Erwählte der Nacht - Lara Adrian - E-Book

Erwählte der Nacht E-Book

Lara Adrian

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Beschreibung

Endlich neues Lesefutter für die Fans von MIDNIGHT BREED!

Der Ordenskrieger Rafe hat nur ein Ziel: seinen Fehler wiedergutzumachen, der ihn und viele seiner Freunde beinahe das Leben gekostet hätte. Zu diesem Zweck schleust er sich in eine kriminelle Bande ein, die mit der Geheimorganisation Opus Nostrum in Verbindung steht. Dabei trifft er auf die schöne Tagwandlerin Devony, die sich als Mensch ausgibt und offenbar ihre ganz eigene Agenda verfolgt. Obwohl er weiß, dass er ihr nicht vertrauen kann, verspürt Rafe eine unwiderstehliche Anziehungskraft zu der toughen Stammesgefährtin. Doch um seine Mission auszuführen, darf er sich nicht von Gefühlen ablenken lassen ...

"Lara Adrians Bücher erinnern mich immer aufs Neue daran, was ich an diesem Genre so liebe." UNDER THE COVERS BOOK BLOG

Band 16 der MIDNIGHT-BREED-Serie von SPIEGEL-Bestseller-Autorin Lara Adrian

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Seitenzahl: 357

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Inhalt

Titel

Zu diesem Buch

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Die Autorin

Die Romane von Lara Adrian bei LYX

Leseprobe

Impressum

LARA ADRIAN

Erwählte der Nacht

Roman

Ins Deutsche übertragen von Firouzeh Akhavan-Zandjani

Zu diesem Buch

Der Ordenskrieger Rafe hat nur ein Ziel: seinen Fehler wiedergutzumachen, der ihn und viele seiner Freunde beinahe das Leben gekostet hätte. Er ist fest entschlossen, alles daran zu setzen, der Geheimorganisation Opus Nostrum das Handwerk zu legen. Zum Schein kehrt er dem Orden den Rücken, um eine Bande zu infiltrieren, die mit dem Geheimbund in Verbindung steht. Durch einen glücklichen Zufall gelingt es ihm, das Vertrauen der Verbrecher zu erlangen. Doch er hat nicht mit der schönen Devony gerechnet, eine Tagwandlerin, die sich als Mensch ausgibt und die Bande aus ihren ganz eigenen Gründen unterwandert hat. Obwohl sie vom ersten Moment an versucht, ihn auf Abstand zu halten, kann sie ihre wahre Identität nicht lange vor Rafe verbergen. Fasziniert von der toughen Stammesgefährtin, ist sich Rafe dennoch bewusst, dass sie eine Gefahr für seine Mission darstellt. Doch die Anziehungskraft, die zwischen ihnen besteht, übertrifft alles, was er jemals verspürt hat …

1

Rafe strich mit den Fingern über die weiche Haut der Frau. Sein Daumen verweilte etwas länger über der Halsschlagader, wo ihr schneller, heftiger Puls so deutlich wahrnehmbar war wie ihre keuchenden Atemzüge.

Wie bei Blutwirten üblich, war auch diese Frau mehr als bereit, ihm freien Zugang zu ihrem Blut zu gewähren. Entweder war es ihr gar nicht bewusst oder es war ihr egal, dass sich alles vor den Augen der anderen Gäste abspielte, die heute Abend ebenfalls im Asylum waren.

Das war Rafe nur recht.

Er senkte den Kopf an die Seite der entblößten Kehle und ließ sich Zeit, während er den Duft und das Rauschen der roten Blutkörperchen genoss, die dicht unter der ach so zarten Haut strömten. Seine Fänge verlängerten sich reflexartig und traten in freudiger Erwartung des ersten Bisses noch stärker hervor.

»Der Zapfenstreich fürs Blutdurststillen war um Mitternacht, Krieger.«

Knurrend hielt Rafe inne und warf dem Barkeeper, der die Warnung ausgesprochen hatte, einen finsteren Blick zu. Der Mann war wie er selbst ein Stammesvampir. Ein großer Mann mit rasiertem, tätowiertem Schädel und Schultern so breit wie ein Panzer.

Das Asylum wurde vornehmlich von Menschen besucht, da für Stammesvampire sowieso nur ein einziges Getränk zur Auswahl stand – und zwar frisches Blut aus einer gerade geöffneten Vene. Trotzdem war die Bar in diesem alten Viertel im Norden Bostons ein beliebter Treffpunkt für die Angehörigen beider Spezies.

Zu dieser späten Stunde waren aber nur noch ein paar ganz Zähe mit viel Sitzfleisch anwesend, und die Gespräche wurden vom trunkenen Gerede später Gäste beherrscht, die sich in den lauten Tanzclubs und den Sim-Lounges in den Touristenzentren offensichtlich gelangweilt hatten und deshalb weiter in die Stadt rein gezogen waren, um ein bisschen Lokalkolorit zu schnuppern.

Gelegentlich waren Rafe und seine Teamkollegen vom Orden auch hier gewesen, um sich nach ihren Patrouillengängen ein wenig zu entspannen.

Verdammt! Wie lange war das schon her? Ein paar Monate waren seitdem ins Land gegangen. Seit dem Sommer, in dem er von allen Einsätzen für den Orden abgezogen worden war.

Als er es in Montreal total vermasselt hatte.

Er hatte es damals mehr als nur vermasselt – die Beinahe-Katastrophe hätte ihn fast das Leben gekostet. Und vielleicht hätten auch alle, die ihm nahestanden, dran glauben müssen, wäre die schöne, aber tückische Frau – ein Maulwurf von Opus Nostrum – nicht von Rafes bestem Freund und Kameraden, Aric Chase, aufgehalten worden.

Rafe war – geblendet von einem hübschen Gesicht und verführerischen Lippen, über die nur Lügen strömten – auf übels­te Art verarscht worden.

Das würde ihm nie wieder passieren.

Mit einem unterdrückten Fluch schüttelte er die bitteren Erinnerungen ab. Die Wut auf sich selbst ließ seine Stimme schärfer klingen, als er den hünenhaften Barkeeper finster anschaute und sagte: »Warum tust du uns beiden nicht einen Gefallen und lässt mich in Ruhe? Die Dame hier scheint sich auch nicht um irgendwelche Zapfenstreiche zu scheren.«

»Hör mal, Kumpel«, blaffte ihn der Mann an. »Ich hab die Gesetze nicht gemacht.«

»Ich auch nicht«, brummte Rafe.

»Ja, aber soll der Orden sie nicht durchsetzen?«

»Er gehört nicht zum Orden. Nicht mehr. Es heißt, man hätte ihn rausgeschmissen.«

Die Bemerkung kam von einem Zivilisten, einem Stammesvampir, der in einem der Dunklen Häfen aus der Gegend um Boston lebte und jetzt hinter Rafe an einem Tisch saß. Wohlhabend und zu nichts nütze, mit ihren Poloshirts und den kurzen Hosen, waren sie die Vampir-Ausgabe von reichen Schnöseln. Rafe hatte sich gleich in der ersten Minute seiner Ankunft den Zorn der fünf jungen Männer zugezogen, als die junge Frau, die sie fast den ganzen Abend mit Alkohol abgefüllt hatten, beschloss, lieber auf Rafes Schoß sitzen zu wollen.

