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Beschreibung

Das Erbe des Ersten Weltkriegs ließ eine Vielfalt an erinnerungskulturellen Ausprägungen entstehen. In Zentraleuropa blieben diese in ihrer Intensität allerdings stets weit hinter jener Gedenkkultur zurück, die der »Große Krieg« in den westlichen Siegerstaaten hervorbrachte. Die hier veröffentlichten Beiträge beleuchten unterschiedliche Aspekte dieser vernachlässigten Geschichte: Sie beschäftigen sich mit den Erinnerungskulturen des Ersten Weltkriegs in der Zwischenkriegszeit, sind neueren Forschungsperspektiven verpflichtet und konzentrieren sich in räumlicher Hinsicht auf vormals habsburgische Territorien und deren Nachbarstaaten. Im Zentrum der Fallstudien steht das Spannungsfeld zwischen öffentlichen und privaten Kriegsdeutungen sowie jenen alternativen Erinnerungsbildern und Gedächtniskonstruktionen, die aufgrund der Konzentration auf die in der Forschung bislang dominante materielle Kriegserinnerungskultur unterbelichtet geblieben sind.

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Christa Hämmerle, Gerald Lamprecht, Oswald Überegger (Hg.)

Erinnerungsbilder und Gedächtniskonstruktionen

Fallstudien zum Erbe des Ersten Weltkriegs in Zentraleuropa (1918–1939)

Campus VerlagFrankfurt/New York

Über das Buch

Das Erbe des Ersten Weltkriegs ließ eine Vielfalt an erinnerungskulturellen Ausprägungen entstehen. In Zentraleuropa blieben diese in ihrer Intensität allerdings stets weit hinter jener Gedenkkultur zurück, die der »Große Krieg« in den westlichen Siegerstaaten hervorbrachte. Die hier veröffentlichten Beiträge beleuchten unterschiedliche Aspekte dieser vernachlässigten Geschichte: Sie beschäftigen sich mit den Erinnerungskulturen des Ersten Weltkriegs in der Zwischenkriegszeit, sind neueren Forschungsperspektiven verpflichtet und konzentrieren sich in räumlicher Hinsicht auf vormals habsburgische Territorien und deren Nachbarstaaten. Im Zentrum der Fallstudien steht das Spannungsfeld zwischen öffentlichen und privaten Kriegsdeutungen sowie jenen alternativen Erinnerungsbildern und Gedächtniskonstruktionen, die aufgrund der Konzentration auf die in der Forschung bislang dominante materielle Kriegserinnerungskultur unterbelichtet geblieben sind.

Vita

Christa Hämmerle ist außerordentliche Universitätsprofessorin für Neuere Geschichte und Frauen- und Geschlechtergeschichte am Institut für Geschichte der Universität Wien.

Gerald Lamprecht ist Professor für jüdische Geschichte und Zeitgeschichte am Centrum für Jüdische Studien der Karl-Franzens-Universität Graz.

Oswald Überegger ist Professor für Zeitgeschichte und Inhaber einer Stiftungsprofessur für Regionalgeschichte an der Freien Universität Bozen.

Übersicht

Cover

Titel

Über das Buch

Vita

Inhalt

Impressum

Inhalt

Christa Hämmerle/Gerald Lamprecht/Oswald Überegger: Erinnerungsbilder und Gedächtniskonstruktionen. Das Erbe des Ersten Weltkriegs in Zentraleuropa (1918−1939) – eine Einleitung

1.

Zum Forschungsstand

2.

Zum Inhalt des Sammelbandes

Richard Lein: Oberst Alexander Brosch von Aarenau und das Gefecht bei Hujcze 1914. Ein Kampf um Deutungshoheit

1.

Alexander Brosch von Aarenau – ein Karriereoffizier

2.

Das Gefecht bei Hujcze (6. bis 7. September 1914)

3.

Das »verschwundene« Regiment

3.1

Die Suche nach den toten »Helden«

3.2

Ein Heldendenkmal für die Kaiserjäger

4.

Oberst Brosch – ein »Held«?

4.1

Das Theresienordensgesuch für Oberst Brosch

5.

Das Ringen um Deutungshoheit nach 1918

5.1

Das zweite Theresienordensgesuch

5.2

Die Verarbeitung in der Historiografie

6.

Gedächtnistransformation

7.

Fazit

Thomas Stoppacher: »Der Krieg ist wohl zu Ende, die Hyänen des Schlachtfeldes aber sind geblieben«. Frühe antisemitische Erinnerungsdiskurse über den Ersten Weltkrieg im österreichischen Parlament

1.

Einleitung

2.

Das österreichische Parlament

3.

Erinnerungsdiskurse der Nachkriegszeit

4.

Der »antisemitische Standpunkt« – die angebliche »Kriegsschuld« der Juden

5.

Die »Ostjuden«

6.

Als Staatsbürger nicht erwünscht

7.

Die Auswirkungen des Staatsvertrags von St. Germain

8.

Der Vorwurf der »jüdischen Zentralen« und der »jüdischen Kriegsgewinner«

9.

Die »Dolchstoßlegende« als Kriegsinterpretation

10.

Verschwörungstheorien

11.

Resümee

Jiří Hutečka: »Žižka, Not Švejk!« War Memory and Masculinity among Czech Veterans of the Austro-Hungarian Army in Interwar Czechoslovakia

1.

The mud of Švejkism

2.

Reinventing memory

3.

Reinventing men

4.

Conclusion

Monika Szczepaniak: »Wahnsinnige Patrioten« und ihre Pferde. Der Erste Weltkrieg in der polnischen Erinnerungskultur der Zwischenkriegszeit

1.

Ritter des freien Polens

2.

»Wir, die Erste Brigade«

3.

»Flirt mit dem Krieglein«

4.

»In der Legende leben«

5.

Resümee: »Die Gegenwart entscheidet«

Balázs Ablonczy: »I Believe in the Resurrection of Hungary!« Political Discourse and Remembrance Practices on the Trianon Peace Treaty in Interwar Hungary

1.

Season of sorrow

2.

The grand old man

3.

Tainted love

4.

The ideology of frustration

5.

Everyday Trianon

Ruth Nattermann: »Libro di Guerra«. Krieg und Faschismus in den Erinnerungen einer italienisch-jüdischen Kriegskrankenschwester

1.

Die Kriegserinnerungen Elisa Majer Rizziolis (1880–1930)

2.

Der Weg in den Krieg

3.

Der »Marsch auf Fiume« und die Weichenstellung zum Faschismus

4.

Krieg und Gewalt als faschistischer Ursprungsort

5.

Faschistische »Frauentugenden« und die Ambivalenz einer faschistischen Feministin

6.

Resümee: Kriegserinnerung im Zeichen des Faschismus

Daniel Artho: »Schandfleck« den einen – »Ruhmesblatt« den anderen. Das polarisierende Erbe des schweizerischen Landesstreiks von 1918 in der Zwischenkriegszeit

1.

Ursachen, Anlässe und Ergebnis des schweizerischen Landesstreiks von 1918

2.

»Wahrheit und Dichtung« – Die Entstehung konfligierender Gedächtniskonstruktionen

3.

Die politische Instrumentalisierung des Landesstreiks in der Zwischenkriegszeit

4.

Fazit und Ausblick

Devlin M. Scofield: Finding Belonging in Exclusion. The Interwar Memorialization Practices and Internal Politics of Alsatian Regimental Veterans’ Associations

1.

Introduction

2.

Mobilizing emotion: remembrance triggers and the 132nd and 143rd Lower-Alsatian infantry regimental associations

3.

Evoking nostalgia, articulating memory: the role of the associational newspaper

4.

Embodied nostalgia: the importance of place for the regimental memorials

5.

»Coming home« – the critical role of Oberkirch and Bühl in the commemorative activities of the regimental associations

6.

Contested ties: the internal politics of the veterans associations

7.

Conclusion

John Horne: Remembrance of the Great War in Interwar Central Europe

1.

The global context

2.

Central Europe – victory

3.

Central Europe − defeat

4.

Central Europe and neutrality − Switzerland

5.

An exception? The case of Italy

6.

