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"Susanne Dreß schreibt so anschaulich über ihren Bruder Dietrich, dass man das Gefühl hat, bei Familie Bonhoeer mit am Esstisch zu sitzen." So beschreibt Jutta Koslowski die Lebenserinnerungen von Dietrich Bonhoeers Schwester Susanne, die ein sehr inniges Verhältnis zu ihrem drei Jahre älteren Bruder hatte. Hautnah erleben die Leser sowohl dessen Kindertage als auch seine späteren Jahre als Theologe und Widerstandskämpfer mit. Susanne durfte ihrem Bruder Essen, Wäsche, Bücher und Briefe ins Gefängnis bringen. Das Buch endet jedoch nicht mit dem Tod Bonhoeffers im April 1945, sondern schildert auch den von tiefer Dankbarkeit und Versöhnungsbereitschaft geprägten Umgang der Familie mit dem Erlebten, den Susanne ganz bewusst als Dietrichs Vermächtnis versteht. Ein einzigartiges Buch von hohem zeitgeschichtlichem Wert und eine packende Lektüre für alle, die ein facettenreicheres und umfassenderes Bild von Dietrich Bonhoeffer und seiner Familie gewinnen möchten.
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Seitenzahl: 121
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Inhalt
Einleitung
Biographische Notizen über Dietrich Bonhoeffer in den Lebenserinnerungen von Susanne Dreß
Dietrich Bonhoeffers Persönlichkeit
Dietrich Bonhoeffers kulturelle Interessen
Musik
Theater
Literatur
Kunst
Gesellschaftliches Leben
Dietrich Bonhoeffer und die Religion
Glaubensgespräche
Gottesdienstbesuch
Gemeindearbeit
Seelsorge
Pfarrdienst in London
Dietrich Bonhoeffer und die Moral
Dietrich Bonhoeffer und die Politik
Krieg und Pazifismus
Nationalsozialismus
Dietrich Bonhoeffers Verhaftung
Dietrich Bonhoeffer im Gefängnis
Todesnachricht
Dietrich Bonhoeffers Vermächtnis
Sonstige Mitteilungen über Dietrich Bonhoeffer
Schlussfolgerungen zu Dietrich Bonhoeffers Theologie aus den Lebenserinnerungen von Susanne Dreß
Anhang
Literaturverzeichnis
Endnoten
Es gibt erfülltes Leben trotz vieler unerfüllter Wünsche.*
Dietrich Bonhoeffer
Einleitung
Dietrich Bonhoeffers Leben fand am 9. April 1945, in den letzten Tagen des 2. Weltkriegs, im KZ Flossenbürg ein jähes Ende. Sein Leben ist Fragment geblieben.1 Dennoch war es keineswegs ohne Wirkung – im Gegenteil: Noch heute, fünfundsiebzig Jahre nach seinem Tod, ist das Interesse an Leben und Werk von Bonhoeffer2 ungebrochen. Was immer an schriftlicher Hinterlassenschaft von ihm die Zeit überdauert hat, wird akribisch im Archiv der Staatsbibliothek in Berlin gesammelt und dokumentiert;3 ein großer Teil davon liegt in der sorgfältigen wissenschaftlichen Edition ‚Dietrich Bonhoeffer Werke‘ in insgesamt 17 Bänden vor.4 Neben der gewichtigen Biographie seines engen Freundes und Wegbegleiters Eberhard Bethge5 und dem kenntnisreichen Œuvre von Ferdinand Schlingensiepen6 ist noch umfangreiche weitere Sekundärliteratur zu Bonhoeffer erschienen.7 In letzter Zeit haben die beiden US-Amerikaner Eric Metaxas8 und Charles Marsh9 durch neue Veröffentlichungen von sich reden gemacht.
