Erzählung vom Schweigen - Katharina Peter - E-Book

Erzählung vom Schweigen E-Book

Katharina Peter

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Beschreibung

Eng umgrenzen die Schatten der Familie Karolina Estors Leben: Als drittes Kind wächst sie in dem zum Scheitern verurteilten Versuch ihrer 68er-Eltern auf, alles anders als die Generation zuvor zu machen. Während ihr Vater Klaus bestrebt ist, den Kindern alle Freiheiten zu lassen, und sie doch nur umso enger an sich bindet, verrät ihre Mutter Elke sowohl den Klassenkampf als auch Familienverbund und jettet stattdessen wie besessen für Großkonzerne um die Welt. Karolina indes beherzigt den mütterlichen Leitsatz vom Nichtschwachseindürfen und tröstet sich im Leistungssport, bis Konkurrenzdruck und das Verschwinden ihres Bruders sie auch diesen Halt verlieren lassen. Mit schmerzlich-lakonischer Offenheit verknüpft Katharina Peter Erinnerungsflicken ihrer Protagonistin zu einem Teppich deutscher Geschichte, rekonstruiert anhand eines Familienarchivs verschwiegene Schuld und verlangt ihrer Protagonistin alles dabei ab, denn: Gelingt es ihr nicht, ihre Geschichte zu formulieren und einen Sinn für sich zu schaffen, so geht sie verloren in dem Dunkel, das die Familie ist. Schonungslos und mutig, erschreckend und tröstlich dringt Peters Debütroman tief in die Geschichte ein und legt die Grundlagen unserer Gesellschaft bloß.

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Katharina Peter

ERZÄHLUNG VOM SCHWEIGEN

Roman

Inhalt

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9 Über das Wegsperren

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12 Vor dem abgebrannten Kinderkarussell in Runkel

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16 Meine Oma Mine Estor

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

18. 03. 1908

Nach längerer Zeit verwirklichte sich endlich mein Plan betreffs Anlage eines Familienbuches, in dem jeweils die Häupter der Familie ihre Gedanken, Erlebnisse, Gutes und Böses aus ihrem Leben zu ihrer eigenen und ihrer Nachkommen Erinnerung niederschreiben mögen. Je länger das Buch in der Familie bleibt und je ausführlicher es geführt wird, desto größeren Wert wird es mit den Jahren erhalten. Vorläufig ist der Einblick nur mir und meiner lieben Frau gestattet. Unseren Kindern bleibt es, solange wir leben, ein verschlossenes Buch. Erben soll es einmal derjenige, der nach unserer Ansicht die beste Garantie für eine sorgfältige Weiterführung bietet.

1

Wir lebten in diesem leicht heruntergekommenen Haus aus den Dreißigerjahren, im Speckgürtel Frankfurts. Die Wegplatten im Vorgarten mussten unter ihrer Moosschicht einmal grün und rot und blau gewesen sein, auf einigen konnte man hin- und herkippeln, sodass sie ein dumpfes Klingen ausstießen. Als Kind fuhr ich auf Rollschuhen über sie hinweg, ich fühlte mich wie Kati Witt in Sarajevo 1984. Dann rutschte ich auf ihnen aus oder blieb an einer Kante hängen und fiel auf mein Steißbein. Die Wucht des Sturzes war so heftig, dass ich mehrfach nachprallte, nachbebte, wie ein Ball. Dabei vibrierte die Welt vor meinen Augen und in meinem Kopf.

Fotos beweisen, dass meine Eltern ein Paar waren. Elke und Klaus. In mir finde ich keine Bilder von den beiden als Paar.

Sie wollten alles ganz anders machen als ihre Eltern. Klaus wollte uns Kindern Freiheiten lassen, vor allem anderen Freiheit. Also keine Grenzen, nirgends. Elke wollte uns zu guten Revolutionären erziehen, wollte uns sozialistischproletarisch erziehen. (Härte, Arbeit, Struktur, Widerwille gegen Verweichlichung.) Sie tauschten die Rollen, sie wollten alle Tradition wegschmeißen, aber vor allem waren sie jung und unreflektiert und absolut unfähig, eine Beziehung zu führen.