Conclusion

Abstracts

Colonel Alexander Brosch von Aarenau and the Battle of Hujcze 1914. (De)construction of a Myth

»The War is Probably Over, but the Hyenas of the Battlefield Remain«. Early Political Discourses on First World War Remembrance in the Austrian Parliament

»Žižka, Not Švejk!« War Memory and Masculinity among Czech Veterans of the Austro-Hungarian Army in Interwar Czechoslovakia

»Mad Patriots« and Their Horses. The First World War in Polish Remembrance Culture of the Interwar Period

»I Believe in the Resurrection of Hungary!« Political Discourse and Remembrance Practices on the Trianon Peace Treaty in Interwar Hungary

»Libro di Guerra«. War and Fascism in the Memories of an Italian-Jewish War Nurse

Conflicting Narratives: Collective Memory and Political Instrumentalization of the Swiss National General Strike of November 1918

Finding Belonging in Exclusion. The Interwar Memorialization Practices and Internal Politics of Alsatian Regimental Veterans’ Associations

Remembrance of the Great War in Interwar Central Europe

Dank

Erinnerungsbilder und Gedächtniskonstruktionen. Das Erbe des Ersten Weltkriegs in Zentraleuropa (1918−1939) – eine Einleitung

Christa Hämmerle/Gerald Lamprecht/Oswald Überegger

Es war gegen Ende der Gedenkinitiativen im Rahmen des sogenannten Centenaires von 2014/18, als wir – als involvierte Historiker*innen – im Sommer 2018 am Rande einer Konferenz in Rom erstmals die Idee ins Auge fassten, zum Abschluss unserer Aktivitäten zu dieser »Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts« eine internationale Tagung zu veranstalten, die sich der Erinnerungs- und Gedenkkultur der Zwischenkriegszeit widmen sollte. Wir taten dies vor dem Hintergrund einer schier unüberschaubaren Fülle von (populär-)wissenschaftlichen Veranstaltungen, Publikationen, Ausstellungen etc., die sich spätestens seit 2013 dem Ausbruch und dem Verlauf des Ersten Weltkriegs gewidmet und zu einem regelrechten Hype ausgeweitet hatten. Die Vielzahl von Initiativen war selbst für Historiker*innen, die sich seit langem mit diesem Themenfeld befasst und immer wieder auf die mehr oder weniger marginale Bedeutung des Ersten Weltkriegs in der öffentlichen Kriegserinnerungskultur hingewiesen hatten, überraschend gewesen. Gleichzeitig wurde aber auch deutlich, dass das nun so intensiv lancierte Gedenken an den »Großen Krieg« in seinen inhaltlichen Ausrichtungen, den dabei vertretenen Sichtweisen und propagierten Narrativen oder Visualisierungen eng an die nach 1918 entstandenen nationalen Erinnerungskulturen gebunden blieb – tendenziell bis heute. Das kam auch dort zum Ausdruck, wo im Kontext des Centenaires unterschiedliche nationale Weltkriegsdarstellungen vergleichend nebeneinandergestellt wurden; demgegenüber blieben tatsächlich transnational oder global perspektivierte, auch am Konzept einer entangled history ausgerichtete Analysen weit seltener.1

Vor dem Hintergrund solcher Wahrnehmungen begannen wir uns stärker dafür zu interessieren, was die Kriegserinnerungskulturen der Zwischenkriegszeit im öffentlichen Kontext jeweils konstituiert hat, welche Blickweisen auf den Krieg dabei wirksam wurden und dominierten oder aber um Deutungshoheit konkurrierten beziehungsweise marginalisiert wurden. Um solche Prozesse besser verstehen zu können, sollte auf einer gemeinsam konzipierten Tagung der Fokus entsprechender Analysen auf unterschiedlichen Ebenen und Praxen der Kriegserinnerung in Zentraleuropa liegen, das heißt primär auf dem Raum der ehemaligen Habsburgermonarchie sowie deren Nachfolgestaaten – wobei wir im Sinne einer wünschenswerten komparativen Perspektive jedoch auch andere, benachbarte europäische Regionen nicht ausschließen wollten. Wir sind damit einem offenen Verständnis des Begriffs »Zentraleuropa« gefolgt, wie er etwa schon vor Jahren im Rahmen eines in Graz angesiedelten Spezialforschungsbereichs »Moderne – Wien und Zentraleuropa um 1900« vorgeschlagen wurde. Dieser ist »nicht essentialistisch, sondern forschungspragmatisch« ausgerichtet, »was auf einen offenen, ›weichen‹, geografisch nicht exakt eingegrenzten Begriff hinausläuft«, wie Peter Stachel resümiert hat. Zentraleuropa kann daher »als eine Großregion Europas mit unscharfen Begrenzungen definiert werden, die sich durch vielfältige Gemeinsamkeiten auf der Ebene langfristiger kultureller Lebensformen und Mentalitäten auszeichnet«.2

Dementsprechend haben wir im Januar 2019 einen Call for Papers für eine internationale Konferenz mit dem Titel »Erinnerungsbilder und Gedächtniskonstruktionen. Das Erbe des Ersten Weltkriegs in Zentraleuropa (1918–1939)« veröffentlicht, der vor allem auf theoretisch-methodisch innovative Beiträge im Bereich der Neuen Kultur- und Militärgeschichte, der Memory Studies, der Frauen- und Geschlechtergeschichte und der interdisziplinären Forschung abzielte. Dabei sollte nach Akteur*innen, die unterschiedliche Erinnerungskulturen repräsentierten, ebenso gefragt werden wie nach deren Bedeutung im Rahmen der Inklusions- und Exklusionsmechanismen mit Blick auf das öffentlich-hegemoniale Kriegsgedächtnis. Außerdem ging es uns unter anderem um die Analyse von politischen und gesellschaftlichen Entstehungs-, Sedimentierungs- und Medialisierungsprozessen von Erinnerung; ferner wollten wir ein Augenmerk auf Erinnerungsmedien, sich wandelnde Erinnerungsdeutungen und Formen der Instrumentalisierung des Kriegs legen, wobei nicht nur die dominanten, öffentlich sichtbaren Gruppen, sondern auch die vielfach »schweigende Masse« beziehungsweise der noch immer kaum erforschte Bereich der privaten und kleinräumigen Erinnerungskulturen berücksichtigt werden sollte.3

Die große Resonanz auf den so ausgerichteten Call for Papers ermöglichte schließlich die Durchführung einer am 7. und 8. November 2019 in Brixen/Bressanone (Südtirol) abgehaltenen internationalen Tagung.4 Sie versammelte 24 Historiker*innen aus zwölf europäischen Ländern sowie den USA, die im Rahmen ihrer öffentlich zugänglichen Vorträge verschiedenste Aspekte des Themas diskutierten – wobei neben Österreich, Italien, Ungarn, Kroatien, Slowenien, der Tschechoslowakei, Polen und Rumänien auch Deutschland und die Schweiz behandelt wurden. Nicht alle diese Tagungsbeiträge konnten hier veröffentlicht werden; wir haben uns aber im Rahmen der nun vorliegenden Publikation für ein Sample ausgewählter, von den Autor*innen nochmals überarbeiteter Aufsätze entschieden, die ein möglichst breites inhaltliches wie regionales Spektrum abdecken. Bevor diese vorgestellt werden, geht es im Folgenden zunächst um einige Überlegungen zum gegenwärtigen Stand der Erinnerungsforschung zum Ersten Weltkrieg in Zentraleuropa.5

1.Zum Forschungsstand

Das kulturelle Erbe des Ersten Weltkriegs verkörpert gerade im zentraleuropäischen Raum, mit dem sich die Beiträge dieses Sammelbandes beschäftigen, eine große Vielfalt an erinnerungskulturellen Ausprägungen und Praxen. In ihrer Intensität bleiben sie allerdings weit hinter jener ›lebendigen‹ Gedenkkultur zurück, die nach Kriegsende in den westlichen Siegerstaaten – etwa in Frankreich und Großbritannien – etabliert wurde. Es gibt keine zentraleuropäischen Äquivalente zum britischen Remembrance Day oder zum französischen Mort pour la France. Und auch die seit 1918 sukzessiv ausgebaute Erinnerungslandschaft an der ehemaligen deutsch-französischen Westfront (mit unzähligen Denkmälern, Gedenkstätten und Museen) findet in Zentral- und Osteuropa keine Entsprechung.6

Die Ursachen dafür, dass die Erinnerung an den Ersten Weltkrieg hier nicht annähernd eine mit der westeuropäischen Realität vergleichbare Mythomotorik entwickelt hat, sind vielfältig.7 Zum einen erscheint die Differenzierung von Sieger- und Verliererstaaten von großer Bedeutung. Im Unterschied zu Westeuropa konnten sich etwa in den Verliererstaaten Deutschland, Österreich und Ungarn keine positiven Erinnerungsbezüge entwickeln, ganz im Gegenteil: In diesen Staaten nährte die traumatische Züge annehmende Erinnerung an den Ersten Weltkrieg und seinen Ausgang einen in der Zwischenkriegszeit immer aggressiver werdenden Revanchismus gegen die Friedensverträge von Versailles, St. Germain und Trianon. Aber auch in jenen Sukzessionsstaaten der Habsburgermonarchie, die sich – vor allem aufgrund der erreichten Eigenstaatlichkeit – als Sieger sehen konnten, rekurrierten die Erinnerungsbezüge mehr auf die glorifizierte Rolle von Unabhängigkeitsbewegungen und Legionen sowie auf die jeweils hervorgekehrte ›Nation‹ als auf den Krieg selbst.8

