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Leben und Bedeutung von Dietrich Bonhoeffers älterem Bruder Klaus Bonhoeffer
Wer war Klaus Bonhoeffer? Während Leben und Wirken Dietrich Bonhoeffers akribisch erforscht sind, gibt es bisher keine einzige Monographie über dessen Bruder. Dabei war Klaus nicht nur der ältere, sondern er ist Dietrich auch in mancher Hinsicht vorangegangen – nicht zuletzt auf dem Weg in den Widerstand gegen Hitler. Entsprechend seiner Persönlichkeit war Klaus im Kampf gegen die Diktatur in gewisser Weise sogar der Entschiedenere von beiden.
Dieses Buch erzählt die Geschichte von Klaus Bonhoeffer und zeichnet ein neues Bild seines Weges und seiner Bedeutung. Jutta Koslowski wertet bisher unveröffentlichte Quellen und umfängliches Archivmaterial aus und konnte dabei auch Dokumente einsehen, die bisher nur im Kreis der Familie Bonhoeffer bekannt waren. Ausführliche Interviews mit den drei noch lebenden Kindern von Klaus Bonhoeffer runden das Werk ab.
Das Lebensbild einer ungewöhnlichen und bisher zu wenig beachteten Persönlichkeit aus der Familie Dietrich Bonhoeffers und ein spannendes Stück Zeitgeschichte.
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Seitenzahl: 1300
Das Lebensbild einer ungewöhnlichen, bisher zu wenig beachteten Persönlichkeit aus der Familie Bonhoeffer und ein spannendes Stück Zeitgeschichte.
Mit Berichten von Zeitzeugen und auf der Grundlage bisher unveröffentlichter Dokumente.
Dr. Jutta Koslowski, evangelische Pfarrerin und Lehrbeauftragte für Ökumene und interreligiösen Dialog.
Sie ist Mitglied der Internationalen Bonhoeffer-Gesellschaft und war als Dietrich Bonhoeffer Visiting Professor am Union Theological Seminary in New York tätig.
Im Gütersloher Verlagshaus hat Jutta Koslowski zahlreiche Publikationen zur Bonhoeffer-Forschung, insbesondere zum biographischen und familiären Hintergrund, veröffentlicht.
Jutta Koslowski
Wer war
KLAUS
BONHOEFFER?
Annäherungen an einen unbekannten Widerstandskämpfer
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Copyright © 2023 Gütersloher Verlagshaus, Gütersloh,
in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,
Neumarkter Str. 28, 81673 München
Umsetzung eBook: Greiner & Reichel, Köln
Umschlagmotiv: Klaus Bonhoeffer, Foto aus: Dietrich Bonhoeffer. Sein Leben in Bildern und Texten, hg. von Eberhard Bethge u.a., Chr. Kaiser Verlag, München 1986
ISBN 978-3-641-27321-7V001
www.gtvh.de
Für Ferdinand Schlingensiepen in Dankbarkeit für vielfältige Anregungen
Gewiss, es war eine furchtbare Zeit; aber man erfuhr die Wahrheit des Schicksalswortes von Hölderlin, »dass eine neue Seligkeit dem Herzen aufgeht, wenn es aushält und die Mitternacht des Grams durchduldet, und dass, wie Nachtigallgesang, im Dunkeln göttlich erst in tiefem Leid das Lebenslied der Welt uns tönt.«
(FABIAN VON SCHLABRENDORFF: Offiziere gegen Hitler. Nach einem Erlebnisbericht, Hg. v. GERO VON SCHULZE-GÄVERNITZ, Zürich 1946, S. 170)
Inhalt
Einleitung
Die Erinnerung an Klaus Bonhoeffer aus dem Schatten des Bruders lösen
I. BIOGRAPHIE
»Unser kleiner Philosoph«
Klaus Bonhoeffers Kindheit und Jugend
»Dieses fürchterliche Pack von farbentragenden Studenten«
Klaus Bonhoeffers Studienzeit
»Es war ungeheuer, was man gesehen hatte«
Klaus Bonhoeffers Reisen und erste Berufsjahre
»Die breite Skala von Möglichkeiten«
Klaus Bonhoeffers Ehe und Familienleben
»Brückenbauer des Widerstands«
Klaus Bonhoeffers Engagement im Kampf gegen das Nazi-Regime
»Wir hatten Waffen im Haus«
Klaus Bonhoeffer und das Attentat vom 20. Juli 1944
»Dort traf sich die beste Gesellschaft«
Klaus Bonhoeffers Haftzeit im Gefängnis Lehrter Straße
»Ich lehne den nationalsozialistischen Staat ab«
Klaus Bonhoeffers Verhandlung vor dem Volksgerichtshof
»Stationen des Kreuzwegs«
Klaus Bonhoeffers Leben im Angesicht des Todes
»Ich muss schnell packen«
Klaus Bonhoeffers letzte Stunden und die Umstände seiner Ermordung
»Wohl traurig, aber auch stolz«
Das Leben der Familie nach dem Tod ihrer Angehörigen
»Aus diesem Glauben resultiert natürlich der ganze Widerstand gegen Hitler«
Klaus Bonhoeffers Verhältnis zu Religion und Kirche
II. PERSÖNLICHKEIT
»Er hat den Kampf nicht gescheut«
Eine Charakterisierung Klaus Bonhoeffers durch seinen ältesten Bruder Karl-Friedrich
»Leidenschaftlich interessiert am Leben«
Erinnerungen an vergangene Zeiten von Klaus Bonhoeffers jüngerer Schwester Sabine Leibholz
»Er galt als der Schwierigste von uns«
Erinnerungen an gemeinsame Erlebnisse von Klaus Bonhoeffers jüngster Schwester Susanne Dreß
»Er tanzte mit seinen Kindern«
Erinnerungen für die Enkel von Klaus Bonhoeffers Ehefrau Emmi
III. REFLEXION
»Er hatte zu wenig Zeit für mich«
Erinnerungen an das Familienleben von Klaus Bonhoeffers ältestem Sohn Thomas
»Es ist, wie es ist«
Erinnerungen an den unbekannten Vater von Klaus Bonhoeffers Tochter Cornelie Großmann
»In was für eine Familie bin ich geboren!?«
Erinnerungen an die Familien Bonhoeffer und Delbrück von Klaus Bonhoeffers jüngstem Sohn Walter
IV. PUBLIKATION
»Das Streben gegensätzlicher Kräfte zu einer höheren Einheit verbinden«
Klaus Bonhoeffer in seinen Schriften
FAZIT
Wer war Klaus Bonhoeffer?
Anhang
DOKUMENTATION
1. Dokumente über Klaus Bonhoeffer
Klaus Bonhoeffers Berufstätigkeit bei der Lufthansa
von Lieselotte Birk
Anklageschrift vor dem Volksgerichtshof vom 20. Dezember 1944
von Ernst Lautz
Gnadengesuch für Klaus Bonhoeffer
von Elsa Teichmann
Augenzeugenbericht über die Ermordung der Gefangenen am 23. April 1945
von Herbert Kosney
Traueransprache auf dem Dorotheenstädtischen Friedhof vom 11. Juni 1945
von Eberhard Bethge
2. Dokumente von Klaus Bonhoeffer
Abschiedsbrief an seine Kinder
Abschiedsbrief an seine Frau
3. Dokumente von Emmi Bonhoeffer
Aufzeichnungen über Klaus Bonhoeffer
Vor dem 20. Juli 1944
Nach dem 20. Juli 1944
Die Belagerungstage in Berlin
Beitrag zur inneren Geschichte der Widerstandsbewegung in Deutschland
Das Aufgeben der Feindschaft ermöglichen
4. Dokumente aus dem Umkreis der Familie
Klaus Bonhoeffer — Notizen zu seiner Widerstandstätigkeit
von Klaus Bonhoeffers Sohn Walter
Widerstand aus Verantwortung — ein Vortrag im Gedenken an ihre Brüder
von Klaus Bonhoeffers Schwester Susanne
Im Gedenken an Klaus Bonhoeffer
von Klaus Bonhoeffers Cousin Klaus von Dohnanyi
5. Weitere Dokumente
Im Gedenken an Klaus Bonhoeffer
von Bundespräsident a.D. Richard von Weizsäcker
INFORMATION
Zeittafel zum Leben von Klaus Bonhoeffer
Stammbaum der Familie Bonhoeffer
Abkürzungsverzeichnis
Personenregister
Literaturverzeichnis
DANKSAGUNG
Bildteil
Quellenangaben zum Bildteil
Einleitung
Die Erinnerung an Klaus Bonhoeffer aus dem Schatten des Bruders lösen
Wer war Klaus Bonhoeffer? Während es zu Dietrich Bonhoeffer zahlreiche Veröffentlichungen gibt und sein Leben und sein Nachlass akribisch erforscht worden sind, steht sein älterer Bruder Klaus in seinem Schatten. Bislang gibt es keine einzige Monographie über ihn, und die sonstigen Veröffentlichungen lassen sich an einer Hand abzählen.1 Johann Hinrich Claussen (einer der wenigen, die sich wissenschaftlich mit Klaus Bonhoeffer beschäftigt haben) schreibt: »Die Erinnerung an den Jahrhunderttheologen und Widerstandskämpfer Dietrich Bonhoeffer verdeckt oft, wie klug und mutig auch sein Bruder Klaus und dessen Ehefrau Emmi gegen die NS-Diktatur kämpften.«2 So wichtig Symbolfiguren sind – das Gedenken soll »nicht auf wenige herausgehobene Personen beschränkt [werden], sondern mit einem Sinn für historische Gerechtigkeit alle Beteiligten« einbeziehen.3 In diesem Sinn ist die vorliegende Publikation zu verstehen.