Er drehte den Kopf zu ihnen herum, als er die Verachtung spürte, die ihm entgegenschlug. Diese Dummköpfe, die sich in ihrem Ego getroffen fühlten, sahen tatsächlich blöd genug aus, es mit ihm aufnehmen zu wollen.

Rafe musste ein Lächeln unterdrücken. Er hatte nichts gegen einen Kampf einzuwenden.

Verflucht, das war eigentlich der Grund, warum er überhaupt hier war.

»Mein Vater arbeitet bei der Polizei«, ergänzte der junge Mann, der sich wohl als Sprachrohr seiner Kumpel ansah, willfährig. »Er sagt, dass bei JUSTIS seit Wochen nur davon geredet wird, dass dieser Goldjunge hier in Ungnade gefallen und rausgeschmissen worden ist. Offensichtlich kommt ›Gehorsamsverweigerung und ungebührliches Verhalten‹ auch beim Orden nicht gut an.«

»Stimmt das? Bist du tatsächlich kein Ordenskrieger mehr?«

Rafe drehte sich wieder zu dem mürrischen Barkeeper um. »Sehe ich wie einer aus?«

Er wusste verdammt genau, dass er das nicht tat. Das normalerweise kurz geschnittene, dunkelblonde Haar war gewachsen, sodass der wellige Schopf bis zu den Schultern reichte. Darüber hinaus war es von der Fahrt mit dem Motorrad, das Rafe vor der Bar abgestellt hatte, vom Wind zerzaust. Ein dichter Bart bedeckte sein Gesicht, und die schwarze Kampfkluft und den Waffengürtel hatte er seit Monaten nicht mehr angelegt.

Heute Abend trug er Jeans und ein dunkles T-Shirt unter der schwarzen Lederjacke. Er ähnelte eher einem der einschüchternden Bandenmitglieder, die im hinteren Teil der Bar Billard spielten und einen Drink nach dem anderen herunterstürzten, als einem Mitglied des Elite-Kampfteams des Ordens.

Die Menschen, die schwarzes Nietenleder trugen, hatten ihn, schon als er hereingekommen war, voller Argwohn und Vorsicht gemustert. Rafe spürte, dass auch jetzt ihre Blicke wieder auf ihm ruhten. Vor allem ein kräftig gebauter Mann mit einem Kinnbart, der wohl der Anführer der Horde war, und die einzige Frau der Gruppe – eine große, langbeinige Frau mit braunen Haaren, dem Gesicht eines Engels und verführerischen Kurven unter ihrer Biker-Kluft und dem schwarzen Rollkragenpullover – ließen ihn nicht aus den Augen.

Was Rafe betraf, so war sein abgerissener Aufzug eine genauso bewusste Entscheidung wie seine Anwesenheit hier in der Bar.

All das war Teil des Plans – ebenso wie sein Ausscheiden aus dem Team nach seiner Rückkehr aus Montreal und das erst kürzlich mit Bedacht lancierte Gerücht seiner unehrenhaften Entlassung, welches sich wie ein Lauffeuer sowohl bei den Strafverfolgungsbehörden der Menschen als auch der Stammesvampire verbreitet hatte.

Nur wenige beim Orden kannten die Wahrheit. Und zwar diejenigen, die Rafes Undercover-Einsatz ausgetüftelt hatten: Lucan Thorne vom Hauptquartier in D. C., Gideon, der HighTech-Experte des Ordens und Sterling Chase, der Anführer der Bostoner Kommandozentrale.

Lucan hatte auf Rafes Drängen hin nur ein Zugeständnis gemacht – auch Rafes Eltern, Dante und Tess, wussten Bescheid. Obwohl Dante für den Orden die Kommandozentrale in Seattle leitete, hätte ihn nichts daran hindern können, nach Boston zu stürmen, wäre er tatsächlich davon überzeugt gewesen, dass sein Sohn so weit vom Weg abgekommen war.

Die Vorstellung, dass seine Eltern das Schlimmste von ihm denken könnten, war schon hart, aber es brachte Rafe fast um, dass es erforderlich war, die Wahrheit vor seinen Teamkollegen und Freunden Nathan, Elijah und Jax geheim zu halten. Er mochte gar nicht daran denken, was sie jetzt wohl von ihm hielten.

Und Aric Chase in dem Glauben zu lassen, er wäre ein Schwächling und völliger Versager, war sogar noch schlimmer. Vor allem da er seinem besten Freund sein Leben verdankte. Glücklicherweise waren Aric und seine neue Gefährtin Kaya immer noch in Montreal. Das Paar war damit beschäftigt, ein neues Team für den Orden zusammenzustellen, welches aus Tagwandlern bestand; diese seltenen Stammesvampire wie Aric, seine Zwillingsschwester Carys und deren Mutter Tavia, von denen es nur ganz wenige gab.

Rafe hoffte inständig, dass er in der Lage sein würde, sich in den Augen aller zu rehabilitieren, sobald er den Ein-Mann-Einsatz, den er heute Abend anging, hinter sich gebracht hatte.

Und dabei ging es ihm nicht darum, dass alle meinten, er wäre beim Orden in Ungnade gefallen, sondern er wollte sich von seinem sehr realen Scheitern in Montreal reinwaschen.

Es entbehrte nicht einer gewissen Komik, dass er durch die Ereignisse, mit denen er Schande über sich gebracht hatte, zum einzig passenden Kandidaten für den jetzigen Einsatz geworden war.

Und er würde nicht scheitern.

Dieses Mal nicht.

Auch wenn es bedeutete, dass er seinen letzten Atemzug für diesen Schwur tun müsste.

Das Großmaul aus dem Dunklen Hafen hinter ihm schien mutiger zu werden, als Rafe sich nicht zu einer Reaktion hinreißen ließ. »Ich weiß nicht, Leute, aber auf mich wirkt er nicht gerade wie ein harter Kerl. Er klemmt wohl den Schwanz ein, wenn ihm die anderen Halunken vom Orden nicht den Rücken stärken.«

Rafe atmete tief durch und versuchte damit zu verbergen, was für eine Genugtuung es ihm verschaffte, dass alles so vorhersehbar und nach Plan verlief.