Zum anderen muss die zentrale Bedeutung des Zweiten Weltkriegs und jener nachfolgenden disruptiven Ereignisse berücksichtigt werden, die die politischen und gesellschaftlichen Rahmenbedingungen des öffentlichen Erinnerns und Gedenkens gerade im zentraleuropäischen Raum vielfach in entscheidender Weise verändert haben.9 Während etwa in Großbritannien und Frankreich der Erste Weltkrieg auch noch nach 1945 ein in unveränderter Weise starker lieux de memoire blieb, führte die Katastrophe der Jahre 1939 bis 1945 im zentral- und osteuropäischen Raum zu einer Marginalisierung der Präsenz des Ersten Weltkriegs im kulturellen Gedächtnis. Eine entscheidende Rolle spielte dabei auch, dass in den Ostblockstaaten das nationale Erinnerungsnarrativ zusehends von der auf die Bedeutung der Oktoberrevolution fokussierten marxistischen ›Meistererzählung‹ zur Geschichte des Weltkriegs überschrieben wurde. Diese Form der geschichtspolitischen Vereinnahmung schränkte die öffentliche Präsenz abweichender Geschichtsnarrative ein und ordnete sie einem staatlich ›diktierten‹ und ideologisch verbrämten Kriegsbild unter.10 Aber etwa auch in Österreich – oder in Deutschland – kam dem Ersten Weltkrieg nach 1945 nur mehr »geringe Relevanz für aktuelle Identitätskonzepte und Erinnerungserzählungen« zu.11

Die jüngere geschichtswissenschaftliche Auseinandersetzung mit auf den Ersten Weltkrieg Bezug nehmenden erinnerungskulturellen Fragestellungen begann in größerem Umfang erst in den 1990er-Jahren im Rahmen einer damals sehr breit verstandenen, verschiedene neue theoretisch-methodische Ansätze inkludierenden »Kulturgeschichte« des Kriegs.12 Das geschah auch vor dem Hintergrund, dass sich die internationale Forschung zum Ersten Weltkrieg seit den 1980er-Jahren durch die immer stärkere Adressierung und Operationalisierung sozial-, alltags-, mentalitäts-, frauen-/geschlechtergeschichtlicher und kulturhistorischer Fragestellungen beziehungsweise Zugänge im Umbruch befand.13 Im Kontext eines solchen Perspektivenwechsels rückten durch die wegweisenden Arbeiten etwa von George Mosse, Reinhart Koselleck, Antoine Prost und Jay Winter – um nur einige zu nennen – die Praxen der Erinnerung und des Gedenkens in den Mittelpunkt der Weltkriegsforschung.14 Von solchen Pionierarbeiten gingen starke Impulse für eine ganze Reihe weiterer Studien aus. Allerdings war diese erste Konjunktur von Forschungen zu erinnerungskulturellen Aspekten sehr stark auf die Themen des politischen Totenkults, der öffentlichen Gedenkrituale und -praxen sowie – vor allem anderen – der materiellen Erinnerungskulturen (Denkmäler, Kriegerfriedhöfe, Museen) fokussiert. Darüber hinaus entdeckte man zunehmend die literarische und künstlerische Verarbeitung sowie die geschichtswissenschaftliche Aufarbeitung des Kriegs als erinnerungskulturelle Themen, wobei immer häufiger auch deren geschlechterpolitische oder -ideologische Dimensionen untersucht wurden. Diesen Schwerpunktsetzungen verdanken wir eine ganze Reihe von Studien über den Niederschlag des Kriegs in Kunst, Literatur und (Geschichts-)Wissenschaft.15 Beide genannten Stränge der erinnerungskulturell ausgerichteten Weltkriegsforschung erfreuen sich bis heute einer gewissen Beliebtheit.16

Für den zentraleuropäischen Raum stellen die 1990er-Jahre noch aus einem anderen Grund eine geschichtswissenschaftliche Zäsur dar: Der Zusammenbruch des Ostblocks ermöglichte hier einen neuen Blick auf die Geschichte des Ersten Weltkriegs. Der Fall des ›Eisernen Vorhangs‹ ließ schließlich auch festeingesessene, in geschichtspolitisch motivierten Kontexten entstandene Geschichts- beziehungsweise Kriegsbilder in sich zusammenzubrechen. Eine vorbehaltslosere Erforschung des Ersten Weltkriegs in Ländern wie Polen, der Tschechoslowakei, Ungarn und den Nachfolgestaaten des im Zuge eines Bürgerkriegs zerfallenden ehemaligen Jugoslawiens kam in diesen Jahren in Schwung.17 Trotz aller Fortschritte vermochte es die Geschichte des Ersten Weltkriegs in den genannten Staaten allerdings nicht, größere geschichtswissenschaftliche Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. »In comparison to Western historiography«, zogen Klaus Richter und Piotr Szlanta unlängst eine nüchterne Bilanz, waren die Ostmitteleuropa-Historiker »relatively less interested in the history of the First Word War«.18 Nicht zuletzt deshalb, und weil es nach der Öffnung der osteuropäischen Archive gleichzeitig zu einer die Geschichte des Ersten Weltkriegs wiederum überlagernden, intensivierten Beschäftigung mit dem Nationalsozialismus und dem Holocaust in den betreffenden Ländern kam, harrt mit Blick auf den zentral- beziehungsweise ostmitteleuropäischen Raum in Bezug darauf noch eine ganze Reihe von – auch erinnerungskulturellen – Themen einer wissenschaftlichen Bearbeitung; das gilt im Übrigen auch für Österreich.19

Die im vorliegenden Band versammelten Beiträge ordnen sich in die oben skizzierte, meist stark kulturgeschichtlich inspirierte Erinnerungsforschung des Ersten Weltkriegs der letzten zwei bis drei Jahrzehnte ein. Sie orientieren sich methodisch an dieser geschichtswissenschaftlichen Neuausrichtung und der kulturwissenschaftlichen Gedächtnisforschung ebenso wie an neueren historiografischen Teildisziplinen bis hin zur Geschlechtergeschichte. Im Rahmen verschiedener Fallstudien werfen sie auf unterschiedliche Art und Weise Schlaglichter auf einen für den behandelten Raum noch wenig untersuchten, komplexen Themenbereich und zeigen implizit diverse Leerstellen auf, aus denen man zusammenfassend mehrere Desiderata für die künftige Forschung ableiten kann. Das gilt beispielsweise in Hinblick darauf, dass es weiterer Studien zur Frage der individuellen und gruppenspezifischen Kriegserinnerung bedarf, die über die derzeit wohl am besten erforschte Gruppe der Weltkriegsveteranen und Legionäre hinausgehen.20 Das zentrale Spannungsfeld von öffentlichen und privaten Kriegsdeutungen und der unterschiedliche Gehalt von öffentlich inszenierter und individueller Kriegserinnerung wären in künftigen Studien noch stärker herauszuarbeiten. Dabei sollte man auch einen Schwerpunkt auf die weniger sichtbaren Formen der Kriegserinnerung legen, die im Rahmen der Forschungen über die dominante materielle Erinnerungskultur vielfach unterbelichtet geblieben sind. Ein Forschungsdefizit resultiert zweifellos aus der allzu starken Konzentration auf einzelne Erinnerungsorte und Medien des Kriegsgedächtnisses.

In diesem Zusammenhang stellt sich außerdem die Frage nach der Kompatibilität oder Vereinbarkeit der Deutungsinhalte der verschiedenen Erinnerungsformen und nach der Herausbildung hegemonialer oder alternativer Kriegsgedächtnisse, die dem Mainstream der Erinnerungspraxen zuwiderliefen. Letztere sind in der Forschung – insbesondere auch für die Regionen des zentral- und osteuropäischen Großraums – stark vernachlässigt worden. Deshalb geht es vor allem darum, den Fokus vermehrt auf die Entwicklung der Kriegserinnerung im lebensweltlichen Kontext zu richten, um Näheres über die konkrete, von verschiedenen Faktoren (Ethnie, Geschlecht, Alter usw.) abhängige Verarbeitung des Kriegs und etwaige Veränderungsprozesse zu erfahren: Wie vollzog sich der Kampf um die Deutungsmacht des Kriegs nach 1918 im Spannungsfeld von öffentlichem Gedenken und individuell-privaten Erinnerungsdeutungen? Gab es innerhalb der popularen Ebene historischer Kriegserinnerung stark miteinander konkurrierende Deutungsmuster oder überwogen die Gemeinsamkeiten? Lassen sich beispielsweise milieu- (politische und soziale Milieus) oder geschlechterspezifische Erinnerungskulturen filtern und voneinander unterscheiden?

Ein weiteres Anliegen des vorliegenden Sammelbandes besteht, wie schon erwähnt, darin, die Forschungsperspektive in räumlicher Hinsicht stärker als bisher auf die zentraleuropäischen Grenzräume im Osten und Südosten auszurichten, denen bisher nicht jene Aufmerksamkeit zuteil wurde, die notwendig scheint. Es gilt, Zentraleuropa, verstanden als die Länder der ehemaligen Habsburgermonarchie beziehungsweise ihre Nachfolgestaaten und angrenzenden Regionen,21 verstärkt in den Blick zu nehmen – wozu wir mit unserer Tagung zumindest ansatzweise beitragen wollten.

2.Zum Inhalt des Sammelbandes

Gemäß dem gerade geschilderten Bestreben folgt die Reihung der hier veröffentlichten Beiträge einer geografischen Ordnung. Ausgehend von Österreich(-Ungarn) befassen sich die einzelnen Texte mit unterschiedlichen Erinnerungsgemeinschaften und -konstruktionen in Österreich, der Tschechoslowakei, Polen, Ungarn, Italien, der Schweiz und Deutschland – und zwar beschränkt auf die Zwischenkriegszeit. Ein verbindendes Element stellt hierbei die Frage nach den Konstruktionsbedingungen und -mechanismen der jeweils untersuchten Formen der Kriegserinnerung sowie der jeweiligen Gruppenbezogenheit beziehungsweise der Einbindung in das kollektive Kriegsgedächtnis dar.