Denn Klaus war nicht nur der Ältere von diesen beiden Brüdern, sondern er ist Dietrich in mancher Hinsicht vorangegangen – nicht zuletzt auf dem Weg in den Widerstand gegen Adolf Hitler. Emmi Bonhoeffer schreibt über ihren Mann:
»Klaus war im familiären wie im weiteren Freundeskreis politisch die treibende Kraft zum Sturz Hitlers. Viel früher als Dietrich erkannte er, dass es falsch sei, ›Hitler eine Chance zu geben, weil er nun mal gewählt sei‹. Es gab ja viele sehr integere Leute, wie z.B. C[arl] F[riedrich] v. Weizsäcker, die lange Zeit glaubten, man müsse und könne dieses demagogische und organisatorische Talent Hitlers auf eine positive Schiene bringen.«4
Klaus Bonhoeffer war bereits seit 1938 im Kreis der Verschwörer aktiv, und es ist unter anderem seinem Einfluss zu verdanken, dass sich auch Dietrich auf diesen Weg eingelassen hat. Als beide Brüder verhaftet worden waren, hat die Gestapo ihre Vernehmungsergebnisse unter der Überschrift »Gegnerische Einstellung der ganzen Sippschaft« so zusammengefasst: »Der ganze Kreis, der sich um den Namen Bonhoeffer gruppiert […].«5 Mit ›Bonhoeffer‹ ist hier Klaus Bonhoeffer, nicht Dietrich gemeint (Dietrich wird in der Aufzählung erst an späterer Stelle erwähnt6). So urteilt Dietrich Zeilinger über Klaus Bonhoeffer: »Seine Beteiligung an der Konspiration in Verbindung mit dem Schwager Hans von Dohnanyi begann allerdings früher und war politisch weitreichender [als diejenige Dietrich Bonhoeffers]. Dennoch wurde sein Beitrag nach dem Krieg meist übersehen oder geringer eingeschätzt.«7 Es ist ein Anliegen des vorliegenden Buches, dieser Tendenz entgegenzuwirken und damit eine Lücke zu schließen, die Sabine Dramm so beschreibt:
»In der biographischen Literatur über Dietrich Bonhoeffer findet sich innerhalb der Behandlung des Komplexes ›Herkunftsfamilie‹ relativ wenig über das Verhältnis zwischen Klaus Bonhoeffer und seinem jüngeren Bruder. Möglicherweise waren ideologische Orientierung, politische Präferenzen und berufliche Perspektiven zu unterschiedlich. Klaus Bonhoeffer […] hatte sich von Anfang an in Opposition gegen die NS-Regierung befunden. […] Klaus Bonhoeffers eigenes Profil wird jedoch stets nur andeutungsweise nachgezeichnet. Es bleibt m.E. ein Desiderat der Widerstandsforschung, seine spezifische Bedeutung herauszuarbeiten und die Erinnerung an ihn aus dem übermächtigen Schatten des Gedenkens an den ›kleineren Bruder‹ zu lösen.«8
Welche Beziehung hatten die beiden Brüder Klaus und Dietrich zueinander? Zwischen ihnen bestand kein offener Konflikt – das wäre in der Familie Bonhoeffer sehr ungewöhnlich gewesen, da sie sich durch einen engen Zusammenhalt aller Familienmitglieder untereinander (einschließlich der Schwiegerkinder und einem großen Kreis enger Freunde) auszeichnete. Jedoch scheint es gewisse charakterliche Verschiedenheiten und daraus resultierende Spannungen gegeben zu haben. Die beiden Brüder Klaus und Dietrich standen sich nicht nur familiär nahe, sondern in den Jahren des Widerstands auch durch ihr gemeinsames Engagement – dennoch gibt es nur wenige Zeugnisse der Verbundenheit zwischen beiden. Es ist auffallend, dass neben den vielen Briefen an Dietrich Bonhoeffer aus dem Umkreis der Familie, die in dem Band ›Widerstand und Ergebung‹ dokumentiert sind,9 über die gesamte zweijährige Haftzeit hinweg kein einziger Brief von Klaus an Dietrich zu finden ist. Dies scheint Dietrich belastet zu haben; so schrieb er am 1. Februar 1944 – zwei Tage vor seinem 38. Geburtstag,10 den er zum ersten Mal im Gefängnis zubringen musste – an seinen Freund Eberhard:11
»Heute sah ich Susi, sehr nett und frisch und warmherzig. […] Auch K[arl-]F[riedrich] war natürlich sehr nett, aber besonders bei Rüdiger, über dessen Besuch ich mich auch sehr gefreut habe und der mir wirklich freundliche Dinge gesagt hat […], war es rührend, wie er […] sprach […]. Von Klaus habe ich noch nichts gesehen oder gelesen; ich halte, abgesehen von allem anderen, für möglich, daß er innerlich zu empfindsam ist, um sich dem Eindruck hier aussetzen zu wollen. Darin sind wir in unserem Beruf glücklicherweise doch etwas robuster geworden.«12
Was mit »allem anderen« gemeint ist, von dem Dietrich hier absehen möchte, bleibt unklar; sicher ist jedoch, dass er einen gewissen Dissens konstatiert und diesen in Zusammenhang bringt mit den verschiedenen Berufen von Klaus und ihm selbst – wobei er der Theologie einen gewissen Vorzug einräumt vor der Jurisprudenz. Noch deutlicher werden diese Distanz und Dietrichs Überlegenheitsgefühl in einem weiteren Brief, den er drei Wochen später an Eberhard schrieb:
»Ich habe mir hier oft Gedanken darüber gemacht, wo die Grenzen zwischen dem notwendigen Widerstand gegen das ›Schicksal‹ und der ebenso notwendigen Ergebung liegen. Der Don Quijote ist das Symbol für die Fortsetzung des Widerstands bis zum Widersinn, ja zum Wahnsinn – ähnlich Michael Kohlhaas, der über der Forderung nach seinem Recht zum Schuldigen wird – Du weißt, daß ich beim Lesen des Don Quijote oft an Klaus denken mußte! – der Widerstand verliert bei beiden letztlich seinen realen Sinn und verflüchtigt sich ins Theoretisch-Phantastische […]. Ich glaube, wir müssen das Große und Eigene wirklich unternehmen und doch zugleich das selbstverständlich- und allgemein-Notwendige tun, wir müssen dem ›Schicksal‹ – ich finde das ›Neutrum‹ dieses Begriffes wichtig – ebenso entschlossen entgegentreten wie uns ihm zu gegebener Zeit unterwerfen. […] Die Grenzen zwischen Widerstand und Ergebung13 sind also prinzipiell nicht zu bestimmen; aber es muß beides da sein und beides mit Entschlossenheit ergriffen werden. Der Glaube fordert dieses bewegliche, lebendige Handeln. Nur so können wir uns[ere] jeweilige gegenwärtige Situation durchhalten und fruchtbar machen. Ob sich hier Unterschiede zwischen theologischer und juristischer Existenz zeigen? Ich denke dabei z.B. an den extremen Gegensatz zwischen Klaus und Rüdiger innerhalb der ›gesetzlich‹-juristischen Haltung – für Klaus gibt es eher eine Flucht in das ›Schicksal‹, für Rüdiger gibt es eher die Preisgabe alles Eigenen (einschließlich Verstand u[nd] Freiheit) als den Widerstand gegen das ›Schicksal‹14 – auf der anderen Seite unsere beweglichere, lebendigere, weil letztlich wirklichkeitsgemäßere ›theologische‹ Haltung.«15
Vom Gegensatz zwischen einer theologischen und einer juristischen Haltung ist – in etwas versöhnlicherem Tonfall – auch in einem früheren Brief die Rede; dort schreibt Dietrich über seine Haftzeit:
»Morgen sind es nun 10 Wochen – das hatten wir uns wohl unter einer ›vorläufigen‹ Festnahme in unserem Laienverstand nicht vorgestellt. Es ist aber überhaupt ein Fehler, in juristischen Dingen so ahnungslos zu sein, wie ich es bin. Ich spüre hier erst, in was für einer verschiedenen Atmosphäre der Jurist leben muß als der Theologe; aber auch das ist lehrreich, und es hat wohl jedes an seinem Ort sein Recht.«16
Es waren jedoch nicht nur die jeweiligen Berufe der beiden Brüder, sondern auch ihre charakterlichen Anlagen, die sie voneinander unterschieden. Dietrich Bonhoeffer sinniert darüber in seinen unzensierten Gefängnisbriefen an Eberhard Bethge – nur ihm gegenüber konnte er so offen schreiben:
»Schön, daß Du Karl-Friedrich sahst. Er schrieb mir wieder einen so guten Brief.17 Für Klaus ist es wohl schwer, nach so langer Zeit den Absprung zu finden.18 Daß es nicht Mangel an Warmherzigkeit ist, weiß ich ja wirklich. Aber kann man sich dem Urteil eines Mannes, den so viele Hemmungen am Tun des Selbstverständlichen hindern, in Bezug auf das, was man selbst tun u[nd] lassen soll, ohne Weiteres anvertrauen?19 Klaus hat Mama’s Neigung, Dinge zu komplizieren und ihr natürliches Bedürfnis zu helfen, außerdem Papa’s ungemein kluge Vorsicht geerbt, ohne doch Mama’s unbefangene Tatkraft und Papa’s Konzentration auf das Erreichbare mitbekommen zu haben. Ich glaube, daß er selbst darunter etwas leiden muß. Es gibt kaum etwas Anregenderes, als sich mit ihm zu unterhalten, und ich kann mir auch kaum einen weitherzigeren und großzügigeren, vornehmeren Charakter denken als ihn, aber für die einfachen und notwendigen Entscheidungen des Lebens ist er nicht der Mann, wie man schon an seiner Ehe sieht. Ich glaube, dass hier auch die grössten Hemmungen für eine künftige Entfaltung in seinem beruflichen Leben liegen.20«21
Hier offenbart sich eine tiefgreifende Diskrepanz zwischen Klaus und Dietrich, der bei seinem älteren Bruder in zentralen Lebensbereichen wie Ehe- und Berufsleben Defizite konstatiert. Diese und andere Stellen aus den hier zitierten Briefen wurden von den Herausgebern von ›Widerstand und Ergebung‹ wegen ihres problematischen Inhalts gekürzt und werden hier erstmals veröffentlicht. Im gleichen Brief fährt Dietrich mit Bezug auf Klaus fort:
»Sieh mal, Gründe dafür, etwas nicht zu tun, gibt es immer; die Frage ist es doch, ob man es trotzdem tut. Wenn man nur das tun will, wofür alle Gründe sprechen, wird man nie zum Tun kommen, bzw. wird das Tun nicht mehr nötig, da es andere einem schon abgenommen haben.22«23
Deutlich anders beschreibt übrigens Eberhard Bethge seinen Schwager Klaus, dem er eher ein Zuviel als ein Zuwenig an Aktivität bescheinigt (vielleicht ohne das erforderliche Maß an Realitätssinn): »Klaus, der Jurist, hatte ständig Einfälle und Visionen von den Möglichkeiten, die in einem Tatbestand enthalten sein konnten.«24 In seinen Briefen an Eberhard beschreibt Dietrich jedenfalls mehrfach Unterschiede zwischen sich und seinem Bruder Klaus und betont stattdessen die Verbindung mit seinem Freund – etwa, wenn er behauptet: Klaus
»gehört ja zu den Menschen, die erlebnishungrig sind und im Begriff des ›Erlebnisses‹ alles andere gerechtfertigt sehen. Wir denken darin ja beide etwas anders.«25
Es bleibt festzuhalten, dass diesen kritischen Bemerkungen Dietrichs gegenüber Klaus auf dessen Seite nichts Vergleichbares entspricht – es sind keine negativen Äußerungen von Klaus gegenüber seinem jüngeren Bruder bekannt. Dietrich Zeilinger mutmaßt: »Das Verhältnis der beiden Brüder Bonhoeffer war objektiv eng, mit häufigen Treffen […], vermutlich aber nicht frei von Spannung im Blick auf Dietrichs eher extrovertierte Eloquenz und Klaus’ mehr introvertierte Kreativität.«26 Jedenfalls gehörte Klaus Bonhoeffer zu den wenigen Menschen, die Dietrich Bonhoeffer nach dessen eigenem Urteil »wirklich kennen«, wie Dietrich am 11. März 1944 in einem Brief an seine Verlobte Maria von Wedemeyer schreibt.27 Emmi Bonhoeffer urteilt über das Verhältnis zwischen ihrem Mann und ihrem Schwager:
»Mit Dietrich hatte er immer gute und starke innere Verbindung, mehr als nur familiäre. Klaus war kein Kirchgänger, aber er verstand, was Dietrich in die Theologie geführt hatte, und er respektierte es.«28
Entsprechend seiner Persönlichkeit war Klaus im Kampf gegen die Diktatur in gewisser Weise der Entschiedenere von beiden. Während Dietrich bei seinen Verhören bis zum letzten Moment darum bemüht war, seine Beteiligung am Widerstand zu verbergen, hat Klaus seinen Peinigern geradewegs ins Gesicht gesagt, was er von ihnen und dem Nazi-Regime hielt:
»Ich lehne den nationalsozialistischen Staat ab, insbesondere mit Rücksicht auf seine Politik in der Kirchen- sowie Judenfrage sowie wegen der fehlenden Garantien der Rechtssicherheit. Die politische Zielsetzung, die uns die ganze Welt zum Feind gemacht hat, erscheint mir zu hoch und unrichtig.«29
Mit dieser Sichtweise wusste sich Klaus Bonhoeffer einig mit seinem Schwager Hans von Dohnanyi (der ebenfalls Jurist war). In dessen Vernehmungsprotokollen ist über seine Motive für den Kampf gegen den Nationalsozialismus festgehalten: »Der Sonderführer von Dohnanyi begründet seine Ablehnung des Nationalsozialismus mit angeblicher ›Rechtswillkür‹, sowie mit dem Vorgehen des Nationalsozialismus in der Juden- und Kirchenfrage.«30 Auch Rüdiger Schleicher, im Allgemeinen von zurückhaltender Natur, hat seine Ablehnung des Nationalsozialismus während seiner Verhöre unverhohlen zum Ausdruck gebracht.31 Eberhard Bethge kommentiert dies so:
»Wenn es denn wie bei Klaus und Rüdiger so weit war, daß sie nichts mehr vor dem Schlimmsten bewahren konnte, dann haben sie sich auch zu ihren Motiven bekannt: Ja, wir haben konspiriert; um der Juden willen –nicht allein darum, aber vor allem darum! Aber vorher hätte ein offenes Bekenntnis oder tapferes Schweigen den Mitverschworenen bloß geschadet. In dieser Lage, in der es immer auch um andere ging, war nicht zu schweigen, sondern redend und lügend zu verschweigen.«32
Schon als Kind hatte Klaus Bonhoeffer einen unbeugsamen Gerechtigkeitssinn; seine mangelnde Anpassung hat ihm in der Schulzeit manche Schwierigkeiten bereitet. Im Gefängnis blieb Klaus die Folter deshalb nicht erspart (ein Schicksal, von dem Dietrich zum Glück verschont worden ist).33 Emmi Bonhoeffer beschrieb ihren Mann Klaus nach dessen Tod so: Er »war ein äusserst vitaler Mensch, voller Phantasie, musischer Anlagen, gesellig, mit ausgesprochenem Sinn für Situationskomik – kein finsterer Asket oder bitterer Eigenbrötler.«34 Er und seine Mitstreiter in der Verschwörung des 20. Juli waren keine ›Heiligen‹ im konventionellen Sinn; »mit alttestamentlicher35 Leidenschaft haben sie das Leben geliebt in seinem ganzen Reichtum, haben gehasst und verachtet, haben Natur und Kunst und Dichtung genossen mit allen Fasern ihrer Menschlichkeit«.36 Deshalb »hiesse es, das Tun dieser Männer gänzlich misszuverstehen, wollte man sie auf ein Podest distanzierter Verehrung stellen.«37
Tatsächlich ist die Gefahr der Heroisierung, Idealisierung und Sakralisierung nicht nur bei Dietrich Bonhoeffer vorhanden, sondern in gewisser Weise auch bei Klaus – sofern seine Person nicht mit Stillschweigen übergangen wird. Als am 20. Juli 1967 in der Dorfkirche Berlin-Dahlem von Eberhard Bethge ein Gedenk-Gottesdienst für die Widerstandskämpfer des 20. Juli gefeiert wurde, standen zu Beginn anstelle des Kyrie Worte des ermordeten Widerstandskämpfers Peter Graf Yorck von Wartenburg, die er am Tag seines Todes niedergeschrieben hat: »Mein Tod wird, so hoffe ich, angenommen als Sühne aller meiner Sünden und als Sühnopfer für das, was wir alle gemeinschaftlich tragen.«38 Die Ermordung der Widerstandskämpfer wird hier also in der Tradition des christlichen Sühnopfer-Gedankens gedeutet; dadurch werden sie gewissermaßen mit Jesus identifiziert. Die darauffolgende Lesung stammte aus 2 Makk 7 (über das Martyrium der sieben Brüder) und führte den Gedanken des stellvertretenden Martyrertodes weiter aus. Die Predigt Eberhard Bethges endete schließlich mit einem Zitat von Søren Kierkegaard: »Es wird aber, um die Ewigkeit wiederzubekommen, Blut gefordert werden, aber Blut von einer anderen Art; nicht jenes der tausendweis totgeschlagenen Schlachtopfer, nein, das kostbare Blut der Einzelnen – der Märtyrer; dieser mächtigen Verstorbenen, die vermögen, was kein Lebender, der Menschen tausendweis niederhauen läßt, vermag; was diese mächtigen Verstorbenen selbst nicht vermochten als Lebende, sondern nur vermögen als Verstorbene: eine rasende Menge in Gehorsam zu zwingen.«39
Klaus’ Schwager Gerhard Leibholz (der jüdischer Herkunft war und deshalb gemeinsam mit Dietrichs Zwillingsschwester Sabine 1938 nach England emigrierte, wo er den Krieg im Exil überlebte) schrieb bereits 1946, ein Jahr nach dem Tod der Bonhoeffer-Söhne und Schwiegersöhne, an seine Verwandte Margarethe von Hase, »dass einmal die deutsche Geschichte an das Martyrium dieser Männer anzuknüpfen haben wird, und dass diese Tragödie ein neues Kapitel der deutschen Geschichte eröffnen wird.«40 Auch hier findet also der Begriff des ›Martyrers‹ Anwendung – eine Sichtweise, die nicht unumstritten ist. Selbst im Hinblick auf Dietrich Bonhoeffer, den Theologen und Pfarrer, der seine Widerstandstätigkeit als eine Form der ›Nachfolge‹41 Jesu verstanden hat, weisen manche diesen Anspruch zurück mit dem Hinweis darauf, er sei nicht aufgrund seines Zeugnisses für den christlichen Glauben, sondern als politischer Dissident hingerichtet worden. Meines Erachtens ist es angemessen, den Martyrer-Begriff in einem weiteren Sinn zu verstehen und auf all diejenigen anzuwenden, die um ihrer Überzeugung willen bereit waren, für eine gute Sache mit dem Leben zu bezahlen. In diesem Sinn formuliert Jürgen Moltmann: »Die Opfer des 20. Juli sind Märtyrer des Reiches Gottes und seiner Gerechtigkeit.«42 Und auch die Inschrift auf der Gedenktafel für Klaus Bonhoeffer und seine Mitstreiter auf dem Dorotheenstädtischen Friedhof in Berlin darf man wohl so deuten; dort steht: »Selig sind, die um Gerechtigkeit willen verfolgt werden, denn das Himmelreich ist ihr.« (Mt 5, 10)
Von besonderer Wichtigkeit ist die Tatsache, dass Klaus Bonhoeffer unterschiedlichen Kreisen des Widerstands gleichzeitig angehörte und sie miteinander zu verbinden suchte: Über seinen Bruder Dietrich hatte er Kontakt zum kirchlichen Widerstand; mit Hilfe seiner beiden Schwäger Hans von Dohnanyi und Justus Delbrück hielt er Verbindung mit dem militärischen Widerstand; und durch Ernst von Harnack (einen Cousin seiner Frau) war er mit dem sozialdemokratischen Widerstand verbunden. Gelegentlich wird er deshalb als ›Brückenbauer des Widerstands‹ bezeichnet.43 Dabei zeigt sich, welchen Einfluss Familienbeziehungen für die damaligen Akteure hatten und wie wichtig die Familie als stützendes System für ihre subversive Tätigkeit war.44
Die Tatsache, dass Klaus Bonhoeffer mit seiner Widerstandstätigkeit in keine der gängigen Kategorien passt, mag mit ein Grund dafür sein, dass er bisher ein ›großer Unbekannter‹ geblieben ist. Hierin ist er vielleicht seinem Mitstreiter Hans von Dohnanyi ähnlich, über den Winfried Meyer schreibt:
»In der Rezeption des deutschen Widerstands in der wissenschaftlichen Geschichtsschreibung und vor allem in der Öffentlichkeit nach 1945 ist Hans von Dohnanyis Rolle im Widerstand bisher eher unvollständig wahrgenommen und gewürdigt worden. […]
Der Grund dafür scheint mir hauptsächlich darin zu liegen, daß der Hitler-Gegner Hans von Dohnanyi sich nicht eindeutig einer der Gruppierungen des deutschen Widerstandes zuordnen läßt und deswegen auch von keiner der entsprechenden sozialen, politischen und weltanschaulichen Gruppen der deutschen Nachkriegsgesellschaft als einer ›ihrer‹ Widerstandskämpfer angenommen und vereinnahmt werden konnte.«45
Es bleibt festzuhalten, dass die Erinnerung an Klaus Bonhoeffer von Anfang an zugunsten einer Heroisierung von Dietrich Bonhoeffer in den Hintergrund getreten ist. Als Beispiel für die Heroisierung mag der Nachruf auf Dietrich Bonhoeffer dienen, den Reinhold Niebuhr, Professor für Sozialethik am Union Theological Seminary in New York (wo Dietrich Bonhoeffer einst gelebt hat), unter dem bezeichnenden Titel ›The Death of a Martyr‹ veröffentlichte. Am 6. Juni 1945, nur wenige Wochen nach Dietrichs Tod, schreibt Niebuhr:
»The story of Bonhoeffer is worth recording. It belongs to the modern Acts of the Apostles. Bonhoeffer was one of the leaders of the Confessional Synod.46 He was the head of the secret theological seminary47 conducted by the Synod after the Nazis had corrupted the theological education of the universities. Despite his youth, for he was in his thirties, he was one of the most influential religious oppositional leaders in Germany.48 He was certainly the most uncompromising and heroic.49
During the last two years Bonhoeffer was in and out of prison.50 He was in prison when the attempt was made on Hitler’s life last June.51 He might have lost his own life at that time because he was an intimate adviser52 of some of the men who, inspired by religious motives,53 participated in the plot on Hitler’s life, hoping thereby to bring the evil Nazi regime to an end. He was actually sentenced to be executed;54 but his life was spared when the judge who sentenced him lost his life upon an bomb raid upon Berlin55 before he had signed Bonhoeffer’s death sentence.56 Delay in the certificate of execution first postponed and finally led to the commutation of the death sentence.57 It now appears that the Nazis killed him and his brother Klaus,58 together with some known Nazi leaders, shortly before the American armies advanced upon his prison.59«60
Der Nachruf des berühmten Verfassers beinhaltet Fehler in buchstäblich jedem einzelnen Satz; die Anmerkungen weisen darauf hin. Manche dieser Fehler mögen entschuldbar sein, weil die Möglichkeiten der Kommunikation und Information zwischen Deutschland und Amerika (zwei Länder, die kurz zuvor noch im Krieg miteinander standen) beschränkt waren. Anderes – etwa das Datum des Hitler-Attentats vom 20. Juli 1944 – war im Ausland zweifellos bekannt; hier hat Niebuhr nachlässig gearbeitet. Bemerkenswert ist, dass in diesem Text Insider-Wissen über Klaus Bonhoeffer (nämlich der Tod seines Richters Roland Freisler einen Tag nach der Verkündung des Todesurteils) auf Dietrich übertragen wird: Das wohlbekannte Motiv der wundersamen (vorübergehenden) Rettung des Helden erfüllt hier die Funktion der Heroisierung.
