Du schwörst, alles zu vergessen und niemandem je davon zu erzählen.

Es war ein Sommer

Es war ein Sommer ohne meteorologische Besonderheiten, der Sommer von Charles de Gaulles Rückkehr, des neuen Francs und der neuen Republik, Pelé wurde Weltmeister, Charly Gaul gewann die Tour de France und Dalida sang Mon histoire, c’est l’histoire d’un amour.

Ein endloser Sommer, wie alle bis zum fünfundzwanzigsten Lebensjahr, bevor sie sich zu immer schneller vergehenden Sommern verkürzen, deren Reihenfolge man verwechselt, weil einem nur die besonders heißen, trockenen im Gedächtnis bleiben.

Der Sommer 1958.

Wie in den vorigen Sommern fuhr ein kleiner Teil der Jugend, der wohlhabendste, mit seinen Eltern an die Côte d’Azur in die Sonne, ein anderer Teil, der gleiche, der aber auf ein Gymnasium oder eine katholische Privatschule ging, nahm in Dieppe die Fähre, um seine Englischkenntnisse zu verbessern, nach sechs Jahren stammelnder Versuche, die Sprache aus Schulbüchern zu lernen. Die Übrigen, Oberschüler, Fachschülerinnen und Studenten, hatten lange Ferien, wenig Geld und fuhren in eine der Ferienkolonien, die überall in Frankreich auf Landsitzen und sogar auf Schlössern organisiert wurden, um Kinder zu betreuen. Wohin es auch ging, die Mädchen legten eine Packung Damenbinden in ihre Koffer und fragten sich mit einer Mischung aus Angst und Begehren, ob sie in diesem Sommer zum ersten Mal mit einem Jungen schlafen würden.

In dem Sommer wurden auch Tausende von Rekruten nach Algerien geschickt, um die staatliche Ordnung wiederherzustellen, oft waren sie zum ersten Mal von zu Hause weg. Sie schrieben Dutzende Briefe, in denen sie von der Hitze erzählten, dem Djebel, den Douars und dem Analphabetismus der Araber, die nach hundert Jahren Besatzung immer noch kein Französisch sprachen. Sie schickten Fotos von sich in kurzen Hosen, lachend, mit Freunden, in einer trockenen, felsigen Landschaft. Sie sahen aus wie Pfadfinder auf Expedition, man hätte meinen können, sie wären im Urlaub. Die Mädchen stellten keine Fragen, als würden die »Kampfhandlungen« und »Hinterhalte«, von denen Zeitungen und Radio berichteten, nicht die Jungen betreffen, sondern Fremde. Sie fanden es selbstverständlich, dass die Jungen ihre Pflicht taten und, so ging jedenfalls das Gerücht, ihre körperlichen Bedürfnisse an einer angepflockten Ziege stillten.

Sie kamen auf Heimaturlaub, brachten Halsketten mit, eine Hand der Fatima, ein Kupfertablett und mussten wieder zurück. Sie sangen »Der Tag, als die Entlassung kam« auf die Melodie von Gilbert Bécauds Der Tag, als der Regen kam. Und als sie dann endlich wieder zu Hause waren, in allen Ecken Frankreichs, mussten sie sich neue Freunde suchen, die nicht im »bled« gewesen waren, die weder von »Fellaghas« noch von »algerischem Pack« sprachen, die vom Krieg unberührt waren. Sie waren desorientiert, stumm. Sie wussten nicht, ob das, was sie getan hatten, gut oder schlecht war, ob sie stolz sein oder sich schämen sollten.

Es gibt kein einziges Foto von ihr aus dem Sommer 1958.

Nicht einmal von ihrem Geburtstag, dem achtzehnten, den sie dort gefeiert hat, in der Kolonie – die Jüngste von allen Betreuerinnen und Betreuern –, und der auf einen ihrer freien Tage fiel, sodass sie am Nachmittag in die Stadt gehen und ein paar Flaschen Sekt, Löffelbiskuits und Chamoix-Orangenplätzchen kaufen konnte, aber dann schauten nur eine Handvoll Leute in ihrem Zimmer vorbei, um ein Glas zu trinken und etwas zu knabbern, und sie verabschiedeten sich schnell wieder – vielleicht gehörte sie da schon zu denen, die man eher mied, oder zumindest zu denen, für die man sich nicht groß interessierte, schließlich hatte sie weder einen Plattenspieler noch Schallplatten mit in die Kolonie gebracht.