Ruhig schob er die Frau, die sich an ihn klammerte, von seinem Schoß auf den Hocker neben sich. Dann warf er den Stammesvampiren, die nie wirklich gekämpft hatten, einen höhnischen Blick zu. »Wisst ihr, was das Beste daran ist, aus dem Orden ausgeschlossen worden zu sein? Man muss solche Scheißer wie euch nicht mehr so behandeln, als wärt ihr wer.«

Ein paar von den jungen Männern schnaubten nur angesichts der Beleidigung. Rafe hörte, wie ein Stuhl abrupt zurückgestoßen wurde, als er den Blick von ihnen abwandte. Er wusste, dass der Angriff kam, ehe er den Luftzug spürte, als einer der Stammesvampire sich von hinten auf ihn stürzte.

Es war das Großmaul, was Rafe nicht weiter überraschte. Aber verdammt – das Arschloch hatte ein Messer. Es hätte sich in Rafes Rücken gebohrt, wäre er dem Stoß nicht in dem Moment ausgewichen, als sein Angreifer auf ihn losging. Rafe packte mit seiner stählernen Faust das Handgelenk des Mannes und verdrehte es.

Der Mann schrie auf und ließ die Waffe fallen.

Rafe fing die Klinge mit der freien Hand auf und drehte mit der anderen dem Angreifer den Arm auf den Rücken. Mit einem kurzen Ruck hätte er ihm den Arm auskugeln oder das Messer gegen ihn selbst richten können, aber es ging ihm nicht darum, dem Dreckskerl aus dem Dunklen Hafen oder seinen Freunden wirklich Schaden zuzufügen, egal wie viel Genugtuung ihm das auch verschaffen würde.

Er hatte die Situation nur wegen einer einzigen Person eskalieren lassen.

Und die Aufmerksamkeit dieses Typen war ihm jetzt ebenfalls gewiss.

Während die Hälfte der Gäste eilig die Bar verließ und ein paar Touristen, die in Panik gerieten, schreiend nach draußen rannten, rührten sich die Gangmitglieder nicht vom Fleck. Aus dem Augenwinkel beobachtete Rafe, dass der Anführer mit dem Kinnbart ruhig sein Spiel am Billardtisch fortsetzte.

Rafe verstärkte den Druck auf das Ellbogengelenk des Großmauls, sodass dieser nicht eben leise quietschte. Und ja … der Mistkerl hatte es verdient, ein bisschen Schmerz zu erleiden.

Er wollte ihn gerade in Richtung seiner Kumpane zurückstoßen, als die Tür der Bar von draußen geöffnet wurde. Zwei weitere Stammesvampire kamen herein. Zweifellos hatte sie der Aufruhr vor der Bar, als die Gäste nach draußen gestürzt waren, auf den Plan gerufen.

Rafe stöhnte innerlich auf.

Verdammt. Genau das hatte er nicht gebraucht.

Jax und Elijah.

Seine beiden Teamkollegen – seine früheren Teamkollegen ihrem Wissensstand nach – trugen ihre Patrouillenkluft und waren bis an die Zähne bewaffnet. Was immer sie auch über ihn denken mochten – jetzt sah man ihnen deutlich an, wie schockiert sie waren, Rafe mitten in der Bar stehen zu sehen, wo er einen wimmernden Zivilisten, einen Stammesvampir, mit der einen Hand festhielt und mit der anderen einen Dolch umklammerte.

»Was zum Teufel ist hier los?« Elis tiefe, gedehnte Südstaatenstimme kam fast als Knurren heraus.

Jax hatte seine tiefschwarzen Augenbrauen über den dunklen mandelförmigen Augen zusammengezogen. »Das ist der letzte Ort, an dem wir erwartet hätten, dich zu sehen, Rafe.«

»Ach was, echt?« Es war auch der letzte Ort, an dem er erwartet hatte, sie zu sehen.

Ihm entging nicht, dass Jax einen gefährlich scharfen Shuriken, einen Wurfstern, in der Hand hielt und bereit war, ihn auch zu benutzen. Die Bewegung, mit der der Ninjastern geschleudert wurde, stellte für den Krieger nur einen Reflex dar, aber es war das erste Mal, dass Rafe im Fadenkreuz der tödlichen Gabe seines Kameraden stand.

Glücklicherweise hatten die beiden Nathan, den Leiter des Teams, nicht dabei. Zwar fürchtete Rafe sich vor einem Zusammenstoß mit Eli oder Jax nicht, doch seine Chancen, unversehrt davonzukommen, wenn der ehemalige Jäger jetzt vor ihm stünde, wären deutlich geringer.

»Gut, dass ihr aufgetaucht seid«, brummte der Barkeeper, der immer noch hinter seinem Tresen stand. »Der Typ hier ist, seit er reingekommen ist, auf einen Kampf aus.«

Dem konnte Rafe nicht widersprechen. Der Plan hatte vorgesehen, vor den Augen der Gang einen Tumult auszulösen, um auf sehr deutliche, ja gewalttätige Art und Weise klarzu­machen, dass er nicht mehr auf der richtigen Seite des Gesetzes stand.

Er hielt das Großmaul weiter fest, während er blitzschnell überlegte, wie er die Situation entschärfen könnte, ohne gleichzeitig preiszugeben, warum er heute Abend hier war.

Doch mittlerweile befand er sich bereits in einer unerwünschten Konfrontation mit den beiden Kriegern, die für ihn immer noch seine Brüder waren.

»Lass ihn los, Arschloch!«

Der gebrüllte Befehl kam nicht von Eli oder Jax, sondern von einem Kumpan des Großmauls.

Und der Blödmann schätzte die Situation auch noch so falsch ein, dass er tatsächlich plötzlich aus dem Nichts eine Waffe zog. Die glänzende Halbautomatik aus Edelstahl zitterte in der Hand des Zivilisten, als er aufsprang und die Waffe auf Rafe richtete, um zu schießen.

Zumindest versuchte er es.

Denn im selben Moment pfiff auch schon Jax’ Shuriken durch den Raum, bohrte sich in den Unterarm des Blödmanns und riss diesen nach oben. Eine kurze Salve löste sich aus der Waffe, und die Kugeln trafen die Decke. Das Zischen der Querschläger übertönte das Dröhnen der Musik, die aus den Lautsprechern schallte.

Im Bruchteil einer Sekunde standen die beiden Ordenskrieger am Tisch der Stammesvampire aus dem Dunklen Hafen und suchten nach weiteren Waffen.

Eli trat zu Rafe und entwand das Großmaul seinem Griff, um den Mann dann in Richtung seiner Freunde zu schubsen. Den Dolch nahm er Rafe ebenfalls ab.

»Du bewegst dich bereits auf ganz dünnem Eis, Mann. Hüte dich, etwas zu tun, was sich nicht mehr rückgängig machen lässt.«

Elis tiefe Stimme war ganz ruhig, doch der warnende Unterton war nicht zu überhören. Er wandte sich wieder an die Stammesvampire aus dem Dunklen Hafen. »Und was euch Hübschen angeht … schafft eure Hintern hier raus, ehe so ein Trottel wie der hier euch nur aus dem Grunde plattmacht, dass ihr so dämlich seid.«

Rafe sah dem Großmaul und seinen Freunden hinterher, als diese aus dem Asylum schlurften. Jax folgte ihnen, doch Eli blieb noch einen Moment lang stehen und sah Rafe mit ernstem Blick an.