Den Anfang macht Richard Lein, der sich auf der Basis umfangreicher archivalischer Quellen mit der Konstruktion der Erinnerung an Oberst Alexander Brosch von Aarenau und dem Gefecht bei Hujcze in Galizien im September 1914 befasst. Obwohl militärische Fehlentscheidungen zum Scheitern des von Brosch befehligten Kaiserjägerregiments in dieser Schlacht und zu seinem Tod führten, wurden aufgrund spezifischer Interessenslagen während und nach dem Ersten Weltkrieg sowohl Brosch als auch das Gefecht bei Hujcze auf heroische Weise in die Erinnerungskultur der Kaiserjäger integriert. Der Oberst und die Ereignisse rund um die Schlacht erfuhren eine nachhaltige Würdigung und Verklärung, sei es durch Zeichensetzungen in der materiellen österreichischen Erinnerungs-/Denkmalkultur oder sei es im musealen Narrativ des Kaiserjägermuseums in Innsbruck. Aus Brosch wurde so gleichsam der paradigmatische heldenhafte Kaiserjäger.

Während Brosch und sein Schicksal also in die Heldenerzählungen der Kaiserjäger einbezogen wurden, waren die öffentliche Erinnerung an den Krieg, die retrospektive Suche nach Schuldigen für seinen Verlauf und Ausgang sowie die vielfältigen Kriegsfolgen in politischen Debatten häufig der Ausgangspunkt antisemitischer Angriffe auf die jüdische Bevölkerung. Diesem antisemitischen Diskurs im Kontext der in der (provisorischen) österreichischen Nationalversammlung im Zeitraum von 1918 bis 1923 behandelten Kriegserinnerung widmet sich Thomas Stoppacher. Ausgehend von den Versammlungsprotokollen wird in seinem Beitrag deutlich, dass die Debatten über den Krieg für Antisemiten zur Bühne wurden, auf der sie einerseits zentrale Fragen eines Verständnisses der österreichischen Nation zwischen den Polen von Inklusion und Exklusion verhandelten und andererseits im Widerstreit der politischen Parteien die Kriegsschuld thematisierten. Jüdinnen und Juden wurden in den Redebeiträgen zu ›Sündenböcken‹ und ›dem Fremden‹ des jungen sich deutschnational verstehenden Nationalstaates schlechthin. Die jüdischen und spärlichen sozialdemokratischen Gegenstimmen fanden dabei kaum Gehör.

Im Gegensatz zu Österreich, wo Kriegserinnerungen ausgehend vom Selbstbild des Kriegsverlierers verhandelt wurden, gestaltete sich das in der Tschechoslowakei ambivalenter. Man hatte zwar als Teil der österreichisch-ungarischen Monarchie den Krieg ebenfalls verloren, dabei aber die Eigenstaatlichkeit, die in der offiziellen Erinnerungspolitik insbesondere den Leistungen der Tschechischen Legion zugeschrieben wurde, gewonnen. Neben diesen Helden- und Siegnarrativen der Legionäre fanden die Erinnerungen all jener anderen tschechischen Soldaten, die in den Reihen der Habsburgerarmee gekämpft hatten oder verwundet und entstellt aus dem Krieg zurückkehrt waren, keinen Platz in der offiziellen staatlichen Erinnerungskultur. Jiří Hutečka beschäftigt sich mit diesen ambivalenten und widersprüchlichen Erinnerungsnarrativen und untersucht die Bedeutung von Männlichkeitsbildern für die Konstruktion einer tschechischen Kriegserinnerung abseits der Tschechischen Legion. Hierbei fokussiert er auch auf die literarische Figur des Soldaten Schwejk, dem in den Erinnerungsdiskursen die mit anderen Männlichkeitsattributen aufgeladene Figur des Hussiten Jan Žižka gegenübergestellt wurde. Diese Referenz auf den mittelalterlichen Helden ermöglichte es im Prinzip allen tschechischen Soldaten der ehemaligen k. u. k. Armee, an die Erinnerungs- und Männlichkeitsdiskurse der Mitglieder der Legion anzuschließen.

Auch in Polen dominierte die Wiedererlangung der Eigenstaatlichkeit ab Ende 1918 die Kriegserinnerung. Diese war, so Monika Szczepaniak in ihrem Beitrag, zum einen eng verbunden mit dem apostrophierten Bild von den »wahnsinnigen Helden«, die sich mit Wagemut und völlig heroisch für das patriotische Ziel eines selbstständigen Polens opferten. Zum anderen stand die Kriegserinnerungskultur hier in einer romantischen Tradition von Reiterfiguren, die in der polnischen Nationalgeschichte besondere Bedeutung erlangt haben. Dabei wurden in Anlehnung an die Ulanen antiquierte und idealisierte Männlichkeits- und Heldenbilder bemüht, die nicht zuletzt durch zahlreiche Bilder und literarische Texte Eingang in das kulturelle Gedächtnis fanden und auch in der gegenwärtigen Erinnerungskultur einen festen Platz haben.

Die ungarische Kriegserinnerung fügte sich hingegen in einen ganz anderen Rahmen. Hier war die öffentliche Erinnerungskultur nicht, wie in der Tschechoslowakei und in Polen, von Heldennarrativen im Kontext der Staatswerdung bestimmt, sondern sie wurde zentral mit dem im Juni 1920 unterzeichneten Friedensvertrag von Trianon und der daraus resultierenden Abtrennung großer ehedem ungarischer Gebiete verbunden. Balázs Ablonczy widmet sich in seinem Beitrag der Entstehung und Etablierung des Trianon-Mythos in der Zwischenkriegszeit anhand der Analyse medialer und politischer Diskurse sowie zentraler ungarischer Denkmalsetzungen. Staatlich getragen, wurden sowohl in Budapest als auch über das Land verteilt monumentale Denkmalanlagen errichtet, die einen ungarischen Opfermythos beschwören, der bis in die Gegenwart fortwirkt.

In den bisher genannten Texten standen nationale und staatliche Erinnerungsnarrative im Zentrum. Ruth Nattermann hingegen untersucht in ihrem Beitrag die individuellen Erinnerungen der italienischen Kriegskrankenschwester Elisa Majer Rizzioli. Diese entstammte einer jüdischen Familie und gründete 1920 die erste faschistische Frauenorganisation in Italien. Nattermann zeichnet Rizziolis Motivationen und Zielsetzungen im Kontext ihrer Kriegserfahrungen als Krankenschwester anhand von Selbstzeugnissen und weiteren Publikationen nach. Dabei wird das Spannungsfeld zwischen emanzipatorischen Anliegen, faschistischen Geschlechterrollen und Antisemitismus, dem Rizzioli ausgesetzt war, sichtbar. Zugleich kann Nattermann zeigen, wie vor allem die 1922 publizierten Kriegserinnerungen Rizziolis die faschistischen Erinnerungsdiskurse rund um das Bild des »verstümmelten Sieges« und die Figur der idealisierten Kriegskrankenschwester mitprägten.

Die Schweiz wiederum war als neutraler Staat zwar nicht am Ersten Weltkrieg beteiligt, trotzdem hatte dieser große politische und soziale Auswirkungen auf das Land. Die damit verbundenen Konflikte mündeten in den Landesstreik von 1918, der von den militärischen Ordnungskräften blutig niedergeschlagen wurde. Mit diesem Ereignis und der Erinnerung daran setzt sich Daniel Artho in seinem Beitrag auseinander. Er zeigt, dass der Landesstreik, der durch die zeitgleichen fundamentalen europäischen Umwälzungen außerhalb der Schweiz kaum Aufmerksamkeit erfuhr, in der Eidgenossenschaft bis heute als größte innenpolitische Krise seit der Staatsgründung Mitte des 19. Jahrhunderts und insbesondere auch aus einer erinnerungskulturellen Perspektive als äußerst umkämpft gilt. Artho zeichnet die Strategien und erinnerungspolitischen Kontroversen zwischen der Arbeiterschaft auf der einen und den bürgerlichen Eliten auf der anderen Seite nach und gibt damit Einblick in die Konstruktionsmechanismen gruppenbezogener Erinnerungsnarrative.

Den Abschluss der in diesem Band veröffentlichten Fallstudien bildet der Beitrag von Devlin M. Scofield, der sich mit den Erinnerungspraxen der elsässischen Veteranen in Deutschland beschäftigt. Aufgrund der französischen Annexion des Elsass und der daraus resultierenden Verbannung des ›Deutschen‹ aus dem dortigen öffentlichen Raum einerseits, sowie all jener Elsässer, die mit dem Verdacht der Illoyalität gegenüber Frankreich konfrontiert waren andererseits, fanden diese Praxen nicht am Ort des Geschehens, sondern meist in unmittelbarer Nähe der Grenze auf deutschem Territorium statt. In ebendiesen deutsch-französischen Grenzorten wurden von den elsässisch-deutschen Veteranen regelmäßig Gedenkveranstaltungen durchgeführt und materielle Zeichen gesetzt, in denen die Kriegserinnerung ebenso verhandelt wurde wie der Verlust der Heimat.