Wer von denen, die im Sommer 1958 im Ferienlager von S im Departement Orne mit ihr zu tun gehabt haben, erinnert sich heute noch an sie, an dieses Mädchen? Wahrscheinlich niemand.

Sie haben das Mädchen vergessen, so wie sie sich gegenseitig vergessen haben, Ende September, jetzt alle wieder verstreut, zurückgekehrt an ihre Fachschule, Sportakademie oder Universität irgendwo im Land oder zum Wehrdienst nach Algerien geschickt. Die meisten zufrieden, dass sie dank der Kinderbetreuung finanziell und moralisch gewinnbringende Ferien verbracht hatten. Sie selbst wahrscheinlich schneller vergessen als die anderen, wie eine Anomalie, einen Verstoß gegen die Vernunft, eine Störung der Ordnung – etwas Lächerliches, mit dem man sich nicht das Gedächtnis belasten will. Abwesend in ihren Erinnerungen an den Sommer 58, von denen heute vielleicht nur schemenhafte Umrisse und vage Orte übriggeblieben sind, und ihre Lieblingswitze, »Schwarze, die nachts in einem dunklen Keller miteinander kämpfen« und »Heute keine Vorstellung«.

Verschwunden also aus dem Bewusstsein der anderen, all diesen Bewusstseinen, die in diesem einen Sommer an diesem einen Ort im Departement Orne miteinander verschränkt waren, der anderen, die über Gesten, Handlungen und Sinnlichkeit der Körper urteilten, ihres Körpers. Die sie bewerteten und abwiesen, mit den Achseln zuckten oder die Augen verdrehten, wenn ihr Name fiel, und einer von ihnen dachte sich zu ihrem Vornamen einen Kalauer aus, auf den er sehr stolz war: »Annie, qu’est-ce que ton corps dit?«, »Annie, was sagt dein Körper?«, was genauso klang wie der Name der Sängerin Annie Cordy, haha!

Endgültig vergessen von den anderen, die in der französischen Gesellschaft oder irgendwo auf der Welt verschwunden waren, verheiratet, geschieden, allein, Großeltern in Rente mit grauem oder gefärbtem Haar. Nicht wiedererkennbar.

Ich wollte dieses Mädchen auch vergessen. Sie wirklich vergessen, das heißt, nicht mehr das Bedürfnis haben, über sie zu schreiben. Nicht mehr denken, ich muss über sie schreiben, über ihr Begehren, ihren Wahn, ihre Idiotie und ihren Stolz, ihren Hunger und ihr versiegtes Blut. Es ist mir nie gelungen.

Immer wieder diese Sätze in meinem Tagebuch, Anspielungen auf »das Mädchen von S«, »das Mädchen von 58«. Seit zwanzig Jahren steht »58« in meinen Notizen zu jedem neuen Buch. Das ist der fehlende Text. Immer aufgeschoben. Die unbeschreibliche Leerstelle.

Ich bin nie über wenige Seiten hinausgekommen, außer einmal, in einem Jahr, als der Kalender auf den Tag genau dem von 1958 entsprach. Am Samstag, dem 16.August 2003 begann ich zu schreiben: »Samstag, 16.August 1958. Ich trage eine Jeans, die bei Elda in Rouen 10000 Francs gekostet hat und die ich Marie-Claude für 5000 abgekauft habe, und einen ärmellosen Pulli mit blau-weißen Querstreifen. Ich bin zum letzten Mal im Besitz meines Körpers.« Ich schrieb jeden Tag, sehr schnell, ich bemühte mich, alles aufzuschreiben, was mir von dem entsprechenden Tag des Jahres 1958 einfiel, alle Einzelheiten, völlig ungeordnet. Als könnte dieses taggenaue, fortwährende Schreiben den Abstand von fünfundvierzig Jahren am besten überbrücken, als würde mir die Übereinstimmung des Datums direkten Zugang zu diesem Sommer verschaffen, so leicht, wie ich von einem Zimmer ins nächste gehe.

Wegen der ständigen Verzweigungen, wegen der Flut an Bildern und Worten geriet ich bald in Verzug. Ich kam mit dem Schreiben nicht hinterher, es gelang mir nicht, die Zeit des Sommers 58 in den Kalender des Jahres 2003 zu zwängen, sie uferte ständig aus. Bald stellte sich das Gefühl ein, dass ich nicht wirklich schrieb. Ich sah ganz klar, dass diese Seiten, dieses Inventar in einen anderen Zustand überführt werden musste, ich wusste nur nicht in welchen. Ich suchte auch nicht danach. Im Grunde genoss ich es einfach, die Erinnerungen hervorzuholen. Ich verweigerte mich dem Schmerz einer Form. Nach fünfzig Seiten gab ich auf.