»Du weißt, dass wir den Befehl ausführen, wenn Lucan Thorne uns aufträgt, uns mit dir zu befassen.«

Rafe wich dem Blick seines Kameraden nicht aus. Er wusste, wie er sich in diesem Moment verhalten, was er sagen sollte. Aber es zu wissen und die Worte tatsächlich auszusprechen, waren zwei verschiedene Paar Schuhe.

»Und du meinst, das interessiert mich auch nur einen Scheißdreck?« Der saure Geschmack der Lüge verzog seine Lippen.

»Nein, wohl nicht.« Eli runzelte die Stirn und schüttelte dann leise fluchend den Kopf. »Dann solltest du verdammt noch mal ganz genau aufpassen, was du tust.«

Er drehte sich um und marschierte mit starrem Blick nach draußen.

Ein paar Sekunden, nachdem die Männer vom Orden gegangen waren, ließ ein schmerzerfülltes Stöhnen Rafe zum Billardtisch schauen. Eines der Bandenmitglieder drückte mit gekrümmtem Rücken beide Hände auf den Bauch. Sein Gesicht war vor Entsetzen ganz weiß.

»Scheiße! Cruz, ich glaube, ich bin getroffen worden. Ich blute!«

Der durchdringende Geruch von frischem Hämoglobin schoss Rafe in die Nase, als der dürre Mann auch schon seine Lederjacke herunterriss, sodass ein roter Fleck auf seinem Bauch sichtbar wurde, welcher sich schnell ausbreitete.

Na, ganz toll.

Rafes Fänge schnellten hervor. Es war für einen Stammesvampir fast unmöglich, diese instinktive Reaktion auf frisch vergossenes Blut zu unterdrücken. Seine Augen begannen bernsteinfarben zu leuchten, und sein Blick verschärfte sich, als sich die Pupillen zu schmalen vertikalen Schlitzen verengten und der Vampir in ihm entfesselt zum Leben erwachte.

Das Heulen des Verletzten wurde lauter. Ein paar seiner Kumpane – darunter auch der Anführer – scharten sich um ihn. Einige andere wichen zurück; so auch die hübsche Dunkelhaarige, die den Blick von ihrem verwundeten Kameraden abwandte, als stünde sie kurz davor sich zu übergeben.

Auch beim Barkeeper waren die Eckzähne hervorgetreten, sodass die geknurrten Worte, die er hervorstieß, nur schwer zu verstehen waren. »Verdammter Mist. Der Blödmann wird innerhalb von einer Minute verbluten.«

Rafe konnte nicht behaupten, dass ihm das wirklich etwas ausmachte. Er musterte den Mann, der anscheinend lebensgefährlich verletzt war, und die ernsten Gesichter seiner Kameraden. Ihr Freund hatte wahrscheinlich nur noch ein paar Sekunden zu leben.

Rafe hatte die Bande, die ständig über die Stränge schlug und auch vor Gelegenheitsdiebstählen nicht haltmachte, seit Wochen im Visier und war auf der Suche nach einer Gelegenheit, auf sich aufmerksam zu machen und das Vertrauen der Gruppe zu gewinnen. Der Plan, den er sich zusammen mit Lucan und Sterling Chase zurechtgelegt hatte, erforderte Geduld, die er nicht wirklich besaß. Vielleicht bot diese unverhoffte Situation die Gelegenheit, den Einsatz endlich in Gang zu bringen.

Rafe sah auf seine Hände. Er war mit der von seiner Mutter geerbten Gabe des Heilens zur Welt gekommen. So sehr er es auch hasste, diese Fähigkeit bei solchem Abschaum einzusetzen, wäre es das wert, wenn es ihn seinem Ziel näherbrachte: der Vernichtung von Opus Nostrum und aller, die sich dieser verbrecherischen Organisation verschrieben hatten.

Der Barkeeper stieß einen deftigen Fluch aus. »Wenn der Mann in meiner Bar stirbt, mache ich dich persönlich und den Orden dafür verantwortlich, du Arschloch.«

Rafe schüttelte den Kopf. »Er wird nicht sterben.«

Er ballte die Hände an den locker herunterhängenden Armen zu Fäusten und durchquerte die Bar.

2

Ihr Magen zog sich zusammen, als hätte man ihr einen Schlag versetzt.

Verdammter Mist! Devony Winters wandte sich mit einem Stöhnen von den anderen ab. Der Drang, vor dem Anblick der Wunde, die die Kugel in Fishs mageren Leib gerissen hatte, zu fliehen, war fast übermächtig.

Aber nicht, weil sie in Bezug auf Blut zimperlich war.

Weit gefehlt.

Die Reaktion, die sie unbedingt vor den anderen verbergen wollte, war eine ganz andere und deutlich belastender als Angst oder Übelkeit. Ihre Fänge drängten sich von innen gegen ihre fest geschlossenen Lippen. Ihr Blick wurde schärfer, und alles bekam einen bernsteinfarbenen Schimmer.

Sie war ein Stammesvampir – eine der ganz wenigen Tagwandlerinnen. Diesen Umstand verheimlichte sie Cruz und seiner Bande, seit sie sich der Gruppe vor fünf Wochen angeschlossen hatte.

Soweit sie das beurteilen konnte, waren die Kriminellen mehr an Diebstählen und dem Verprassen dieser ›Einnahmen‹ interessiert, als dass großer Hass auf Stammesvampire sie beseelte. Allerdings wollte sie diese Vermutung lieber keiner Überprüfung unterziehen und so das Vertrauen aufs Spiel setzen, das sie sich erarbeitet hatte, seit sie in den Kreis aufgenommen worden war. Sie war so vorsichtig gewesen, und nun stand das alles wegen eines Querschlägers und eines sinnlosen Kneipenscharmützels auf dem Spiel.

Und der Auslöser des Ganzen war der arrogante, dunkelblonde Riese auf der anderen Seite des Raumes.

Ganz toll.

Zu dumm, dass er nicht von den beiden Kriegern des Ordens zusammen mit den schießwütigen Idioten aus dem Dunklen Hafen, die ihn so gern in einen Kampf verwickelt hätten, aus dem Asylum geworfen worden war.

Devony bemühte sich, die instinktive Reaktion ihres Körpers auf den Klang von Fishs pochendem Herz und den Duft des lebenserhaltenden Blutes, das einen immer größer werdenden Fleck auf dem Boden bildete, unter Kontrolle zu bringen. Als sie einen schnellen Blick über die Schulter warf, sah sie, dass sich der Verursacher allen Übels mittlerweile quer durch den Raum bewegte. Aber er hatte beileibe nicht vor, die Bar zu verlassen, sondern ging mit wiegendem Schritt und an der Seite hängenden Fäusten direkt auf Cruz, Fish und die anderen zu.