Am Ende des Sammelbandes folgt eine umfassende Analyse von John Horne, der die nationalen Erinnerungskulturen in Zentraleuropa und jene Mythen, die diese stark beeinflusst haben, auch in einen globalen Kontext einordnet. Aus einer vergleichenden Perspektive richtet er dann zum einen den Fokus auf jene zentraleuropäischen Räume und Erinnerungskollektive, die im Band nicht berücksichtigt sind; zum anderen eröffnet er vertiefende Blicke auf die Beiträge der vorliegenden Publikation. Zudem arbeitet Horne anhand mehrerer Argumente heraus, weshalb gerade Zentraleuropa eine eminent wichtige Rolle für die Erforschung der Kriegserinnerungen an 1914/18 einnimmt oder, wie er festhält, »a key place in that history« darstellt. Er verweist nachdrücklich auf die maßgeblichen Unterschiede der Erinnerungskulturen in den Sieger- und Verliererstaaten und spart auch sich im Erinnerungsprozess vergegenwärtigende Ambivalenzen nicht aus.

Während wir an der Finalisierung dieses Bandes gearbeitet haben, ist mit dem russischen Angriff auf die Ukraine der Krieg erneut nach Europa beziehungsweise in eine Region zurückgekehrt, die maßgeblich von den Folgen des Ersten Weltkriegs geprägt wurde. Sein Ende ist nicht absehbar, der Ausgang ungewiss; tagtäglich berichten die Medien von Kriegstoten, Bombardierungen und Zerstörungen der zivilen Infrastruktur, Kriegsverbrechen gegen Soldaten oder die ukrainische Bevölkerung etc. Es handelt sich damit um einen Krieg, der frappierende Ähnlichkeiten mit dem Ersten Weltkrieg aufweist, sowohl hinsichtlich der militärischen Normübertretungen und Gewalteskalationen als auch in Hinblick auf die propagandistische Kriegsführung, die für die spätere Herausbildung der Kriegserinnerungskulturen und nationaler Kriegsgedächtnisse bekanntermaßen von hoher Relevanz ist. Trotz aller Analysen über die Formveränderung des Kriegs (Stichwort: ›neue‹ Kriege, hybride Kriege) seit der Jahrtausendwende ist mit dem Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine ab dem 24. Februar 2022 ein mehr oder weniger konventioneller Krieg vom Zaun gebrochen worden – ein Krieg, der auch vor Augen führt, dass sich die Dynamiken der Kriegsführung und die Methodiken propagandistischer Deutungsmuster ungeachtet des Einsatzes von privat rekrutierten Söldnern in ihrer Substanz nicht entscheidend verändert haben. Der russisch-ukrainische Krieg erinnert letztlich jedenfalls viel mehr an den ›alten‹ Ersten Weltkrieg als an die ›neuen‹ Kriege des 21. Jahrhunderts, wie unlängst auch der Militärhistoriker Sönke Neitzel es prägnant formuliert hat: »In Wahrheit führt die russische Armee einen Kampf wie im Ersten Weltkrieg.«22

Noch ist völlig offen, wie und was von all dem schließlich auch in die künftige Kriegserinnerung einfließen wird. Sicher scheint nur, dass dieser Krieg wohl auf Jahrzehnte hinaus tiefe Gräben ziehen wird, auch in der Art und Weise, wie man sich – in Russland, in der Ukraine und in der gesamten Welt – daran erinnern wird. Kriege enden eben nicht mit der Einstellung der militärischen Auseinandersetzungen; sie verletzten und entzweien weiter und entfalten unter den Überlebenden vielfach destabilisierende und destruktive Wirkmacht. Nicht zuletzt davon handelt dieser Band.23

Oberst Alexander Brosch von Aarenau und das Gefecht bei Hujcze 1914. Ein Kampf um Deutungshoheit

Richard Lein

Der Tod des Kommandanten des 2. Regiments der Tiroler Kaiserjäger (KJR 2), Oberst Alexander Brosch von Aarenau, im Gefecht bei Hujcze nordöstlich von Rawa Ruska in der Nacht auf den 7. September 1914 hatte beachtenswerte, über die eigentliche Bedeutung des Ereignisses weit hinausreichende Folgen. Zu nennen sind hier vor allem das große Medieninteresse an dem Fall24 sowie die zweimalige, wenngleich erfolglose Eingabe von Brosch für die Verleihung des Militär-Maria-Theresienordens durch seinen ehemaligen Vorgesetzten beziehungsweise durch den Alt-Kaiserjägerklub.25 Auch das Gefecht selbst wurde, trotz seines überaus unglücklichen Ausgangs, Teil der Erinnerungskultur der Kaiserjäger. Dies fand seinen Ausdruck namentlich durch die Errichtung einer repräsentativen Grabanlage für die gefallenen Regimentsangehörigen nahe des Gefechtsschauplatzes26 sowie die Präsentation mehrerer Memorabilien im Kaiserjägermuseum in Innsbruck zur Erinnerung an den gefallenen Kommandanten des KJR 2.27 Gerade aus heutiger Sicht stellt sich die Frage, warum dem Schicksal von Oberst Brosch und seinem Regiment sowohl während des Kriegs als auch darüber hinaus ein so großer Stellenwert eingeräumt wurde, waren doch, gerade im zeitgenössischen Vergleich, weder die militärische Aktion noch die Todesumstände des Obersten als außergewöhnlich zu bezeichnen. Tatsächlich fielen zwischen August und Dezember 1914 insgesamt 26 Offiziere der k. u. k. Armee als Regimentskommandanten an der Spitze ihrer Truppen,28 ohne dass ihnen eine ähnliche, posthume Ehrung zuteil geworden wäre. Darüber hinaus ist das Gefecht bei Hujcze bei genauerem Studium des Archivmaterials nicht als »heldenhaft«, sondern eher als höchst unglücklich zu bezeichnen, insbesondere da die beteiligten k. u. k. Truppen erst durch Kommunikationsprobleme sowie die Vernachlässigung militärischer Grundregeln seitens ihrer Offiziere in die letztlich ausweglose Lage gebracht worden waren.

Ziel dieses Beitrags ist es jedoch nicht, über die Handlungsweise der beteiligten Personen in einer überaus schwierigen militärischen Lage zu urteilen. Vielmehr soll dargelegt werden, warum dem Gefecht und dem Tod des Kommandanten des KJR 2 sowohl vor als auch nach Kriegsende eine überaus große Bedeutung beigemessen wurde und wie es letztlich gelang, trotz aller gegenläufiger Fakten erfolgreich eine Heldenerzählung rund um das Ereignis zu konstruieren.29 Der Fall Brosch ist in diesem Zusammenhang vor allem auch als anschauliches Beispiel für die Neu- und Umdeutung der Ereignisse des Ersten Weltkriegs in der Nachkriegshistoriografie sowie in der Erinnerungskultur in der Ersten Republik zu betrachten. Anstatt die Schrecken des Kriegs zu thematisieren und historisch-kritisch die Entscheidungen der politischen wie militärischen Führung zu hinterfragen, war die Zielsetzung der hier am Werk befindlichen Akteure ganz klar darauf ausgerichtet, die Ereignisse des zurückliegenden Konflikts in ein möglichst positives Licht zu rücken. In einer solchen Art der Darstellung hatten militärische Niederlagen, wie sie das KJR 2 bei Hujcze erlebt hatte, keinen Platz. Stattdessen gab es in solchen Erzählungen zumeist nur den Sieg oder den tragischen, wenngleich in der Regel einem höheren Zweck dienenden Heldentod. Der Ausschmückung des letzteren kam dabei, auch als Ansporn für künftige Generationen, oft eine besondere Bedeutung bei. Auch im Fall Brosch ist eine solche Entwicklung, die letztlich auf eine völlige Umdeutung der Ereignisse hinauslief, klar zu erkennen. Vor diesem Hintergrund wird in dem vorliegenden Beitrag zunächst das Gefecht bei Hujcze in all seinen Details rekapituliert und anschließend anhand dieser Darstellung aufgezeigt, in welch großem Maß von Seiten offizieller wie privater Exponenten sowohl vor als auch nach Kriegsende versucht wurde, durch eine mehrfache Uminterpretation des Geschehenen ein Narrativ zu etablieren, das bis heute die Historiografie zu der Thematik dominiert.30

