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"Michael Robothams Thrillerreihe um den an Parkinson erkrankten Psychotherapeuten Joe O'Loughlin ist ultraspannend." Sebastian Fitzek
Ich habe mich verliebt, und ich bin ihr gefolgt. Sie sah mich nicht. Sie wusste nicht einmal von meiner Existenz. Jetzt bin ich die wichtigste Figur in Marnies Leben, doch sie weiß es noch nicht. Ich bin der, der aufpasst. Seit ihr Mann Daniel vor einem Jahr spurlos verschwand, liegt ein schwarzer Schatten über dem Leben von Marnie Logan. Aber sie leidet nicht nur unter der quälenden Ungewissheit über sein Schicksal - immer wieder übermannen sie plötzlich Ängste, immer wieder beschleicht sie das Gefühl, beobachtet zu werden. Deshalb sucht sie auch Hilfe bei dem Psychologen Joe O’Loughlin, der aber schnell den Verdacht hat, dass Marnie ihm etwas verschweigt. Als eines Tages überraschend ein Album mit Fotos alter Freunde und Bekannter entdeckt wird, das Daniel seiner Frau zum Geburtstag schenken wollte, ist Marnie zunächst gerührt. Doch dann kommt die grausame Geschichte dahinter ans Tageslicht, die auch Joe zutiefst erschüttert.
Der neunte Band der Erfolgsserie um den Psychologen Joe O'Loughlin.
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Seitenzahl: 590
Buch
Seit ihr Mann Daniel, ein australischer Journalist in London, spurlos verschwunden ist und ihr einen Berg von Spielschulden hinterlassen hat, geht es mit Marnie Logans Existenz rapide bergab. Finanziell extrem klamm kann sie die Miete für die schäbige Wohnung, in der sie mit ihrer pubertierenden Tochter Zoe aus erster Ehe und dem kleinen gemeinsamen Sohn Elijah lebt, nicht mehr zahlen. Eine Hoffnung wäre die Lebensversicherung, die Daniel auf sie abgeschlossen hat, aber die Versicherung weigert sich zu zahlen, solange Daniel nicht offiziell für tot erklärt wurde. Weil sie deshalb unter existenziellen Angstzuständen leidet, geht sie seit Neuestem zweimal die Woche zu Joe O’Loughlin in die Therapie. Und um der Schulden Herr zu werden, hat sie angefangen, heimlich als Escort-Girl zu arbeiten. Doch schon bei einem ihrer ersten Aufträge geht etwas schief: Owen, der Mann, mit dem sie in einem Hotel verabredet ist, will nicht mit ihr schlafen, er will nur noch einmal mit jemandem reden, bevor er Selbstmord begeht. Marnie überredet ihn, von dem Vorhaben abzulassen, und gibt ihm das Geld zurück. Dafür wird sie, als sie das Hotel wieder verlässt, von Quinn brutal zusammengeschlagen, weil sie den Job vermasselt hat. Was Marnie nicht ahnt, ist, dass die Szene von einem Mann beobachtet wurde – von einem Mann, der ihr seit Jahren heimlich nachstellt und längst schon im Verborgenen die Regie über ihr Leben übernommen hat …
Weitere Informationen zu Michael Robotham sowie zu lieferbaren Titeln des Autors finden Sie am Ende des Buches.
Michael Robotham
Erlöse mich
Psychothriller
Ins Deutsche übertragen von Kristian Lutze
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Die Originalausgabe erschien 2013 unter dem Titel»Watching You« bei Sphere, einem Imprint der Little, Brown Book Group, London.
Copyright © Bookwrite Pty 2013Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2014by Wilhelm Goldmann Verlag, München,in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,Neumarkter Straße 28, 81673 München Covergestaltung: UNO Werbeagentur, MünchenCovermotiv: Getty Images/Mike Kemp; Getty Images/Renee Keith; FinePic®, MünchenSatz: Uhl + Massopust, AalenISBN 978-3-641-12023-8V007
www.goldmann-verlag.de
Für Charlotte
BUCH EINS
Yesterday, upon the stair,
I met a man who wasn’t there
He wasn’t there again today
I wish, I wish he’d go away.
When I came home last night at three
The man was waiting there for me
But when I looked around the hall
I couldn’t see him there at all!
Go away, go away, don’t you come back any more!
Go away, go away, and please don’t slam the door …
William Hughes Mearns (1875–1965)
Ich habe mich verliebt, und ich bin ihr gefolgt, mehr müsst ihr nicht wissen. Ihr Haar hatte die Farbe von Akazienhonig, und sie trug jeden Tag ein anderes Haarband zur Schule. Der Winter hatte ihr eine liebliche Blässe verliehen, doch ihre Wangen waren vor Kälte gerötet. Sie strich sich das Haar hinter die Ohren und nahm die Schultasche von der rechten auf die linke Schulter.
Sie sah mich nicht. Sie wusste nicht einmal von meiner Existenz. Ich duckte mich weder in Hauseingänge, noch drückte ich mich an die Mauer. Ich wurde nicht langsamer, wenn sie ihre Schritte verlangsamte, und nicht schneller, wenn sie um eine Ecke bog. Ich war wie ein Schatten, der in ihren Fußabdrücken lief und die Welt durch ihre Augen betrachtete. Sie trug einen blauen Blazer, einen karierten Rock, der um ihre Schenkel wogte, und weiße Söckchen, die aus ihren schwarzen Lackschuhen ragten.
Wir fuhren mit dem Zug von East Didsbury nach Burnage. Von dort nahmen wir den Bus über die Fog Lange bis zur Wilmslow Road. Im Butty Full Café in Claremont Grove kaufte sie sich Pommes und lutschte Essig und Salz von ihren Fingern, deren Nägel völlig abgekaut waren.
Es war Marnie Logan, die meine Fantasie beflügelte. Es war Marnie Logan, die meinem Leben einen Sinn gab, als meine Tage am dunkelsten waren und ich kein Licht mehr am Horizont sah.
Ich habe noch die Andenken – Strähnen ihres Haars, ein Haarband, benutztes Lipgloss, einen Ohrring und einen ledernen Armreif aus Marokko. Ich bewahre sie in einem polierten Holzkästchen auf. Auf einem Haufen wirken diese Dinge wie wahlloses Treibgut, zurückgelassen von einem Hausgast, oder Krimskrams, wie man ihn in einer Sofaritze findet. Doch ein jedes erzählt eine Geschichte und zeugt von bisweilen glimpflich ausgegangenen Abenteuern, von kleinen Triumphen, flüchtigen Augenblicken schieren Glücks. Ich kann die Gefühle, die ich beim Betrachten empfinde, nicht erklären: Stolz, Scham, Zärtlichkeit und Freude.
Ich bin die wichtigste Figur in Marnies Leben, doch sie weiß es noch nicht. Ich bin die Gestalt im Hintergrund, am Rande ihrer Fotos halb abgeschnitten, der Schatten in ihren Augenwinkeln, der verschwindet, wenn sie den Kopf wendet. Ich bin das Gespenst hinter ihren geschlossenen Lidern und die Dunkelheit, die blinzelt, wenn sie blinzelt. Ich bin ihr namenloser Streiter, ihr unbesungener Held und Dirigent ihrer Sinfonie. Ich bin der, der aufpasst.
1
Als Marnie Logan vierzehn war, träumte sie davon, Johnny Depp oder Jason Priestley zu heiraten und mit ihrem Märchenprinzen in einem Haus zu leben, das eine breite Vom-Winde-verweht-Treppe und einen Doppelkühlschrank voller Marsriegel hatte. Mit fünfundzwanzig wollte sie ein Haus mit kleiner Hypothek und großem Garten. Jetzt würde sie auch eine Erdgeschosswohnung mit passablen Rohrleitungen und ohne Mäuse nehmen.
Auf dem Treppenabsatz bleibt sie stehen, wechselt die zwei Tüten mit Lebensmitteln von der einen in die andere Hand und dehnt ihre Finger, bevor sie den Aufstieg fortsetzt. Elijah ist vor ihr und zählt die Stufen.
»Ich kann bis hundert zählen«, erklärt er ihr ernst.
»Und was ist mit hunderteins?«
»Nee.«
»Wieso nicht?«
»Das sind zu viele.«
Elijah weiß, wie viele Stufen es vom Hausflur bis zum obersten Stockwerk des Miethauses sind (neunundsiebzig) und wie lange es dauert, bis die zeitgesteuerte Beleuchtung mit einem lauten Klicken ausgeht und das Treppenhaus in Dunkelheit versinkt (vierundsechzig Sekunden; und wie man mit den beiden Schlüsseln die Wohnungstür aufschließt, der goldene für das obere und der große silberne für das untere Schloss.
Er stößt die Tür auf, rennt durch den Flur in die Küche und ruft Zoes Namen. Sie antwortet nicht, weil sie nicht zu Hause ist. Sie wird in der Bibliothek sein oder bei einer Freundin und hoffentlich Hausaufgaben machen, aber wahrscheinlich treibt sie sich herum.
Marnie bemerkt einen Umschlag auf der Fußmatte, keine Adresse, keine Briefmarke. Er ist von ihren Vermietern, Mr und Mrs Brummer, die unten im zweiten Stock wohnen und noch vier weitere Wohnungen in Maida Vale besitzen. Sprich, sie sind reich, doch Mrs Brummer sammelt noch immer Sparcoupons und hält die Schlange an der Supermarktkasse auf, weil sie die Kupfermünzen abzählt.
Marnie steckt den Brief in eine Schublade zu den anderen Mahnungen und Zahlungserinnerungen. Dann packt sie die Lebensmittel aus und füllt zuerst den Kühlschrank wieder auf. Elijah tippt mit einem Finger an ein Goldfischglas, in dem ein einsamer, aus seiner Trägheit gerüttelter Goldfisch sein Universum einmal umkreist und dann stehen bleibt. Elijah rennt ins Wohnzimmer.
»Wo ist der Fernseher, Mami?«
»Kaputt. Ich lasse ihn reparieren.«
»Dann verpasse ich ja Thomas.«
»Wir lesen stattdessen ein Buch.«
Marnie fragt sich, wann sie gelernt hat, so glatt zu lügen. In der Ecke, wo der Fernseher stand, klafft eine Lücke. Beim Pfandleiher hat sie neunzig Pfund dafür bekommen, die für die Lebensmittel und die Stromrechnung gereicht haben, für viel mehr aber auch nicht. Nachdem sie die Tüten ausgepackt hat, wischt sie über den Boden, weil das Tiefkühlfach geleckt hat. Ein Piepen erinnert sie daran, die Kühlschranktür zu schließen.
»Der Kühlschrank ist offen«, ruft Elijah, der in ihrem Kleiderschrank spielt.
»Alles klar«, ruft sie zurück.
Nachdem sie auch die grau gesprenkelten Regale abgewischt hat, setzt sie sich auf einen Stuhl, zieht die Sandalen aus und reibt sich die Füße. Was soll sie wegen der Miete machen? Sie kann sich die Wohnung nicht leisten, aber irgendwo anders kann sie sich auch nichts leisten. Sie ist zwei Monate im Rückstand. Seit Daniel verschwunden ist, hat sie von ihren begrenzten Ersparnissen gelebt und sich Geld von Freunden geliehen, nach dreizehn Monaten sind Geld und Gefälligkeiten jedoch aufgebraucht. Mr Brummer nennt sie nicht mehr zwinkernd »Schätzchen«. Stattdessen kommt er jeden Freitag vorbei, läuft durch die Wohnung und verlangt, dass sie ihre Schulden bezahlt oder die Wohnung räumt.
Marnie zählt die Scheine und Münzen in ihrem Portemonnaie: achtunddreißig Pfund plus Kleingeld – nicht genug, um die Gasrechnung zu bezahlen. Zoe braucht mehr Telefonguthaben und neue Schuhe für die Schule. Außerdem macht sie nächste Woche einen Ausflug zum British Museum.
Es gibt weitere Rechnungen – Marnie führt eine Liste –, aber nichts im Vergleich zu den dreißigtausend Pfund, die sie einem Mann namens Patrick Hennessy schuldet, in dessen Stimme trotz seines melodiösen Akzents nichts als Bösartigkeit liegt. Es waren Daniels Schulden. Das Geld, das er verloren hat, bevor er verschwunden ist. Das Geld, das er verspielt hat. Laut Hennessy sind Daniels Schulden nicht mit ihm verschwunden. Und kein Armutsgejammer und Gebettel, keine Drohungen, der Polizei alles zu erzählen, werden sie tilgen. Stattdessen werden sie weitergereicht wie das Erbgut in der DNA eines Menschen. Blaue Augen, Grübchen, fette Oberschenkel, dreißigtausend Pfund: vom Vater an den Sohn, vom Ehemann an seine Frau … in Marnies Albträumen ist der Nordire ein Licht, das in einem langen, schmalen Tunnel auf sie zurast, noch meilenweit entfernt, jedoch immer näher kommend. Sie kann das leichte Beben unter ihren Füßen und den veränderten Luftdruck spüren, ist jedoch wie erstarrt und kann sich nicht von der Stelle rühren.
Hennessy hat sie vor zwei Wochen besucht. Er verlangte, Daniel zu sprechen und beschuldigte sie, ihn zu verstecken. Er stellte seinen Fuß in Marnies Tür und erläuterte ihr die wirtschaftliche Logik seines Unternehmens, während er die Rundungen ihres Körpers studierte.
»Das Bedürfnis, in der Vergangenheit zu leben, ist ein grundlegender Wesenszug des Menschen«, erklärte er ihr, »ein paar harmlose Stunden lang so zu tun, als wäre alles, wie es einmal war, doch im wirklichen Leben gibt es keine Zahnfee und keinen Osterhasen, Marnella, und für große Mädchen wird es Zeit, erwachsen zu werden und Verantwortung zu übernehmen.«
Hennessy präsentierte einen von Daniel unterschriebenen Vertrag, in dem Marnie als Zweitschuldnerin genannt wurde. Sie tat so, als würde sie davon nichts wissen, versuchte, sich herauszureden, doch der Nordire konnte die Dinge nur schwarz-weiß sehen – wobei schwarz die Unterschrift auf dem Papier war und weiß das Laken, das über Marnies Leiche gebreitet werden würden, falls sie nicht zahlte.
»Von jetzt an arbeitest du für mich«, verkündete er und drückte ihren Hals mit gespreizten Fingern an die Wand. Sie konnte Essensreste zwischen seinen Zähnen sehen. »Ich habe eine Agentur in Bayswater. Über deren Bücher läufst du. Die Hälfte von deinem Verdienst gehört mir.«
»Was soll das heißen, eine Agentur?«, krächzte Marnie.
Hennessy schien belustigt von ihrer Naivität. »Das musst du unbedingt beibehalten. Das kommt bestimmt gut an bei den Freiern.«
Marnie kapierte. Sie schüttelte den Kopf. Hennessy presste mit dem Daumen der anderen Hand auf einen Punkt hinter dem Kiefer direkt unter ihrem Ohrläppchen, bis er einen Nerv gefunden hatte.
»Das ist der Nervus mandibularis«, erklärte er, während ein blendender Schmerz durch Marnies rechte Seite schoss, ihre Sicht verschwimmen und ihre Eingeweide erschlaffen ließ. »Ein Druckpunkt, der von einem Kampfsport-Meister entdeckt wurde. Die Polizei wendet den Griff an, um Leute unter Kontrolle zu halten. Hinterlässt nicht mal einen blauen Fleck.«
Marnie konnte sich nicht auf seine Worte konzentrieren, weil ihr der Schmerz alle anderen Sinne raubte. Schließlich ließ er sie los. »Ich schicke morgen jemanden vorbei, der dich abholt, um ein paar Fotos zu machen. Wie hört sich das an?« Er drückte ihren Kopf nach unten und wieder nach oben. »Und denk nicht mal dran, zur Polizei zu gehen. Ich weiß, in welchem Pflegeheim du deinen Vater untergebracht hast und wo deine Kinder zur Schule gehen.«
Marnie verdrängt die Erinnerung, füllt den Kessel mit Wasser und nimmt eine Tupperware-Dose mit glutenfreier Bolognese aus dem Kühlschrank, so ziemlich das Einzige, was Elijah dieser Tage isst. Er ist glücklich. Er weint nicht. Er lächelt immer. Er nimmt nur nicht zu. »Gedeihstörung« nennen die Ärzte es; wissenschaftlicher ausgedrückt leidet er unter Zöliakie oder Glutenunverträglichkeit. Wenn er nicht isst, kann er nicht wachsen, und wenn er nicht wächst …
»Ich muss heute Abend weg«, erklärt sie ihm. »Zoe passt auf dich auf.«
»Wo ist sie?«
»Sie kommt bestimmt gleich.«
Ihre Tochter ist fünfzehn. Unabhängig, willensstark, schön, rebellisch, verletzt. Die Pubertät und ihre Hormone sind auch ohne zusätzliche Tragödie schon schwierig genug. Alle Kinder zerstören ihre eigene Kindheit, indem sie zu schnell erwachsen werden wollen.
Heute Abend wird Marnie fünfhundert Pfund verdienen. Hennessy wird die Hälfte des Geldes einsacken. Der Rest reicht für die Rechnungen und wird morgen Nachmittag weg sein. Ihr Bargeld zirkuliert nicht, es verschwindet kreiselnd in einem Abfluss.
Sie steht am Spülbecken und blickt in den Garten mit dem Planschbecken und der kaputten Schaukel. Eine Windböe erfasst die Äste eines Baumes, Blätter trudeln zu Boden. Die meisten Nachbarn in ihrem Wohnblock kennt sie nicht. Das passiert, wenn man über, neben und gegenüber von Menschen lebt, aber nicht mit ihnen, nicht gemeinsam. Vielleicht wird sie der Person auf der anderen Seite der verputzten Wand nie begegnen, aber sie hört ihren Staubsauger gegen Fußleisten stoßen, ihre kleinlichen Streitereien, Lieblingsfernsehsendungen und Kopfteile von Betten, die gegen die gemeinsame Wand schlagen. Wieso hört sich Sex an, als ob ein Heimwerker zugange wäre?
Am anderen Ende des Gartens jenseits des Durchgangs und der Garagen schließt sich ein weiterer Garten hinter einem identischen Häuserblock an. Im fünften Stock wohnt Mr Badger. Den Namen hat ihm Elijah gegeben, weil dessen graue Haarsträhne ihn an Badger aus Wind in den Weiden erinnert. Marnie kam ein anderer Name in den Sinn, als sie Mr Badger nackt am Küchenfenster stehen sah, die Augen halb geschlossen, während er seine Hand hektisch auf und ab bewegte.
Vor ein paar Tagen ist im Nachbarhaus jemand gestorben. Marnie hatte zufällig aus dem Fenster geguckt und den Leichenwagen vor dem Haus gesehen. Laut Mrs Brummer, die jeden in Maida Vale kennt, war es eine alte Frau, die schon seit Längerem krank war. Marnie fragt sich, ob sie sie nicht hätte kennen sollen. War sie allein gestorben wie einer dieser alten Menschen, deren Leichnam erst Monate später entdeckt wird, weil die Nachbarn sich schließlich über den Geruch beschweren?
Nach Elijahs Geburt hatte Daniel ein Babyfon neben dessen Bettchen gestellt, jedoch beinahe sofort festgestellt, wie viele andere Eltern die gleichen Geräte gekauft hatten, die nun alle auf derselben Frequenz sendeten. Sie hörten Schlaflieder und Stereoanlagen, stillende Mütter und Väter, die im Zimmer ihrer Babys einschliefen. Marnie war, als würde sie vollkommen Fremde belauschen, und fühlte sich doch seltsam verbunden mit diesen Menschen, die unwissentlich ihre Erfahrungen teilten.
Elijah hat aufgehört zu essen. Marnie versucht, ihn zu einem weiteren Löffel zu überreden, doch er presst die Lippen fest zusammen. Sie hebt ihn aus seinem Kinderstuhl, und er folgt ihr ins Schlafzimmer, wo er zusieht, wie sie sich fertig macht. Er hält ihre Unterwäsche ins Licht, seine Hand unter dem Stoff.
»Da kann man ja durchgucken«, sagt er.
»Das soll man auch.«
»Wieso?«
»Einfach so.«
»Darf ich den Reißverschluss von deinem Kleid zumachen?«
»Dieses Kleid hat keinen Reißverschluss.«
»Du siehst sehr hübsch aus, Mami.«
»Vielen Dank.«
Sie betrachtet sich im Spiegel, dreht sich zur Seite, zieht den Bauch ein und hält den Atem an, sodass ihre Brüste vorragen.
Nicht übel. Noch wird nichts schlaff und faltig. Ich habe ein bisschen zugenommen, aber das ist auch okay.
An anderen Tagen betrachtet sie dasselbe Spiegelbild, hasst das grelle Licht und findet lauter Makel, wo sie nachsichtiger mit sich selbst sein könnte.
Sie hört, wie die Wohnungstür geöffnet und wieder geschlossen wird. Zoe lässt ihre Schultasche in einer Ecke ihres Zimmers fallen und streift ihre Schuhe ab. Dann geht sie in die Küche, öffnet den Kühlschrank und trinkt Milch direkt aus dem Karton. Sie wischt sich den Mund ab, tapst barfuß ins Wohnzimmer und schreit.
»Wo ist der Scheißfernseher?«
»Solche Wörter will ich hier nicht hören«, sagt Marnie.
»Er ist kaputt«, sagt Elijah.
Zoe schreit immer noch. »Er ist nicht kaputt, oder?«
»Ein paar Wochen kommen wir auch ohne Fernseher aus.«
»Wochen?«
»Wenn das Geld von der Versicherung kommt, kaufen wir einen neuen, versprochen. Einen großen Flachbildfernseher mit Kabel und allen Filmkanälen.«
»Immer geht es um das Geld von der Versicherung. Wir kriegen die Versicherung nicht.«
Marnie kommt, die Schuhe in der Hand, aus dem Schlafzimmer. Ihre Tochter starrt immer noch in die leere Ecke, wo vorher der Fernseher gestanden hatte. Ihre ungebändigten blonden Locken schimmern hell im Licht.
»Das kann nicht dein Ernst sein«, sagt Zoe.
»Tut mir leid«, sagt Marnie und versucht, ihre Tochter zu umarmen.
Zoe schüttelt sie ab. »Nein, tut es nicht. Du bist echt zu nichts zu gebrauchen.«
»Sprich nicht in diesem Ton mit mir.«
»Wir haben keinen Computer. Wir haben kein Internet. Und jetzt haben wir nicht mal mehr einen beschissenen Fernseher.«
»Bitte nicht fluchen.«
»Wochen?«
»Ich hab doch gesagt, es tut mir leid.«
Zoe wendet sich angewidert ab und knallt ihre Zimmertür zu. Elijah ist ganz still geworden. Er hustet und bebt am ganzen Körper. Seine Brust hat schon den ganzen Tag gezittert. Marnie fühlt seine Stirn. »Hast du Halsschmerzen?«
»Nein.«
»Sag Zoe, sie soll Fieber messen.«
»Darf ich aufbleiben?«
»Heute Abend nicht.«
»Wie lange bist du weg?«
»Nicht lange.«
»Bin ich noch wach, wenn du nach Hause kommst?«
»Das will ich nicht hoffen.«
Es klingelt. Marnie drückt auf den Knopf der Gegensprechanlage. Ein kleiner Bildschirm leuchtet auf. Quinn steht auf der Treppe vor dem Haus.
»Bin schon unterwegs«, erklärt sie ihm, während sie nach Schlüssel und Handtasche greift. Sie klopft an Zoes Tür und drückt ihr Gesicht an das lackierte Holz.
»Ich geh jetzt. Das Abendessen steht auf dem Herd.«
Sie wartet. Die Tür geht auf. Zoe trägt Shorts und ein Tanktop. Ein Ohrhörer steckt in ihrem Ohr, der andere baumelt herunter. Sie umarmen sich, einen Tick länger als gewöhnlich, eine Entschuldigung.
Elijah drängt an Marnie vorbei und wirft sich in die Arme seiner Schwester. Zoe hebt ihn mühelos hoch, setzt ihn auf ihrer Hüfte ab und drückt ihm einen prustenden Kuss in den Nacken. Dann trägt sie ihn ins Wohnzimmer und blickt aus dem großen Erkerfenster auf die Straße.
»Du musst die einzige Kellnerin in London sein, die mit einem schicken Auto abgeholt wird.«
»Es ist eine Bar, kein Restaurant«, sagt Marnie.
»Mit Chauffeur?«
»Er arbeitet am Eingang.«
»Ein Rausschmeißer?«
»So könnte man ihn wohl bezeichnen.«
Marnie überprüft den Inhalt ihrer Handtasche. Handy, Lippenstift, Eyeliner, Reizgasspray, Schlüssel, Notfallnummern, Kondome.
»Miss Elijahs Temperatur und gib ihm eine Paracetamol, wenn er Fieber hat. Und achte drauf, dass er noch mal Pipi macht, bevor du ihn ins Bett bringst.«
Auf der Treppe rafft sie ihr Kleid um die Hüften, um leichter laufen zu können. Unten im Eingangsbereich zupft sie es wieder herunter. Eine Tür geht auf. Trevor späht aus seiner Wohnung und öffnet die Tür weiter.
»Hi, Marnie.«
»Hi, Trevor.«
»Gehst du aus?«
»Ja.«
»Arbeiten?«
»Hm-hm.«
Trevor ist Anfang dreißig und hat eine schmächtige Brust, breiter werdende Hüften und Sommersprossen auf der Nase und den Wangen. Um seinen Hals hängt ein Kopfhörer, die Schnur baumelt zwischen seinen Beinen.
Marnie blickt zur Haustür. Quinn mag es nicht, wenn man ihn warten lässt.
»Ich hab mir neue Musik gekauft«, sagt Trevor. »Möchtest du mal hören?«
»Ich hab im Augenblick keine Zeit.«
»Vielleicht später.«
Marnie ist an der Tür. »Vielleicht.«
Sie hat ein schlechtes Gewissen. Ständig lädt Trevor sie ein, sich seine Musik anzuhören oder eine DVD anzuschauen. Manchmal benutzt sie seinen Computer, um E-Mails abzuschicken oder etwas nachzusehen, doch sie bleibt nie lange. Trevor ist der Hausmeister, der sich um die Grünanlagen und kleine Instandhaltungsarbeiten kümmert. Außerdem ist er das, was Daniel immer einen »Sauger« genannt hat: jemand, der die Energie aus einem Raum saugt. Andere Menschen sind »Spender«, weil sie Wärme spenden und man sich in ihrer Gegenwart angespornt und glücklich fühlt.
Quinn tritt mit der Sohle seines polierten schwarzen Halbschuhs eine Zigarette aus. Er öffnet Marnie nicht die Tür, sondern setzt sich hinters Steuer und lässt den Motor an, mürrisch und stumm. Marnies leerer Magen knurrt. Die Frau, die die Buchungen macht, hat ihr erklärt, sie solle vor der Arbeit nicht essen, weil sie sonst einen Blähbauch bekäme.
Als er die Harrow Road erreicht hat, beginnt Quinn, aggressiv von Spur zu Spur zu wechseln.
»Ich hab gesagt, Punkt sieben Uhr.«
»Elijah ist erkältet.«
»Das ist nicht mein Problem.«
Marnie weiß drei Dinge über Quinn. Er hat einen nordenglischen Akzent, er bewahrt ein Montiereisen in dem Seitenfach neben dem Fahrersitz auf, und er arbeitet für Patrick Hennessy. Dies ist Marnies dritter Abend. Jedes Mal hat sich ihr vorher der Magen umgedreht, und ihre Handflächen waren feucht.
»Ist er ein Stammkunde?«
»Ein Neuling.«
»Wurde er überprüft?«
»Selbstverständlich.«
Marnies beste Freundin Penny hat ihr gesagt, dass sie solche Sachen fragen soll. Penny hat Erfahrung. Nach der Uni hat sie zwischen Model-Jobs als Escort-Dame gearbeitet, weil sich mit Ersteren weder ihr Kreditkartenkonto ausgleichen noch ihre Vorliebe für teure Designer-Klamotten finanzieren ließ. Damals war Marnie schockiert gewesen. Sie hatte Penny gefragt, was der Unterschied zwischen einer Escort-Dame und einer Prostituierten sei.
»Etwa vierhundert Pfund die Stunde«, hatte Penny erwidert, und bei ihr hörte es sich völlig einleuchtend an.
Marnie klappt die Sonnenblende herunter und überprüft in dem kleinen Spiegel ihr Make-up. Ist das jetzt mein Leben?, fragt sie sich. Für Geld die Beine breit machen? Small Talk mit reichen Geschäftsmännern und so tun, als wäre sie von ihrem Witz und Charme bezaubert? Daniels Schulden Freier für Freier zurückzahlen? Nein, so hat sie sich ihr Leben nicht ausgemalt, nicht in Zoes Alter, nicht als sie Daniel geheiratet und nicht, als sie ihn so plötzlich verloren hat. Mit siebzehn wollte sie Journalistin werden und große Geschichten für Elle oder Vogue schreiben. Stattdessen bekam sie einen Job als Junior-Texterin in der Werbung. Sie liebte diese Arbeit, wurde aber bald schwanger und hörte auf.
Selbst in ihren schlimmsten Albträumen wäre sie nie auf den Gedanken gekommen, für eine Escort-Agentur zu arbeiten. Und egal wie oft sie sich einredet, dass es nicht für immer ist, nur für ein paar Wochen, bis sie das Geld von der Versicherung bekommt, wird das flaue Gefühl im Magen nicht besser.
Nur zwei Menschen wissen es – Penny und Professor O’Loughlin, der Psychologe, zu dem sie seit einer Weile geht. Ihre übrigen Freunde und Verwandten denken, sie hätte eine neue Anstellung als Teilzeitmanagerin in einem Nobelrestaurant. Und wenn dieselben Freunde mit klischeehaften Bildern kommen, von wegen sie müssten sich in ihrem Konzernjob »prostituieren«, nickt Marnie bloß mitleidig und denkt, »ihr Wichser«.
Der Wagen hält vor dem Aldwych. Ein Portier des Hotels kommt über den Bürgersteig und öffnet Marnies Tür. Sie macht ihm mit zwei erhobenen Fingern ein Zeichen zu warten. Er zieht sich zurück, starrt auf ihre Beine und lässt den Blick von ihren Knöcheln bis zum Saum ihres Kleides wandern.
Quinn macht den Anruf.
»Hallo, Sir, ich wollte nur bestätigen, dass Marnella gleich bei Ihnen ist … entschuldigen Sie die Verspätung … Zimmer 304 … Barzahlung im Voraus … Fünfhundert pro Stunde … Jawohl, Sir, ich wünsche Ihnen einen schönen Abend.«
Marnie überprüft noch einmal ihr Spiegelbild, fährt mit den Fingern durch ihr Haar und denkt, dass sie es hätte waschen sollen.
»Wie alt klang er?«
»Über achtzehn.«
»Wo sind Sie?«
»In der Nähe?«
Marnie nickt und geht mit angehaltenem Atem und gesenktem Kopf zum Hoteleingang. Der Portier bittet sie herein und wünscht ihr einen schönen Abend. Escort-Damen sind in Spitzenhotels nicht willkommen, werden jedoch toleriert, solange sie sich elegant kleiden und nicht in der Halle oder an der Bar um Kundschaft werben. Es gibt klare Regeln. Man darf sich nicht länger als nötig im Foyer aufhalten. Wenn die Lage der Fahrstühle nicht auf den ersten Blick offensichtlich ist, weitergehen und den Eindruck vermitteln, man wüsste, wohin man will. Diese Dinge hat Quinn ihr erklärt, zusammen mit anderen Regeln: Immer zuerst das Geld kassieren und das Handy griffbereit halten; kein Bondage, es sei denn, der Kunde wird gefesselt; mehr Zeit kostet extra.
Im dritten Stock studiert sie die Zimmernummern, bleibt vor der Tür stehen, versucht, sich zu entspannen und einzureden, dass sie das hier kann. Sie klopft leise mit nur einem Finger. Die Tür wird sofort geöffnet.
Sie lächelt sittsam. »Hallo, ich bin Marnella.«
Der Kunde ist Ende vierzig, hat ein schmales Gesicht und eine seltsam altmodische Frisur mit einem Seitenscheitel. Er ist barfuß und trägt Freizeitkleidung.
»Owen«, sagt er unsicher und öffnet die Tür ein Stück weiter.
Marnie legt den Mantel ab. Sie spielt jetzt eine Rolle. Quinn hat ihr erklärt, dass sie selbstbewusst sein und die Kontrolle übernehmen muss. Dem Kunden nicht zeigen, dass sie nervös oder neu in dem Spiel ist. Owen gibt sich Mühe, sie nicht anzustarren. Mit zitternden Händen nimmt er ihren Mantel, hantiert nervös mit dem Bügel herum und vergisst, die Tür des Kleiderschranks zu schließen.
»Möchtest du etwas trinken?«
»Sprudelwasser.«
Er geht vor der Minibar in die Hocke. Sie sieht die blasse, von Adern durchzogene Haut über seinen Fersen.
»Ich kann die Gläser nie finden.«
»Im obersten Regal«, sagt Marnie.
»Ah ja.« Er hält sie hoch. »Du kennst dich wahrscheinlich aus.«
»Wie bitte?«
»In Hotelzimmern.«
»O ja, ich bin Expertin.«
»Tut mir leid, ich wollte nicht …«
»Ich weiß.« Sie schenkt ihm ein breites Lächeln und nippt an ihrem Glas. »Hör zu, Owen, bevor wir anfangen, muss ich das Geld kassieren. Das ist eine der Regeln.«
»Natürlich.«
Er greift nach seiner Brieftasche, die glatt gescheuert und von der Form seines Hinterns gerundet ist.
Marnie ist körperlich übel. Sie hasst diesen Teil. Bei dem Sex kann sie sich einreden, es sei nur Sex, aber durch das Geld bekommt es etwas Schäbiges und Geschmackloses. Wenn es um Körperflüssigkeiten und Hotelzimmer geht, sollte das keine geschäftliche Transaktion sein. Owen zählt das Geld ab. Marnie geht durchs Zimmer und schiebt das Bündel Scheine in ihre Manteltasche. Dabei fällt ihr im Schrank der Plastiksack einer Reinigung auf.
Sie streicht ihr Kleid glatt, wendet sich wieder Owen zu und erwartet, dass er die Initiative ergreift. Er kippt seinen Drink herunter, schlägt ein wenig Musik vor und schaltet den CD-Spieler ein. Es ist ein alter Song. Als er sich wieder umdreht, zieht Marnie sich aus.
»Du musst das nicht machen.«
»Wir haben nur eine Stunde«, sagt sie.
»Ich weiß, aber wir könnten ein bisschen reden.«
Sie nickt, setzt sich auf die Bettkante und fühlt sich in ihrer Unterwäsche plötzlich verlegen. Er ist ein dünner Mann mit großen Händen.
»Ich hab das noch nie gemacht«, sagt er. »Ich meine nicht, dass ich es noch nie gemacht habe … Ich bin nicht schwul oder so … ich bin geradeaus. Ich war schon mit jeder Menge Frauen zusammen. Ich bin Vater, deshalb ist es schwierig für mich … dich zu treffen.«
»Verständlich«, sagt Marnie.
»Meine Mutter ist gerade gestorben«, platzt er heraus.
»Das tut mir leid. War sie krank?«
»Schon sehr lange … Krebs.«
Marnie will seine Lebensgeschichte nicht hören oder mit ihrer vergleichen.
Owen starrt auf seine Handrücken, als würde er die Sommersprossen zählen. »Ich wollte das schon lange tun, aber meine Mutter hätte es nicht verstanden. Und irgendwie wusste sie immer, wenn ich sie angelogen habe. Es ist nicht leicht, sich um jemanden zu kümmern.«
»Das verstehe ich«, sagt Marnie.
»Wirklich?«
Marnie klopft neben sich aufs Bett und winkt ihn zu sich.
»Würdest du mit mir tanzen?«, fragt er unvermittelt.
»Ich bin keine sehr gute Tänzerin.«
»Ich kann es dir zeigen.«
Owen steht auf und streckt die Arme aus. Marnie legt die linke Hand auf seine Schulter und spürt seine Hand an ihrer Hüfte. Und dann tanzen sie; Hüftknochen an Hüftknochen, ihre langen pink lackierten Fingernägel verschwinden in seiner Faust. Sie drehen sich, schweben. Es ist kein großes Zimmer, doch sie stoßen kein einziges Mal gegen die Möbel.
In seinen Armen fühlt Marnie sich klein wie eine erwachsene Nichte, die mit ihrem Onkel tanzt.
»Ich habe seit meiner Hochzeit nicht mehr getanzt«, sagt sie lachend. »Aber mein Vater war bei Weitem kein so guter Tänzer.«
Mit einer schwungvollen Drehung beugt Owen sie nach hinten und lächelt über ihr Lächeln.
Marnie richtet sich wieder gerade auf, und einen gemeinsamen Augenblick lang wissen sie nicht, was sie als Nächstes tun sollen. Marnie streift die Träger ihres Negligés von den Schultern und lässt es auf ihre Knöchel gleiten. Spätestens jetzt bekommt sie normalerweise Komplimente für ihre Brüste, doch Owen reagiert nicht. Falten umzingeln seine Augen. Er wendet sich ab. Irgendwas hat sich zwischen ihnen verändert. Er hat doch nicht den Mumm.
»Bitte zieh dich an.«
Marnie bedeckt sich verlegen und geht zur Minibar. Sie gießt sich einen Drink ein, Scotch diesmal, und leert ihn in einem Zug.
»Du musst nicht bleiben«, sagt Owen.
»Du hast bezahlt.«
»Ich weiß, aber du musst trotzdem nicht bleiben.«
»Warum machst du dich im Bad nicht ein bisschen frisch? Ein bisschen kaltes Wasser ins Gesicht, dann fühlst du dich besser.«
Als sich die Tür hinter ihm schließt, schlägt Marnie die Bettdecke zurück. Sie nimmt ein Kondom aus ihrer Handtasche und legt es auf den Nachttisch. Es ist erst ihr dritter Abend, und sie lernt, dass jeder Freier anders ist. Ihr erster war ein Geschäftsmann aus den Midlands, der zu einer Messe im Earl’s Court Exhibition Centre in London war; ihr zweiter ein vornehm klingender Typ aus der City, Mitte dreißig mit Frau und Kindern in Hertfordshire. Jetzt hat sie einen Mann mittleren Alters mit einer Mutterfixierung und schweren Schuldgefühlen. Und was noch schlimmer ist, sein schlechtes Gewissen ist ansteckend, und nun schämt sie sich noch mehr.
Sie bemerkt eine unters Bett geschobene Plastiktüte, öffnet sie vorsichtig mit einem Zeh und sieht ein Paar schwarze Lederschuhe und zwei Umschläge. Auf dem ersten steht: Testament, der zweite ist unbeschriftet.
Beide sind nicht zugeklebt. Marnie öffnet den unbeschrifteten und kann ein paar Zeilen unter dem Falz lesen.
Es tut mir leid, dass ich den feigen Ausweg nehme, doch ich habe jemanden verloren, den ich sehr liebe, und weiß keinen anderen Weg, meinem Elend zu entkommen. Bitte kümmern Sie sich um meine Kinder …
Marnies Blick zuckt durch das Zimmer. Der Anzug aus der Reinigung, die Schuhe. Owen steht in der Badezimmertür.
»Was machst du da?«
Marnie hält den Umschlag hoch.
»Ist das ein Abschiedsbrief?«
»Man soll keine fremde Post öffnen. Wie viel hast du gelesen?«
»Genug«, sagt Marnie. »Willst du dich umbringen?«
»Das geht dich nichts an.«
»Das ist verkehrt. Es ist nie so schlimm, wie man denkt.«
Er lacht trocken. »Jetzt bekomme ich emotionale Ratschläge von einer Prostituierten.«
Marnie erstarrt.
»Du kannst jetzt gehen«, sagt er.
»Ich gehe erst, wenn du mir versprichst, es nicht zu tun.«
»Du kennst mich noch nicht einmal eine Stunde«, sagt Owen. »Wie willst du da irgendwas verstehen?«
Marnie widerspricht, findet Worte, erklärt ihm, dass das Leben ein Privileg und Geschenk ist, das man nicht wegwerfen sollte. Die Dinge ändern sich.
»Und morgen ist ein neuer Tag«, sagt er sarkastisch.
»Was ist mit deinen Kindern? Was für eine Botschaft sendest du ihnen? Ich war selbst mal an dem Punkt«, sagt sie. »Ich habe auch schon daran gedacht, mich umzubringen.«
»Das ist kein Wettbewerb, wer das beschissenste Leben hatte.«
»Ich habe nicht aufgegeben. Ich habe überlebt.«
Sie erzählt ihm von Daniel und den beiden Kindern, die sie allein großzieht. Er steht mit dem Rücken zu ihr am Fenster und blickt auf die Lichter der Waterloo Bridge.
»Wie?«, fragt sie.
»Der Fluss.«
»Das heißt, du wolltest mich ficken und dann von einer Brücke springen?«
»Nein, ich wollte bis nach der Beerdigung meiner Mutter warten.«
Marnie klappt geschockt den Mund auf.
»Ich kann nicht schwimmen«, erklärt er.
»Das ist keine sehr schöne Art zu sterben.«
»Es soll auch nicht schön sein.«
Marnies Handy klingelt. Es ist Quinn. Wenn sie nicht drangeht, klopft er gleich an die Tür.
»Alles okay?«, fragt er.
»Ja. Es dauert ein bisschen länger.«
»Zahlt er extra?«
»So einfach ist das nicht.«
»Deine Uhr läuft. Sorg dafür, dass er zahlt.«
Er legt auf. Marnie sieht Owen auf der anderen Seite des Betts. Es entsteht eine lange Pause, ein Augenblick voller Verlegenheit, in dem sie das Gefühl hat, dass sie ihn vom Rand des Abgrunds zurückzieht oder er sie näher heran. Sie denkt an Daniel und wird wütend.
»Du wirst das nicht tun. Du wirst dich nicht umbringen. Du wirst kämpfen, und du wirst leben … versprich mir das«, sagt sie.
»Wieso kümmert dich das?«
»Weil ich meinen Mann verloren und zu Hause einen kleinen Sohn habe und nicht will, dass er denkt, die Welt sei ein so schrecklicher Ort.«
»So wichtig ist es dir?«
»Ja.«
Er lächelt sie an. Es ist beinahe ein Lachen. »Ich habe nur für eine Stunde bezahlt.«
»Darum geht es nicht. Ich gehe nicht. Ich bleibe, bis du es versprochen hast.«
»Du würdest bei mir bleiben?«
»Nicht für Sex, nur bis du es versprochen hast.«
Owen sieht sie mit einer Mischung aus Bewunderung und Sehnsucht an. Marnie zieht ihr Kleid und ihre Schuhe an und stopft ihre zerknüllte Unterwäsche in die Manteltasche. Dabei stößt sie auf das Bündel Geldscheine.
»Ich geb dir dein Geld zurück.«
»Was?«
»Nimm das Geld. Tu dir damit was Gutes.«
Er nimmt es nicht sofort. Marnie öffnet seine Faust und drückt ihm die Scheine in die Hand.
»Behalte das Geld«, sagt er.
»Nein.«
»Du brauchst es.«
Marnie schüttelt den Kopf. »Auf diese Weise weiß ich, dass du es nicht tun wirst, weil du es mir schuldig bist. Abgemacht?«
Er nickt.
Owen sitzt mit gespreizten Beinen auf dem Bett, die Ellbogen auf die Knie gestützt. Marnie hat nichts gemeinsam mit diesem Mann, sie verbindet weder Geld noch Klasse noch Bildung, Alter oder andere Interessen. Sie kennt nicht einmal seinen Nachnamen, doch irgendwie hat sie eine Saite in ihm zum Klingen gebracht, einen Draht gefunden. Es ist ein seltsames Gefühl zu beobachten, wie ein Mann ihretwegen etwas tut.
»Wann ist die Beerdigung?«
»Morgen Vormittag.«
»Um wie viel Uhr?«
»Um neun.«
»Ich möchte, dass du mich hinterher anrufst. Ich geb dir meine Nummer.«
Marnie schreibt ihre Telefonnummer auf einen Notizblock des Hotels. Owen nimmt ihn, ohne Marnie ins Gesicht zu sehen. »Würdest du mitkommen?«
»Zu der Beerdigung?«
»Es würde mir sehr viel bedeuten.«
»Ich habe einen Termin.«
Er nickt.
»Hör zu, Owen. Du wirst das durchstehen. Ich helfe dir. Ruf mich morgen an.«
Er blickt auf den Zettel mit Marnies Nummer. »Ich dachte, Escort-Damen sollen falsche Namen benutzen.«
»Ich bin keine besonders gute Escort-Dame.«
Owen lacht still vor sich hin.
»Was ist so komisch?«
»Man liest ja so Geschichten.«
»Geschichten?«
»Über Nutten mit einem Herz aus Gold.«
»Es ist nicht aus Gold«, sagt sie.
»Stimmt«, erwidert er. »Es ist noch kostbarer.«
An der Drehtür des Hoteleingangs fragt sich Marnie bereits panisch, was Quinn sagen wird. Der schwarze Audi steht in einer engen Durchfahrt in Richtung Covent Garden hinter dem Hotel im Halteverbot. Quinn lehnt rauchend an der Motorhaube. Die Laterne hinter ihm wirft einen Schein um seinen Kopf und einen Schatten auf das Kopfsteinpflaster wie ein dunkler Pfad, der zu seinen polierten Schuhen führt.
Marnie geht auf die andere Seite des Autos, hält ihren Mantel zu und wünscht sich, er könnte sie schützen.
»Hat er extra bezahlt?«, fragt Quinn.
»Es gab Probleme. Er wollte Selbstmord begehen.«
»Und darauf bist du reingefallen?«
»Es stimmt.«
Quinn kommt auf sie zu, sein Spiegelbild gleitet über die Motorhaube des Audis. Sie versucht, nicht zurückzuweichen, doch ihr Hals schnürt sich zu, und sie möchte sich irgendwo verstecken. Er schnippt seine Zigarette weg und drückt Marnie hart gegen das Auto.
»Wo ist das verdammte Geld?«
»Ich hab es nicht genommen.«
»Du hast ihn also umsonst gefickt?«
»Wir haben es nicht gemacht.«
Er lacht noch einmal, sarkastischer diesmal, und zwängt ein Knie zwischen ihre Beine. Mit einer Hand packt er ihren Hals, während er mit der anderen prüfend zwischen ihre Schenkel greift. Die Berührung seiner rauen Finger lässt sie zusammenzucken. Sie fühlt sich gedemütigt, sie ist wütend.
»Zufrieden?«
Ihr Tonfall ärgert ihn. Er verpasst ihr einen Schlag in den Magen, weit unten. Sie krümmt sich vor Schmerzen und will auf den Boden fallen, doch er presst sie weiter gegen das Fahrzeug und schlägt sie noch einmal. In ihrer Lunge ist keine Luft mehr übrig. Ihr Gesicht wird er aussparen. Blutergüsse und blaue Flecken machen sich nicht gut, wenn man den Körper einer Frau verkauft. Er holt aus und rammt die Faust noch einmal in ihren Magen. Ihre Glieder zucken, die Welt zuckt vor ihren Augen auf und ab.
In seinen Bewegungen liegt eine brutale Poesie, jeder Schlag ausgeführt mit minimalem Kraftaufwand für maximalen Schaden. Quinn packt ein Büschel ihres Haars und hält den Mund nah an ihr Ohr.
»Hast du Angst?«, flüstert er. Er scheint den Moment zu genießen. Er blickt die Straße hinunter. Ein schwarzes Taxi biegt um die Ecke, Scheinwerfer holpern über Rüttelschwellen. Das Taxi hält, das Fahrerfenster wird heruntergelassen.
»Alles in Ordnung?«, fragt der Taxifahrer.
»Alles bestens«, sagt Quinn und stützt Marnie mit einem Arm um ihre Hüfte. »Sie hat nur ein bisschen zu viel Champagner getrunken.«
Der Fahrer sieht Marnie an. »Geht es Ihnen gut, Miss?«
Sie nickt.
Das Taxi fährt weiter. Quinn öffnet die Tür des Audis und stößt Marnie auf die Rückbank. Sie lässt ihre Handtasche fallen, der Inhalt kippt in den Fußraum. Sie sammelt die Sachen wieder ein.
»Der Boss wird nicht glücklich sein«, sagt Quinn. »Das ist dir doch klar, oder?«
2
Der Schmerz weckt Marnie noch vor der Sonne. Sie blinzelt durch halb geschlossene Lider, wagt es jedoch nicht, sich zu rühren, und fragt sich, ob ihre Rippen gebrochen sein könnten. Vielleicht ist Quinn zu weit gegangen. Sie öffnet die Augen weiter und versucht, sich auf das gerahmte Foto auf dem Nachttisch zu konzentrieren. Auf dem Bild sitzt sie in ihrem Hochzeitskleid auf Daniels Schoß und lacht, während er sie nach hinten neigt. Seine Hand stützt ihren Kopf, und ihr Mund ist in Erwartung seines Kusses geöffnet.
Die meisten ihrer Hochzeitsfotos waren zu steif, förmlich und gestellt; die Männer wollten unbedingt etwas trinken und den obersten Hemdknopf öffnen; die Frauen waren es leid, den Bauch einzuziehen. Dieses Foto ist spontan, voller Gefühl und Leidenschaft, Glück, eingefangen durch den Auslöser einer Kamera.
Wenn Marnie an Daniel denkt, sind es die kleinen, beinahe beiläufigen Erinnerungen, von denen sie einen dicken Kloß im Hals bekommt. Ihm beim Rasieren zugucken; sein Haar nach dem Duschen riechen; sich in seiner Armbeuge auf dem Sofa zusammenrollen; ihn in einer Rüschenschürze sehen, wenn er sonntagmorgens Pfannkuchen machte …
Jetzt ist er weg, verschwunden, wird er vermisst. Seit mehr als einem Jahr wurde er nicht mehr gesehen, sie hat nichts von ihm gehört, keine Anrufe, keine E-Mails, keine SMS, keine Kontoabhebungen. Seine Kreditkarten, sein Pass, sein Handy, seine Fitnessclub-Karte wurden nicht benutzt.
Für den größten Teil dieser Zeit hat sie sich an den Glauben geklammert, dass er noch lebt, ist bei jedem Anruf zum Telefon gestürzt, hat ständig ihre E-Mail und SMS gecheckt und alle paar Tage bei der Polizei angerufen. Sie hat Gebete gesprochen, vorbeifahrende Autos gemustert und voller Erwartung den Briefkasten geöffnet. Aber sie kann es sich nicht leisten, noch länger daran zu glauben. Sie braucht Geld, und sie kann nur auf Daniels verbliebenes Vermögen zugreifen, wenn er entweder durch die Tür kommt oder seine Leiche gefunden wird. Dazwischen gibt es nichts, keine Kompromisse und halben Sachen.
Bis jetzt ist die Stimme der Vernunft von ihrer Sehnsucht übertönt worden. Sie hat Geschichten über Menschen gelesen, die die Hoffnung nie aufgegeben haben, nie aufgehört haben zu glauben, dass ihre Lieben unter den Trümmern noch leben, sich an das Wrack klammern oder von jemand anderem großgezogen werden. Marnie hat versucht, eine von ihnen zu sein, aber die Wirklichkeit kommt immer wieder dazwischen. Niemand verschwindet einfach so, spurlos, nicht seit es Handys, Internetbanking, Pässe und Facebook-Konten gibt. Die Polizei hat monatelang nach Daniel gesucht, nach seinen Spuren im Internet gefahndet, sein Foto über Interpol, Europol und Vermisstenagenturen um die ganze Welt geschickt, doch niemand hat ihn gesehen.
Seit dreizehn Monaten erfindet Marnie Rechtfertigungen. Daniel muss im Koma liegen oder als Geisel gefangen gehalten werden. Vielleicht hat er das Gedächtnis verloren oder wartet in einem Zeugenschutzprogramm darauf, seine Aussage zu machen. Das Einzige, dem sie sich bisher nicht stellen konnte, ist das Offensichtliche – er kommt nicht nach Hause, weil er nicht kann. Sie schluckt heftig und versucht, den Satz auszusprechen: Mein … Mann … ist … tot.
Elijah schläft noch, eingepackt in die Decke, ein schniefender Haufen Jungsgerüche. Sie hat ihm Waffeln zum Frühstück versprochen. Danach wird sie ihn in den Kindergarten bringen und es noch pünktlich zu ihrem Termin um elf bei Professor O’Loughlin schaffen.
Seit Daniels Verschwinden sieht Marnie den Professor zweimal wöchentlich, dienstags und freitags. Der National Health Service übernimmt die Rechnung. Vielleicht gibt es dort einen Sonderfonds für Frauen, deren Ehemänner verschwinden. Sonst könnte sie sich einen Psychologen nicht leisten.
Ihre Angstattacken sind seltener geworden, aber sie hat immer noch Blackouts und Aussetzer, manchmal nur Minuten, manchmal auch Stunden, nach denen sie wie aus einem Traum erwacht, ohne sich zu erinnern, was geschehen ist. Professor O’Loughlin verwendet Worte wie »Heilung« nicht. Stattdessen spricht er von »Bewältigung«, als wäre das das Beste, was sie erhoffen kann. Heilung wäre gut. Bewältigung ist okay.
Sie hat das alles schon einmal durchgemacht, eine Therapie mit endlosen Sitzungen. Als Kind ist sie bei einem Psychiater in Behandlung gewesen, der für sie beinahe zu einem zweiten Vater wurde, doch das hat sie dem Professor nicht erzählt, und sie weiß nicht genau, warum nicht. Weil es ihr peinlich ist. Und unwichtig. Sie will nicht, dass er sie für einen hoffnungslosen Fall hält.
Joe O’Loughlin ist ein guter Zuhörer. Die meisten Menschen wissen nicht, wie man zuhört. Normalerweise warten sie nur darauf, dass die anderen die Klappe halten, damit sie wieder reden können, doch der Professor hängt an jedem ihrer Worte, als würde sie aus einem heiligen Buch predigen. Wenn sie zu den schlimmen Sachen kommt und keine Worte findet, drängt er sie nicht. Er wartet.
Marnie blickt wieder zu dem Foto. Daniels Haar ist gegelt, und in dem goldenen Ehering spiegelt sich das Licht. Lachfalten rahmen seine zusammengekniffenen Augen, und sie kann seinen Kuss beinahe spüren. Sie streicht mit dem Finger über ihre Lippen, um den Moment heraufzubeschwören. Es war eine so sorgenfreie, sorglose Zeit, keine Angst, kein Kummer, keine kleinlichen Streitereien. Sie war mit Elijah schwanger, was sie jedoch erst einige Wochen später erfuhr, als sie auf einen Teststreifen pinkelte. Sie war noch nie so glücklich, so beseelt, so verliebt gewesen. Gemeinsam konnten sie die Welt erobern.
Sie schwingt die Beine aus dem Bett, verzieht das Gesicht und schlurft vorsichtig ins Bad, wo sie ihr nacktes Spiegelbild betrachtet. Man kann die Blutergüsse schon sehen, ihre blasse Haut ist mit gelben und blauen Flecken überzogen. Der Anblick löst einen Flashback aus, sie erinnert sich an die Schläge, daran, wie ihre Glieder sich abzulösen schienen und der Schmerz in Wellen durch ihren Körper strömte.
Als sie gekrümmt dastand, hatte Quinn etwas zu ihr gesagt.
»Dein Mann war ein Feigling«, flüsterte er.
Was hat er damit gemeint?
Sie konnte nicht fragen. Sie konnte nicht atmen. Beim nächsten Mal wird sie eine Antwort verlangen, nur dass es kein nächstes Mal geben wird. Sie kann nicht zurückkehren. Sie hat gestern Nacht das Kleid und die Unterwäsche weggeworfen und tief im Gemeinschaftsmüll vergraben. Sie berührt ihren Bauch, streicht über die verfärbten Stellen und bemerkt, dass ein Nagel abgebrochen ist. Sie muss ihn gestern Abend verloren haben, zusammen mit ihrer Würde und dem letzten verbliebenen Rest Selbstachtung.
Sie dreht den Hahn auf und spritzt sich kaltes Wasser ins Gesicht, bis ihre Augen brennen. Dann zieht sie einen Bademantel über und geht in die Küche. Zoe isst, über ihren Biologie-Schnellhefter gebeugt, einen Toast.
»Du bist früh auf.«
»Wir schreiben einen Test.«
»Was hast du mit deinen Haaren gemacht?«
»Nichts.«
»Du hast eine blaue Strähne.«
»Und?«
»Es sieht furchtbar aus.«
»Danke, Mum, du siehst auch beschissen aus.«
Marnie seufzt. »Können wir noch mal von vorn anfangen?«
Mit erhobenen Händen nimmt Zoe den Waffenstillstand an.
»Guten Morgen, meine Tochter, Liebe meines Lebens, du siehst aus, als hättest du dir blauen Toilettenreiniger ins Haar gespritzt, aber es ist dein Kopf und dein Haar, und du hast das Recht, es nach Herzenslust zu ruinieren.«
»Danke, meine Mutter, kann ich ein bisschen Geld haben?«
»Warum?«
»Uralte Geschichte – der Ausflug zum British Museum, spätestens heute muss die Erlaubnis der Eltern vorliegen.«
»Wie viel?«
»Zehn Pfund.«
»Muss ich etwas unterschreiben?«
»Ich habe deine Unterschrift gefälscht.«
Zoe isst den letzten Bissen Toast und nimmt ihre Schultasche.
»Bis später, Mutter.«
»Warte!«
»Was?«
Marnie zeigt auf ihre Wange. »Und wenn’s nur um die Ecke ist.«
Zoe verdreht die Augen und drückt ihr einen Kuss auf die Wange. »Und wenn’s nur um die Ecke ist.«
Marnie zieht ihr blaues Sommerkleid und eine Strickjacke an. Es ist das hübscheste Kleid, das sie hat, und darin fühlt sie sich besser. Der Kragen ist mit kleinen weißen Blumen bestickt, was sie an ihre Flitterwochen in Florenz erinnert, wo sie auf dem Markt von San Lorenzo ein ähnliches Kleid gekauft hat.
Elijah ist angezogen, die meisten seiner glutenfreien Waffeln sind gegessen, und sie kommen ausnahmsweise einmal pünktlich los. Auf halber Treppe geben Marnies Beine fast nach, sie packt das Geländer und setzt sich kurz hin.
»Alles in Ordnung, Mama?«
»Mir geht es gut.«
»Warum setzt du dich hin?«
»Ich mache eine kleine Pause.«
Es ist ein sonniger Vormittag Ende September. Die Bäume sehen müde aus, erschlafft. Elijah hüpft über die Ritzen zwischen den Platten auf dem Bürgersteig. Sein SpongeBob-Schwammkopf-Rucksack enthält ein vulkanisches Ei vom Vesuv (was er wie Venus ausspricht), das er zum zwanzigsten Mal zur Erzählstunde mitbringt. Marnie kann sich ein Publikum von Vorschulkindern vorstellen, die die Augen verdrehen und murmeln: »Bitte, Gott, nicht schon wieder.«
Auf dem Warrington Crescent überkommt sie ein vertrautes Gefühl, sie spürt das Gewicht eines Blickes, der auf ihr ruht. Sie kann sich das Kribbeln im Nacken nicht erklären, doch es ist, als ob sie beschattet oder leise ausgelacht würde.
Manchmal sieht sie sich um oder tritt in einen Hauseingang und hält Ausschau nach jemandem, aber die Straße ist immer leer. Keine Augen. Keine Schritte. Kein Schatten.
Elijahs Kindertagesstätte ist in einem alten, an die Kirche angrenzenden Pfarrhaus untergebracht. Es riecht nach Kreide und Plakatfarbe, das Spielzimmer ist mit Minitischen und -stühlen aus Plastik möbliert. Marnie hängt Elijahs Rucksack an einen Haken und trägt sich ein. Elijah umarmt sie zweimal, weint jedoch nicht. Diese Tage sind lange vorbei.
Mrs Shearer möchte sie kurz sprechen. »Das Jahresabschlusskonzert steht an«, sagt sie. »Wir singen ein Lied über Väter, aber ich habe an Elijah gedacht.«
»Was ist mit ihm?«
»Ich dachte, unter den Umständen macht es ihn vielleicht traurig.«
»Traurig?«
»Weil es schmerzliche Erinnerungen wachruft.«
»Er hat nur gute Erinnerungen.«
Mrs Shearer lächelt steif. »Natürlich, ja, sehr gut.«
Marnie sollte nachsichtiger sein, doch sie kann das Mitleid der Leute nicht mehr ertragen, genauso wenig wie das Gerede, das garantiert hinter ihrem Rücken stattfindet, den Klatsch, das Getuschel. Sie konnte ihren Mann nicht halten. Er ist abgehauen, hat sie sitzenlassen. Jetzt ist sie eine alleinerziehende Mutter. Am schlimmsten sind die Bemerkungen von der Sorte, sie müsse nach vorne schauen, denn das Leben gehe weiter. Was soll das überhaupt heißen? Sie lebt weiter. Die Erde dreht sich. Die Sonne geht auf und wieder unter.
Ihr Handy vibriert. Die Nummer auf dem Display ist unbekannt.
»Ist dort Marnella?«
Sie erkennt die Stimme.
»Hallo, Owen, wie war die Beerdigung?«
»Schrecklich.«
»Wo bist du jetzt?«
»Paddington Station.«
»Warum?«
»Ich dachte, ich mache einen Tagesausflug in den Norden. Möchtest du mitkommen?«
»Ich bin im Moment ziemlich beschäftigt, aber es ist ein schöner Tag für einen Ausflug.«
»Ja, stimmt. Ich werde mein Versprechen halten, Marnella, doch vielleicht könntest du auch etwas für mich tun.«
»Was denn?«
»Nette Mädchen sollten keinen Sex mit Fremden haben.«
»Ich denke, du solltest dich mit guten Ratschlägen besser zurückhalten, Owen.«
»Mag sein, aber ich frage mich, was deine Mutter dazu sagen würde.«
»Meine Mutter ist tot«, sagt Marnie, bemüht, nicht verärgert zu klingen.
»Wenn sie noch leben würde.«
Im Hintergrund ertönt eine Bahnsteigansage.
»Ich sollte wohl besser Schluss machen«, sagt Owen. »Es war nett, dich kennenzulernen, Marnella.«
»Fand ich auch, Owen, aber apropos Gefälligkeiten, ich möchte, dass du Brücken auch weiter bis ans andere Ufer überquerst.«
Er lacht leise. »Du auch.«
3
Joe O’Loughlin sitzt an seinem gewohnten Tisch in dem Café und bestellt das übliche Frühstück bei einer Kellnerin, die berühmt dafür ist, nie zu lächeln. Jeden Morgen versucht er, ihr einen Anschein von guter Laune zu entlocken, bringt seine besten Sprüche und versucht, sie in ein Gespräch zu verwickeln. Sie kräuselt jedes Mal die Oberlippe und fragt: »Ist das alles, Sir?«
Er sitzt am liebsten an einem Tisch draußen, wo er die Morgenzeitungen lesen und den Pendlern zusehen kann, die zielstrebig zum Bahnhof laufen – Frauen mit feuchtem Haar und farblich zueinanderpassenden Jacken und Röcken, Männer in Anzügen mit Aktenkoffern oder Taschen. Er fragt sich, wohin all die Leute gehen? Zur Arbeit in Kästen, um Kästen zu stapeln und Kästen abzuhaken.
Als er ins West Country gezogen ist, hat er London vermisst, und jetzt vermisst er das West Country, vor allem Julianne und seine Töchter, Charlie und Emma. Manchmal versucht er, sich einzureden, er würde nur während der Woche in London leben und am Wochenende nach Wellow pendeln, doch das kommt immer seltener vor. Zuhause ist schwer zu definieren, wenn man getrennt lebt. Seine Ehe hat beinahe zwanzig Jahre gedauert, die Trennung zieht sich jetzt seit fünf Jahren hin. Es fühlt sich nicht an wie eine Scheidung, noch nicht, und manchmal ist es beinahe so, als wären sie noch zusammen, vor allem an den Morgen, wenn er aufwacht und meint zu hören, wie Julianne unten in der Küche das Frühstück macht und Emmas Fragen beantwortet. Emma ist erst sieben und wird später mal Anwältin oder Wissenschaftlerin. Anwältin, weil sie ständig argumentiert, und Forscherin, weil sie jede Antwort hinterfragt und einen Beweis verlangt. Seine andere Tochter Charlie wacht früh auf und macht sich auf den Weg zur Schule, bevor Julianne aufsteht. Sie hat bestimmt nicht gefrühstückt, aber eine Müslischale in die Spüle gestellt, damit ihre Mutter das Gegenteil denkt.
Joes Kaffee ist gekommen, ein doppelter Espresso, schwarz und stark. Das Frühstück folgt wenig später: pochierte Eier auf Sauerteigtoast. Er ist ein absoluter Gewohnheitsmensch. Er faltet die Zeitung auf und überfliegt die Schlagzeilen. So vieles, was als berichtenswert gilt, fühlt sich für ihn an wie eine Niederlage, weil die Geschichten immer die gleichen bleiben und nur die Namen und Orte sich ändern. Bestimmte Zeitungen bevorzugen die Linke oder die Rechte des politischen Spektrums, spiegeln die Wünsche ihrer Besitzer wider und bedienen die Vorurteile ihrer Leser, anstatt sie abzumildern. Und die Kolumnisten beleidigen jeden, der ihre Meinung nicht teilt, vermischen Klatsch mit echten Nachrichten und steigern sich immer weiter in ihren Zorn hinein, bis sie klingen wie wütende Wespen in einem Glas.
Joe hat die erste Patientin erst um elf Uhr. Marnie Logan. In diesem Café haben sie sich kennengelernt, was ein Zufall ist, den man nicht mit einer Ironie des Schicksals verwechseln sollte. Marnie arbeitete damals als Kellnerin – eine, die wusste, wie man lächelt – und sah, dass Joe in der Zeitung Wohnungsanzeigen umkringelte.
»Suchen Sie ein Haus oder eine Wohnung?«, fragte sie.
»Eine Wohnung.«
»Wie viele Zimmer?«
»Zwei.«
»Ich weiß vielleicht was.« Sie notierte die Adresse. »Es ist knapp einen Kilometer von hier entfernt, in einer kleinen Seitenstraße der Elgin Avenue in Maida Vale. Meine Vermieter suchen jemanden.«
Zwei Wochen später war er in die Wohnung eingezogen. Er ging zu dem Café zurück, um sich bei Marnie zu bedanken, doch sie war nicht da. Er kam noch einmal vorbei, und der Besitzer erzählte ihm, sie habe aufgehört, weil ihr Mann verschwunden sei.
Joe hinterließ Marnie eine Nachricht, in der er sich bedankte und hinzufügte: Wenn Sie mal irgendjemanden zum Reden brauchen, hier ist meine Telefonnummer.
Er hatte nicht erwartet, noch einmal von ihr zu hören. Er hoffte, dass sie ihn nicht brauchte. Jetzt sieht er sie zweimal die Woche und spricht mit ihr über Themen wie Trauer und Verlassenheit.
»Ich habe vor, mich umzubringen«, erklärte Marnie ihm, als sie zu ihrer ersten Sitzung kam.
»Wie wollen Sie es machen?«, fragte er.
»Ich möchte eine Methode wählen, die keine Sauerei macht.«
»Man kann nicht sauber und ordentlich sterben.«
»Sie wissen, was ich meine.«
Sie beschrieb ihre körperlichen Symptome, das Herzklopfen und Zittern, die Schweißausbrüche und die Atemnot. Sie litt unter einer existenziellen Angst, die so massiv war, dass sie bis in ihren Kern drang. Manche Menschen leiden unter Phobien, sie fürchten sich vor Sachen wie Spinnen, großen Höhen oder geschlossenen Räumen. Sie sind leichter zu behandeln, weil sie einen bestimmten Fokus haben. Existenzielle Angst ist komplizierter, weil die Gründe dafür nicht offensichtlich sind und ihre schiere Übermacht alles im Leben des Patienten durcheinanderbringt.
Joe erkannte, dass Marnies Problem über einen vermissten Ehemann hinausging. Etwas anderes verfolgte sie – eine Furcht, die sie füllte wie eine dunkle Flüssigkeit. Ganze Stunden verschwanden. Dämmerzustände, Aussetzer, Konzentrationsschwächen. Joe hatte Monate mit der Suche nach den Gründen verbracht, doch bestimmte Bereiche von Marnies Bewusstsein blieben ihm versperrt.
Er beendet sein Frühstück, klemmt sich die Zeitung unter den Arm, steht auf und wölbt den Rücken, um nicht gebückt zu gehen. Dann betrachtet er seine Schuhe, wackelt mit den Zehen und gibt Befehle. Ein Nebeneffekt von Parkinson ist die Neigung, beim Loslaufen zu stolpern oder sich in die falsche Richtung zu bewegen. Sein Gehirn sendet die Botschaft, doch sie kommt nicht immer an. Im Laufe der Jahre hat er gelernt, wie er seinen Organismus kurzschließen und Fehlstarts vermeiden kann.
Er geht jetzt sicher und selbstbewusst und überprüft, dass seine Arme pendeln und seine Schultern gestrafft sind. Bloß ein weiterer Fußgänger, denkt er, kein Krüppel, kein Invalide, nur ein Mann auf dem Weg zur Arbeit.
Joes Sekretärin drückt ihm auf, weil er manchmal Probleme mit Schlüsseln und Schlössern hat. Sie nimmt seine Jacke.
»Was für ein herrlicher Morgen. Sind Sie zu Fuß gekommen?«
»Ja, bin ich.«
»Die Jacke muss in die Reinigung. Ich bringe sie heute noch weg.«
»Sie müssen sich wirklich keine Umstände machen.«
»Es ist nur die Treppe runter.«
Carmen ist Ende vierzig, geschieden, sie hat erwachsene Kinder und die Singsangstimme einer Kindergärtnerin (ihr früherer Job). Sie hat tolle Beine, eine Tatsache, die sie mit eher kurzen Röcken und Kleidern feiert.
»Wenn man sie hat, soll man sie auch zeigen«, erklärte sie Joe einmal, als sie ihn beim Gaffen ertappte. Er entschuldigte sich. Carmen sagte, sie fühle sich geschmeichelt. Joe dachte, dass es mit ihnen nicht funktionieren würde.
»Mrs Duncan hat für heute um zwölf abgesagt, aber Mr Egan hat angerufen und wollte einen Termin. Ich war so frei …«
»Danke.«
Die Gegensprechanlage summt. Marnie kommt durch die Tür und marschiert direkt in Joes Behandlungszimmer. Als sie sich setzt, verzieht sie leicht das Gesicht, offensichtlich unter Schmerzen. Joe fragt nicht sofort danach. Er wird ihr Zeit lassen. Verschlossen klammert sie sich an den Stuhl, als hätte sie Angst, der Boden unter ihr könne sich verschieben. Marnie wappnet sich für diese Sitzungen. Erst das Überleben, dann die Enthüllungen.
Joe setzt sich und betrachtet sie eine Weile.
»Wie ist es Ihnen seit dem letzten Mal gegangen?«
»Gut.«
»Irgendwelche Angstattacken?«
»Nein.«
Bevor er noch etwas sagt, geht Marnie dazwischen. Sie hat eine Geschichte für ihn. Sie fängt zweimal von vorne an, sucht nach den richtigen Worten. Als sie welche findet, ist es ein Schwall von atemlosen Beschreibungen und wiedergegebenen Gesprächen.
»Ich habe also jemanden davon abgehalten, Selbstmord zu begehen«, sagt sie stolz und verschränkt zufrieden die Arme.
Joe nickt, zeigt jedoch keine Regung. »Sie erkennen natürlich die Ironie.«
»Welche Ironie?«
»Sie haben einem Mann erklärt, das Positive zu sehen.«
»Warum sollte jemand, der über Selbstmord nachdenkt, diesen jemand anderem nicht ausreden können? Diese Gefühle schließen sich doch nicht gegenseitig aus.«
»Das klingt wie eine Selbstrechtfertigung.«
»Besser als Selbstmitleid.«
»Tut, was ich sage, tut nicht, was ich tue.«
»Genau.«
Marnie lacht. Das passiert nicht oft. Normalerweise hält sie immer etwas zurück. Ein- oder zweimal hat Joe sich gefragt, ob sie schon einmal eine Therapie gemacht hat. Sie scheint viele seiner Fragen vorauszuahnen, noch ehe er sie gestellt hat.
Dass die Menschen lügen, wird in meinem Job beinahe vorausgesetzt. Sie lügen, um peinliche Situationen und Konflikte zu vermeiden, um ein bestimmtes Bild von sich zu projizieren oder um für etwas belohnt zu werden.
Sie belügen ihre Freunde und Verwandten, doch am meisten sich selbst. So ist es immer schon gewesen, von der Wiege bis zur Bahre. Aber bei Marnie liegt die Sache anders. Er spürt, dass hinter ihren graugrünen Augen und ihrer blassen Haut etwas zusammengerollt und eingesperrt ist. Nicht so, dass es herauskommen will, sondern eingesperrt, weil es zu gefährlich ist, um freigelassen zu werden.
Marnie verändert ihre Sitzhaltung und verzieht das Gesicht.
»Sie sind verletzt.«
»Es ist nichts.«
»Sie haben sich die Rippen geprellt.«
»Woher wissen Sie das?«
»Ich habe drei Jahre Medizin studiert.«
»Könnten sie gebrochen sein?«
»Sie sollten zum Arzt gehen.«
»Aber Sie könnten es mir auch sagen.«
»Das darf ich nicht.«
Marnie steht auf. »Werfen Sie nur einen kurzen Blick drauf. Sagen Sie mir, ob es geröntgt werden muss.«
Sie fasst den Saum ihres Kleides und zieht es über die Hüften bis zur ihren Brüsten hoch. Joe merkt, dass er rot wird. Dunkle Blutergüsse bedecken ihren Bauch bis zum Rand ihres Slips.
»Was ist passiert?«
»Ich bin in eine Faust gelaufen.«
»Mehrfach?«
Joe weiß von Marnies Arbeit als Escort-Dame. Er hat versucht, es ihr auszureden, und ihr dann einen Vortrag über die Sicherheitsvorkehrungen gehalten. Kunden vorher überprüfen, Notfallnummern, ein Rückrufsystem organisieren.
»Für einen Psychologen wissen Sie aber eine Menge über Sexarbeit«, erklärte Marnie ihm.
»Ich habe viele Sexarbeiterinnen gekannt«, erwiderte er, »aber nicht im biblischen Sinne.«
»Was heißt das – im biblischen Sinne?«
»Es bedeutet, jemanden vollständig zu kennen: körperlich und emotional.«
»Keine One-Night-Stands?«
Joe zögert und erinnert sich an eine ehemalige Prostituierte namens Eliza, die ihn beinahe seine Ehe gekostet hätte und auch so einen tiefen Schatten über sie geworfen hatte, genauso sicher wie er Eliza das Leben gekostet hatte.
Marnie redet immer noch, erklärt ihm, dass sie nicht noch einmal zu der Agentur gehen wird. Sie wird einen anderen Weg finden, Daniels Schulden zurückzuzahlen. Sie hat ihr Kleid unter die Arme geklemmt.
Joe drückt mit einer Fingerspitze auf den dunkelsten Bluterguss. »Haben Sie Atembeschwerden?«
»Nur wenn ich mich zu hastig bücke.«
»Ich glaube nicht, dass etwas gebrochen ist, aber Sie sollten sich ein paar Tage ausruhen. Waren Sie bei der Polizei?«
»Ich würde lieber über etwas anderes sprechen.« Marnie zieht ihr Kleid über die Hüften und streicht es glatt, verlegener, nachdem sie jetzt wieder angezogen ist.
»Was ist das für eine Narbe über Ihrem Bauchnabel?«
Marnie verdreht spielerisch die Augen. »Sie sollten sich meine Rippen angucken.«
Joe spielt nicht mit.
Marnie zuckt vieldeutig die Schultern. »Ich bin vom Pferd gefallen und habe mir die Milz gerissen.«
»Wie alt waren Sie?«
»Dreizehn.«
»Warum haben Sie nie darüber gesprochen?«
»Was gibt es da zu besprechen? Das Pferd hat gescheut und mich in einen Zaun geworfen. Danach habe ich mit dem Reiten aufgehört.«
Marnie hat sich wieder hingesetzt und die Arme verschränkt, als wäre das Thema für sie damit beendet. Joe lässt es auf sich beruhen und fragt nach Daniel. »Irgendwelche Neuigkeiten?«
»Er ist tot.«
»Das heißt, die Polizei hat …?«
»Ich weiß einfach, dass es so ist.«
Marnie beugt sich vor und fängt an, ihre Logik darzulegen, als hätte sie die Rede vorher auswendig gelernt.
»Ich muss mit meinem Leben vorankommen. Ich muss Daniels Angelegenheiten regeln … mit der Bank reden … einem Anwalt. Daniel hatte eine Lebensversicherung. Mit dem Geld können wir unsere Schulden bezahlen. Wir könnten von vorne anfangen.«
»Und wie wollen Sie das machen?«