Seitdem sind über zehn Jahre vergangen, elf Sommer, die den Abstand zum Sommer 1958 auf fünfundfünfzig Jahre haben anwachsen lassen, mit Kriegen, Revolutionen, explodierenden Atomkraftwerken, unzähligen Vorfällen, die mehr und mehr in Vergessenheit geraten.

Die Zeit vor mir wird kürzer. Irgendwann wird es ein letztes Buch geben, so wie es einen letzten Geliebten gibt und einen letzten Frühling, aber vorher deutet nichts darauf hin. Der Gedanke, ich könnte sterben, ohne über das Mädchen geschrieben zu haben, das ich sehr früh »das Mädchen von 58« genannt habe, lässt mir keine Ruhe. Eines Tages wird es niemanden mehr geben, der sich erinnert. Das, was dieses Mädchen erlebt hat, niemand sonst, wird unerklärt bleiben, umsonst gelebt.

Kein anderes Schreibvorhaben erscheint mir so lebensnotwendig – nicht folgerichtig oder neu und schon gar nicht glücklich –, dazu imstande, mich die Zeit überdauern zu lassen. Einfach nur »das Leben genießen« ist eine unerträgliche Aussicht, denn ohne Buch, an dem man schreibt, ist es, als wäre jeder Moment der letzte.

Der Gedanke, dass ich die Einzige sein könnte, die sich erinnert, gefällt mir. Als gäbe mir diese Tatsache Macht. Eine absolute Überlegenheit über die anderen dieses Sommers 58, als Folge meiner Scham, für mein Begehren, meine Tagträume in den Straßen von Rouen, mein ausbleibendes Blut, das versiegt war wie bei einer alten Frau. Das große Gedächtnis der Scham ist sehr viel klarer und erbarmungsloser als jedes andere. Es ist im Grunde die besondere Gabe der Scham.

Mir geht auf, dass das Vorangegangene nur dem Zweck dient, alles aus dem Weg zu räumen, was mich bremst, was mich wie in einem Albtraum lähmt und mich daran hindert, weiterzuschreiben. Die Brutalität des Anfangs zu mildern, den Sprung abzufedern, den zu machen ich im Begriff bin, um das Mädchen von 58 zu erreichen, sie und die anderen, um sie alle in den Sommer eines Jahres zurückzuversetzen, das heute weiter entfernt ist, als es das Jahr 1914 damals war.

Ich betrachte das schwarz-weiße Ausweisfoto im Jahrbuch des Pensionats Saint-Michel, Yvetot, Abiturklasse C, altsprachlicher Zweig. Ich sehe ein ebenmäßiges, ovales Gesicht im Halbprofil, eine gerade Nase, dezente Wangenknochen, eine hohe Stirn, in die seltsamerweise – wahrscheinlich, um sie kleiner erscheinen zu lassen – auf einer Seite eine gewellte Strähne, auf der anderen eine Schmachtlocke fällt. Der Rest des dunklen Haars ist zu einem Dutt hochgesteckt. Ein Lächeln, das man als sanft oder traurig beschreiben könnte, oder beides, umspielt ihre Lippen. Der schwarze Pullover mit Stehkragen und Raglanärmeln wirkt streng und schmucklos, wie eine Soutane. Alles in allem ein hübsches, schlecht frisiertes Mädchen, das Sanftheit und einen gewissen Gleichmut ausstrahlt und das man heutzutage auf älter als siebzehn schätzen würde.

Je länger ich das Mädchen auf dem Foto betrachte, desto größer wird der Eindruck, dass sie mich ansieht. Ist sie ich? Dieses Mädchen? Bin ich sie? Um sie zu sein, müsste ich

eine Physikaufgabe und eine Gleichung zweiten Grades lösen können

jede Woche den Roman lesen, der der Frauenzeitschrift Bonnes soirées beiliegt

davon träumen, endlich auf eine »Party« zu gehen

der Meinung sein, dass Algerien französisch bleiben soll

spüren, wie die blaugrauen Augen meiner Mutter mir überallhin folgen

weder Beauvoir noch Proust noch Virginia Woolf etc. gelesen haben

Annie Duchesne heißen.