Was jedoch fehlt und von der großen ‚Bonhoeffer-Gemeinde‘ schmerzlich vermisst wird, ist eine Autobiographie Dietrich Bonhoeffers. Sein Lebenslauf war so abwechslungsreich und bedeutungsvoll, seine theologische Einsicht so mutig und tief und seine literarische Begabung so groß, dass ein solches Buch gewiss einen großen Gewinn bedeutet hätte. Leider war es aufgrund seines vorzeitigen und gewaltsamen Todes nicht möglich, dass Bonhoeffer seinen Lebenslauf für die Nachwelt festhielt – er hat sein Leben nicht aufgeschrieben, sondern aufgegeben.10 Jedoch wird diese Lücke in gewisser Weise gefüllt durch die Lebenserinnerungen seiner jüngsten Schwester Susanne, die nun endlich in gedruckter Form zugänglich sind.11
Über die Person von Susanne, geborene Bonhoeffer, verheiratete Dreß, über die Entstehung ihres Manuskripts und dessen weitere Geschichte bis hin zur Veröffentlichung und über die besondere Qualität und Bedeutung dieses Textes gibt die Einleitung zu ihren Lebenserinnerungen ausführlich Rechenschaft,12 sodass dies hier nicht wiederholt werden soll. Zweifellos hat die Autobiographie von Susanne Dreß ihren eigenen Wert. Aber natürlich interessieren sich viele Leser auch besonders dafür, was in ihrem Text über Dietrich Bonhoeffer (Neues) zu erfahren ist. Und das ist eine ganze Menge: Dietrich scheint unter den vielen Geschwistern der zehnköpfigen Familie derjenige gewesen zu sein, der Susanne am nächsten stand und mit dem sie vieles verband – nicht zuletzt die Leidenschaft für den christlichen Glauben, der in der Familie Bonhoeffer ansonsten eher zurückhaltend gepflegt wurde. Die vier Töchter waren hoch gebildet und hatten vielseitige Begabungen; sie heirateten jedoch alle früh und schlossen (anders als ihre Mutter!) keine Berufsausbildung ab. Die Söhne und Schwiegersöhne folgten den Fußspuren des verehrten Vaters und wurden Naturwissenschaftler oder Juristen – nur Dietrich, der jüngste Sohn, wich von diesem vorgezeichneten Weg ab und wurde Theologe. Susanne heiratete einen Studienfreund von Dietrich (nicht ohne dessen Zutun13) und war Zeit ihres Lebens als Pfarrfrau äußerst aktiv. So führte sie in gewisser Weise das Vermächtnis von Dietrich Bonhoeffer fort.14 Und in ihren Lebenserinnerungen – womit sie sich nachträglich den großen Traum erfüllte, der sie schon seit Kindertagen bewegt hatte, nämlich Schriftstellerin zu werden15 – finden sich zahlreiche Bezüge auf Dietrich. Auf den 825 Druckseiten ihres Werkes wird er mehr als 150 Mal erwähnt, sodass dieser Text eine unschätzbare Fundgrube für die Bonhoeffer-Forschung bietet, an der in Zukunft kein Biograph mehr vorbeigehen sollte.
Die Hinweise auf Dietrich Bonhoeffer stehen freilich im Zusammenhang mit den Schilderungen aller anderen Familienmitglieder und sind über das gesamte Werk verstreut. Deshalb sollen sie hier systematisch zusammengestellt werden. Es werden alle Belege im Text (nicht in den Anmerkungen) mit einer namentlichen Erwähnung von Dietrich Bonhoeffer ausgewertet (mit der Ausnahme von fünf Stellen, wo sein Name lediglich in einer Aufzählung vorkommt16). Dabei folge ich im Wesentlichen der Reihenfolge im Text, woraus sich eine gewisse chronologische Abfolge ergibt. Außerdem werden verwandte Themen zusammengefasst, sodass neben der chronologischen Ordnung auch eine systematische entsteht. Auf diese Weise wird deutlich, dass die Nachrichten über Dietrich in Susannes Werk (entsprechend der Text-Gattung Biographie) in der Hauptsache biographischer Natur sind; wir erfahren kaum direkt etwas über das theologische Denken Bonhoeffers. Jedoch stehen Glaube und Leben in engem Zusammenhang, und gerade die persönlicheGlaubwürdigkeit Bonhoeffers (der für seine Überzeugungen mit dem Preis seines Lebens bezahlt hat), ist der Grund dafür, dass er noch heute für viele Menschen Orientierung bietet – Theologen und ‚Laien‘ gleichermaßen. Insofern soll im Folgenden gezeigt werden, dass wir aus Susannes Lebenserinnerungen vieles über PersönlichkeitundCharakter von Dietrich Bonhoeffer entnehmen können, und dass sich daraus auch indirekt Schlussfolgerungen über seine Theologie ziehen lassen.