Indem Klaus Bonhoeffer in der vorliegenden Monographie als bedeutendes Mitglied der Familie Bonhoeffer vorgestellt wird, soll einerseits seinem Andenken Gerechtigkeit widerfahren; andererseits erhält auch die Forschung zu Dietrich Bonhoeffer dadurch neue Impulse. In diesem Buch werden die wenigen bereits publizierten Informationen über Klaus Bonhoeffer erstmals zusammengetragen – darüber hinaus wird umfangreiches Quellenmaterial neu erschlossen: durch die Recherche in öffentlichen Archiven (etwa der Staatsbibliothek in Berlin, der Universität Heidelberg und der Lufthansa61) und vor allem durch die Bearbeitung des privaten Nachlasses, der in der Familie bewahrt wird und zahlreiche Bilder, Briefe und andere aufschlussreiche Dokumente umfasst. Ausführliche Gespräche mit den drei noch lebenden Kindern von Klaus Bonhoeffer runden dieses Buch ab und bereichern es durch die persönliche Erinnerung.
Auf diese Weise ist eine umfangreiche Monographie entstanden, die eine Annäherung an den ›unbekannten Widerstandskämpfer‹ Klaus Bonhoeffer auf verschiedenen Wegen sucht: In Teil I (Biographie) werden die wichtigsten Stationen seines Lebens chronologisch nachgezeichnet; dabei ist jedem Kapitel ein prägnantes Zitat vorangestellt. Teil II (Persönlichkeit) versucht, den Charakter von Klaus Bonhoeffer zu ergründen; dort kommen verschiedene Stimmen aus seinem unmittelbaren Umfeld zu Wort (der ältere Bruder, die jüngeren Schwestern und seine Ehefrau). In Teil III (Reflexion) werden die umfangreichen Gespräche dokumentiert, welche ich im Verlauf meiner Nachforschungen mit den drei Kindern von Klaus Bonhoeffer führen konnte. Sie sind inzwischen hochbetagt und die einzigen noch lebenden Menschen, denen Klaus Bonhoeffer persönlich vertraut ist; deshalb war es mir wichtig, ihr Zeugnis zu Gehör zu bringen, damit es nicht unwiederbringlich verloren geht. In Teil IV (Publikation) schließlich kommt Klaus Bonhoeffer selbst zu Wort – in seinen Schriften, d.h. den wenigen Texten, die er zu seinen Lebzeiten verfasst hat.
Außerdem enthält dieses Buch einen ausführlichen Anhang, der wiederum in mehrere Teile gegliedert ist: Zunächst werden (unter der Überschrift Dokumentation) verschiedene Texte veröffentlicht, die für das Verständnis Klaus Bonhoeffers so bedeutsam sind, dass sie hier ungekürzt abgedruckt werden sollen – was den Rahmen innerhalb des Textteils gesprengt hätte (etwa Klaus Bonhoeffers Anklageschrift vor dem Volksgerichtshof, der Augenzeugenbericht über seine Ermordung oder der Abschiedsbrief an seine Kinder u.a.m.). Daneben sind hier auch Darstellungen von Klaus Bonhoeffer aus dem Familienkreis versammelt (zum Beispiel von seiner Ehefrau Emmi, seinem Sohn Walter und seiner Schwester Susanne) sowie aus der politischen Öffentlichkeit (von dem früheren Hamburger Bürgermeister Klaus von Dohnanyi und vom ehemaligen Bundespräsident Richard von Weizsäcker). Manches von diesem Material ist bislang unveröffentlicht; anderes wurde bereits an verschiedenen Stellen publiziert, ist aber inzwischen nur noch schwer greifbar, sodass es hier gesammelt wiedergegeben wird. Für den letzten Teil (Information) wurde eine detaillierte Zeittafel zum Leben von Klaus Bonhoeffer erarbeitet. Ein Stammbaum der Familie Bonhoeffer soll der besseren Orientierung dienen im Hinblick auf die zahlreichen Familiennamen, von denen im Text immer wieder die Rede ist. Ein Abkürzungsverzeichnis, Personenregister und Literaturverzeichnis runden dieses Werk ab.
Als ich mit dem Schreiben begann, dachte ich, dass dies ein kleines Büchlein mit geringem Umfang werden würde, denn ich hatte fast nichts über Klaus Bonhoeffer in der Hand – außer den vier kurzen Publikationen, die bereits über ihn existieren. Von diesem Material ausgehend habe ich mich vorangetastet und zunächst bei verschiedenen Archiven angefragt, sowie in Standardwerken der Bonhoeffer-Forschung gezielt Fundstellen über Klaus Bonhoeffer zusammengestellt (zum Beispiel in der großen Biographie von Eberhard Bethge und in den kürzlich erschienenen Lebenserinnerungen von Susanne Dreß). Anschließend habe ich die Schriften von Klaus Bonhoeffer studiert (etwa seine unveröffentlichte Doktorarbeit über ›Die Betriebsvertretungen als Organe der Betriebsgenossenschaft‹ aus dem Jahr 1925 oder seine einzige Monographie mit dem Titel ›Die Meistbegünstigung im modernen Völkerrecht‹ von 1930, sowie seinen Artikel ›Grundformen des Rechts‹, der 1942 in der Zeitschrift ›Weiße Blätter‹ erschienen ist). Auf diese Weise gewann das Bild von Klaus Bonhoeffer immer deutlichere Konturen – und regte mich zu weiteren Nachforschungen an.
Ich konnte Kontakt zu seinen Kindern knüpfen und diese nach und nach aufsuchen – angefangen mit dem ältesten Sohn Thomas, den ich am 13. März 2020 (dem Tag, als der erste große Corona-Lockdown in Deutschland begann) in seinem Zuhause in Bochum traf. Dort saß der damals Achtundachtzigjährige, umgeben von Kartons – denn sein Umzug in ein Seniorenheim stand kurz bevor; hätte er Unterlagen über Klaus Bonhoeffer gehabt, so wären sie vielleicht schon kurze Zeit später unwiederbringlich verloren gewesen … Doch bei Thomas Bonhoeffer war buchstäblich nichts Greifbares über seinen Vater vorhanden – dafür umso wertvollere Erinnerungen, die er großzügig mit mir teilte. Er verwies mich an seine Schwester Cornelie in Meerbusch bei Düsseldorf, die den Nachlass von Emmi Bonhoeffer verwaltet, und dort konnte ich im Juni 2020 in einem wohlgeordneten Arbeitszimmer stapelweise Kisten mit reichhaltigem Material sichten. Dessen Auswertung nahm mehrere Monate in Anspruch, und der Text für dieses Buch war inzwischen so umfangreich geworden, dass ich ihn komplett umschreiben musste: Während die erste Fassung sich darauf beschränkt hatte, Klaus Bonhoeffer aus der Perspektive verschiedener Zeitzeugen darzustellen, hatte ich nun genügend Material gesammelt, um die chronologische Anordnung schreiben zu können, die den ersten Teil (›Biographie‹) ausmacht.