1.Alexander Brosch von Aarenau – ein Karriereoffizier

Einer der wesentlichsten Gründe für das breite Medienecho, das der Fall auslöste, war der Umstand, dass es sich bei Oberst Brosch nicht nur um einen fähigen Karriereoffizier, sondern auch um eine weit über militärische Kreise hinaus bekannte Persönlichkeit handelte. Brosch war 1890 in die k. u. k. Armee eingetreten und hatte zunächst bei den Pionieren gedient, ehe er im Jahr 1899, zu diesem Zeitpunkt Hauptmann erster Klasse, ins k. u. k. Kriegsministerium versetzt worden war.31 Im Rahmen einer Truppendienstleistung beim KJR 1, die Brosch im Sommer 1905 absolvierte, fiel der als überaus fähig und einsatzfreudig beschriebene Offizier Thronfolger Franz Ferdinand auf, der ihn schließlich als Flügeladjutanten in seinen persönlichen Stab holte.32 In dieser Funktion baute Brosch, dem großes politisches wie diplomatisches Geschick beschieden wurde, den im Jahr 1908 in »Militärkanzlei Seiner k. u. k. Hoheit des Generals der Kavallerie Erzherzog Franz Ferdinand«33 umbenannten Stab zu einer politischen Schaltzentrale des Thronfolgers aus. Diese beschäftigte sich neben militärischen Fragen vor allem mit der unter der Herrschaft Franz Ferdinands durchzuführenden Umgestaltung des Habsburgerreiches. Als Leiter der Militärkanzlei, die mitunter als »Gegenregierung« zum kaiserlichen Hof bezeichnet wurde, verstand es Brosch, gezielt Personen an den Thronfolger heranzuführen, die als Ideengeber für die geplanten politischen und verwaltungstechnischen Reformen Österreich-Ungarns dienen konnten.34 Neben seiner eigentlichen, eher politischen Tätigkeit vernachlässigte Brosch jedoch auch seine militärische Karriere nicht. So nahm er in den folgenden Jahren mehrfach an Manövern teil, kommandierte dabei jedoch nie selbst Truppen im Feld, sondern diente in den Stäben der Übungsparteien beziehungsweise als Schiedsrichter.35

Abb. 1:Oberst Alexander Brosch von Aarenau, posthumes Portrait von 1934

Quelle: Sammlung HGM Wien

Die Rückkehr Broschs, zu diesem Zeitpunkt Oberstleutnant, in eine militärische Verwendung als Truppenoffizier im Jahr 1911 – konkret die Versetzung zum KJR 2 bei gleichzeitiger Ernennung zu dessen Kommandanten36 – kam für viele Beobachter überraschend. Über die Gründe seiner Versetzung wird bis heute spekuliert, wobei für die diversen Theorien jedoch konkrete Beweise fehlen. Folglich kann weder die Behauptung, Franz Joseph hätte durch die Beförderung von Brosch dem Thronfolger seinen besten Mitarbeiter entziehen wollen,37 noch die Annahme, Brosch selbst habe ein prestigeträchtiges Truppenkommando angestrebt, um Franz Ferdinand nach dessen Thronbesteigung für ein hohes Regierungsamt zur Verfügung stehen zu können,38 verifiziert werden. Mit ins Kalkül zu ziehen ist in diesem Zusammenhang jedoch auch der mitunter schwierige Charakter des Erzherzogs, der viel Geschick und Augenmaß gerade seitens seiner engsten Mitarbeiter voraussetzte.39 Vor diesem Hintergrund erscheint es nicht unwahrscheinlich, dass Brosch die sich bietende Gelegenheit, eine »Auszeit« von seiner politischen Tätigkeit in der Militärkanzlei zu nehmen, dankbar annahm, verbunden mit der Option, zu einem späteren Zeitpunkt wieder in die Dienste des Thronfolgers zurückzukehren.

Aus militärischer Sicht war der Aufstieg von Brosch, der im Jänner 1913 zum Oberst befördert wurde, jedenfalls ungewöhnlich. So hatte er zuletzt im Jahr 1905 Truppendienst geleistet, wodurch ihm bei seinem Dienstantritt als Kommandant des KJR 2 praktische Erfahrung bei der Führung von Soldaten fehlte. Dies fiel jedoch in Friedenszeiten wenig bis gar nicht ins Gewicht, da Brosch in seiner neuen Funktion offenbar sehr gut entsprach,40 rasch das Vertrauen seiner Untergebenen erwarb und für die Leistungen seines Regiments bei regelmäßig abgehaltenen Manövern stets belobigt wurde. Ein für Brosch einschneidendes Ereignis bildete jedoch die Ermordung Franz Ferdinands in Sarajewo am 28. Juni 1914, die den Oberst schwer traf. Neben der persönlichen Betroffenheit lag der Grund dafür vor allem in der Gewissheit, dass die von ihm mitentwickelten Pläne für eine Umgestaltung des Habsburgerreiches, von denen er sich eine Rettung des in einer politischen Krise steckenden Staatswesens erhofft hatte, nicht umgesetzt werden würden. Auch die schwierige militärische Lage eines Zweifrontenkriegs gegen Serbien und Russland, der sich Brosch als ehemaliger Vorstand der Militärkanzlei des Thronfolgers wohl wesentlich stärker bewusst war als die übrigen Offiziere seines Regiments, dürfte mit zu seiner pessimistischen Grundstimmung beigetragen haben. Der Oberst verschwieg seine Zweifel und Sorgen jedoch gegenüber seinen Untergebenen und brachte sie nur in privater Korrespondenz zum Ausdruck.41

2.Das Gefecht bei Hujcze (6. bis 7. September 1914)

Das KJR 2 ging Anfang August 1914 als Teil der zum XIV. Korps gehörenden 3. Infanterie-Truppendivision (ITD) plangemäß an die russische Front ab, wo es als Teil der 4. Armee zwischen 26. August und 3. September 1914 an der Schlacht von Komarow teilnahm. Dabei zeichneten sich Brosch und sein Regiment dem übereinstimmenden Urteil zeitgenössischer Beobachter zufolge durch große Tapferkeit aus,42 der Truppenkörper erlitt jedoch schwere personelle Verluste. Berichten zufolge stand Brosch in den Gefechten stets an der Spitze seiner Truppen,43 was zwar riskant war, jedoch den damaligen, auch archaischen Vorstellungen über das ehrenvolle Verhalten des Offizierskorps im Gefecht entsprach44 und nicht als Indiz für einen Versuch des Obersts zu werten ist, einen hohen Orden zu erlangen oder gar den »Heldentod« vor dem Feind zu finden. Der teuer erkaufte Sieg in der Schlacht von Komarow konnte jedoch letztlich von der k. u. k. Armee nicht genutzt werden, da zwischenzeitlich starke russische Kräfte die weiter südlich stehende 3. Armee geschlagen und zum Rückzug hinter Lemberg gezwungen hatten. Die 4. Armee erhielt daraufhin den Befehl, sich vom Feind zu lösen und in den Raum bei Rawa-Ruska zu verlegen, um dort gemeinsam mit den zurückgehenden Teilen der 3. Armee eine neue Abwehrfront aufzubauen.45 Nach schweren Rückzugsgefechten stand die 3. ITD schließlich am 6. September 1914 im Raum östlich von Uhnów, ca. 25 Kilometer nordöstlich von Rawa Ruska. Hier traf der Kommandant der Division, Feldmarschallleutnant (Fmlt) Josef von Roth, die Entscheidung, nur die Artillerie und den Train auf der über Michalowka und Rzycki führenden Straße in Richtung Rawa Ruska marschieren zu lassen. Die Fußtruppen des Verbandes sollten hingegen querfeldein in südlicher Richtung über Karow und ein anschließendes Wald- und Sumpfgebiet vorgehen, im Raum der Ortschaft Hujcze nächtigen und sich am nächsten Tag mit den weiter westlich stehenden Truppen des XVII. Korps vereinigen.46 Infolge des allgemeinen Rückzugs der k. u. k. Truppen sowie der sich ständig verändernden militärischen Lage hatte Fmlt Roth zu diesem Zeitpunkt keinen genauen Überblick darüber, wie weit die gegnerischen Verbände bereits vorgedrungen waren, nahm jedoch an, dass das Waldgebiet noch weitgehend feindfrei sein müsste. Tatsächlich hatten dort aber bereits am Vortag starke russische Truppen Stellung bezogen, sodass die 3. ITD, ohne es zu bemerken, mitten in den Bereitstellungsraum von drei gegnerischen Divisionen hineinmarschierte.