Klaus war eine gute Mama. Er kochte, strickte, las uns vor und sang beim Putzen. Häuslich, treu und lieb. Das waren die ersten Ehejahre. Dann bekam er schlechte Laune. Oder eine Depression. Sein Laissez-Faire wurde ein Alles-egal. Ein Interessiert-mich-nicht, Ist-mir-zu-viel und Ich-kann-nicht-mehr. (Natürlich bin ich ungerecht. Eine Depression ist kein Deckchensticken.)

Meine Mutter liebte Anton Makarenko, den sowjetischen Reform-Pädagogen der 1920er. Er hatte straffällig gewordene Jugendliche in Heimen erfolgreich durch Arbeit, Disziplin und eine strikte Kollektivmoral resozialisiert. Bei Iris, Aki und mir funktionierte es nicht so gut.

Sie nannten mich Karolina. »Weil es schön klingt.« Doch dann riefen sie mich immer Kissi und wollten nicht, dass ich Kleider trug.

Was habe ich mich mit Elke über Schlingensief gestritten. Ich hätte gegen den Fahrersitz treten, ins Steuer greifen können vor Wut. Dazu ihr beschissener Fahrstil. »Er ist ein egozentrisches Arschloch.« Das war ihre elaborierte Meinung und nichts an seiner Kunst ließ sie gelten. Mit ihrer verquasten stalinistischen Weltsicht. Die idealistische Kunstproduktion unter Mao sprach sie wohl direkter an. Die fröhlichen Gesichter, der Sonne und der Zukunft zugewandt. Aufgekrempelte Ärmel, auch mal eine Waffe in der Hand. Klare Botschaften. Erbaulichkeit. (Die Kinderbücher der Siebziger und Achtziger waren so schön einfach gestrickt. Alle zusammen: Alles gut. Alle frei: Alles gut. Ketten weg, Böse weg: Das Gute siegt.)

Elke hätte nicht mit der Wimper gezuckt, verwöhnte Bürgertöchter in Erziehungsanstalten zu stecken, um ihnen beizubringen, was harte Arbeit ist. Immer idealisierte sie die extremen Verhältnisse, aus denen sie kam. »Ich bin kein Opfer. Ich kann arbeiten. Ich habe Respekt vor jedem Menschen, der arbeiten geht.« (Klaus und ich wussten, dass wir damit nicht gemeint waren.)

Ich wuchs auf mit dem lächelnden Mao auf dem Gästeklo. Ich mochte ihn sehr und hielt ihn für den lieben Gott.

Über die Antiautoritären lästerte Elke gerne und in sexuell konnotierter Fäkalsprache. (Später verstand ich, dass sie sich von kindlichen Bedürfnissen bedroht fühlte.)

Zum Beispiel die antiautoritäre Erziehung. Das ist eine Falle, die uns die Bourgeoisie gestellt hat. Und manche sind reingehüpft! Die Bourgeoisie will uns zum Individualismus erziehen. Wir leben im Zeitalter des Untergangs, das ist eine Wahrheit, die die Bourgeoisie nicht umstürzen kann. Dass der Kapitalismus untergehen wird, ist ein ehernes Gesetz der Geschichte. Wir haben ja erst angefangen, die sektiererischen Fehler der Vergangenheit aufzuarbeiten. Aber: Beim Überwinden des Linkssektierertums nicht die Partei vergessen! Der Rechtsopportunismus ist der Hauptfeind der Arbeiterbewegung! Es ist so sicher wie das Amen in der Kirche, dass eines Tages auch in Deutschland eine revolutionäre Situation entstehen wird. Wir wollen die Massen führen! Die Partei marschiert an der Spitze der Massen. Wir sind die einzige wahrhafte Partei der Arbeiterklasse.

Klaus opferte sein Leben uns Kindern. Elke schaffte das Geld ran. Als sie weg war, blieb ihm nichts anderes übrig, als sich um uns zu kümmern und weiter Mama zu spielen. (Und ich weigere mich bis heute, Danke zu sagen.)

Einmal stieß ich in der Nacht auf ihre nackten Körper. Klaus war durch eine chronische Hüftentzündung in seiner Bewegungsfreiheit eingeschränkt. Elke unterstellte ihm verächtlich, dass er seine Symptome nur vorschob.

Meine Mutter badete mich in der Kultur der Verachtung. Sie stählte mich in ihrem Misstrauen und ihrer Angst, die sie so überzeugend als Wut tarnte.

Meine streitenden Eltern. Meine Trommelfelle übersät von Narben. Eitrig, entzündet wehrten sie die grausame Sprache ab, wollten nicht hören, aber hörten doch.

Elke war, tief, sehr tief in ihrem Inneren, sanftmütig. So streichelte sie einmal heimlich meine Ratte August, küsste sie auf die Schnauze, setzte sie sich auf die Schulter, sprach zärtlich mit ihr. Als ich mich im Türrahmen zu erkennen gab, warf sie August in den Käfig und schimpfte ihn ein beschissenes Drecksviech.

Nach jedem ihrer Ausbrüche: Flucht vor sich selbst, Türschlagen und um den Block gehen, stundenlang. Am nächsten Morgen wieder Witze auf den Lippen. Ihr Zorn, ihre Wut, die hatten einen Ursprung, der strahlte und strahlte. Je vehementer sie diesen Ursprung verleugnete, desto stärker strahlte er.

Mein Vater Klaus hingegen spezialisierte sich darauf, gewaltvoll zu schweigen. (Der Arme hat kein Bewusstsein über seine Taten, hält sich für ein Opfer und gleicht darin ganz seinem Vater, doch davon will er nichts hören, vor allem nicht aus meinem Mund. Seine Erzählung funktioniert für ihn nicht mehr, wenn ich ihm widerspreche. Er sagt: »Ich bin ein emanzipierter Mann. Ich war ein aufopferungsvoller alleinerziehender Vater.« Ich sage: »Du warst ein übergriffiges Wrack.«)

Mein Vater schwieg über jeden Schmerz hinweg. Er schwieg über das Echte und sprach umso mehr und unaufhörlich über all das Falsche. Er plapperte und plapperte, wie das Wasser läuft, wenn man den Hahn aufdreht. Im Reden hielt er sich die Gefühle vom Leib, die unendliche Traurigkeit, einsam und verlassen zu sein. (Nach der Trennung meiner Eltern blieb Klaus verlassen.) Und er setzte mich auf seinen Schoß und umklammerte mich, um nicht allein sein zu müssen, bis ich ihm schwor: »Ich werde nie von dir gehen.« Und er ließ mich nicht gehen. Er gab mich nicht frei.

Meine Geschwister gingen in die Schule und ich saß unter dem Tisch meines erfolglosen Vaters, der sich damals noch für einen möglichen Autor hielt. Elke fand es grundfalsch, dass Klaus mich daheim behielt und so meine Neurosen züchtete. (Darüber musste Klaus lachen. Sein Großvater hatte ihm beizubringen versucht, wie man Rosen züchtet, doch das Einzige, was er gelernt hatte, war die Fähigkeit, Neurosen in seiner Jüngsten wachsen zu lassen.)

Ich durfte keine Geheimnisse vor ihm haben und nicht anders denken als er. Wenn ich ihm widersprach, wurde ich zu seiner Feindin und er zog alles von mir ab, was ich Liebe nannte. Dann wurde er kalt und gehässig. Drei Töne aus tiefster Kehle: Ä, ä, ä.

Ich bin die Jüngste und alle wissen, die Jüngsten sind im Grunde narrenfrei. Keiner nimmt sie ernst, keiner glaubt ihnen, keiner traut ihnen etwas zu. So leben sie im Erwartungsschatten und mit etwas Glück, bei robustem Gemüt, können sie sich frei entwickeln. Frech werden und verhasst, so wie ich.

2

Was war der Grund für den Niedergang ihrer Liebe? Was war es für eine Liebe? Was zog diese beiden im Innern so einsamen Menschen an? War es ihre Einsamkeit, von der sie selbst nichts wussten?