Gerne wollte ich auch den jüngsten Sohn Walter kennen lernen, doch dies erwies sich lange Zeit als unmöglich, da er ganz durch die Pflege seiner schwer demenzkranken Ehefrau in Anspruch genommen war. Erst als sie im Januar 2021 verstarb, war es möglich, ihn in seinem Haus in Arlesheim bei Basel zu besuchen. Zum damaligen Zeitpunkt hatte ich geglaubt, den noch vorhandenen Nachlass bereits gesichtet zu haben, und wollte mein Wissen vor allem durch Walter Bonhoeffers spezifische Sicht auf die Bedeutung der Familie Delbrück erweitern; doch zu meiner Überraschung stellte er zwei große Kartons in mein Gästezimmer, die beträchtliche Mengen an weiterem mir bisher unbekanntem Material enthielten – vor allem zahlreiche Briefe aus den jüngeren Lebensjahren von Klaus Bonhoeffer, die im Original erhalten waren, sowie maschinenschriftliche Abschriften weiterer Briefe und zahlreiche wertvolle Dokumente aus späterer Zeit.62 Um auch diesen Nachlass zu bearbeiten, musste der Text dieses Buches abermals erweitert und z.T. umgeschrieben werden, und die dritte, vorliegende Version entstand. So erging es mir nicht anders als bereits Uwe Rumberg (der Einzige, der bisher eine umfangreiche Arbeit über Klaus Bonhoeffer geschrieben hat – ein Typoskript im Umfang von 79 Seiten, das unveröffentlicht blieb63); im Jahr 1987 stellte er fest: »Ich hatte bei meiner Suche nach Quellen stets den Eindruck, daß ich noch fast nichts über Klaus Bonhoeffer wüßte, und habe so immer weiter gesucht, um nun beim Schreiben festzustellen, daß ich doch schon sehr viel mehr Informationen zu verarbeiten hatte, als erwartet.«64
Die Arbeitsweise, die ich angewendet habe, besteht vor allem in der Auswertung von Quellen, und aus diesen Quellen wird immer wieder ausführlich zitiert. Bisweilen mag dadurch bei Lesern der Eindruck entstehen, dass hier vor allem Zitate aneinandergereiht werden. Dazu sei bemerkt, dass ich mit voller Absicht den Quellen hier so breiten Raum lasse und mit meinen Worten hinter sie zurücktrete – meine eigene Sicht auf Klaus Bonhoeffer kommt vor allem in kurzen Kommentaren im Text, in den erläuternden Anmerkungen sowie im abschließenden Kapitel zum Ausdruck (›Fazit: Wer war Klaus Bonhoeffer?‹). In den meisten Fällen sprechen die Quellen für sich selbst und ihr Zeugnis ist so aussagekräftig, dass es kaum weiterer Worte bedarf – wobei für eine sachgemäße Interpretation natürlich stets kritische Distanz erforderlich ist: Wer spricht? In welchem historischen Kontext? Und mit welcher Absicht? Klaus Bonhoeffer ist letztlich ein Unbekannter für mich; ich habe ihn nicht persönlich erlebt und wurde erst Jahrzehnte nach den hier beschriebenen Ereignissen geboren. Deshalb bin ich überzeugt, dass jede Beschreibung von Zeitzeugen vielsagender ist als eine nachträgliche Deutung. Besonders gilt das für Briefe, die unbeabsichtigt manche Details enthalten, die im Nachhinein aufschlussreich sind. Dies wird meist erst im Zusammenhang deutlich; deshalb werden hier nicht nur einzelne Spitzen-Sätze, sondern längere Passagen wiedergegeben. Dies erscheint mir umso mehr gerechtfertigt, als viele dieser Quellen hier erstmals veröffentlicht werden: Es handelt sich dabei um Material, das zum einen bisher unbekannt ist und zum anderen kaum zugänglich, weil es sich nicht in öffentlichen Archiven, sondern in privaten Nachlässen befindet. So war es mein Anliegen, dass die Leser einen gewissen Einblick in diese Quellen erhalten, um sich anhand dessen selbst ein Bild über den Lebenslauf und die Persönlichkeit von Klaus Bonhoeffer machen zu können.
Da es sich bei diesem Werk weltweit um die erste und einzige Monographie über Klaus Bonhoeffer handelt, war es umso mehr mein Bestreben, möglichst vollständig und umfassend zusammenzutragen, was über ihn in Erfahrung gebracht werden kann. Meine Aufgabe als Verfasserin habe ich vor allem darin gesehen, verschiedenen Stimmen Gehör zu verschaffen, damit unterschiedliche Aspekte zur Sprache kommen. Nur selten ist es der Fall, dass diese Stimmen einander widersprechen; zumeist ergänzen sie sich in bemerkenswerter Weise (was als indirekter Hinweis auf die Glaubwürdigkeit der Quellen gewertet werden kann – zumindest, sofern sie unabhängig voneinander entstanden sind). Dabei war es unvermeidbar, dass durch die langen Zitate gewisse Wiederholungen und Überschneidungen im Text entstehen, weil in unterschiedlichen Quellen dieselben Ereignisse (wenngleich in verschiedener Weise) geschildert werden. Es sei noch einmal daran erinnert, dass der Untertitel dieses Buches ›Annäherungen an einen unbekannten Widerstandskämpfer‹ (im Plural!) lautet – all diese Annäherungen sollen dazu beitragen, eine Antwort auf die Frage zu finden, welche im Haupttitel dieses Buches gestellt wird: Wer war Klaus Bonhoeffer?
Bei der Wiedergabe von Quellentexten wurde die Originalschreibweise beibehalten; es fand keine Vereinheitlichung oder Anpassung an die neue deutsche Rechtschreibung statt (deshalb findet sich in diesem Buch sowohl die Schreibung ›dass‹ als auch ›daß‹ usw.). Eigentümlichkeiten der Schreibweise blieben erhalten (zum Beispiel ›garnicht‹, ›Mama’s‹ usw.), offensichtliche Fehler in Orthographie und Interpunktion wurden jedoch um der besseren Lesbarkeit willen stillschweigend korrigiert (etwa bei der Wiedergabe von Orts- und Personennamen). Die meisten der Briefe Klaus Bonhoeffers seit seiner Jugendzeit liegen nicht im handschriftlichen Original vor, sondern in maschinenschriftlichen Abschriften (diese wurden vor allem von Emmi Bonhoeffer angefertigt, um die Erinnerung an ihren verstorbenen Mann zu bewahren und an die Kinder und Enkel weiterzugeben). Die Schreibmaschine, die sie hierfür benutzte, verfügte offensichtlich nicht über den Buchstaben ›ß‹, und bisweilen fehlen in Typoskripten auch die Umlaute ä, ö und ü, sodass sich hierdurch manche Eigentümlichkeiten ergeben, die beibehalten wurden. Damit Zitate verständlicher werden, wurden öfters erklärende Zusätze in eckigen Klammern [ ] eingefügt – z.B. um Abkürzungen aufzulösen oder Namen zu vervollständigen usw.
Auf diese Weise ist ein Buch entstanden, das vom Umfang her gewichtig ist und insofern möglicherweise an Eberhard Bethges Biographie über Dietrich Bonhoeffer erinnern könnte – ansonsten aber in vieler Hinsicht ganz anders ist: Zum einen habe ich Klaus Bonhoeffer nicht gekannt und vermag deshalb nicht aus eigener Anschauung zu berichten (ganz im Gegensatz zu Eberhard Bethge, der viele Jahre Seite an Seite mit Dietrich Bonhoeffer verlebt hat). Dies ist ein Nachteil, bietet jedoch auch Vorteile: Ich schreibe nicht als Angehörige der Familie Bonhoeffer, die ihr persönlich verpflichtet ist, sondern einfach nach bestem Wissen und Gewissen, sine ira et studio. Zum anderen ist der Text dieses Buches nicht über Jahrzehnte hinweg entstanden, sondern in vergleichsweise kurzer Zeit (auch deshalb, weil das hohe Lebensalter von Klaus Bonhoeffers Kindern als den einzigen noch lebenden Zeitzeugen zu einer gewissen Eile gedrängt hat). Außerdem wird für die Leser wahrscheinlich spürbar, dass ich mich dem Thema aus weiblicher Perspektive angenähert habe: Bestimmte ›Frauenthemen‹ erfahren spezielle Beachtung (beispielsweise wie Schwangerschaften und Geburten verliefen, oder welches Alter die Kinder hatten, von denen jeweils berichtet wird). Grundsätzlich kommt der Frage nach den Familienbeziehungen hier besondere Aufmerksamkeit zu – es geht also nicht nur um die Widerstandstätigkeit von Klaus Bonhoeffer, sondern ebenso um ihn als Sohn, Bruder, Ehemann und Vater mit seinem Privatleben und seiner gesamten Persönlichkeit: was für einen Charakter hatte er und was für ein Mensch ist er gewesen? Da der Widerstand gegen das Nazi-Regime im Fall der Bonhoeffers eine ausgesprochene ›Familienangelegenheit‹ war, erscheint dies freilich auch sachlich gerechtfertigt. Indem die Kinder von Klaus Bonhoeffer darüber befragt wurden, wie sie das Engagement und den Tod ihres Vaters rückblickend einschätzen und welche Auswirkungen dies auf ihr eigenes Leben und das ihrer Nachkommen hatte, kommt zudem ein generationenübergreifender Ansatz zum Tragen. Dabei geht es nicht einfach darum, zu erzählen, ›wie die Geschichte weiterging‹, sondern hier kommt die Familie als System in den Blick – nicht nur in ihrer synchronen, sondern auch in ihrer diachronen Dimension und Dynamik.
Möge dieses Buch dazu betragen, Klaus Bonhoeffer, einen bislang weitgehend unbekannten Widerstandskämpfer gegen den Nationalsozialismus in Deutschland, in den verschiedenen Facetten seines bemerkenswerten Lebenswegs kennen zu lernen und seinem Andenken Gerechtigkeit widerfahren zu lassen.
1 Vgl. speziell zu Klaus Bonhoeffer: CLAUSSEN, JOHANN HINRICH: »Ich werde nicht mehr lange leben«. Vor 75 Jahren, zwei Wochen vor Kriegsende, wurde Klaus Bonhoeffer von den Nazis erschossen. In: Zeitzeichen, Jg. 21, 2020, S. 51–53; ROTT, JOACHIM: Klaus Bonhoeffer (1901–1945) – Jurist im Widerstand. In: Neue Juristische Wochenschrift, Jg. 54, 2001, S. 38 f.; ZEILINGER, DIETRICH: Bruder, Mitverschwörer, Märtyrer. Klaus Bonhoeffers essenzieller Beitrag zur Konspiration. In: Bonhoeffer Rundbrief, Nr. 110, 2015, S. 8–34; DERS.: ›Brückenbauer des Widerstands‹. Klaus Bonhoeffer (5. 1. 1901, Breslau – 23. 4. 1945, Berlin). In: Deutsches Pfarrerblatt, Jg. 115, 2015, S. 595–597; DERS.: Das Schicksal des Bruders. Klaus Bonhoeffer leistete Widerstand gegen die Nazis, die ihn 1945 ermordeten. In: Zeitzeichen, Jg. 17, 2016, S. 20–22.
2CLAUSSEN: »Ich werde nicht mehr lange leben«, S. 51.