Natürlich dürfte ich auch nichts von der Zukunft wissen, von diesem Sommer 1958. Ich müsste schlagartig unter Amnesie leiden und die Geschichte meines Lebens und der ganzen Welt vergessen haben.

Das Mädchen auf dem Foto bin nicht ich, aber sie ist auch keine Fiktion. Über niemanden sonst weiß ich so viel, niemanden sonst kenne ich so gut, weshalb ich zum Beispiel sagen kann

dass sie das Ausweisfoto an einem Nachmittag in den Winterferien hat machen lassen, beim Fotografen auf der Place de la Mairie, zusammen mit ihrer besten Freundin Odile

dass sie die beiden Stirnlocken den Lockenwicklern zu verdanken hat, die sie jede Nacht trägt, und der sanfte Blick von ihrer Kurzsichtigkeit kommt – für das Foto hat sie ihre dicke Brille abgesetzt

dass sie im linken Mundwinkel eine sichelförmige Narbe hat – auf dem Foto unsichtbar –, weil sie im Alter von drei Jahren auf eine zerbrochene Flasche gefallen ist

dass ihr Pullover von Delhoume in Fécamp stammt, einem Großhändler, der den Laden ihrer Mutter mit Strümpfen, Schreibwaren, Eau de Cologne etc. beliefert, zweimal im Jahr kommt ein Vertreter und packt seine Koffer voller Muster und Proben auf einem Tisch aus, ein dicker Mann in Anzug und Krawatte, der ihr unsympathisch ist, seit er sie darauf aufmerksam gemacht hat, dass sie denselben Vornamen trägt wie die Sängerin von La fille du cow-boy, Annie Cordy.

Und so weiter und so fort.

Niemand sonst füllt meine Erinnerung derart aus. Und ich habe keine andere Erinnerung als ihre, um mir die Welt der Fünfzigerjahre zu vergegenwärtigen, die Männer mit gefütterten Lederjacken und Baskenmützen, die Citroëns mit Frontantrieb, die Melodie von Étoile de Neiges, den Doppelmord des Priesters in Uruffe, den Radrennfahrer Fausto Coppi, Claude Luter und seine Jazzband – um die Menschen und Dinge so zu sehen, wie sie tatsächlich gewesen sind, in der Gewissheit ihrer unmittelbaren Wirklichkeit. Das Mädchen auf dem Foto ist eine Fremde, die mir ihre Erinnerungen hinterlassen hat.

Trotzdem kann ich nicht sagen, dass ich nichts mehr mit ihr zu tun habe beziehungsweise mit der jungen Frau, die sie in diesem Sommer werden sollte, wie das Ausmaß meiner Verstörung bei der Lektüre von Paveses Der schöne Sommer und Rosamond Lehmanns Dunkle Antwort beweist, beim Anschauen von Filmen, die ich auflisten musste, bevor ich mit dem Schreiben beginnen konnte:

Wanda, Mit den Waffen einer Frau, Sue – eine Frau in New York, Das Mädchen mit dem leichten Gepäck und Después de Lucía, den ich erst letzte Woche gesehen habe.

Jedes Mal ist es, als würde mich die Frau auf der Leinwand in ihre Welt entführen, als würde ich mich in sie verwandeln, aber nicht ich, die Frau, die ich heute bin, sondern das Mädchen des Sommers 58. Sie verschlingt mich, nimmt mir den Atem, ihretwegen habe ich für kurze Zeit den Eindruck, außerhalb der Leinwand nicht zu existieren.

Dieses Mädchen von 1958, das nach fünfzig Jahren plötzlich zum Vorschein kommen und einen inneren Zusammenbruch auslösen kann, versteckt sich also irgendwo in mir, ist eine beharrliche Präsenz. Wenn die Realität das ist, was wirkt, was Wirkungen erzeugt, wie es im Wörterbuch heißt, dann ist dieses Mädchen zwar nicht ich, aber sie ist in mir real. Eine Art reale Präsenz.

Soll ich unter diesen Umständen das Mädchen von 58 und die Frau von 2014 zu einem »Ich« verschmelzen? Oder, was mir – rein subjektiv – zwar nicht am stimmigsten, dafür aber am aufregendsten erscheint, beide voneinander trennen, sie in ein »sie« und ein »ich« aufspalten, um bei der Darstellung von Ereignissen und Handlungen bis zum Äußersten gehen zu können? Und das aufs Grausamste, so wie die Menschen, die man hinter einer Tür über einen selbst reden hört, die »sie« oder »er« sagen, und in diesem Moment meint man zu sterben.