Weiterhin wird deutlich, dass wir durch die Aufzeichnungen von Susanne kaum einen ‚anderen‘ Bonhoeffer kennenlernen als denjenigen, dessen Bild sich in den vergangen Jahrzehnten etabliert hat. Dieser Befund ist nicht überraschend. Eberhard Bethge (der bedeutendste Biograph Dietrich Bonhoeffers) gehörte durch seine Heirat mit Susannes Cousine Renate Schleicher zur Bonhoeffer-Familie und hatte somit Teil an einer gemeinsamen Überlieferungskultur. Aber auch wenn es in Susannes Lebenserinnerungen keine Skandal-Enthüllungen über den ‚wahren‘ Dietrich Bonhoeffer gibt, sondern sich das bereits bekannte Wissen insgesamt bestätigt, so wird es doch wesentlich vertieft: Die Schilderungen von Susanne sind so plastisch, anschaulich und lebendig, dass aus dem Bild sozusagen ein 3-D-Hologramm oder sogar ein Film wird – ja, dass man das Gefühl hat, selbst mit am Esstisch der Familie Bonhoeffer zu sitzen. In diesem Sinne: Viel Vergnügen bei einer Entdeckungsreise zu Dietrich Bonhoeffer in den Lebenserinnerungen von Susanne Dreß!
Biographische Notizen über Dietrich Bonhoeffer in den Lebenserinnerungen von Susanne Dreß
Dietrich Bonhoeffers Persönlichkeit
Susanne geht zwar grundsätzlich, aber nicht streng chronologisch vor – immer wieder wird die Abfolge der Ereignisse durch Rückblick oder Vorausschau unterbrochen oder es werden bestimmte Aspekte unter thematischen Gesichtspunkten zusammengefasst. So berichtet Susanne von ihrer Urgroßmutter mütterlicherseits Babette Meyer, die ‚keine echte Urgroßmutter war‘, sehr wohlhabend gewesen ist und in Berlin einen Salon unterhielt, in dem Politiker und Künstler ein- und ausgingen.17 Hier findet auch Dietrich Bonhoeffer zum ersten Mal Erwähnung.
„Von den Geschwistern erfuhr ich, dass sie eine getaufte Jüdin war und dass von allen Verwandten meine Eltern eigentlich die Einzigen waren, die herzlich mit ihr umgingen. Sie hatte ein herrliches Haus am Tiergarten mit einem großen Baumbestand, wo man Versteck mit Anschlag spielen konnte. Ich entsinne mich, dass sich Dietrich bei einer Geburtstagsfeier dabei ein Loch in den Kopf schlug und zum Entsetzen aller alten Damen blutüberströmt abtransportiert wurde.“18
Was erfahren wir hier über Dietrich Bonhoeffer? Dass seine Eltern ihm Solidarität mit der (jüdischen) Minderheit und (innerfamiliären) Nonkonformismus vorlebten und er diese Qualitäten nicht zuletzt ihrem Vorbild verdankte. Und dass er als Kind ein Wildfang war, der beim Toben so leicht vor nichts zurückschreckte und dabei auch eine Verletzung in Kauf nahm. Die große Bedeutung des familiären Vorbilds ist in den Quellen reichlich belegt;19 Dietrichs Draufgängertum passt dazu, dass er später als groß gewachsen und sportlich beschrieben wird.20 Und vielleicht kann man diese Mitteilung auch als Hinweis darauf verstehen, dass Dietrich mutig war, ‚seinen Kopf durchsetzen‘ und bisweilen gar ‚mit dem Kopf durch die Wand‘ wollte, und dass er bereit war, dafür Blutzoll zu entrichten? Wir wollen hier nichts überinterpretieren, aber es sollen alle möglichen Verbindungslinien ausgezogen werden, damit die Leser selbst entscheiden können, welche davon sie überzeugend finden.