3 Ebd.
4 Emmi Bonhoeffer: Aus meinem Leben als junge Frau, S. 1 (Archiv von Walter Bonhoeffer, unveröffentlichtes Dokument).
5 Dokumentiert in den sogenannten ›Kaltenbrunner-Berichten‹ unter dem Datum vom 12. Oktober 1944; veröffentlicht in PETER, KARL HEINRICH (Hg.): Spiegelbild einer Verschwörung. Die Kaltenbrunner-Berichte an Bormann und Hitler über das Attentat vom 20. Juli 1944. Geheime Dokumente aus dem ehemaligen Reichssicherheitshauptamt, Stuttgart 1961, S. 444; Hervorhebung im Original. Ebenso in: JACOBSEN, HANS-ADOLF (Hg.): ›Spiegelbild einer Verschwörung‹. Die Opposition gegen Hitler und der Staatsstreich vom 20. Juli 1944 in der SD-Berichterstattung. Geheime Dokumente aus dem ehemaligen Reichssicherheitshauptamt, Bd. 1, Stuttgart 1984. Vgl. hierzu KEYSERLINGK-REHBEIN, LINDA VON: Nur eine »ganz kleine Clique«? Die NS-Ermittlungen über das Netzwerk vom 20. Juli 1944, Berlin 22019.
6PETER: Spiegelbild einer Verschwörung, S. 444. Eberhard Bethge meint dazu: »Dietrich Bonhoeffer wird in den Kaltenbrunner-Berichten nur beiläufig erwähnt, und das noch mit sachlichen Unrichtigkeiten. […] Die Kaltenbrunner-Berichte könnten die Vermutung aufkommen lassen, dass Hitler ihm [Dietrich Bonhoeffer] nur wenig Beachtung geschenkt habe. Das Gegenteil ist jedoch der Fall. So kam es, daß man ihn mit seinen engsten Freunden aus der Konspiration länger als andere aufsparte – aber auch, daß er noch am 5. April 1945 das Opfer einer ›Führerbesprechung‹ werden konnte, in der die endgültigen Vernichtungsbeschlüsse gefaßt worden sind.« (BETHGE, EBERHARD: Dietrich Bonhoeffer. Theologe – Christ – Zeitgenosse. Eine Biographie, Gütersloh 92005, S. 1006 [im Folgenden abgekürzt als DBB]).
7ZEILINGER: Das Schicksal des Bruders, S. 20.
8DRAMM, SABINE: V-Mann Gottes und der Abwehr? Dietrich Bonhoeffer und der Widerstand, Gütersloh 2005, S. 101. – Ähnlich urteilt Karl Dietrich Bracher, der (auch mit Bezug auf Rüdiger Schleicher) über Klaus Bonhoeffer schreibt: »Beider Rolle war in der bisherigen Diskussion durch die Namen Dietrich Bonhoeffers und Hans von Dohnanyis überschattet.« (BRACHER, KARL DIETRICH: Geschichte als Erfahrung. Betrachtungen zum 20. Jahrhundert, Stuttgart 2001, S. 197).
9BONHOEFFER, DIETRICH: Widerstand und Ergebung. Briefe und Aufzeichnungen aus der Haft, Hg. GREMMELS, CHRISTIAN/BETHGE, EBERHARD/BETHGE, RENATE (Dietrich Bonhoeffer Werke, Bd. 8), Gütersloh 2015 [Erstveröffentlichung 1951; im Folgenden abgekürzt als DBW].
10 Am 4. Februar 1944, seinem 38. Geburtstag, schrieb er: »Lieber Eberhard! Es gibt am Morgen meines heutigen Geburtstages für mich nichts Natürlicheres, als Dir zu schreiben […]. Klaus schenkte mir noch ein Gesangbuch der Brüdergemeine aus dem Jahr 1778; oder sollte es eine Verwechslung sein und es kommt von Dir? Es sieht aus, wie Deine Art Geschenke; aber auch Klaus schenkt ja sehr hübsch.« (Brief von Dietrich Bonhoeffer an Eberhard Bethge vom 4./5. Februar 1944. In: DBW 8, S. 333 f.) So hat sich Klaus also doch noch zum Geburtstag seines jüngeren Bruders gemeldet.
11 Eberhard Bethge (1909–2000) war Pfarrerssohn und studierte wie Dietrich Theologie. Im Predigerseminar in Finkenwalde lernte er Dietrich Bonhoeffer kennen und wurde sein engster Freund und Mitarbeiter. 1943 heiratete er Renate Schleicher, die Tochter von Klaus’ ältester Schwester Ursula; somit gehörte er zum Kreis der Bonhoeffer-Familie. Danach wurde er zur Wehrmacht eingezogen und als Schreiber in Italien stationiert, bis man ihn am 30. Oktober 1944 im Zusammenhang mit den Ermittlungen zum 20. Juli verhaftete. Am 25. April 1945 wurde er (ebenso wie Justus Delbrück) aus dem Gefängnis entlassen – wie im Haftbuch akkurat vermerkt. Nach dem Krieg arbeitete er u.a. als Studentenpfarrer, Auslandspfarrer in London und Leiter des Pastoralkollegs der Evangelischen Kirche im Rheinland; außerdem machte er sich in unermüdlichem Einsatz als Nachlassverwalter und Biograph von Dietrich Bonhoeffer verdient.
12 Brief von Dietrich Bonhoeffer an Eberhard Bethge vom 1. Februar 1944. In: DBW 8, S. 309.
13 Von dieser Formulierung hat Eberhard Bethge den Titel seiner weltbekannt gewordenen Sammlung von Dietrichs ›Briefen und Aufzeichnungen aus der Haft‹ abgeleitet.
14 Der Einschub innerhalb der Gedankenstriche wurde von den Herausgebern von ›Widerstand und Ergebung‹ nicht abgedruckt, da er zu kritische Bemerkungen über Klaus (und Rüdiger) enthält. Diese Textstelle wurde hier nach dem handschriftlichen Original in der Staatsbibliothek zu Berlin ergänzt – mit Hilfe von Ilse Tödt, die eine versierte Kennerin von Dietrich Bonhoeffers oft schwer lesbarer Handschrift ist; ihr sei an dieser Stelle für ihre Unterstützung herzlich gedankt. – Von einem »extremen Gegensatz« zwischen Klaus Bonhoeffer und Rüdiger Schleicher ist aus anderen Quellen nichts bekannt.
15 Brief von Dietrich Bonhoeffer an Eberhard Bethge vom 21. Februar 1944. In: DBW 8, S. 333 f.
16 Brief von Dietrich Bonhoeffer an Eberhard Bethge vom 14. Juni 1943. In: DBW 8, S. 100.
17 Nicht erhalten.
18 Vermutlich ist damit gemeint: nach so langer Zeit des Schweigens Kontakt aufzunehmen. Die Herausgeber von ›Widerstand und Ergebung‹ fügen hier als erklärende Fußnote an: »Klaus B. vermied alles – zumal so kurz vor dem Umsturzversuch des 20. Juli 1944, in den er verwickelt war –, was schriftlich oder mündlich auf ihn hätte aufmerksam machen können; so meldete er sich auch nicht bei seinem Bruder in Tegel.« (DBW 8, S. 475).
19 Auch dieser Satz wurde im Buch ›Widerstand und Ergebung‹ gestrichen und hier anhand des handschriftlichen Originals rekonstruiert.
20 Die Passage »wie man schon […] Leben liegen.« wurde in der Druckfassung von ›Widerstand und Ergebung‹ ebenfalls gekürzt.
21 DBW 8, S. 475.
22 Wenn hiermit Kritik an einer gewissen Zögerlichkeit gegenüber einem Putschversuch geübt werden soll, so ist dies gegenüber Klaus Bonhoeffer nicht gerechtfertigt, weil er selbst immer wieder (vergeblich) zu entschlossenem Vorgehen drängte.
23 Brief von Dietrich Bonhoeffer an Eberhard Bethge vom 8. Juni 1944. In: DBW 8, S. 475.
24 DBB, S. 704.
25 Brief von Dietrich Bonhoeffer an Eberhard Bethge vom 24./25. Dezember 1943. In: DBW 8, S. 259 f.
26ZEILINGER: Bruder, Mitverschwörer, Märtyrer, S. 15 f.
27BONHOEFFER, DIETRICH/VON WEDEMEYER, MARIA: Brautbriefe Zelle 92, Hg. VON BISMARCK, RUTH-ALICE/KABITZ, ULRICH, München 2006, S. 153.
28 Emmi Bonhoeffer: Aus meinem Leben als junge Frau, S. 1 (Archiv von Walter Bonhoeffer, unveröffentlichtes Dokument).
29PETER: Spiegelbild einer Verschwörung, S. 443; Hervorhebungen im Original (vgl. auch ebd., S. 520).
30 Ebd., S. 519; Hervorhebungen im Original.
31 Vgl. ebd., S. 443 (vgl. auch ebd., S. 520).
32BETHGE, EBERHARD: In Zitz gab es keine Juden. Erinnerungen aus meinen ersten vierzig Jahren, München 1989, S. 159.
33 Dies bestätigt Eberhard Bethge: »Klaus Bonhoeffer ist gefoltert worden, und Dohnanyi hat durch den berüchtigten Kommissar Stawitzky [!] eine infame Behandlung erfahren. Es scheint aber so gut wie sicher, daß Dietrich Bonhoeffer keinen Folterungen unterzogen worden ist. Die Belastung war dennoch groß genug.« (DBB, S. 1008).
34 Emmi Bonhoeffer: Der Tod als Aufgabe, S. 2 (Archiv von Cornelie Großmann, unveröffentlichtes Dokument).
35 Im Typoskript handschriftlich geändert zu »voller«.
36 Emmi Bonhoeffer: Der Tod als Aufgabe, S. 6 (Archiv von Cornelie Großmann, unveröffentlichtes Dokument).
37 Ebd., S. 5.
38 Archiv von Walter Bonhoeffer, unveröffentlichtes Dokument.
39 Ebd.
40VON HASE, FRIEDRICH WILHELM (Hg.): Hitlers Rache, Holzgerlingen 2014, S. 209.
41BONHOEFFER, DIETRICH: Nachfolge. Hg. KUSKE, MARTIN/TÖDT, ILSE (DBW 4), Gütersloh 2015.
42MOLTMANN, JÜRGEN: Klaus und Dietrich Bonhoeffer. In: MEHLHAUSEN, JOACHIM (Hg.): Zeugen des Widerstands, Tübingen 1996, S. 194–216, hier S. 215.
43ZEILINGER: ›Brückenbauer des Widerstands‹.
44 Vgl. hierzu auch BETHGE, RENATE: Bonhoeffers Familie und ihre Bedeutung für seine Theologie (Beiträge zum Widerstand 1933–1945, Bd. 30), Berlin 1987.
45MEYER, WINFRIED: Hans von Dohnanyi und die Häftlinge des 20. Juli im KZ Sachsenhausen. Vortrag zur Eröffnung der Ausstellung ›… das geistige Haupt der Bewegung zur Beseitigung des Führers‹ in Sachsenhausen, 9. April 1995. In: HUBER, WOLFGANG (Hg.): Mut in böser Zeit. Gedenken an Dietrich Bonhoeffer und seine Freunde, Berlin 1995, S. 20–36, hier S. 30 f.