Shit.

Der Stammesvampir – Rafe hatten ihn seine Kameraden vom Orden genannt – reagierte auf Fishs strömendes Blut genau wie sie. Aber er machte sich nicht die Mühe, es zu verbergen.

Seine transformierten Augen loderten vor Hitze, und die sonst normalen Pupillen hatten sich zu den Schlitzen einer Katze verwandelt. Die Spitzen seiner Fänge glitzerten hell wie Diamanten hinter den Lippen seines großzügig geschnittenen Mundes. Und seine Dermaglyphen, die Stammesvampir-Hautmuster, von denen wegen seines schwarzen T-Shirts nur die zu erkennen waren, welche die Unterarme und den Hals zierten, pulsierten und wanden sich in dunklen, satten Farben.

Auch Devonys Glyphen zuckten unter dem langärmeligen Rollkragenpullover. Wenn sie unter Menschen ging, achtete sie immer sorgfältig darauf, dass sie bedeckt waren, vor allem bei Cruz und den anderen. Doch im Moment waren es ihre Fänge und die lodernden Augen, die sie verraten würden, wenn sie sich nicht zusammenriss.

Natürlich bestand die Möglichkeit, dass sie sie gar nicht beachteten … vor allem, wenn der Stammesvampir sich so entschlossen näherte, um Fishs Leiden zu beenden, indem er dessen Halsschlagader direkt vor ihren Augen öffnete.

Devony zog sich noch weiter zurück von Cruz und den anderen, die sich um Fish scharten; dieser schrie laut und wand sich auf dem abgewetzten Holzfußboden. Sie setzte sich an einen leeren Tisch und vergrub den Kopf in ihren Händen, damit man ihr Gesicht nicht sah. Sollten sie doch denken, dass sie einen schwachen Magen hatte. Das war allemal besser, als wenn sie die Wahrheit erführen. Sie zwang sich zur Ruhe, was ihr jedoch nicht leichtfiel. Das Blut strömte immer noch frisch und warm hinter ihr. Es war wie der Gesang von Sirenen für die Sinne eines Stammesvampirs wie sie.

»Lasst mich durch.« Rafes geknurrter Befehl hatte einen tiefen, außerirdischen Klang.

Devony hob den Blick und sah, dass er zwischen zwei Typen trat. Ocho und Axel waren eigentlich keine Männer, mit denen man umspringen konnte, wie man wollte, doch keiner von ihnen schien gewillt, sich mit dem finsteren Stammesvampir und seinen gebleckten Fängen auseinanderzusetzen. Nicht einmal Cruz machte Anstalten, Fish beizustehen, doch seine Hand ruhte auf der Pistole, die er unter seiner Lederjacke trug.

Der Verwundete begann panisch zu kreischen. »Oh, shit! Bringt mich hier raus, Leute. Der Blutsauger wird mich umbringen!«

»Er macht’s nicht mehr lange.« Der Stammesvampir sprach Cruz mit tonloser, unbewegter Stimme an, als wüsste er, dass dieser der Anführer der Bande war. »Ich kann ihm helfen.«

Cruz sagte nichts, tat aber einen bedächtigen Schritt zurück, um dem Mann Platz zu machen, sodass er zu Fish konnte.

»F… fass mich nicht an!«, heulte Fish. Er versuchte sich aufzusetzen, rutschte aber in der Lache aus roten Blutkörperchen, die sich unter ihm gesammelt hatte, aus. »Saug mich nicht aus, Mann. Ich flehe dich an!«

Rafe hockte sich vor dem Mann auf den Boden und legte die Hände auf Fishs Bauch. »Beruhige dich. Durch deine Panik blutest du nur umso schneller aus.«

Devony hielt den Atem an und beobachtete alles voller Verwirrung und Neugierde. Sie versuchte, den Hals zu recken, um besser sehen zu können, aber da war nur der große Stammesvampir, der sich über Fish beugte und seine Hände fest auf die Wunde gelegt hatte.

Nach einem Moment hörte sie den leisen Aufschlag einer abgeschossenen Kugel auf dem Boden. Dann begann der durchdringende Geruch von frisch fließendem Blut nachzulassen. Fishs keuchende Atemzüge verlangsamten sich, Schmerz und Angst verflüchtigten sich in einem leisen Stöhnen.

»Allmächtiger.« Cruz ergriff als Erster das Wort. Voller Erstaunen sah er die beiden Männer an. »Du hast ihn geheilt.«

Nachdem die Blutung aufgehört hatte, ließ auch Devo­nys rasender Durst nach. Die Fänge füllten nicht mehr ihren Mund aus, ihr Blick war zwar immer noch übermenschlich scharf, glühte aber nicht mehr wie heiße Kohlenstücke. Sie erhob sich vom Tisch und trat zu den anderen.

»Es geht mir gut«, keuchte Fish. Er fuhr sich mit beiden Händen über seine klebrige, mit Blut durchtränkte Körpermitte und suchte nach der Wunde. Sie war weg. Auf seiner blassen, weißen Haut war nichts mehr davon zu sehen. Er stieß einen Schrei aus. »Verdammt, es geht mir wirklich gut!«

Der Stammesvampir kam aus der Hocke hoch, während Ocho und Axel Fish vom Boden aufhalfen. Alle waren völlig sprachlos angesichts dessen, was sie gerade erlebt hatten.

Cruz nickte eindeutig ergriffen. »Das war … beeindruckend.«

»Ich kann es immer noch nicht fassen«, murmelte Fish. Er stand nach wie vor unter Schock und sah den Stammesvampir an, als schaute er in das Gesicht eines Heiligen. »Ich lag im Sterben. Das weiß ich ganz genau. Noch eine Minute länger, und ich wäre …« Mit einem leisen Fluch schüttelte er den Kopf. »Es ist ein Wunder, was du vollbracht hast. Du hast mir doch tatsächlich das Leben gerettet. Warum?«

»Weil ich es konnte, schätze ich mal.«

Fish atmete tief durch. »Tja, es ist mir egal, warum du es getan hast, Mann. Ich schulde dir was. Dazu stehe ich. Ich werde es dir irgendwann zurückgeben. Darauf hast du mein Wort.«

»Ach, mach dir deshalb keinen Kopf«, tat Rafe den Schwur ab, als würde er tagtäglich jemanden aus den Klauen des Todes befreien.

Nachdem Fish wiederhergestellt war, bestellten Ocho und Axel eine neue Runde Drinks, um ihren auferstandenen Kameraden zu feiern. Als es um Rafe wieder ruhig wurde, ließ der Stammesvampir den Blick schweifen, bis er auf Devony fiel.

Unter zerzaustem honigblonden Haar hervor wurde sie von wachen, strahlend blauen Augen gemustert. Das Aussehen eines Mannes hatte sie noch nie dazu inspiriert, ihn als schön zu bezeichnen. Vor allem nicht so einen gefährlich aussehenden Stammesvampir, der fast zwei Meter groß war und dessen kräftiger Körper nur aus Muskeln und einer äußerst bedrohlichen Ausstrahlung bestand.