Die erste (und einzige) ausführliche Beschreibung von Dietrich findet sich dort, wo Susanne ihre Geschwister beschreibt.21 Der Reihenfolge ihres Alters nach werden Karl-Friedrich, Walter, Klaus, Ursel, Christel, Dietrich und Sabine charakterisiert. Die Passage über Dietrich soll hier vollständig wiedergegeben werden, weil es sich dabei um neu zugänglich gemachtes Quellenmaterial handelt:
„Unser Baukasten hatte sehr große Klötze und Säulen. Wir hatten wohl zusammen ein Schloss gebaut mit Bogenfenstern im Turm. Durch solch ein Bogenfenster habe ich (damals muss ich wohl drei Jahre alt gewesen sein) den weißblonden Kopf von Dietrich gesehen und mich gefreut: Mein Bruder spielt mit mir. Das ist wohl meine erste Erinnerung, die ich an ihn habe. Vielleicht haben wir uns auch mal gezankt, aber das ist nie wichtig geworden, und ich weiß nichts mehr davon. Dreieinhalb Jahre Unterschied im Alter machen bei Kindern schon viel aus. Doch er ist der Einzige meiner Brüder, mit dem ich gespielt habe – und herrlich gespielt. Natürlich hatte er die absolute Führung, aber er ließ es nicht merken, und ich fühlte mich nie unterdrückt. Ich glaube, ich habe ihn angebetet; jedenfalls konnte ich mir keinen Jungen denken, der ihm irgendwie überlegen war. Er war der Stärkste, Schnellste, Klügste, Einfallsreichste, Freundlichste, Frömmste und Schönste von allen Kindern, die ich kannte. Und dass er mein Bruder war, damit gab ich gerne an. Ich ließ mich oft mit ihm sehen, auch als junges Mädchen. Er spielte viel mit mir; vielleicht mehr als mit seiner Zwillingsschwester Sabine. Sie war als Mädchen doch entsprechend weiter und nie so wild zum Toben und zu allen Jungensspielen bereit wie ich.
Von den großen Geschwistern hatte er als jüngster Bruder ziemlich zu leiden. Nicht nur, dass es ihm manchmal zu schaffen machte, dass alle Aufträge an ihn weitergegeben wurden, weil die Großen keine Zeit hatten (besonders die im Krieg so häufigen Wege auf Post und Behörden) – er wurde auch gern geneckt und gefoppt. Vielleicht war das kein Schade, da er außerhalb des Hauses übermäßig bewundert wurde. In der Schule war er, ohne etwas dafür zu tun, mit Selbstverständlichkeit der Beste; gegen das übergroße Freundschaftsangebot dort konnte er sich nur durch Arroganz und Lieblosigkeit wehren; sonst wäre er überlaufen worden und nicht mehr zu sich selbst gekommen. Die Zwillinge und ich waren ‚die drei Kleinen‘, und ich war merkwürdigerweise persönlich stolz darauf, Zwillinge als Geschwister zu haben.
Meine Geburtstagsgeschenke für die Zwillinge am 4. Februar bestanden fast immer in selbst ausgedachten Geschichten, die ich teils diktierte, teils später selbst mit viel Mühe aufschrieb; manche davon besitze ich noch heute. Wenn ich meine Mutter um Geld für ein gekauftes Geschenk gebeten hätte, wäre sie sehr verwundert gewesen. Von meinem ersten selbst verdienten Geld habe ich mit zwölf Jahren auf der Halensee-Brücke für Dietrich zum Geburtstag zehn Zigaretten gekauft, das Stück zu zehn Pfennig. Das war nicht nur eine große Ausgabe, sondern auch eine mutige Tat, denn ich hatte die Befürchtung, dass der Verkäufer mich bestimmt hinauswerfen würde. Für Sabine malte ich zu dieser Zeit Lautenbänder. Sie bekamen ihren Geburtstagstisch immer erst nach der Schule vor dem Mittagessen. Mein Vater hielt dabei nur sehr selten Reden. Meist wurde ich verpflichtet und machte es sehr kurz: ‚Weil die Zwillinge Geburtstag haben, wollen wir alle anstoßen – sie leben hoch!