46 Nicht zutreffend.
47 Übertrieben; es gab nicht das eine ›geheime Seminar‹, sondern die Bekennenden Kirche unterhielt insgesamt fünf theologische Ausbildungsstätten für ihre Vikare; eine von ihnen wurde von Dietrich Bonhoeffer geleitet.
48 Fraglich; tatsächlich vertrat Dietrich Bonhoeffer auch innerhalb der Bekennenden Kirche, ja sogar innerhalb ihres radikalen Flügels (den sogenannten ›Dahlemiten‹), immer wieder Außenseiterpositionen, weshalb sein Einfluss begrenzt war (vgl. Dietrich Bonhoeffers Artikel ›Zur Frage nach der Kirchengemeinschaft‹ in DBW 15, S. 655–680).
49 Dies ist eine persönliche Wertung, die keineswegs als ›certain‹ bezeichet werden kann. Viele Zeitgenossen haben wohl eher Menschen wie Paul Schneider, den ›Prediger von Buchenwald‹, als »most uncompromising and heroic« betrachtet.
50 Falsch; tatsächlich hat Dietrich Bonhoeffer das Gefängnis seit seiner Inhaftierung am 5. April 1943 nicht mehr verlassen.
51 Falsch; das Attentat fand am 20. Juli 1944 statt.
52 Übertrieben; tatsächlich ist Dietrich Bonhoeffers Einfluss auf die Attentäter vom 20. Juli differenziert zu betrachten und als begrenzt einzustufen.
53 Einseitig; nicht nur religiöse Motive, sondern eine Vielzahl von Gründen – auch militärische, politische, wirtschaftliche und soziale – haben die Oppositionsbewegung gegen Hitler motiviert.
54 Falsch; es wurde zwar eine Anklageschrift gegen Dietrich Bonhoeffer verfasst, es kam jedoch nie zu einer Gerichtsverhandlung und Urteilsverkündung (abgesehen von dem pro forma einberufenen Standgericht wenige Stunden vor seiner Ermordung).
55 Verwechselung; dies bezieht sich offenbar auf Roland Freisler, den Präsidenten des Volkgerichtshofs, der am 3. Februar 1945 bei einem Bombenangriff ums Leben kam, nachdem er am Tag zuvor ein Todesurteil gegen Klaus Bonhoeffer und mehrere andere Mitangeklagte verhängt hatte.
56 Frei erfunden; es ist nicht bekannt, ob das Todesurteil gegen Klaus Bonhoeffer von Freisler noch unterzeichnet worden ist, da die Akten bei dem Bombenangriff am 3. Februar 1945 verbrannt sind.
57 Frei erfunden.
58 Ungenau; es wurden zwar sowohl Dietrich als auch Klaus Bonhoeffer umgebracht, jedoch nicht gemeinsam, sondern zu verschiedenen Zeiten, an verschiedenen Orten und auf verschiedene Weise.
59 Falsch; Dietrich Bonhoeffer befand sich zu dieser Zeit nicht mehr im Gefängnis, sondern im Konzentrationslager Flossenbürg.
60NIEBUHR, REINHOLD: The Death of a Martyr. In: Christianity and Crisis, Jg. 5, Nr. 11, 1945, S. 6–7.
61 Die Deutsche Lufthansa, wo Klaus Bonhoeffer bis zu seiner Inhaftierung als Chef-Syndikus tätig war, hat sich besonders um die Bewahrung seines Andenkens bemüht – unter anderem wurde ihr Schulungszentrum in Seeheim 1990 ›Klaus-Bonhoeffer-Haus‹ benannt, und im Jahr 2005 erschien anlässlich des 60. Todestages von Klaus Bonhoeffer eine Festschrift: Deutsche Lufthansa (Hg.): Zum Gedenken an Klaus Bonhoeffer, 1901–1945. Aus Anlass des 60. Todestages, o.O. 2005. Maßgeblich für diese Bemühungen war der ehemalige Vorstandsvorsitzende Heinz Ruhnau (1929–2020).
62 Klaus Bonhoeffer war sich der Gefahr der Überwachung frühzeitig und in besonderem Maß bewusst und verhielt sich vorsichtiger als manche seiner Mitstreiter in der Konspiration – so hatte er etwa stets darauf gedrängt, dass die Unterlagen, die Hans von Dohnanyi über Jahre hinweg gesammelt hatte (und die den Verschwörern letztlich zum Verhängnis wurden) vernichtet werden. Aus der Zeit des Widerstands im Nationalsozialismus sind deshalb (anders als bei seinem Bruder Dietrich) nur wenige Briefe und sonstige Schriftstücke von ihm bekannt, da er kaum etwas aufgeschrieben bzw. Notizen umgehend beseitigt hat. Das erhaltene Material (zum Beispiel ausführliche Reiseberichte aus seinen jungen Jahren oder der ergreifende Abschiedsbrief an seine Kinder von Ostern 1945) zeigt, dass Klaus Bonhoeffer ein außerordentlich einfühlsamer und anregender Briefeschreiber war und darin seinem berühmten Bruder Dietrich keineswegs nachstand.
63RUMBERG, UWE: Klaus Bonhoeffer [unveröffentlicht].
64 Brief von Uwe Rumberg an Emmi Bonhoeffer vom 9. Oktober 1987 (Archiv von Walter Bonhoeffer, unveröffentlichtes Dokument).
I. BIOGRAPHIE
»Unser kleiner Philosoph«
Klaus Bonhoeffers Kindheit und Jugend
Wer war Klaus Bonhoeffer? Er wurde am 5. Januar 1901 in Breslau geboren als drittes Kind seiner Eltern Karl und Paula Bonhoeffer. Der Vater Karl Bonhoeffer (1868–1948) war seit 1912 Professor für Psychiatrie und Direktor an der berühmten Universitäts-Klinik Charité in Berlin. Er hatte den ersten Lehrstuhl in Deutschland für dieses damals noch recht neue Fach inne und konnte damit als ein Gegenpol zu Sigmund Freud in Wien verstanden werden. Als Mediziner war er streng naturwissenschaftlich geprägt und hatte seit seiner Jugendzeit ein kritisches Verhältnis zur Kirche und zum christlichen Glauben. Sein Enkel Klaus von Dohnanyi beschreibt Karl Bonhoeffers rationalistisches Ethos so:
»Kein Argument ohne Begründung, keine Begründung ohne Beweis. Jeder Irrtum ist verzeihlich – nur nicht die Unfähigkeit, ihn einzugestehen.«1
Anders Klaus Bonhoeffers Mutter Paula (1876–1951), die als Pfarrerstochter einer liberalen Tradition entstammte. Ihr Großvater war der bekannte Jenaer Theologieprofessor Karl August von Hase; außerdem zählen zu ihren Vorfahren die Musiker-Familie Härtel sowie die Maler und Bildhauer Cauer und von Kalckreuth. Über sie schreibt Klaus von Dohnanyi:
»Nicht nur handfest und fromm, sondern auch mit ihren Gefühlen Preussen, dem Kaiser und dem Reich verbunden, war sie, wie mir scheint, in einem viktorianischen Sinne national: patriotisch, mit einer auch sentimentalen Einfärbung.«2
Für Klaus und seine sieben Geschwister verband sich also das wissenschaftliche mit dem künstlerischen Erbe vor dem Hintergrund eines liberalen Protestantismus. Noch einmal Klaus von Dohnanyi:
»Naturwissenschaftlich und religiös, rational und emotional zugleich war die Erziehung. Aus diesem – ich will nicht sagen – Widerspruch, besser: aus dieser Spannung, so meine ich, entstand den Bonhoeffer-Kindern ein offenbar ungewöhnliches Maß an ethischem Verantwortungsbewußtsein«.3
Im Hause Bonhoeffer wurde viel Wert auf Kultur und Bildung gelegt und ausgiebig Zeit miteinander verbracht – man diskutierte, las vor, spielte, musizierte, besuchte Theatervorstellungen, Kunstausstellungen, Museen, unternahm Wanderungen in der Natur – und es wurde viel gefeiert und gelacht. Die Kindererziehung oblag vor allem der Mutter, unterstützt durch zahlreiche Hausangestellte – allen voran die langjährige Erzieherin Maria Horn (genannt ›Hörnchen‹). Paula Bonhoeffer wird als gefühlvoll, kreativ und tatkräftig beschrieben. Eberhard Bethge charakterisiert sie in seiner großen Biographie Dietrich Bonhoeffers so:
»Paula Bonhoeffer war eine sehr anregende und nie kapitulierende Mutter. Sie wußte jede Aufgabe interessant zu machen und über Hemmungen hinweg zu helfen. […] Das Menschliche interessierte sie mehr als das Naturwissenschaftliche. Auf den ausgedehnten Spaziergängen in Wölfelsgrund oder Friedrichsbrunn sah sie im Unterschied zu ihrem Mann nur wenig von Wald und Getier; sie wollte sich ununterbrochen unterhalten, wollte hören und raten. Dann nahm sie das Ausdenken der nächsten Schritte ganz gefangen. Dabei erstickte sie trotz ihrer Energie durchaus nicht, was sich bei anderen an Eigenem regte. Wenn sich irgendwo Initiative zeigte, stellte sie sich sofort darauf ein und förderte sie zu ihrer eigenen Gestalt.«4
Für ihre Kinder tat Paula Bonhoeffer fast alles: »Als Klaus, der dritte Sohn, in der Badeanstalt zögerte, in das tiefe Bassin zu springen, sprang sie ihm kurzerhand voraus, obwohl sie nie schwimmen gelernt hatte.«5 Doch wurde das Familienleben auch vom Vater stark geprägt, und beide Eltern waren sich in ihrer Haltung und ihrem Umgang mit den Kindern bemerkenswert einig.