Auch ohne Foto sehe ich sie

Auch ohne Foto sehe ich sie, Annie Duchesne, am frühen Nachmittag des 14.August in S aus dem Zug aus Rouen steigen. Ihr Haar ist zu einem straffen, länglichen Knoten zurückgebunden. Sie hat die dicke Brille auf, die ihre Augen kleiner macht, aber ohne würde sie alles nur verschwommen sehen. Sie trägt einen marineblauen Dreiviertelmantel – einen zwei Jahre alten, ehemals beigen Lodenmantel, gekürzt und gefärbt –, einen gerade geschnittenen Tweed-Rock – auch er aus einem anderen Rock geschneidert – und einen Ringelpulli. In der einen Hand hält sie einen grauen Koffer – der vor sechs Jahren für eine Reise nach Lourdes mit ihrem Vater neu angeschafft und seitdem nicht mehr benutzt worden ist –, in der anderen eine große blau-weiße Kunstlederhandtasche, die sie in der Woche zuvor auf dem Markt von Yvetot gekauft hat.

Der Regen, der die ganze Fahrt über gegen die Scheiben gepeitscht ist, hat aufgehört. Die Sonne scheint. Ihr ist heiß in dem Lodenmantel und dem Winterrock. Ich sehe ein Kleinstadtmädchen aus der Mittelschicht, groß und kräftig, die wie eine brave Schülerin aussieht und handgeschneiderte Kleider aus robustem, hochwertigem Stoff trägt.

Neben ihr sehe ich die kleinere Gestalt einer Frau Mitte fünfzig, gedrungen, »eine gepflegte Erscheinung«, im Kostüm, mit dauergewelltem, rötlichen Haar und entschlossen vorgerecktem Kinn. Ich sehe meine Mutter mit ihrem Gesichtsausdruck zwischen Unsicherheit, Misstrauen und Unzufriedenheit, den sie damals immer hatte, dem Gesichtsausdruck einer Mutter, die »ihre Tochter im Auge behält«.

Ich weiß, was das Mädchen in diesem Moment empfindet, ich kenne ihren Wunsch, ihren einzigen: Dass die Mutter in den Zug nach Hause steigt und verschwindet. Sie brennt vor Wut und Scham darüber, dass sie mit ihrer Mutter gesehen werden könnte – die das Umsteigen in Rouen zum Vorwand genommen hat, sie zu begleiten –, darüber, dass sie in der Ferienkolonie abgeliefert wird wie ein kleines Kind, dabei wird sie in zwei Wochen achtzehn und ist als Betreuerin eingestellt.

Ich sehe sie, aber ich höre sie nicht. Es existiert keine Aufnahme von meiner Stimme aus dem Jahr 1958, und das Gedächtnis speichert alles, was man selbst gesagt hat, geräuschlos ab. Unmöglich zu wissen, ob ich damals noch in dem schleppenden Ton der Normandie sprach, dem Einschlag, den ich längst abgelegt zu haben glaubte, jedenfalls im Vergleich zu meiner Verwandtschaft.

Was kann ich über dieses Mädchen sagen, darüber, wie sie ist, kurz bevor der Fahrer der Kolonie vor dem Bahnhof hält und sie auf den Wagen zuläuft, nachdem sie ihrer Mutter schnell einen Kuss auf die Wange gedrückt hat, um zu verhindern, dass sie mit einsteigt, sie verdattert auf dem Bürgersteig stehengelassen hat, mit traurigem Gesicht, auf dem nach der langen Zugreise kaum noch Puder war? Das interessiert sie nicht, genauso wenig, wie es sie später interessieren wird, dass ihre Mutter an diesem Abend in einem Hotel in Caen schlafen musste, weil kein Zug mehr nach Rouen ging, sie denkt wahrscheinlich, dass es ihrer Mutter recht geschieht, sie hätte sie schließlich auch allein nach S fahren lassen können.

Was über sie sagen, was auswählen, das sie ganz und gar erfasst, genauso, wie sie damals war, an diesem Augustnachmittag unter dem wechselhaften Himmel im Departement Orne, als sie noch nicht wusste, was drei Tage später für immer hinter ihr liegen würde, in diesem Moment ohne Tiefe, der seit über fünfzig Jahren vergangen ist?