Aber dieser Mann war in der Tat schön. Das gut aussehende Gesicht war schmal geschnitten, der kantige Kiefer von einem Bart bedeckt. Die vollen, wohlgeformten Lippen waren fast zu zart für einen Mann. Aber da endete auch schon das, was man an seinem Gesicht als weich hätte bezeichnen können.

In dem forschenden Blick war ein Anflug von Verachtung zu erkennen. Es war dieselbe Geringschätzung, die er schon ausgestrahlt hatte, als er heute Abend ins Asylum gekommen war und Cruz und die anderen im hinteren Teil der Bar bemerkt hatte.

Vielleicht war sie nicht die Einzige, die etwas zu verbergen hatte.

»Geht’s dir jetzt besser?« Seine tiefe Stimme empfand sie wie ein Streicheln ihrer Sinne. »Du bist immer noch ein bisschen grün um die Nase, wenn du mich fragst.«

Die unerwünschte Bemerkung erregte die Aufmerksamkeit von Cruz und den anderen. Alle sahen sie erwartungsvoll an, wie sie wohl reagieren würde.

Sie war plötzlich in höchster Alarmbereitschaft. Ihr Herz setzte einen Schlag aus, und sie fürchtete, dass der Stammesvampir sie durchschaute … dass er möglicherweise erkannte, dass sie nicht das war, was sie vorgab zu sein.

Verstohlen fuhr sie schnell mit der Zunge an den Zähnen entlang und stellte erleichtert fest, dass ihre Fänge sich wieder vollständig zurückgezogen hatten. Und auch ihre Sicht trübte kein bernsteinfarbener Schimmer mehr.

Da war nichts, mit dem sie sich vor ihm und den anderen verraten würde.

»Ich habe dich aber nicht gefragt«, brummte sie schroff. »Und es geht dich auch nichts an, wie es mir geht.«

Sie kehrte ihm kurz den Rücken zu und trank den Whiskey aus, an dem sie sich fast den ganzen Abend lang festgehalten hatte. Als Tagwandlerin war es ihr aufgrund ihrer ungewöhnlichen Erbanlagen möglich, menschliche Nahrung und Getränke zu sich zu nehmen. Und in diesem Moment, wo sich sein Blick weiter heiß in ihren Rücken bohrte, wollte sie so menschlich wie nur irgend möglich wirken.

Aber noch drängender war der Wunsch, so schnell sie konnte aus dem Asylum zu verschwinden und ganz viel Abstand zwischen sich und diesen Mann zu bringen.

Aus dem Augenwinkel beobachtete sie mit wachsender Sorge, wie der Umgang der Männer miteinander immer lockerer und entspannter wurde. Das war nicht gut. Bei Cruz und seiner Gang als Mensch durchzugehen, war schon anstrengend, aber es wäre fast unmöglich, die Scharade aufrechtzuerhalten, wenn ein anderer Stammesvampir in der Nähe war.

Und dass er ein ausgebildeter Ordenskrieger war, verstärkte ihre Angst – und ihr Misstrauen – nur noch.

Sie konnte es wirklich gar nicht brauchen, dass er noch mehr mit der Bande abhing, als er es heute Abend schon getan hatte. Sie wollte, dass er ging, und zwar je eher, desto besser.

Sie stellte ihr Glas auf den Tisch, verschränkte die Arme vor der Brust und musterte den Stammesvampir mit einem so argwöhnischen Blick, dass ihre Kameraden das hoffentlich bemerkten. »Einem wie dir die Gabe des Heilens zu verleihen, scheint mir doch ein recht makabrer Scherz von Mutter Natur zu sein.«

Ihre Bemerkung brachte jede Unterhaltung genauso schnell zum Erliegen, wie es ein weiterer Schuss getan hätte.

»Einem wie mir?«, fragte er, und seine scharfen Augen verengten sich fast unmerklich. »Du meinst, einem Stammesvampir?«

Sie zog eine Augenbraue hoch. »Eigentlich meinte ich einen Ordenskrieger, aber jetzt, da du es erwähnst …«

Er starrte sie an. »Tja, falls es dir entgangen sein sollte, Schätzchen, ich bin kein Ordenskrieger mehr. Und was meine Erbanlagen angeht, gehe ich mal davon aus, dass du sie nicht schätzt.«

Sie zuckte mit einer Schulter. »Das hast du gesagt.«

»Klar.« Ein Lächeln huschte um einen Winkel seines schönen Mundes. »Urteile nicht vorschnell. Probier es erst einmal aus.«

Die Männer lachten leise. Devonys Gesicht brannte vor Scham, und einen Moment lang hätte sie ihnen am liebsten kurz ihre Fänge gezeigt … und sich dann auf den Stammesvampir gestürzt, um ihn kräftig – sehr kräftig – zurechtzustutzen.

Fish lachte schallend und klopfte seinem neuen besten Freund auf die Schulter. »He, Mann, wenn ich dir einen Rat geben darf … geh Brinks nicht auf den Sack. Du ahnst ja nicht, wie schnell sie dir sonst deine Kronjuwelen zum Abendbrot serviert.«

Brinks war der Spitzname, den sie ihr gegeben hatten. Den hatte sie sich verdammt hart verdienen müssen, ehe man sie in die Gang aufgenommen hatte. Und jetzt baute sich dieser grinsende Vampir – dieser ehemalige Ordenskrieger – vor ihr auf und machte auf ihre Kosten Witze. Innerhalb von Minuten war er mit der Gang ein Herz und eine Seele geworden.

Das gefiel ihr nicht.

Und er gefiel ihr schon mal gar nicht.

Sie ignorierte die allgemeine Erheiterung und sah Cruz an. »Ich dachte, wir wollten heute Abend irgendwohin. Gehen wir nun, oder was?«

Cruz nickte. »Sie hat recht. Lasst uns zusammenpacken und abhauen.«

Devony zog den Reißverschluss ihrer Lederjacke hoch und bedachte den Eindringling mit einem zufriedenen Seitenblick, als sie an ihm und der Blutlache, die mittlerweile gerann, vorbeiging. »Ich werde draußen warten.«

Die kühle Herbstluft und die Weite des Nachthimmels auf dem Parkplatz waren eine Wohltat nach der feuchten Enge der Bar mit der blutgeschwängerten Luft. Sie ging zu ihrem Motorrad und schwang das Bein über den schwarzen Sitz der Triumph. Einen Moment lang saß sie einfach nur da, legte den Kopf in den Nacken und tat tiefe, reinigende Atemzüge.

Als sie nach dem Helm griff, der am Lenker hing, hörte sie Cruz und die anderen durch die Hintertür des Asylum kommen.

Aber verdammt noch mal! Sie waren nicht allein.