‘ Bei solchen Anlässen, die sich bei uns ja ziemlich häuften, pflegte es eine preiswerte türkische Torte aus dem Beamtenwirtschafts-Verein für drei Mark zu geben, die in vierfacher Ausfertigung bestellt wurde, damit sie reichte. Das wurde durch den Doppelgeburtstag variiert, weil doch jeder eine andere Torte bekommen sollte. Die Drei-Mark-Torte geriet bei uns mit Besserung der Zeiten in geheimen Verruf, der so lange schwelte, bis eines Tages beim Geburtstag der Zwillinge von den Großen laut die Frage erörtert wurde, ob es eigentlich keine anderen, weniger parfümierten Torten gäbe, oder ob die für Feste zu teuer wären. Meine Mutter versuchte eine kleine Verteidigung, die aber lachend unterbrochen wurde, weil die Rebellen sicher waren, dass sie ihr auch nicht schmeckte. So verschwand dieses Gebäck von den nachfolgenden Geburtstagstischen. Die zwei Geburtstagstische, zwei Torten rundum mit Lichtern nach der Zahl der Jahre umsteckt, und nach dem Krieg der Duft von Apfelsinen – das gehört zusammen mit der großen Kindergesellschaft am Nachmittag zum ‚Zwillingsgeburtstag‘. ‚Sofort vierzehn‘, antwortete Dietrich, als er im Jahr 1919 um die Weihnachtszeit herum gefragt wurde, wie alt er wäre. Dass er zehn Minuten älter war als Sabine, war ihm doch sehr wichtig.“22
Aus dieser Charakterisierung kann man viel Bedeutsames entnehmen. Eigentlich sprechen diese Worte (so wie das meiste in den Lebenserinnerungen von Susanne Dreß) für sich selbst, aber ein paar Bemerkungen sollen doch hervorgehoben werden: Susanne und Dietrich hatten eine enge Beziehung, und sie spielten als Kinder ausgiebig miteinander.23 Auch später sollte diese besondere Verbindung andauern, wie wir noch sehen werden. Dietrich übernahm dabei die Führungsrolle, was für einen älteren Bruder einerseits natürlich ist, aber darüber hinaus auch seiner Persönlichkeit entspricht. Er wird beschrieben als gutaussehend, kräftig, klug, ideenreich, freundlich und religiös – alles Eigenschaften, die ganz zu dem von ihm überlieferten Bild passen.24 Die Biographie von Susanne gerät hier in die Nähe einer Hagiographie; dies ist allerdings eine Ausnahme und keineswegs charakteristisch für ihren Text. Und natürlich bedeutet es nicht (ebenso wie an allen anderen Stellen in ihrem Werk), dass Dietrich so gewesen ist, sondern lediglich, dass sie ihn so gesehen hat; zumindest im Rückblick und mit einem gewissen zeitlichen Abstand. Dietrich wurde von Susanne verehrt – aber nicht nur von ihr als der jüngsten Schwester (die sich im Kreis ihrer Geschwister insgesamt keineswegs wohl fühlte), sondern auch „außerhalb des Hauses“25 wurde er „übermäßig bewundert“, wogegen er sich nach Susannes Deutung teilweise „durch Arroganz und Lieblosigkeit“ abzugrenzen versuchte. Innerhalb der Familie dagegen mit ihren vielen hochbegabten Kindern und ihrem hohen Erwartungshorizont „hatte er als jüngster Bruder ziemlich zu leiden“, und es war ihm wichtig, zumindest „zehn Minuten älter“ als seine Zwillingsschwester Sabine zu sein.
Neben dieser zusammenfassenden Beschreibung finden sich in den Lebenserinnerungen von Susanne Dreß noch zahlreiche weitere Stellen, die Rückschlüsse auf Dietrichs Persönlichkeit zulassen. So berichtet sie etwa davon, dass sich Dietrich in der Familie zu Hilfsdiensten verpflichten ließ: Gemeinsam mit Susanne musste er alljährlich im November zu Fuß ganze Wagenladungen voll mit Weihnachtspaketen zu dem etliche Kilometer entfernten Postamt Grunewald befördern.26 Im 1. Weltkrieg gingen Susanne und Dietrich „bald Abend für Abend in das Grunewald-Casino und holten einen Kübel mit Essen aus der Mittelstandsküche“.27 Als junger Mann war er der einzige von den Geschwistern, der sich auf das unbeliebte gesellschaftliche Ereignis der Universitäts-Tanzfeste einließ: „Meine Brüder drückten sich davor konsequent – höchstens Dietrich opferte sich manchmal.“28
Dietrich verfügte über besondere Kenntnisse und Fähigkeiten: So wurde er im Ferienparadies der Familie in Friedrichsbrunn im Harz zum „Oberpilzwart“ ernannt, weil er „Pilzaugen“ hatte.29