Abb. 2:Der Einsatz des KJR 2 von Kriegsbeginn bis 6. September 1914

Quelle: Grafik des Autors

Der Marsch der 3. ITD durch die Waldzone vollzog sich zunächst problemlos, wobei jedoch das schwierige, sumpfige Gelände die Truppen dazu zwang, hintereinander vorzurücken; dadurch wurde die Kolonne erheblich auseinandergezogen.47 Kurz vor dem Erreichen des südlichen Waldrandes entdeckten Spähtrupps des an der Spitze marschierenden KJR 2 in der Nähe eines Jägerhauses ein größeres russisches Lager, das auf Befehl von Oberst Brosch hin umgehend angegriffen wurde. Der Erfolg der Aktion war durchschlagend, neben der Erbeutung größerer Mengen an Kriegsmaterial sowie der Zerstörung mehrerer feindlicher Geschütze gelang es den Kaiserjägern, etwa 100 russische Offiziere und Soldaten, darunter zwei Generäle, gefangen zu nehmen.48 Trotz des Erfolgs zeigten sich die k. u. k. Offiziere jedoch alarmiert. So hatte man in dem Gebiet nicht mit Feindberührung gerechnet und musste nunmehr davon ausgehen, dass sich in der näheren Umgebung weitere gegnerische Truppen aufhielten. Vor diesem Hintergrund wäre es ratsam gewesen, die 3. ITD bis zum Morgen im Schutz der Waldzone verbleiben und erst dann die Vorrückung in Richtung Hujcze fortsetzen zu lassen.49

In dieser Situation unterlief Brosch eine letztlich fatale Fehleinschätzung. Trotz der ungeklärten Lage stieß er mit Teilen seines Regiments unmittelbar in Richtung Hujcze weiter vor, ohne auf das Nachrücken der noch im Wald verstreuten, restlichen Teile des KJR 2 oder die anderen Truppenkörper der 3. ITD zu warten. Brosch stützte sich bei seiner Entscheidung auf eine Nachricht von Fmlt Roth, der die ihm überbrachte Meldung über die Erstürmung des russischen Lagers mit einem Dank beantwortet, jedoch keine neuen Befehle ausgegeben hatte. Damit blieb formal der alte Befehl des Divisionskommandanten aufrecht, der die Vorrückung in Richtung Hujcze angeordnet hatte.50 Fmlt Roth, der sich am Ende der Kolonne aufhielt, hatte jedoch keinerlei Überblick über die an der Spitze der Formation eingetretene Änderung der Lage, die einen Weitermarsch des Verbands nicht ratsam erscheinen ließ.51 In dieser Situation wäre es in der Kompetenz von Brosch gelegen, aufgrund der Änderung der Lage eigenständig eine Entscheidung über das weitere Vorgehen seines Regiments zu treffen. Gegen eine sofortige Fortsetzung des Vorstoßes sprachen dabei nicht zuletzt die Aussagen der gegnerischen russischen Offiziere, die vor der Anwesenheit starker russischer Truppenverbände im Süden und Südwesten warnten. Auch wenn Brosch den Aussagen von Gefangenen nur bedingt Glauben schenken konnte,52 hätte ihn doch die große Zahl der in dem Lager anwesenden, hohen russischen Offiziere stutzig machen müssen, da diese eindeutig als Indiz für die Anwesenheit eines größeren gegnerischen Truppenverbandes zu werten war. Darüber hinaus musste sich der Oberst der Tatsache bewusst sein, dass er, wenn er mit seinen Truppen die schützende Waldzone verließ und in Richtung Hujcze weitermarschierte, Gefahr lief, bei Morgengrauen in deckungslosem Gelände von einem in der Nähe stehenden Gegner angegriffen zu werden. Ebenso problematisch konnte sich die Entscheidung auswirken, nicht auf die restlichen Truppen der Division zu warten, sondern alleine weiter vorzustoßen, da in diesem Fall der Gegner dem alleine marschierenden Regiment leicht den Rückzug abschneiden oder es im Rücken angreifen konnte. Diese Problematik musste auch Brosch erfasst haben, der sich jedoch letztlich dafür entschied, weiter in Richtung Hujcze vorzurücken.

Abb. 3:Der Marschweg des KJR 2 in der Nacht auf den 7. September 1914

Quelle: Grafik des Autors

Der Marsch der Kaiserjäger, bestehend aus insgesamt knapp fünf Kompanien, in Richtung Hujcze vollzog sich zunächst weitgehend problemlos. Dem Vormarsch schloss sich wenig später auch der Kommandant der 5. Infanteriebrigade (IBrig), Generalmajor (GM) Josef Schneider von Manns-Au an,53 der Brosch bei seinem Eintreffen angeblich mit den Worten begrüßte: »Nun lieber Brosch, der Theresienorden ist dir sicher.«54 Weniger reibungslos gestaltete sich dagegen der Aufmarsch der übrigen Truppen der 3. ITD in der Waldzone, da diese bald nach dem Abmarsch der Kaiserjäger von zwei Richtungen her von starken russischen Kräften angegriffen wurden.55 Zwar gelang es, die gegnerischen Vorstöße zurückzuschlagen, spätestens jetzt war jedoch klar, dass die 3. ITD einen größeren gegnerischen Truppenverband aufgeschreckt hatte und Gefahr lief, in der Waldzone umzingelt zu werden. Zum gleichen Schluss kam auch Fmlt Roth, der den weiteren Vormarsch seiner Division stoppte und Patrouillen mit dem Auftrag lossendete, die Kaiserjäger zurückzurufen. Zu diesem Zeitpunkt hatte sich jedoch bereits ein russischer Verband aus dem Gebiet westlich des russischen Lagers in das Gelände zwischen dem Jägerhaus und Hujcze geschoben, sodass die ausgesendeten Patrouillen nicht mehr durchkamen.56 Da die Lage in der Waldzone zunehmend unhaltbar wurde und es trotz mehrerer Versuche nicht gelang, mit dem KJR 2 Kontakt aufzunehmen, befahl Fmlt Roth schließlich bei Tagesanbruch den Rückzug der 3. ITD in Richtung Uhnow,57 womit die Kaiserjäger auf sich alleine gestellt waren. Die mit Brosch vorgestoßenen Teile des KJR 2 fanden letztlich Hujcze vom Feind besetzt vor und deuteten den Gefechtslärm aus der Waldzone hinter ihnen dahingehend, dass ihnen der Rückzugsweg versperrt worden war. Die Gruppe wandte sich folglich in Richtung Westen, wo man hoffte, im Raum von Rzyczki die eigenen Linien zu erreichen. Der Vormarsch der Gruppe endete jedoch in den Morgenstunden südlich der Ortschaft Zaborze, wo die Kaiserjäger in deckungslosem Gelände aus allen Richtungen unter heftiges Feuer genommen wurden. Nur wenigen Offizieren und Soldaten, darunter GM Schneider, gelang die Flucht aus der ausweglosen Situation, der Rest wurde entweder getötet oder geriet in Gefangenschaft.58 Die Verluste des KJR 2 bei Hujcze werden in der Literatur mit 171 Toten und 160 Gefangenen angegeben, unter ersteren befand sich auch Oberst Brosch.59

3.Das »verschwundene« Regiment

Über den Tod von Oberst Brosch sowie das Schicksal seiner Truppen war den k. u. k. Behörden lange Zeit nichts bekannt. Zwar hoffte man seitens der 3. ITD darauf, dass es dem KJR 2 gelingen würde, sich nach Rawa Ruska durchzuschlagen, diese Hoffnungen erfüllten sich jedoch nicht. Folglich wurden der Oberst und seine Soldaten zunächst als vermisst geführt, ohne dass jedoch eine offizielle Mitteilung erfolgte. Erst am 29. September 1914 erschien in der Tageszeitung »Reichspost« eine kurze Mitteilung über den nächtlichen Überfall auf das russische Lager sowie die anschließende Umzingelung der Gruppe Brosch, der bei dieser Aktion, so die Zeitung unter Bezugnahme auf eine ungenannte Quelle, den Tod gefunden habe.60 Nur einen Tag später dementierte die gleiche Zeitung jedoch die Meldung und behauptete, Brosch habe sich nach zwölftägiger Abwesenheit mit tausend seiner Soldaten zu den eigenen Linien durchschlagen können.61 Diese Fehlmeldung, die von zahlreichen anderen Zeitungen übernommen wurde, hatte insbesondere für die Witwe des Obersten, Natalie Brosch, schmerzliche Folgen. So erhielt sie unter anderem ein Glückwunschschreiben des Bürgermeisters der Stadt Bozen, der seine Hoffnung ausdrückte, Brosch und seine Soldaten bald wieder in der Stadt begrüßen zu dürfen.62 Erst am 14. Oktober 1914 erhielt Natalie Brosch eine offizielle Mitteilung seitens der Kriegsliquidatur, dass ihr Mann als vermisst geführt wurde.63 Am 16. Oktober dementierte schließlich auch die »Reichspost« den fälschlichen Bericht über die Rettung des Obersten, wobei als Grund für die Falschmeldung eine Personenverwechslung angegeben wurde.64 Zwischenzeitlich hatte die Geschichte seines angeblichen Überlebens jedoch die Aufmerksamkeit des Kriegshilfsbüros des k. k. Ministeriums des Innern erregt, welches die Szene der Errettung von Brosch und seinen Soldaten künstlerisch darstellen ließ und das Bild in Folge als Kriegsbildkarte Nr. 18 in den Verkauf brachte.65

Abb. 4:Kriegsbildkarte Nr. 18, darstellend die angebliche Rettung von Oberst Brosch und seinen Kaiserjägern

Quelle: Bildersammlung Österreichische Nationalbibliothek

Gesichertere Informationen boten dagegen die Ende 1914 eintreffenden Nachrichten von in Gefangenschaft geratenen Regimentsangehörigen, darunter auch des Kommandanten des III. Bataillons des Regiments, Major Ernst Devarda, der Anfang Dezember 1914 in einem Schreiben mitteilte, sich mit dem Großteil seiner Soldaten in russischer Kriegsgefangenschaft zu befinden.66 Über das Schicksal von Oberst Brosch, über dessen Verschwinden Anfang Februar 1915 in der »Neuen Freien Presse« ein längerer Beitrag erschienen war,67 herrschte jedoch weiter Unklarheit. Erst in einem Feldpostbrief, der von der Zeitung »Der Tiroler« am 21. Februar 1915 abgedruckt wurde, fand sich ein Hinweis darauf, dass Brosch offenbar im Gefecht bei Hujcze gefallen war.68 Da der Autor des Feldpostbriefs jedoch behauptete, eine entsprechende Zuschrift von Major Devarda aus der russischen Kriegsgefangenschaft erhalten zu haben, beruhte die Meldung nur auf Hörensagen und reichte damit für eine Todeserklärung des Obersten nicht aus.69 Die Gewissheit darüber, dass das Regiment offenbar in einer ausweglosen Situation vom Gegner aufgerieben worden war, bildete freilich den Ausgangspunkt der späteren Heldenerzählung rund um das Ereignis. So entstand im Frühjahr 1915 auch das vom Schriftsteller Anton Müller, besser bekannt als Bruder Willram, verfasste Gedicht »Die vom 2. Regiment«, das die Gefechte bei Hujcze thematisierte.70

3.1Die Suche nach den toten »Helden«

Die Suche nach den Gefallenen des KJR 2 erwies sich in der Folge als schwierig, da den k. u. k. Behörden keine Informationen darüber vorlagen, wo genau das Gefecht eigentlich stattgefunden hatte. Zwar befand sich die Gegend um Rawa Ruska nach dem Sieg der Mittelmächte in der Schlacht von Tarnow-Gorlice im Mai 1915 wieder in eigenem Besitz,71 das Terrain war jedoch zu groß, um ohne konkreten Anhaltspunkt eine Suchaktion durchzuführen. Die Initiative zur Suche nach den Gefallenen des Regiments ging zunächst primär von den Angehörigen des Obersten aus, namentlich seiner Frau und seinem Bruder, Oberst Theodor Brosch von Aarenau. Im Nachlass von Natalie Brosch sind zahlreiche Schriftstücke erhalten, die einen regen Briefwechsel derselben mit verschiedenen Personen und amtlichen Stellen dokumentieren. Keiner der Adressaten war jedoch in der Lage, der Witwe Auskunft über das Schicksal ihres Gatten zu geben.72 Unter den besagten Schriftstücken befindet sich allerdings auch ein auf den 4. Dezember 1914 datierter Brief des Einjährig-Freiwilligen Kadetten Rudolf Suchy, der Natalie Brosch sein ausdrückliches Beileid über den Tod ihre Mannes aussprach, der ihm angeblich vom ebenfalls kriegsgefangenen Regimentsarzt des KJR 2 bestätigt worden war.73 Wenig Erfolg hatte auch eine Initiative von Theodor Brosch, der im Oktober 1915 das k. u. k. Kriegsministerium ersuchte, in den Kriegsgefangenenlagern gezielt russische Offiziere und Soldaten ausfindig zu machen, die an dem Gefecht bei Hujcze teilgenommen hatten und Auskunft über das Schicksal des KJR 2 geben könnten.74 Das Kriegsministerium kam der Bitte nach. Die entsprechenden Befragungen in insgesamt 60 Gefangenenlagern brachten jedoch keine neuen Erkenntnisse.75 Die militärische Führung ging folglich davon aus, dass Brosch doch noch am Leben sein könnte, weshalb er im November 1916 formell zum Generalmajor befördert wurde.76

Parallel dazu bemühte sich auch das Kommando des KJR 2, das Schicksal von Brosch und seinen Soldaten aufzuklären. So sandte das Ersatzbataillon des Regiments im August 1915 einen Offizier und mehrere Soldaten in das Gebiet, in dem Anfang September 1914 das Gefecht stattgefunden hatte, um dort nach den Vermissten zu suchen.77 Die Erkundung brachte kaum greifbare Resultate, da sich der Raum als zu groß erwies und sich die aufgefundenen Leichen noch im Zustand der Verwesung befanden, was systematische Grabungen unmöglich machte.78 Die sich daraus ergebende Zwangspause nützte das Kommando des KJR 2 zur systematischen Befragung von Regimentsangehörigen, die das Gefecht mitgemacht hatten und entweder seinerzeit der Gefangennahme entgangen oder inzwischen aus russischer Kriegsgefangenschaft heimgekehrt waren.79 Auf Basis dieser Zeugenaussagen gelang es nicht nur, das Gebiet, in dem die Gräber zu suchen waren, deutlich einzugrenzen, sondern auch Informationen zu gewinnen, die für die Rekonstruktion des letzten Gefechts des KJR 2 wichtig waren. Die Grabungen bei Hujcze wurden im Winter 1916 wiederaufgenommen, wobei die Führung dieses Unterfangens Leutnant Istvan Iranyi übertragen wurde, der das Gefecht mitgemacht hatte. Unter seiner Anleitung gelang schließlich die Auffindung der Gräber der Angehörigen des KJR 2 südöstlich von Zaborze, darunter auch jenes von Alexander Brosch.80 An der Exhumierung nahm auch Theodor Brosch teil, der seinen Bruder anhand von Uniformresten sowie der Legitimationskapsel identifizierte.81 Damit war der Tod des Obersten nunmehr auch offiziell bestätigt. Natalie Brosch, die bis dahin nur provisorische Versorgungsgebühren erhalten hatte, wurde infolgedessen die volle Witwenpension für ihren verstorbenen Gatten zuerkannt.82

3.2Ein Heldendenkmal für die Kaiserjäger

Die Exhumierungen in Hujcze wurden noch das ganze Jahr 1917 über fortgesetzt, wobei die Toten auf einen Sammelfriedhof überführt wurden, der beim Jägerhaus nördlich von Hujcze errichtet wurde, wo das KJR 2 drei Jahre zuvor das russische Lager überfallen hatte. Dort wurden jedoch nicht nur die bei Zaborze aufgefundenen Toten, sondern auch die in der weiteren Umgebung bestattet gewesenen Soldaten beerdigt, sodass auf dem Friedhof heute sämtliche aufgefundenen Personen ruhen, die in den Gefechten in der Nacht auf den 7. September 1914 ums Leben gekommen waren. Die Anlage selbst wurde im Frühjahr 1917 in einfacher Holzbauweise angelegt, wenig später jedoch nach Plänen des Architekten Karl Ernstberger83 in großem Stil erweitert. Dabei wurde auf dem Friedhof ein monumentales Denkmal mit der Inschrift »Hier ruhen Helden« errichtet, unter dem man Oberst Brosch in einer Gruft beisetzte. Die übrigen Offiziere des KJR 2 wurden beiderseits des Denkmals begraben und ihre Namen auf in die Friedhofsmauern eingelassenen Steinplatten verewigt. Die übrigen Offiziere des KJR 2 wurden beiderseits des Monuments begraben und ihre Namen auf in die Friedhofsmauer eingelassenen Steintafeln verewigt. Außerdem wies man auf einer in das Denkmal integrierten Platte die Namen von 91 auf dem Friedhof beigesetzten, identifizierten Unteroffizieren und Soldaten des KJR 2 aus. Den Sockel des Ehrenmals zierte zudem eine Strophe aus dem vorne erwähnten Gedicht »Die vom 2. Regiment«.84 In dieser Form wurde die Anlage im Juni 1918 fertiggestellt. Die Zahl der zu dem Zeitpunkt auf dem Friedhof bestatteten Offiziere und Soldaten wird in der Literatur mit insgesamt 315 Personen angegeben.85

4.Oberst Brosch – ein »Held«?

Der hohe Bekanntheitsgrad von Oberst Brosch sowie die lange Ungewissheit über das Schicksal des KJR 2 und seines Kommandanten beflügelten bereits vor Kriegsende die Entstehung von Mythen rund um das Gefecht. Freilich entsteht dabei der Eindruck, als wäre die Heldenerzählung rund um Brosch gerade von Seiten des Militärs bewusst propagiert worden, einerseits um dem Oberst eine posthume Anerkennung für seine Leistungen zu verschaffen, andererseits jedoch auch, um unliebsame, mit dem Gefecht in Zusammenhang stehende Nachrichten klein zu halten. Letztere betrafen vor allem den bei Zaborze in russische Kriegsgefangenschaft geratenen Major Ernst Devarda, ehemals Kommandant des III. Bataillons des KJR 2. Dieser hatte sich nach dem Kriegseintritt Italiens im Mai 1915 gemeinsam mit 200 österreichisch-ungarischen Soldaten italienischer Nationalität freiwillig zum Eintritt in die italienische Armee gemeldet und war zusammen mit diesen von den russischen Behörden nach Italien überstellt worden.86 Den k. u. k. Behörden war die propagandistische Brisanz des Falls, von dem sie erstmals Ende 1915 im Kontext von Heimkehreraussagen erfahren hatten,87 durchaus bewusst. Spätestens mit der Einleitung eines Ermittlungsverfahrens gegen Devarda im Juni 1916 wegen Hochverrats88 war klar, dass es auf Dauer nicht gelingen würde, die Angelegenheit unter den Teppich zu kehren. Tatsächlich berichteten mehrere Zeitungen ab Dezember 1916 über die Einleitung eines Verfahrens auf Vermögensbeschlagnahme gegen Devarda sowie über seinen Eintritt in das italienische Heer.89 Im März 1918 erschien darüber hinaus ein Bericht des Reichsratsabgeordneten Vinzenz Malik,90