Rafe ging neben ihnen her. Fish klopfte dem ehemaligen Krieger auf den Oberarm, ehe er Ocho zu dessen rotem Ferrari folgte und auf der Beifahrerseite einstieg.

»Wir treffen uns dort«, rief Cruz Devony zu, während er und Axel zu dem brandneuen, stahlgrauen Lamborghini des Anführers der Bande marschierten und ihn gleich darauf aufheulen ließen. Die beiden Wagen fuhren vom Parkplatz auf die Straße.

Devony zog es immer vor, alleine zu fahren, doch diese Entscheidung bedauerte sie sofort zutiefst, als der Stammesvampir zu einer schnittigen, schweren BMW ging, die neben ihrer Maschine parkte.

»Wo zum Teufel meinst du jetzt hinzufahren?«

»Da, wo du auch hinwillst.« Er stieg auf sein Motorrad und schob den Ständer mit einer leichtfüßigen Bewegung nach oben. »Cruz hat mich eingeladen, ’ne Weile mit euch abzuhängen. Das heißt dann wohl, dass ich dir folge.«

Nicht, wenn sie auch ein Wörtchen mitzureden hatte.

Ohne ihm eine Antwort zu geben, setzte sie den Helm auf und ließ den Motor an.

Dann gab sie Gas, raste vom Parkplatz und ließ ihn in einer Staubwolke zurück.

3

Auf Patrouillengängen mit dem Orden hatte Rafe viele Bos­toner Dächer erklommen, um entweder Stammesvampire, die zu Rogues mutiert waren, oder andere finstere Gestalten zu jagen, die mit dem Gesetz in Konflikt geraten waren und meinten, sie könnten sich im Gewirr der Straßen und verwinkelten Gassen ihrer Verhaftung entziehen.

Doch er hatte die Stadt noch nie aus dem sechzigsten Stockwerk eines unbezahlbaren Penthouse gesehen, in dem er jetzt stand.

Man hatte ihm den Namen des reichen Wichsers nicht genannt, dem die Wohnung gehörte. Und er kannte auch keinen Einzigen unter den mehr als hundert Leuten, die drinnen feierten und tanzten oder zusammen mit ihm auf die offene Dachterrasse getreten waren. Soweit er das beurteilen konnte, war er der einzige Stammesvampir auf der Party. Die Menge von Menschen – betrunken, verschwitzt und laut – hatte ihn kurz nach seiner Ankunft nach draußen getrieben.

Was jedoch seine neuen Kumpel anging, so nahm Cruz mit ein paar anderen Männern von der Party an einer Zusammenkunft hinter verschlossenen Türen teil, während Fish und seine beiden Freunde die Feier fortsetzten, mit der sie schon im Asylum begonnen hatten. Alle drei waren auf dem besten Wege, stockbesoffen zu werden, und hatten sich mit einer Gruppe ähnlich betrunkener, attraktiver Frauen umgeben.

Ocho hob die rechte Hand, die ihm wahrscheinlich seinen Spitznamen eingetragen hatte, denn es fehlten zwei Finger daran. Er winkte Rafe zu, dass er zu ihnen kommen sollte, doch die Einladung interessierte Rafe nicht. Obwohl er darauf aus sein sollte, dass die Männer ihm wirklich trauten und sich eine engere Freundschaft entwickelte, war Rafes Aufmerksamkeit jetzt eher an anderer Stelle angebracht.

Er ließ den Blick weiterschweifen, als hätte er Ochos Zeichen nicht bemerkt, und trat weiter auf die Terrasse hinaus.

Es gab noch ein anderes Mitglied von Cruz’ Bande, das er für sich gewinnen musste.

Im Asylum hatte ihn die Frau, die Brinks genannt wurde, voller Argwohn angeschaut, ehe Fish von ihm geheilt worden war. Danach schien die Feindseligkeit, die sie ihm gegenüber an den Tag legte, noch größer geworden zu sein. Als Mitglied des Ordens war er es gewohnt, Leute, die auf der falschen Seite des Gesetzes standen, gegen sich aufzubringen, aber diese Frau schien ihn auf den ersten Blick gehasst zu haben.

Dass sie ihn auf dem Parkplatz stehen gelassen hatte, war offensichtlich nur der Auftakt dazu gewesen, ihm komplett aus dem Weg zu gehen. Seit seiner Ankunft bei der Party hatte er nicht mehr als einen flüchtigen Blick auf sie erhascht.

Er hätte schwören können, dass er sie vor nicht mehr als zwei Minuten nach draußen hatte entwischen sehen.

Er schlängelte sich durch die Menge aus Männern und Frauen, die sich bei einem Drink neben dem erleuchteten Pool und den überall verteilten Sitzgelegenheiten unterhielten, und erhaschte einen kurzen Blick auf eine schwarze Lederjacke und glänzendes dunkelbraunes Haar, als sie auch schon in einem dunklen Winkel verschwand. Die hochgewachsene, umwerfende Figur der Frau hätte er überall erkannt. Sie war im Schatten am anderen Ende der großen Terrasse unter­getaucht.

Zielstrebig schlug er diese Richtung ein.

Er fand sie in einer dunklen Ecke, wo sie auf einer Steinbank saß. Sie hatte die Arme um die hochgezogenen Knie geschlungen und die Springerstiefel auf der Kante der Bank abgestellt. Sie schaute auf, als Rafe sich näherte. »Du reagierst ja wohl nicht mal auf einen Wink mit dem Zaunpfahl, Vampir, oder?«

Sie betonte das Wort, als wollte sie ihn daran erinnern, wie sehr sie sich voneinander unterschieden … und wie sehr sie ihn ablehnte.

Rafe lächelte und zog die Schultern hoch. »Ich versuche bloß, freundlich zu sein. Falls es dir noch keiner gesagt haben sollte, aber bei Partys geht es darum, Kontakte zu knüpfen.«

»Dann geh doch und knüpfe Kontakte. Falls es dir noch keiner gesagt hat, aber dabei geht es darum, jemanden zu finden, der wirklich daran interessiert ist, sich mit einem zu unter­halten.«

»Aha, das bist du also nicht.«

Sie zog eine schmale Augenbraue hoch und tippte sich mit dem Finger auf die Nasenspitze. »Schau an! Endlich hat er den Wink verstanden.«

Er lachte leise. »Warum bist du nicht drinnen bei den anderen?«

»Ich bin rausgegangen, um allein zu sein«, sagte sie und warf ihm einen schiefen Blick zu, als er keine Anstalten machte zu gehen. »Davon abgesehen warte ich nur, dass Cruz zum Ende kommt, damit wir von hier verschwinden können.«

»Wo ist er überhaupt hin?«, brummte Rafe. »Sah so aus, als hätte er mit jemandem was Wichtiges zu besprechen.«

»Ach ja?«

Als sie nichts weiter sagte, entschied er, es auf andere Weise zu versuchen. Er atmete tief durch und drehte den Kopf, um den Blick über das Lichtermeer der Stadt gleiten zu lassen, das mit Mond und Sternen um die Wette funkelte. »Diese Aussicht kostet bestimmt einiges, hm? Was hat Fish noch mal gesagt? Wie heißt der Typ, dem die Wohnung gehört?«

Keiner hatte den Namen des Besitzers der Penthousewohnung genannt, und leider war die verschlossene Schöne, die ihn so durchdringend musterte, noch nicht einmal versucht, den Köder zu schlucken. Er sah sie wieder an und merkte, dass sie ihn aus schmalen Augen betrachtete.