Während von der Mutter Paula leider keine schriftliche Hinterlassenschaft vorhanden ist, hat der Vater Karl seine Biographie unter dem Titel ›Lebenserinnerungen von Karl Bonhoeffer. Geschrieben für die Familie‹ festgehalten.6 Doch obwohl diese Erinnerungen (wie der Titel besagt) ›für die Familie‹ aufgeschrieben worden sind, beinhalten sie wenig Persönliches – und bestätigen auf diese Weise indirekt, was auch anderweitig über Karl Bonhoeffer überliefert ist: dass er äußerst sparsam mit Gefühlsäußerungen umging. Zweifellos war die Familie und seine – auch für die Verhältnisse im damaligen Großbürgertum ungewöhnlich zahlreiche – Kinderschar für Karl Bonhoeffer von höchster Bedeutung; dennoch finden sich in seinen Lebenserinnerungen überwiegend berufliche und fachliche Mitteilungen. Immerhin erfährt man daraus, dass die Familie in Breslau lebte, als Klaus geboren wurde. Der Vater war dort als Arzt auf einer »Beobachtungsstation für geisteskranke Gefangene«7 tätig und habilitierte sich gleichzeitig an der dortigen Universität für das Fach Psychiatrie. Um sich ein Bild über die damalige Berufstätigkeit des Vaters zu machen, ist folgende Schilderung aufschlussreich:
»Die Anstalten schickten begreiflicher Weise mit Vorliebe auch unbequeme Patienten, sogenannte wilde Männer, die oft vielfache Disziplinarstrafen hinter sich hatten, abnorme Charaktere, querulierende und aufhetzerische Psychopathen mit mehr oder weniger paranoider Einstellung gegen die Anstaltsbeamten und die Gerichte. Im ganzen war es nicht schwer, mit ihnen auszukommen. Nur ein einziges Mal kam es zu einer ernsthaften Revolte unter Führung eines alten vielfach vorbestraften erregten Psychopathen. Die Kranken hatten ihre Schlafräume verbarrikadiert, die Bettstellen auseinandergerissen, sich mit den eisernen Bettpfosten bewaffnet und in drohender Haltung Aufstellung genommen. Der Gefängnisdirektor ließ die Feuerspritzen auffahren, um die Leute unter Wasser zu setzen und dadurch mürbe zu machen. Ehe das in Szene ging, war ich angekommen. Es lag mir daran, Gewaltmaßregeln zu verhindern und die Sache durch psychische Einflussnahme in Ordnung zu bringen. Tatsächlich hatte es keine große Schwierigkeit, die Leute zum Weglegen ihrer Eisenstäbe und zum Wegräumen ihrer Barrikaden zu bewegen. Sie hatten schon selbst Angst vor ihrer Courage bekommen und waren froh, als ich dem Rädelsführer klarmachte, daß er ein sinnloses Unternehmen in Szene gesetzt habe und daß ich dafür sorgen werde, daß die Sache keine weiteren Folgen haben werde, als daß er sich die Sache für einige Zeit in der Einzelzelle zu überlegen habe. Ich habe in der Folgezeit nichts Ähnliches mehr erlebt entgegen der Voraussage der Verwaltungsleute, die mir die Wiederholung ähnlicher Vorfälle prognosticierten, wenn nicht mit energischen Mitteln eingeschritten würde.«8
Karl Bonhoeffer hatte über Jahrzehnte hinweg die Angewohnheit, jeweils am Silvesterabend als Bestandteil des Altjahres-Rituals einen Rückblick auf die vergangenen Monate zu halten und dabei die wichtigsten Ereignisse in einem sogenannten ›Silvester-Tagebuch‹ zu dokumentieren.9 Der erste Eintrag hat die Überschrift »Breslau 31. Dezember 1899 abends 11 Uhr«10 und berichtet darüber, dass das jung verheirate Paar Karl und Paula in diesem Jahr zwei Söhne bekommen hat (Karl-Friedrich am 13. Januar und Walter am 10. Dezember), sodass sie nun eine Familie geworden sind. Drei Jahre später, am Silvesterabend 1902, ist der dritte Sohn Klaus11 schon fast zwei Jahre alt und wird vom Vater erstmals charakterisiert: »Er ist zurückhaltend und sieht sich alle ihm unbekannten Menschen erst lange – oft tagelang – an, bis er sich mit ihnen einlässt.«12 Etwas später fügt Karl Bonhoeffer hinzu:
»Claus13 schwatzt jetzt auch schon verständlich und singt mit seinen Brüdern. Er ist leicht verletztes Gemüt, überlegt sich was er tut, spielt viel für sich alleine. Wenn ihn etwas schmerzt, so wird er still und in sich gekehrt und es kostet Mühe, ihn wieder aufzuheitern. Im ganzen ist er aber heiter, vergnüglich und zu Scherzen geneigt und auch ausgelassen.«14
Ein Jahr später notiert der Vater über den knapp Dreijährigen:
»Claus, der bedächtige, ruhige und realistische Beobachter liebt seine Luise15 schwärmerisch, ausserdem seinen Regenschirm. Zu Weihnachten wünscht er sich einen Kleiderschrank, einen Regenschirm und eine Leiter für Luise. Er ist ein drolliger, dicker Bengel.«16
Kurz vor seinem vierten Geburtstag beschreibt ihn der Vater so:
»Claus hat sich zum Niklaus eine Dienstmannsmütze gewünscht und zu Weihnachten eine Guten-Tag-Mütze17 und ein Bild vom lieben Gott und ein Automobil! Er macht sich seine eigenen Gedanken. Er glaubt nicht, dass Gott überall sein kann, und beschäftigt sich mit theologischen Fragen.«18
Und auch ein Jahr später scheint sich Klaus’ Persönlichkeit nicht verändert, sondern in der von Anfang an in ihm angelegten Richtung weiterentwickelt zu haben:
»Der Dicke ist immer noch Philosoph und bedenkt sich die Probleme des Lebens. Seine Hauptneigung ist die Elektrische19 und seine Weihnachtswünsche bewegen sich fast ausschließlich auf Fahrzeuge der verschiedensten Art.«20
Nach dem Urteil von Eberhard Bethge hielt Karl Bonhoeffer seinen Sohn Klaus »für das diffizilste, aber auch amüsanteste und klügste seiner Kinder«.21 Als Klaus zwei Jahre alt war, bekam der Vater seinen ersten Ruf an die Universität Königsberg, wo ihm die Leitung der dortigen psychiatrischen Klinik übertragen wurde.22 Obwohl seine Frau gerade mit dem fünften Kind hochschwanger war, wurde der Umzug in Angriff genommen, und die Familie begab sich voller Optimismus nach Ostpreußen:
»Anfang September brachen wir unsern Breslauer Wohnsitz ab und gingen zunächst mit den 4 Kindern23 an die See nach Neuhäuser, wo uns eine Frau Redotté in einem Dohna’schen Landhause gut versorgte. Hier warteten wir die Fertigstellung der Wohnung ab und meine Frau sollte sich vor der Geburt des zu erwartenden fünften Kindes etwas ausruhen. Für sie war in Königsberg alles voll von Kinder-Erinnerungen24 und ich freute mich nun auch, diese Nordostecke des Reiches und seine Bewohner kennenzulernen, aß Schmand mit Glumse, suchte mit den Kindern Bernstein am Strande und bereitete mich auf Königsberg vor.«25
Diese kurze Schilderung ist charakteristisch: Sie zeigt zum einen, dass die Eltern von Klaus Bonhoeffer sich in gutem Einvernehmen miteinander befanden, und zum anderen, dass sie Aufgaben, die für andere Menschen eine Überforderung bedeutet hätten, relativ entspannt angehen konnten. Obwohl der Vater beruflich stark gefordert war, nahm er sich Zeit für einen Urlaub und spielte mit seinen Kindern am Strand. Im Alltag übernahm Paula die Fürsorge für die Familie und hielt ihrem Mann so den Rücken frei, ohne dass es wegen dieser Aufgabenteilung zu Unstimmigkeiten zwischen den Eheleuten gekommen wäre.
Jedoch verbrachte die Familie in Königsberg nur etwa ein halbes Jahr, denn schon erhielt der Vater einen neuen Ruf an die Universität Heidelberg, und die Koffer wurden wieder gepackt. Der Winter in Königsberg blieb ihnen nicht zuletzt wegen seiner frostigen Temperaturen in Erinnerung:
»Wir wären an sich gerne noch einige Jahre dort geblieben, aber es erschien mir aus sachlichen Gründen selbstverständlich, daß ich Heidelberg annehmen mußte.
Mitte März 1904 fuhren wir bei 15 Grad Kälte in Königsberg ab; die 5 Kinder, von denen der älteste eben 5 Jahre alt war, wohl in Pelzen verpackt. Wir fuhren über Berlin, Stuttgart direkt bis Tübingen durch, wo es 15 Grad über Null hatte und die Leute auf dem Bahnhof, als sie die pelzverpackten Kinder sahen, riefen: ›Die kommen wohl aus der Polackei.‹ Hier ließen wir die Kinder bei den Großeltern26 und fuhren dann selbst nach Heidelberg, um uns dort in dem von der Großmutter in unserem Auftrage gemieteten Hause in der Kaiserstraße einzurichten.«27
Doch auch in Heidelberg verbrachte die Familie nur ein einziges Semester: Die Fakultät in Breslau hatte sich darum bemüht, Karl Bonhoeffer zurückzugewinnen und bot ihm, nachdem er dort ein Jahr zuvor als Privatdozent und Titularprofessor seinen Abschied genommen hatte, eine Stelle als Ordinarius an.
»So fiel während des Sommersemesters die Entscheidung, daß ich nach einjähriger Abwesenheit im Herbst 1904 wieder nach Breslau zurückkehrte.
Der Sommer war ausgefüllt mit Besuchen der Eltern aus Tübingen, Verwandten und Freunden aus Württemberg, mit Ausflügen in den Odenwald, nach Wildbad, Baden-Baden, im Herbst nach dem südlichen Schwarzwald mit dem Bruder Benedikt von Hase,28 Zusammenkünften mit den Brüdern Mandry in Mosbach am Neckar, gelegentlichen Spargelessen in Schwetzingen mit Anschützens. Für meine Frau war der Heidelberger Aufenthalt mit Einrichtung der Wohnung, vielen Gästen, Wohnungssuche in Breslau, Wiederaufpacken des Hausrats, das alles mit 5 kleinen Kindern, anstrengend. Auch fühlte sie sich in dem weichen Klima von Heidelberg gegenüber der kräftigen Königsberger Luft matt und verlor etwa 40 Pfund an Gewicht. Der wissenschaftliche Gewinn dieses Reisejahres war begreiflicherweise nicht groß. Die Zeit war mit praktischen Überlegungen ausgefüllt.«29
Klaus Bonhoeffer war zu diesem Zeitpunkt erst dreieinhalb Jahre alt, hatte aber bereits fünf Umzüge miterlebt.30 Seit der Rückkehr nach Breslau ging es in seiner Familie ruhiger zu, denn sie blieb in dieser Stadt für die nächsten acht Jahre (wenngleich 1906, nach der Geburt der Zwillinge Dietrich und Sabine, dort nochmals ein Umzug in ein größeres Haus stattfand). Der Vater berichtet über diese Zeit: