Erwachsene mit Autismus begleiten - Christiane Arens-Wiebel - E-Book

Erwachsene mit Autismus begleiten E-Book

Christiane Arens-Wiebel

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Beschreibung

Wenn ein Mensch mit Autismus erwachsen wird, ist es in der Regel nicht er selbst, der seine Lebensplanung in die Hand nimmt; diese Aufgabe übernehmen oft die Eltern, unterstützt von Fachkräften aus Schule und Therapiezentrum. Das Buch gibt bei Fragen der Lebensplanung konkrete Hilfestellungen: vom Ende der Schulzeit über den Auszug aus dem Elternhaus bis hin zu Arbeits- und Wohnmöglichkeiten für Menschen mit Autismus. Zudem werden wichtige Themen des Erwachsenseins wie Selbstbild, Freundschaft und Sexualität oder Freizeitgestaltung erörtert. Auch den Veränderungen im Alter, Krankheit und Krankenhausaufenthalten sowie Trauer und Verlust ist jeweils ein eigenes Kapitel gewidmet. Das Buch besticht dabei durch zahlreiche Praxisbeispiele, Tipps für den Alltag und Visualisierungshilfen für problematische Situationen, die den Umgang mit erwachsenen Menschen im Autismus-Spektrum erleichtern.

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Die Autorin

Christiane Arens-Wiebel hat 40 Jahre lang bei Autismus Bremen e. V. als Therapeutin und Leitung gearbeitet und sich darüber hinaus intensiv der Beratungs-, Schulungs- sowie Fortbildungstätigkeit gewidmet. Sie hat unmittelbar nach ihrem Studium der Sozialpädagogik begonnen, mit autistischen Kindern und Jugendlichen im Autismus-Therapiezentrum Bremen therapeutisch zu arbeiten. Wichtige Meilensteine ihrer Berufstätigkeit waren dabei in den letzten Jahren ihres Schaffens die intensive Beratungs- und Fortbildungstätigkeit in Einrichtungen für erwachsene Menschen mit Behinderung sowie mit Eltern von Betroffenen. Ihr Interesse und ihr Engagement auf diese besondere Beeinträchtigung bezogen haben nie nachgelassen. Auch heute, im Ruhestand, ist sie als Fortbildungsreferentin und Beraterin tätig.

Christiane Arens-Wiebel

Erwachsene mit Autismus begleiten

Ein Praxisbuch für Eltern und Fachkräfte

Verlag W. Kohlhammer

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1. Auflage 2021

Alle Rechte vorbehalten

© W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Gesamtherstellung: W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Print:

ISBN 978-3-17-039258-8

E-Book-Formate:

pdf:        ISBN 978-3-17-039259-5

epub:     ISBN 978-3-17-039260-1

 

Vorwort

 

 

Mein erstes Buch »Autismus. Was Eltern und Pädagogen wissen müssen«, das im April 2019 herausgekommen ist, richtet sich insbesondere an Eltern und Pädagog*innen im Umgang mit autistischen Kindern und Jugendlichen. In den letzten Jahren meiner Berufstätigkeit bei Autismus Bremen e. V. bestand meine Beratungstätigkeit überwiegend aus der Beratung von Eltern erwachsener Kinder sowie Mitarbeiter*innen aus Wohnheimen oder Werkstätten. Dabei wurde mir deutlich, dass es bisher nur wenige autismusspezifische Veröffentlichungen zum Thema erwachsene Menschen mit frühkindlichem Autismus (und intellektueller Beeinträchtigung) gibt. Was lag also näher, als die erwachsenen Menschen für ein weiteres Buch in den Fokus zu rücken und aus meiner Sicht zusammenzufassen, was für autistische Menschen im Erwachsenenalter wichtig und notwendig ist? Auch die vielen Gespräche und der umfangreiche Erfahrungsaustausch in Einrichtungen zum Wohnen und Arbeiten haben mich darin bekräftigt, mich dieser Thematik zu widmen, denn ich erkannte immer wieder, wie viele Fragen und Unsicherheiten es im Umgang mit den erwachsenen Betroffenen gibt.

Am eigenen Lebensalter bemerkt man, wie die Zeit voranschreitet, man nicht nur selbst älter wird, sondern auch die Menschen, die den eigenen Weg begleitet haben, älter werden. So geht es mir auch, wenn ich an die Kinder denke, die vielleicht drei oder fünf oder zehn Jahre alt waren, als ich vor 40 Jahren als junge Therapeutin anfing, autismusspezifisch mit ihnen zu arbeiten. Nun sind sie mindestens 40 oder 50 Jahre alt, leben vielfach in Einrichtungen, arbeiten und verleben ihre Freizeit. Ganz selten einmal hatte ich in den letzten Jahren die Gelegenheit, von diesen jungen Menschen Jahre später wieder zu hören. Bei vielen war der Weg bis zu dieser Begegnung gut verlaufen, bei anderen nicht, sodass ich als Beraterin die Gelegenheit bekam, sie wiederzutreffen. Häufig fiel mir dabei auf, dass autismusspezifische Förderung im Erwachsenenalter nicht mehr in dem Ausmaß stattfand, wie ich mir dies gewünscht hätte. Die Autismustherapie hatte im Jugendalter geendet, und eine Nachhaltigkeit war manchmal nicht zu erkennen. Der 30-Jährige Paul hatte sich bspw. als 12-Jähriger über das Schreiben mit Buchstaben verständigt (er konnte zu diesem Zeitpunkt aus einem ›Berg‹ von 100 Buchstabenplättchen die richtigen heraussuchen, um die Begriffe für bevorzugte Lebensmittel fehlerfrei zu schreiben), jedoch war dieses Können inzwischen völlig verschwunden. Dafür herrschten Erstaunen und Ungläubigkeit bei den Betreuer*innen seiner Wohnstätte, die ihm dieses Können nicht zutrauten. Glücklicherweise konnte ich ein Video zeigen und damit demonstrieren, was Paul damals für erstaunliche Fähigkeiten besessen hatte. Leider war diese besondere Befähigung verloren gegangen, und die Eltern von Paul konnten sich nicht darum kümmern, dieses Kommunikationsmittel nach Beendigung der Therapie weiterzuverfolgen und so ihrem Sohn die Chance zu geben, hiermit seine Bedürfnisse darstellen zu können. Dabei war er selbst sehr stolz darauf gewesen. Jedoch hatte es der Alltag mit seinen Problemen und Veränderungen verhindert.

Mein persönlicher Anspruch an die Arbeit mit autistischen Menschen ist immer gewesen, sie bestmöglich zu fördern bzw. ihrem Umfeld aufzuzeigen, wie eine optimale, kontinuierliche Förderung im Kleinkindalter, beim Schulkind, für den Teenager oder die Teenagerin, aber auch für Erwachsene so gut wie möglich gelingen kann. Meine Erfahrung ist, dass die betroffenen Menschen immer dankbar für Anregungen und Beschäftigungen sind bzw. waren. Dafür ist jedoch erforderlich, sie mit ihrer besonderen Wahrnehmung und ihren Bedürfnissen zu begreifen und anzunehmen. Dann sind sie mitunter zu Leistungen in der Lage, die ihnen keiner zugetraut hat. Dass dies möglich ist, hat für mich schon immer das Besondere und ›Unbegreifliche‹ des Autismus ausgemacht.

Inzwischen im Ruhestand kann ich mich nicht mehr tagtäglich für die Belange autistischer Menschen einsetzen, dies machen jetzt jüngere Menschen, die ihre eigenen Ideen und persönlichen Vorlieben haben. Dennoch habe ich mit diesem Buch die Chance genutzt, meinen beruflichen Weg mit Autismus (als Begleiterin von Eltern Betroffener und von Mitarbeiter*innen in Einrichtungen) noch einmal zu beschreiten, und zwar von dem Punkt an, wo mein letztes Buch endet, nämlich mit dem Übergang des jungen Menschen in Berufsausbildung, Arbeit und Wohnen. Das ganze Leben eines Menschen mit Autismus von Anfang an bis zum Ende (Sterbebegleitung) darzustellen, Verständnis für die Beeinträchtigung sowie vielseitige pädagogische Hilfen vorzustellen und Fachleuten bzw. Bezugsperson anzubieten – das sind die Ziele dieses Buches.

Danken möchte ich an dieser Stelle meinem Sohn Max für die hilfreiche Unterstützung beim Erstellen und Bearbeiten der Fotos und der Beantwortung von computertechnischen Fragen. Meinem Mann Günter danke ich für die Nachsicht bei meiner zeitaufwendigen Beschäftigung mit dieser Veröffentlichung, besonders für seine liebevolle Unterstützung und Aufmunterung. Ein besonderes Dankeschön gilt Elisabeth Häge, Lektorin im Kohlhammer Verlag, für ihre überaus zuvorkommende und hilfreiche Betreuung einschließlich prompter und überzeugender Beantwortung sämtlicher Fragen– diese Unterstützung bedeutet mir viel.

Christiane Arens-Wiebel

 

Inhalt

 

 

Vorwort

 

1     Einleitung

 

2     Übergang zwischen Kindheit und Erwachsensein

 

2.1   Das Ende der Schulzeit

2.2   Vorbereitung auf den Übergang

2.3   Voraussetzungen für einen erfolgreichen Start in die Berufsausbildung

2.4   Aufnahme in den Berufsbildungsbereich in einer WfbM

2.5   Aufnahme in eine Tagesförderstätte

3     Arbeiten mit Autismus

 

3.1   Voraussetzungen und Arbeitsbedingungen

3.2   Arbeitsbereiche

3.3   Strategien für das erfolgreiche Gelingen

3.4   Unterstützung durch den TEACCH-Ansatz

3.5   Soziale und kommunikative Herausforderungen

3.6   Umgang mit Verhaltensproblemen

4     Wohnen, Tagesgestaltung und Förderung

 

4.1   Auszug aus dem Elternhaus

4.2   Ablösungsprozess

4.3   Wohnmöglichkeiten für autistische Menschen

4.4   Erfordernisse an Wohnstätten

4.5   Suche nach einer geeigneten Einrichtung

4.6   Feierabend, Wochenenden und Urlaub

4.7   Selbstständigkeit

4.8   Soziale Beziehungen und Freundschaften

4.9   Förder- und Therapieangebote im Alltag

4.10 Umgang mit Verhaltensproblemen

5     Autismusspezifische Krisen

 

5.1   Auslöser für Krisen

5.2   Verarbeitung der Autismus-Spektrum-Störung

5.3   Veränderungen

5.4   Sexualität

5.5   Komorbiditäten

5.6   Krankheit und Schmerz

5.7   Arztbesuche und Krankenhausbehandlung

5.8   Umgang mit Krisen

5.9   Aufklärung der Mitbewohner und Kollegen über Autismus

6     Veränderungen in der Herkunftsfamilie

 

6.1   Älterwerden der Eltern

6.2   Krankheit und Tod der Eltern

6.3   Umgang mit Verlust und Trauer

6.4   Geschwisterbeziehungen

7     Älterwerden des Menschen mit Autismus

 

7.1   Veränderungen im Alter mit Zunahme von Alterserkrankungen

7.2   Lebensqualität

7.3   Renteneintritt

7.4   Biografiearbeit

7.5   Förderung im Alter

7.6   Gestaltung der Umgebung

7.7   Dementielle Veränderungen

7.8   Palliativmedizin, Pflege und Sterbebegleitung

8     Ausblick

 

Anhang

 

Literaturverzeichnis

Abbildungs- und Tabellenverzeichnis

1

Einleitung

Autismus ist eine schwerwiegende Beeinträchtigung. Autismus besteht von Geburt an, die ersten Anzeichen müssen bis zum dritten Geburtstag aufgetreten sein, um die Diagnose »Frühkindlicher Autismus« stellen zu können. Auch wenn die Diagnosestellung häufig erst im Vorschulalter oder später erfolgt, so ist bei einem Menschen mit Autismus von Anfang an etwas anders, was ihn sein Leben lang begleiten und beeinträchtigen wird. Daher genießt das autistische Kind schon frühzeitig besondere Aufmerksamkeit und Fürsorge durch seine Eltern, wird bestenfalls bereits als Kleinkind zu Therapien gebracht, und seine Eltern versuchen, Förder- und Erziehungsratschläge zu Hause umzusetzen. Das Kind wird in einer integrativen Kindertagesstätte oder einem speziellen Kindergarten gefördert und erhält dort begleitend Therapien bzw. spezielle Angebote. Auch in der Schulzeit besteht weiterhin ein intensives Förderangebot. Der Alltag und das Leben zu Hause werden spezifisch auf dieses Kind ausgerichtet. Das Kind (und später der/die Erwachsene) mit Autismus-Spektrum-Störung ist ein besonderer Mensch, auf den übliche pädagogische Konzepte nicht anzuwenden sind. Daher fragen sich die Bezugspersonen immer wieder, ob sie alles richtig machen, und was sie mglw. anders machen könnten oder sollten. Einen Menschen mit Autismus zu verstehen und ihn fördernd zu begleiten, ist eine Herausforderung und fordert von der Umwelt große Empathie, pädagogisches Geschick, Kreativität, aber auch Konzepte, um z. B. eine strukturierte Beschäftigung oder einen ebensolchen Tagesplan anzubieten. Hierfür ist notwendig, Autismus zu verstehen, sich erklären zu können, warum sich der Mensch in diesem Moment so verhält, zu begreifen, wie er wegen des Autismus am besten lernen kann, zu spüren, wenn gerade nichts mehr geht, und geduldig und gelassen zu bleiben, wenn etwas einmal nicht so funktioniert, wie man es sich vorstellt.

Das, was in der Kindheit so wichtig war, setzt sich im Erwachsenenalter fort. Lebenslange Förderung ist das Ziel, gepaart mit Integration in die Gesellschaft in den Bereichen Arbeit bzw. Beschäftigung, Wohnen und Freizeit. Die Aufgabe von Angehörigen und Betreuer*innen ist, die Bedingungen bzw. den Rahmen dafür zu schaffen, dass der beeinträchtigte Mensch sich besser anpassen und in eine Gruppe bzw. Institution integrieren kann. Dazu gehört, für Strukturen und Klarheit zu sorgen, Vorhersehbarkeit, Verlässlichkeit, Ruhe und Beharrlichkeit zu gewährleisten und sich insbesondere um eine autismusfreundliche Kommunikation zu bemühen. Hier ist der Menschen mit Autismus auf Unterstützung des Umfelds angewiesen. Ein junger Mensch hat mit Abschluss der Schulzeit noch nicht ausgelernt, und es kann sich noch viel verändern und entwickeln. Auch der älter oder alt werdende Mensch mit Autismus ist noch förderbar. Entwicklung funktioniert jedoch nur, wenn dem Menschen entsprechende, auf ihn persönlich zugeschnittene Angebote gemacht werden – hierauf ist er angewiesen.

Im vorliegenden Buch wird beschrieben, was in der Phase des Erwachsenseins, die nach der Kindheit die deutlich längere Lebensspanne ist, sinnvoll und notwendig ist, um die Integration autistischer Menschen in Einrichtungen zu erleichtern und den Betroffenen und ihren Mitbewohner*innen und Kolleg*innen eine gute Lebensqualität zu ermöglichen. Es wird auch über die Rolle der Eltern und deren besondere Verantwortung und Fürsorge ihrer autistischen Tochter/ihrem autistischen Sohn gegenüber geschrieben, und wie sie gut damit umgehen können. Das Buch beschreibt ungefähr 50 Lebensjahre im Leben eines autistischen Menschen, und bezieht dabei die Rollen seiner Herkunftsfamilie, seiner Betreuer*innen, Kolleg*innen und Mitbewohner*innen ein. Die Darstellung endet am Lebensende, d. h., abschließend wird das höhere Lebensalter beschrieben, denn gerade beim älter werdenden Menschen mit Autismus gibt es Besonderheiten, wie für ihn der letzte Lebensabschnitt mit größtmöglicher Lebensqualität gestaltet werden kann. Zu allen Themen gibt es bisher nur vereinzelte Studien bzw. Berichte, da Autismus nicht im Fokus bspw. der Altersforschung steht. Es gibt jedoch viele Veröffentlichungen zum Bereich der geistig Behinderten – die Erkenntnisse hieraus können modifiziert bzw. autismusspezifisch angeglichen größtenteils auch auf autistische Menschen übertragen werden.

Zur besseren Übersichtlichkeit und praktischen Verwendbarkeit habe ich das Literaturverzeichnis in Kategorien aufgeteilt. Diese enthalten weiterführende Bücher, aber auch Links zu hilfreichen Internetseiten, zum Teil auch mit kurzen Filmen.

Fallbeispiele, die aus meiner langjährigen Tätigkeit als Therapeutin und Beraterin entstanden sind, sind im Text gekennzeichnet durch einen blauen Balken am linken Rand.

2

Übergang zwischen Kindheit und Erwachsensein

Menschen im Autismus-Spektrum verfügen (so wie Menschen allgemein) über ein individuelles sprachliches und kognitives Niveau und ganz unterschiedliche Fähigkeiten, aber auch Interessen. Es gibt Betroffene mit schwach und Betroffene mit stark eingeschränkten Fähigkeiten und daraus resultierenden Möglichkeiten. Es finden sich Menschen mit Verhaltensauffälligkeiten wie massiven Stereotypien, selbstverletzenden Verhaltensweisen, fremdaggressivem Verhalten, Verweigerungen, minimaler Aufmerksamkeitsspanne, erheblicher Beeinträchtigung der Kommunikation und sehr geringen Fähigkeiten der Selbstständigkeit, dies insbesondere unter den stark kognitiv beeinträchtigten Menschen. Andere autistische Menschen verfügen über eine vollständige Sprache, sind intellektuell nur leicht beeinträchtigt, besitzen bspw. kulturtechnische Fähigkeiten und sind sehr selbstständig. Sie sind sich ihrer Beeinträchtigung bewusst und verlangen, sehr genau an ihrer persönlichen Zukunftsplanung und Lebensgestaltung beteiligt zu werden. So unterschiedlich Menschen im Spektrum sind, so variabel und individuell sind die Erfordernisse an ihre Zukunft. Das Ziel ist immer eine Ausbildung und spätere Beschäftigung auf einem angemessenen Niveau, die persönlichen Stärken und Interessen berücksichtigend. Dies lässt sich allerdings nur mit großem Einsatz insbesondere der Eltern und einer intensiven Mitwirkung der Lehrer*innen, der zukünftigen Ausbilder*innen und wohlwollender Zusammenarbeit mit der Reha-Beratung bewerkstelligen.

2.1       Das Ende der Schulzeit

In Deutschland ist die Schulpflicht einschließlich der Anzahl der Schulbesuchsjahre aufgrund der Kulturhoheit der Länder in den einzelnen Landesverfassungen geregelt. Jede/jeder autistische Schüler*in geht neun bis zwölf Jahre in die Schule, wird integrativ bzw. inklusiv beschult oder besucht eine Förderschule bzw. eine Tagesbildungsstätte. Dabei gibt es unterschiedliche Konzepte für die Abschlussjahre und den Übergang in einen (vor-)beruflichen Bereich. In den Abschlussjahrgängen ist es wichtig, den/die Schüler*in auf das Leben nach der Schulzeit vorzubereiten. Schwerpunkte der Förderung des/der Jugendlichen bzw. jungen Erwachsenen sind die Vermittlung von sozialen, lebenspraktischen und berufsbezogenen Kompetenzen sowie die Stärkung der Ich-Identität. Die Inhalte und Ziele des Unterrichts sollten sich an den Fähigkeiten, Bedürfnissen und Interessen des/der jeweiligen Schüler*in auf der Grundlage des Lehrplans orientieren. Vorhandene Fertigkeiten werden aufgegriffen und vertieft. Inhalte und Ziele des Unterrichts richten sich an die Anforderungen des Erwachsenenlebens in den Bereichen Arbeiten, Wohnen, Freizeitgestaltung und soziales Leben. Hierzu gehören Einzelfähigkeiten wie z. B. das Lesen von Fahrplänen, Rechnen mit Geld, einkaufen, saubermachen, Wäsche pflegen sowie Themen wie Kennenlernen verschiedener Wohnformen, Öffentlichkeit (Behörden), Gesundheitsfürsorge, Ernährung und der Umgang mit Medien. Der Lehrplan hängt dabei von der besuchten Schulform ab, also ob sich der junge Mensch bspw. in einer Schule für Körperbehinderte, einer Tagesbildungsstätte oder in einer integrativen oder inklusiven Schule befindet. Die letzten Schuljahre bilden eine wichtige Grundlage für den weiteren Weg des jungen Menschen. In dieser Zeit können intellektuelle Fähigkeiten, Selbstständigkeitsfertigkeiten sowie Verhaltensverbesserungen erreicht werden. Mit deren Hilfe wird eine positive Integration in eine Einrichtung der Berufsorientierung und Arbeit wahrscheinlicher.

»Schülerinnen und Schüler mit Bedarf an sonderpädagogischer Unterstützung im Förderschwerpunkt geistige Entwicklung werden zieldifferent unterrichtet. Sie erwerben im Kompetenzbereich ›vorberufliche Bildung‹ grundlegende Kompetenzen in verschiedenen Arbeitsfeldern, um ihnen auf dieser Basis Entscheidungen zur Aufnahme einer Arbeitstätigkeit zu ermöglichen. Die Konfrontation mit betrieblichen Abläufen auf der Ebene beruflicher Realitäten (Betriebspraktika), die Auseinandersetzung mit den Themen Arbeits- und Gesundheitsschutz sowie die persönliche Berufswegeplanung sind zentrale Inhalte im Sekundarbereich II. Die Förderschulen führen berufsorientierende Maßnahmen entsprechend den Fördermöglichkeiten und dem Unterstützungsbedarf ihrer Schülerinnen und Schüler durch und gestalten die schuleigenen Berufsorientierungskonzepte mit einem großen Spielraum für individuelle Anpassungen. Ein mit Kooperationspartnern gemeinsam entwickeltes Berufsorientierungskonzept, das die Bedürfnisse und Leistungsmöglichkeiten der Schülerinnen und Schüler einbezieht, sorgt für authentische und vielfältige Anwendungssituationen im Berufsalltag« (Musterkonzeption Berufs- und Studienorientierung mit Handreichungen, Niedersächsisches Kultusministerium 2017, S. 22).

Um selbst einschätzen zu können, über welche Fähigkeiten ein junger Mensch mit Beeinträchtigung verfügt, lässt sich bspw. die Fähigkeitssammlung aus dem Ordner »Gut leben« (4. Auflage, 2017, Hrsg. Lebenshilfe) nutzen. Hier gibt es Fragen in Leichter Sprache, die folgende Bereiche betreffen: Aussehen, kochen und essen, Gesundheit, Sicherheit, Aufgaben und Arbeiten, Kontakte, Selbstorganisation, Umgang mit Geld und Behörden.

Beispiel aus dem Thema »Aufgaben und Arbeiten«

   Ich kann an Aufgaben dranbleiben, bis sie fertig sind.

   Ich kann mir selbst etwas vornehmen und es auch machen.

   Ich erkenne Fehler – bei mir und bei anderen.

   Ich kann einen Zeitplan machen und mich daran halten.

   Ich kann nach Hilfe fragen.

   Ich kann mich für eine neue Arbeit bewerben.

   Ich kann gut mit anderen zusammenarbeiten.

   Ich kann Anweisungen der Chefin/des Chefs folgen.

   Ich kann mir Anweisungen merken.

Der/die Schüler*in kann hier ankreuzen »ich kann’s« oder »ich will’s lernen«. Sicherlich ist eine Unterstützung durch eine Lehrkraft oder ein Elternteil notwendig, um die Fragen korrekt zu beantworten. Bspw. ist bei der Antwort »ich kann gut mit anderen zusammenarbeiten« eine wichtige Frage, was im Einzelnen ›gut‹ ausmacht – hier ist eine gezielte Bestimmung des Begriffs »gut zusammenarbeiten« notwendig.

Gut zusammenarbeiten könnte für eine Person bedeuten ( Abb. 1):

   Ich arbeite an meinem Arbeitsplatz.

   Ich arbeite leise.

   Wenn ich die anderen als zu laut empfinde, trage ich einen Gehörschutz.

   Ich fasse die anderen nicht an.

   Ich versuche freundlich zu sein.

   Ich halte mich an die vorgegebenen Zeiten (z. B. für eine Pause).

   Ich versuche ruhig zu bleiben, wenn etwas schwierig ist.

Abb. 1: Gut arbeiten (METACOM Symbole © Annette Kitzinger)

Über die Selbsteinschätzung des/der Schüler*in hinaus ist in jedem Fall eine umfassende Beobachtung ratsam, wie diese bspw. beim TTAP (TEACCH Transition Assessment Profile, Mesibov et al. 2017;  Kap. 3.4) vorgeschlagen wird. Dies ist ein Verfahren zur förderdiagnostischen Untersuchung von Jugendlichen und Erwachsenen mit einer Autismus-Spektrum-Störung und einer leichten bis starken intellektuellen Beeinträchtigung. Das TTAP wurde konzipiert, um den Übergang junger Menschen in das Erwachsenenleben zu planen. Hierfür werden gezielte Beobachtungen im Kontakt zu dem Menschen mit Autismus dokumentiert, aber auch Bezugspersonen aus den Bereichen Schule, Arbeit und Wohnen interviewt, um einen möglichst umfassenden Kenntnisstand über die Fähigkeiten des jungen Menschen zu erheben. Das Verfahren ist in sechs Bereiche aufgeteilt: berufliche Fertigkeiten, Eigenständigkeit, Kompetenzen zur Freizeitgestaltung, Arbeitsverhalten, funktionale Kommunikation und zwischenmenschliches Verhalten. Nach Durchführung der Aufgaben und Vermerk der Ergebnisse in vorgefertigten Rastern soll verschriftlicht werden, welche Stärken und Schwächen der junge Mensch hat und wie Strukturierungshilfen ermöglicht werden können, um bspw. selbstständige Fertigkeiten zu erreichen. Ein Beispiel ist Wäsche waschen: Wie sortiere ich meine Wäsche, wie befülle ich die Waschmaschine, welches Programm wähle ich aus? Es geht dann auch darum, Empfehlungen für Förderprogramme für zu Hause oder in der Schule, am Ausbildungsplatz oder im Bereich des Wohnens zu geben.

Marvin ist ein 22-jähriger junger Mann mit Autismus und einer leichten Lernbehinderung. Er hat die Schulzeit, inklusiv beschult, ohne Abschluss beendet und lebt in einer Wohneinrichtung. Bei der Erfassung seiner Fähigkeiten durch das TTAP (im Rahmen der Autismustherapie) fällt auf, dass er vieles kann, wenn es direkt vor ihn gestellt wird, bspw. etwas sortieren, Fehler erkennen oder eine schriftliche Aufgabe bewältigen. Was ihm jedoch sehr schwerfällt ist, diese Aufgaben in Anwesenheit weiterer Personen zu erledigen. Außerdem schafft er selten den Übergang zwischen zwei Aktionen, d. h. etwas aufzuräumen und im Anschluss eine weitere Aufgabe zu beginnen. Schwierig ist für ihn auch, bei einer neuen Anforderung den nächsten Schritt anzugehen, sowie um Hilfe zu bitten, wenn er mit etwas nicht weiterkommt. Das größte Problem ist allerdings, dass er zu den meisten Tätigkeiten nicht motiviert ist, sondern sich am liebsten in sein Zimmer zurückzieht und sich mit Videospielen beschäftigt. Daher liegt die Verwirklichung des Ziels, ihn an einen Arbeitsplatz zu vermitteln, in weiter Ferne.

Schulpraktika

Üblicherweise leisten auch Schüler*innen mit Förderbedarf in den letzten Schuljahren Praktika ab, um Arbeit an sich sowie bestimmte Arbeitsfelder kennenzulernen und auf das zukünftige Leben mit täglicher Arbeit in einer Fördereinrichtung oder Werkstatt vorbereitet zu werden. Der/die Schülerpraktikant*in verbringt zwei Wochen an einem speziellen Arbeitsplatz, er oder sie muss sich auf eine neue Situation mit unbekannten Gegebenheiten (Personen, Räume, Abläufe etc.) einstellen und Tätigkeiten ausführen, die ihm/ihr wahrscheinlich fremd sind. Wenn seine/ihre kognitiven Fähigkeiten dies zulassen, führt er oder sie während des Praktikums ein Berichtsheft und schreibt im Anschluss ein paar Sätze zum Praktikum auf. Damit der/die Schüler*in das Praktikum erfolgreich absolvieren kann, ist es notwendig, dass alles gut vorbereitet ist.

Praxistipp zur Struktierung und Vorbereitung eines Schulpraktikums und Anlegen einer Praktikumsmappe

   Praktikumsbetrieb festlegen,

   Ort, Beginn und Ende des Praktikums,

   Arbeitszeit,

   Pausen und Pausenverpflegung,

   Arbeitskleidung,

   Arbeitsplatz konkret (welcher Raum und welcher Platz?),

   Art der Aufgaben,

   Regeln am Arbeitsplatz,

   Betreuung durch Lehrpersonal (z. B. wöchentlicher Besuch am Praktikumsplatz),

   Akzeptanz durch die Praktikumsstelle, wenn Lehrer*innen Verbesserungsvorschläge zum Praktikum machen,

   Beurteilung des Arbeits- und Sozialverhaltens des/der Schüler*in (Gruppenfähigkeit, Selbstständigkeit, Bewältigung und Ausführung der Arbeit, Ausdauer und Konzentration, Umgang mit Vorgesetzten und Reaktion auf Kritik, Einhalten von Regeln),

   Nachbesprechung mit dem Praktikumsbetrieb,

   Nachbesprechung mit dem/der Schüler*in, soweit möglich,

   Nachbesprechung im Klassenteam.

Bericht der Mutter von Toni (15) zum Praktikum ihres Sohnes in der Werkstatt für Menschen mit Behinderung (WfbM)

»Leider gab es in dieser Woche an keinem Tag auch nur das Geringste zu tun für Toni. Habe ihn immer früh abgeholt, morgen soll er ganz zuhause bleiben, bat man mich. Leider konnte ich bei einem Gespräch mit der Bereichsleitung der Werkstatt nichts erreichen. Die Schulleitung habe ich auch informiert. Toni nützt es nichts mehr, aber bevor sie die nächsten Schüler dort hinschicken, sollte alles besser vorbereitet werden.«

Der Schüler Toni hat in diesem Fall gelernt, dass Arbeit etwas Langweiliges ist, wo es wenig zu tun gibt und wo er gar nicht hin muss, wenn keine Arbeit da ist. Das ist jedoch nicht die Realität. Es wäre besser, wenn die Schüler*innen erfahren würde, dass im Arbeitsprozess täglich wiederkehrende Aufgaben vorkommen, mit denen sie nach einer Eingewöhnung vertraut sind und die ihnen dann leicht von der Hand gehen. Sie sollten erfahren, dass ihnen Wertschätzung entgegengebracht wird, wenn sie ihre Arbeit gut erledigen. So können Schüler*innen Erfahrungen mit Kolleg*innen und Vorgesetzten machen, auch wenn ein Praktikum immer eine besondere Situation ist und die Schüler*innen nur in einen Arbeitsbereich ›hineinschnuppern‹. Dennoch gewinnen die Schüler*innen die Erkenntnis, dass es auch hier Regeln und Strukturen gibt, die sie bereits aus der Schule kennen.

Da ein Schulpraktikum für den/die Schüler*in eine neue Situation ist, in der er oder sie mit unbekannten örtlichen Gegebenheiten, einem neuen Anfahrtsweg, fremden Menschen, erstmaligen Aufgaben und mglw. beängstigenden Situationen zurechtkommen muss, erscheint eine Vorbereitung sinnvoll. Es bietet sich auch an, dass der/die Schüler*in – wenn vorhanden – von der Schulassistenz begleitet wird, die ihn bzw. sie sicher durch den Tag bringt, als Sprachrohr bzw. ›Übersetzer‹ für die individuellen Bedarfe dient und in krisenhaften Situationen vermittelnd tätig wird. Die Vorbereitung der neuen Situation kann bspw. durch Fotos und mündliche Erklärungen erfolgen, auch in Form einer Social Story ( Abb. 2).

Abb. 2: Mein Schulpraktikum (METACOM Symbole © Annette Kitzinger)

Praxistipp: Schulpraktikum

Für das Praktikum an sich sind folgende Punkte von großer Bedeutung:

   Vorbereitung des/der Schüler*in auf die neue Erfahrung,

   überschaubarer Arbeitsplatz mit für den/die Schüler*in erkennbaren, vorstrukturierten Aufgaben,

   Visualisierung der Aufgaben, Regeln und Arbeitszeiten (Pausen),

   erfahrene*r Praxisanleiter*in,

   reduzierte Arbeitszeit, angepasst auf die Bedürfnisse des/der Schüler*in.

BEVO (Berufsvorbereitung)

In der Regel finden in den letzten beiden Schuljahren Gespräche zur Berufsvorbereitung (BEVO) in der Schule statt. An diesen nehmen Vertreter*innen der ansässigen Werkstätten für Menschen mit Behinderungen (WfbM), der Agentur für Arbeit und des Sozialhilfeträgers teil, um gemeinsam mit dem/der Schüler*in, den Eltern oder gesetzlichen Betreuer*innen den nachschulischen Werdegang zu besprechen und vorzubereiten. Je nach Bundesland und je nach Schule gibt es hier unterschiedliche Ansätze. Der Gesprächskreis zur Berufsvorbereitung soll dem/der Schüler*in, um den/die es geht, und seinen/ihren Angehörigen Sicherheit geben und helfen, die notwendigen Schritte zu gehen. Hier geht es nicht nur um die Fähigkeiten und beruflichen Interessen des/der Schüler*in, sondern auch um Information der Bezugspersonen zu rechtlichen Grundlagen der finanziellen Versorgung, Verrechnung von Pflegegeld, Vermögen etc. beim Eintritt in eine WfbM. Bei Menschen mit höherem Funktionsniveau geht es auch um Hilfen bzw. rechtliche Grundlagen bei der Integration auf dem ersten Arbeitsmarkt. Eltern haben bei diesen Gesprächen die Möglichkeit, entsprechende Fachleute zu fragen, mglw. Einwände zu erheben oder vor allem dafür zu sorgen, ein möglichst angemessenes und individuelles Angebot für ihr Kind zu initiieren.

DIA-AM (Diagnose der Arbeitsmarktfähigkeit besonders betroffener behinderter Menschen)

Der Weg für den jungen Menschen mit Autismus ist häufig bereits frühzeitig vorgezeichnet. Die Lehrer*innen der Förderschule und die Berater*innen der Agentur für Arbeit schlagen in der Regel vor, dass der junge Mensch in eine WfbM aufgenommen wird, dort eine berufsvorbereitende Phase durchläuft und später in der Werkstatt arbeitet. Wenn er oder sie eine stärkere Beeinträchtigung hat, wird er/sie üblicherweise in eine Tagesförderstätte integriert. Selten wird überlegt, welche Ausbildung bzw. zukünftige Tätigkeit sich stattdessen für den jungen Menschen eignen könnte. Um hier Alternativen anzuschauen, steht als ein offizielles Instrument das Verfahren DIA-AM (Diagnose der Arbeitsmarktfähigkeit besonders betroffener behinderter Menschen) zur Verfügung. Der/die Reha-Berater*in der Bundesagentur für Arbeit entscheidet, ob diese Methode durchgeführt wird. DIA-AM richtet sich speziell an Menschen, bei denen nicht klar ist, ob sie fit genug für die Anforderungen des allgemeinen Arbeitsmarkts sind oder ob eine WfbM als Arbeitsplatz geeigneter wäre.

»Das Ziel der Maßnahme ist es, durch eine Eignungsanalyse und eine betriebliche Erprobung herauszufinden, welche berufliche Rehabilitationsmaßnahme für einen Menschen mit Behinderung geeignet ist. Das Ergebnis kann z. B. eine berufsvorbereitende Bildungsmaßnahme (BvB), die Maßnahme ›Unterstützte Beschäftigung‹ oder die Qualifizierung in einer Werkstatt für behinderte Menschen (WfbM) sein« (Quelle: https://www.rehadat-bildung.de/de/angebote/diagnose-der-arbeitsmarktfaehigkeit/).

Persönliche Zukunftsplanung

Wenn der/die Reha-Berater*in das DIA-AM-Verfahren für unangebracht hält, ist es sinnvoll, über alternative Möglichkeiten nachzudenken. Eine gängige Methode ist die der ›Persönlichen Zukunftsplanung‹. Dieses Verfahren ist nicht autismusspezifisch, sondern überwiegend für Menschen mit Beeinträchtigungen gedacht. Es kann auch für gesunde Menschen, z. B. in der Phase einer möglichen oder notwendigen Lebensveränderung, genutzt werden. Nach einem festgelegten Prozedere wird über die Zukunft einer Person beraten, gemeinsam zwischen Betroffenen sowie Bezugspersonen. Es werden Wünsche und Vorstellungen entwickelt bzw. neu entdeckt, Ziele gesteckt und nach Möglichkeiten gesucht, diese umzusetzen. Entwickelt wurde die Methode der Zukunftsplanung in den USA und im deutschsprachigen Raum von Stefan Doose, dem Geschäftsführer der Bundesarbeitsgemeinschaft für Unterstützte Beschäftigung, etabliert.

Eine persönliche Zukunftsplanung für Menschen mit schwerer Behinderung unterscheidet sich von der bei gesunden Menschen in der Auswahl der didaktischen Mittel. Neben der sprachlichen Ebene, die das wesentliche Element der Zukunftsplanung ist, müssen für Menschen mit Behinderung andere Ausdrucksformen für Wünsche, Interessen und Vorlieben gefunden werden: Man kann mit Bildern, Karten, Fotos und Symbolen arbeiten oder es einfach ausprobieren.

Im Mittelpunkt der Persönlichen Zukunftsplanung steht der Mensch mit seinen persönlichen Wünschen an die Zukunft, also auch den Vorstellungen, wie er leben möchte. Grundlagen für die Zukunftsplanung sind seine persönlichen Interessen und speziellen Themen, seine besonderen Fähigkeiten und Stärken. Probleme bzw. Schwächen wie mangelnde Konzentrationsfähigkeit, sensorische Schwierigkeiten, zwanghafte Verhaltensweisen oder kommunikative Einschränkungen werden im Verlauf mit einbezogen. Auch wenn der übliche Weg eines Menschen mit Beeinträchtigung die Werkstatt ist, wird bei der Persönlichen Zukunftsberatung danach gefragt, ob es eine Alternative gibt, und wie diese geplant und mglw. erprobt werden kann. Die Persönliche Zukunftsplanung geht also einen anderen Weg: Sie rückt die Person in den Fokus und leitet aus ihrer Individualität die passenden Tätigkeitsfelder ab. Hierbei stellt sich auch in hohem Maße die Frage nach den erforderlichen Hilfen und Unterstützungsleistungen und deren Koordination.

Es gibt hauptsächlich zwei verschiedene Formen der Persönlichen Zukunftsplanung, nämlich »MAPS«, und »PATH«. Bei beiden Formen wird mit zahlreichen Visualisierungen gearbeitet, was Menschen mit Autismus sehr entgegenkommt. Gearbeitet wird individuell mit und für die Person, und es geht in erster Linie um alles Positive, auf diesen Menschen bezogen, also um Fragen wie »er oder sie mag«, »er oder sie kann«, »er oder sie möchte«, »ihm/ihr ist wichtig«, »es war großartig, als er oder sie« etc. Bei nichtsprachlichen Menschen oder bei denen, die sich über diese positiven Aussagen nicht im Klaren sind, können die Antworten auch durch Angehörige, Lehrer*innen oder Therapeut*innen unterstützt oder gegeben werden. Üblicherweise wird ein Zukunftsfest veranstaltet, bei dem alle Bezugspersonen und Unterstützer*innen zusammenkommen.

Zunächst erfolgt eine ›MAPS‹ (Planungsprozess), bei der die persönliche Geschichte, Träume und Wünsche, ›Albträume‹, das Besondere der Person an sich, ihre Stärken, Vorlieben und Talente sowie ihre Bedürfnisse beschrieben und visualisiert werden. Es folgt anschließend eine Visualisierung der notwendigen nachfolgenden Schritte (›PATH‹): Welches Ziel gibt es? Wie ist der Ist-Stand? Wer sind Bündnispartner*innen bzw. mögliche Unterstützer*innen? Was macht die Person stark? Was soll in ein paar Monaten erreicht sein, was in einem halben Jahr? Welches sind die ersten Schritte?

Es wird mit großen Papierbögen und Stiften gearbeitet, selbstverständlich können auch Fotos und Symbole benutzt werden. Es empfiehlt sich, eine bzw. einen erfahrene*n Berater*in sowie eine zeichnende Person dazu zu holen, damit die Durchführung sowie das Ergebnis nachhaltig sind. Die Personen sollten sich vorher ausführlich mit der Methode vertraut gemacht haben. Die Teilnehmer*innen des Unterstützungskreises sollten möglichst offen, wertschätzend und unterstützend sein. Die Persönliche Zukunftsplanung dauert mindestens zweieinhalb Stunden bis zu einen halben Tag.

Bei nichtsprechenden bzw. schwer beeinträchtigten Menschen kann ebenfalls eine Persönliche Zukunftsplanung erfolgen. Diese sollte prinzipiell für alle Menschen möglich sein, unabhängig von der Schwere der Beeinträchtigung. Hierbei stellt sich besonders die Frage nach dem ›Wie‹, da die Betroffenen ihre Wünsche und Vorstellungen vielleicht nicht verbal äußern können, ein Dialog also auf den ersten Blick nicht möglich erscheint. Bei der Zukunftsplanung für diese Menschen ist sehr wichtig, den Unterstützerkreis zu hören, da sich in dieser Gruppe Personen befinden, die aus Erfahrung im Umgang mit den autistischen Menschen Ideen für die Zukunft entwickeln können. In der Zukunft wird ausprobiert, ob diese die richtigen sind. Wenn nicht bzw. wenn weitere Entwicklungsmöglichkeiten bestehen, wird etwas verändert bzw. nachgebessert.

2.2       Vorbereitung auf den Übergang

Übergänge werden von Menschen mit Autismus als Veränderungen wahrgenommen und häufig als Krisen erlebt. Krisen wiederum können zu länger andauernden Verhaltens- und Wesensveränderungen beitragen. Übergänge haben die Betroffenen zunächst als Kinder immer wieder erlebt (Eintritt in eine Kita, Wechsel von der Kita in die Schule, Aufsteigen in eine weiterführende Schule usw.), dennoch kommt es nicht zu Routine. Andere Übergänge entstehen beim Beginn einer Ausbildung, Wechsel von einem Beschäftigungsplatz zum nächsten, bei Betreuerwechseln, bei der Eingliederung in eine Institution (wie eine Wohnstätte). Warum Übergänge und Veränderungen solche Herausforderung bedeuten, dafür gibt es Erklärungen. Ein Verständnis für diese Probleme lässt sich durch den Einblick in die besonderen Hirnstrukturen erreichen. Bildgebende Verfahren zeigen strukturelle Besonderheiten in manchen Gehirnregionen sowie ein abnormes Zusammenspiel verschiedener Gehirnteile. Autistische Menschen haben insbesondere Probleme mit der Theory of Mind, den exekutiven Funktionen und der zentralen Kohärenz. Folgendes Schaubild soll dies verdeutlichen ( Abb. 3).

Abb. 3: Grundprobleme autistischer Menschen

Hierzu ein Fallbeispiel. Der 19-jährige Simon verließ die integrative Schule und sollte in die Werkstatt der Lebenshilfe (WfbM) integriert werden. Es fand ein Runder Tisch statt, bei dem die Lehrer*innen und die Autismustherapeutin insbesondere von den Fortschritten und Fähigkeiten Simons in den letzten Monaten berichteten. Dass er schon immer versucht hatte, aus der Schule und dem Therapiezentrum wegzulaufen, wenn unbekannte Situationen auftraten, wurde nur am Rande erwähnt. Schon am ersten Tag in der Werkstatt wurde klar, dass es der falsche Ort für Simon war. Er nutzte jede Gelegenheit, sich der Situation zu entziehen, obwohl sich alle sehr große Mühe gaben, ihn zu integrieren, ihm geduldig alles erklärten und ihm die Konsequenzen seines Weglaufens darstellten. Er versuchte dennoch immer wieder, den Raum zu verlassen, und es war schwierig, ihn einzuholen bzw. wiederzufinden. Trotz aller ›Überredenskünste‹, ihm Ort und Arbeit schmackhaft zu machen, scheiterte das Projekt nach wenigen Tagen, und es blieb Simon nicht erspart, von dieser Einrichtung nach wenigen Tagen in eine Umgebung zu wechseln, in der die Betreuer*innen besser ein Auge auf ihn haben konnten.

Die eingeschränkten exekutiven Funktionen führten dazu, dass Simon die Veränderungen durch den neuen Lebensabschnitt nicht überblicken, sich nicht an der Planung beteiligen und nicht vorausschauen konnte, wie es werden würde. Er war schon immer sehr unflexibel gewesen und lehnte Veränderungen grundsätzlich ab. Wenn etwas einmal so war, sollte es so bleiben, denn das verschaffte ihm Sicherheit und damit seelische Balance. Unbekannte Situationen machten ihn nicht neugierig, und er versuchte daher nie selbst, etwas Neues auszuprobieren. Simon griff grundsätzlich auf seine alten Handlungsmuster, also das Weglaufen, zurück, wenn er in eine fremde Situation geriet, um diese bewältigen zu können. Dabei bereitete ihm auch Probleme, dass er den neuen Ort und die unterschiedlichen fremden Menschen, die sich an diesem Ort befanden, nicht in der Gesamtheit erfassen konnte. Er orientierte sich vielmehr an Details, von denen er wusste, dass sie ihm sonst immer Sicherheit verschafft hatten (Problem der zentralen Kohärenz). Simon erkannte sofort, wenn eine Tür nicht verschlossen bzw. nicht bewacht war, auch wenn er in dem Moment mit etwas anderem beschäftigt war. Menschen, die mit ihm sprachen und ihm Sicherheit geben wollten, nahm er nicht wahr. Er sah lediglich den Türspalt und wollte sich durch Weglaufen der neuen Situation entziehen. Der soziale Rahmen der Situation war ihm unverständlich, er wollte nicht irgendwem zuliebe hierbleiben, er nahm keinerlei Rücksicht auf die anderen Menschen, die sich Sorgen machten und gestresst waren, wenn er schon wieder weggelaufen war (Folge der eingeschränkten Theory of Mind). Mit einer anderen Vorbereitung einschließlich der Thematisierung seiner Weglauftendenzen wäre die Eingliederung von Simon in die WfbM mglw. anders gelaufen und hätte einen positiven Verlauf genommen.

Vor dem tatsächlichen Übergang ist wichtig, dass sich alle involvierten Beteiligten, d. h. Eltern (bzw. gesetzliche Betreuer*in), bisherige Lehrer*innen, (Autismus-)Therapeut*innen, Vertreter*in der Agentur für Arbeit, des medizinischen Fachdiensts oder des Sozialamts zusammensetzen, um die bisherige Entwicklung, den Ist-Stand, die Bedarfe des jungen Menschen, wichtige Hilfen, die Ziele und die notwendigen Schritte zur Erreichung der angestrebten Integration in einen Ausbildungsplatz (bzw. einen Platz in der Tagesförderung) zu besprechen. Hierzu ist, falls möglich, auch der junge Mensch selbst zu hören. Dabei ist unbedingt erforderlich, alle Punkte zu erwähnen, die für die zukünftige Betreuung wichtig sind.

Praxistipp zu den Voraussetzungen für die Vorbereitung des Übergangs und des Neuanfangs

   Fortbildung zu Autismus-Spektrum-Störungen für die aufnehmende Einrichtung,