»Du stellst ganz schön viele Fragen.«

»Was soll ich sagen? Ich bin von Natur aus neugierig.«

Und wenn er die Frau in Trance versetzen musste, um seine Antworten zu bekommen – eine Fähigkeit der Stammesvampire, die jedoch nur bei Menschen wirkte –, würde er nicht davor zurückschrecken, es hier an Ort und Stelle zu tun.

Vorhin in der Bar hatte er sie für attraktiv gehalten. Jetzt, da sie im abgeschiedenen Winkel der vom Mondlicht erhellten Terrasse nur einen knappen Meter von ihm entfernt war, erkannte er, wie unzureichend sie das beschrieb.

Das Gesicht war schön. Die glatte Haut betonte die zarten Knochen und die rosigen Lippen. Die hellbraunen Augen, deren Farbe an teuren Whiskey erinnerte, waren sehr groß für ihr Gesicht und unendlich ausdrucksvoll – auch wenn Rafe sicher war, dass sie versuchte, nichts preiszugeben.

Das schöne Antlitz wurde von dichtem dunkelbraunen Haar umrahmt, das in Wellen ihre Schultern und den geraden Rücken umspielte. Es schimmerte wie Seide im hellen Schein des Mondes und bildete einen faszinierenden Gegensatz zu dem schwarzen Nietenleder ihrer Bikerjacke.

Die ganze Frau schien nur aus Gegensätzen zu bestehen – angefangen bei ihrer Stimme, die gepflegt und gebildet klang und in der ein verführerisches Schnurren mitschwang, welches seine Sinne mehr berührte, als er zugeben mochte.

Als sie das Schweigen in die Länge zog, trat er näher und setzte sich neben sie auf die Bank. »Ich heiße übrigens Rafe.«

»Ich weiß, wie du heißt.« Sie legte den Kopf auf die Seite und musterte ihn. »Ich habe gehört, wie dich einer der Ordenskrieger im Asylum so nannte.«

Er nickte grimmig. »Was ist mit dir? Ist Brinks dein Nachname, oder was?«

»Es ist nur ein Name.«

Das war im Grunde keine Antwort auf seine Frage, aber sie war offensichtlich in keiner sehr mitteilsamen Stimmung.

Er wusste nicht, womit er sich ihre Feindseligkeit zugezogen hatte – abgesehen davon, dass er ein Stammesvampir war. Ihre Bemerkungen vorhin im Asylum ließen keinen Zweifel daran, dass sie es ihm nicht leicht machen würde, in Cruz’ Bande Fuß zu fassen.

Wenn er gedacht hatte, sie mit einem Lächeln und ein bisschen Small Talk für sich zu gewinnen, hatte er seinen Charme offensichtlich überschätzt … oder ihre prompte Abneigung gegen ihn unterschätzt.

Er befand sich jetzt auf unbekanntem Gebiet. Gesegnet mit einer Kombination aus dem fantastischen Aussehen seiner Mutter und der Kraft und Größe seines Vaters war Rafe es gewohnt, dass ihm die ungeteilte Aufmerksamkeit jeder Frau zuflog, die er wollte.

Nicht so bei dieser.

Und er wollte verflucht sein, wenn das nicht seine Entschlossenheit steigerte, den Grund dafür herauszufinden.

»Dann seid ihr – du und Cruz – also zusammen?«

»Wie ein Paar? Nein.« Sie verneinte es so schnell, dass es fast schon höhnisch klang. »Warum? Meinst du etwa, nur weil ich eine Frau bin, müsste ich mit ihm schlafen? Oder denkst du vielleicht sogar, sie würden mich alle miteinander teilen?«

Ehe er es verhindern konnte, kam ihm das ungebetene Bild in den Sinn, wie sie von den vier rauen Männern herumgereicht wurde. Es stand ihm nicht zu, dass diese unangenehme Möglichkeit ihm sofort einen wütenden Stich versetzte oder seinen Beschützerinstinkt weckte.

Er schüttelte den Kopf, um das Bild loszuwerden. »Ich versuche nur, die Situation zu verstehen.«

Und ja, er wollte auch wissen, warum eine schöne, offensichtlich intelligente Frau wie sie ihre Zeit verschwendete, indem sie sich mit kriminellen Elementen wie Cruz und seinen Kumpanen abgab. Wenn kein persönliches Interesse vorlag, was hatte sie dann zu ihnen geführt?

Warum stellte sie sich vor Cruz und seine Machenschaften, obwohl sie den Mann noch nicht einmal mochte, wie Rafe vermutete.

Oder hütete sie eigene Geheimnisse, die nicht ans Licht kommen sollten?

Er war nur aus einem Grund hier: Herauszufinden, ob es eine Verbindung zwischen der Gang und Opus Nostrum gab und falls ja, wer der Kontakt auf der anderen Seite war. Das bedeutete, dass keiner über jeden Verdacht erhaben war. Vielleicht hatte er die Kontaktperson sogar gerade vor sich.

Als würde sie spüren, wie durchdringend er sie plötzlich musterte, drehte sie den Kopf weg und mied seinen Blick. »Ich bin weder mit Cruz noch mit sonst jemandem zusammen. Privates und Geschäftliches halte ich streng auseinander.«

»Das ist schlau«, brummte Rafe. »Von welcher Art von Geschäften reden wir hier eigentlich?«

»Tun wir nicht. Du bist hier derjenige, der die ganze Zeit redet.«

»Muss ganz schön lukrativ sein«, ließ er nicht locker. »Vielleicht kann ich da auch irgendwie mitmischen?«

»Nein, kannst du nicht.«

So etwas wie Furcht huschte kurz über ihr Gesicht, als sie wieder den Kopf drehte, um ihn anzusehen. Aber der Ausdruck war genauso schnell weg, wie er gekommen war, und sie setzte sofort wieder eine ausdruckslose Miene auf.

Rafe glaubte ihr, dass sie nicht mit Cruz oder einem der anderen Männer aus seiner Bande zusammen war, aber er nahm es ihr keine Sekunde lang ab, dass ihre Abwehrhaltung etwas mit Loyalität der Gang gegenüber zu tun hatte. Ihre Reaktion jetzt beruhte auf ganz und gar persönlichen Gründen.

Genau wie ihr emsiges Bestreben, vor ihm und seinen Fragen zu flüchten.

Denn sie verbarg irgendetwas vor ihm.