Ich hielt es immer für einen Widerspruch, dass Elke sich nicht in einen starken Mann, in einen klassisch männlichen Mann, in einen Beschützer-Typ verliebte. Dass sie führen wollte und dass sie vermutlich nichts anderes konnte, als zu führen, war andererseits nur stimmig.

Sie erzählte mir von einer früheren Liebe. Johan aus Kassel. Im Alter sprach sie öfter von ihm und sie hatte kein reines Gewissen. Ich glaube, sie ließ ihn für Klaus mies sitzen. Und verriet dabei ihre Herkunft und die Revolution. Johan kam aus einer Arbeiterfamilie mit kommunistischer Tradition. Sein Vater hatte nach der Machtergreifung der Nazis drei Monate im Konzentrationslager Breitenau gesessen. 1943 war er in eine Strafdivision an der Ostfront einberufen worden, den Krieg hatte er als Einbeiniger überlebt. Wenn Elke Johan zu Hause besuchte, erlebte sie ihren potenziellen Schwiegervater als gebrochenen Mann, der zu viel trank und nachts wahnhaft murmelnd die Wohnung auf und ab humpelte. Sie gestand mir, wie sehr sie die Atmosphäre in Johans Elternhaus beklemmt hatte.

Mit dem Marxismus-Leninismus war es Johan aber ebenso ernst gewesen wie ihr und die beiden hatten leidenschaftlich und erfolgreich an der Frankfurter Universität agitiert.

Vielleicht wäre es zwischen den beiden gut gegangen? Vielleicht war der größte Konflikt meiner Eltern doch die Klassenschranke? Der Milieu-Unterschied? Elkes uneingestandene Sehnsucht nach Wohlstand und ihre Abwertung von Klaus’ bürgerlicher Herkunft (bei gleichzeitigem Neid)?

Elke war durch Leistung der Armut ihres Elternhauses entflohen. (Sie weigerte sich, sich einzugestehen, unter der Armut ihrer Eltern gelitten zu haben. »Es hat mir nicht geschadet, es hat mir nicht geschadet …«)

Genossin Schneider. Als sie meinen Vater kennenlernte, engagierte sich meine Mutter im Parteiaufbau der Kommunistischen Partei der Marxisten/Leninisten. Sie war einer der wenigen einflussreichen weiblichen Kader der bundesrepublikanischen K-Gruppen in den Siebzigerjahren. Von messerscharfer Intelligenz. Diszipliniert. Entschlossen. Von der Notwendigkeit revolutionärer Gewalt durchdrungen. Sie selbst sagte in der Rückschau über diese Phase: »War eine gute Zeit. Hab meinen Lenin verinnerlicht. Hat mir später im Beruf oft geholfen.« (Sie wurde Logistic Consultant für multinationale Konzerne.)

Am 9. 11. 1974 hielt sie eine Rede auf dem Campus Bockenheim. Eigentlich wollte sie über Liebknecht sprechen. Doch dann kam die Nachricht von Holger Meins’ Tod frisch rein. Es entstand ein »revolutionärer Moment« und sie stachelte »die Massen« dazu auf, die Straße zu erobern und das Polizeipräsidium zu stürmen. »Mein größter Auftritt.« Angeblich entflammte eine kleine Straßenschlacht. Dany Cohn-Bendit habe dann beschwichtigend eingegriffen. »Am Ende kam etwas Halbgares dabei heraus.« (Meine Schwester Iris nistete da schon in ihr.)

Meine Mutter führte mich früh in das marxsche Denken ein. Historischen Materialismus und Dialektik vermittelte sie mir Schritt für Schritt auf unseren Gewaltmärschen durch den Taunus. Sie impfte mich gegen den Rest der Welt: Alles Feinde. Sie impfte mich gegen Konsum, gegen verweichlichtes Verhalten, gegen Angeberei und Barbies. Sie lehrte mich, Selbstkritik zu üben und den politischen Gegner zu verachten. Sie lehrte mich, dass Katholiken Arschlöcher seien und der liebe Gott eine Erfindung zur Unterdrückung. Sie lehrte mich, dass der Tod eine wissenschaftliche Tatsache sei, auf die nichts folge: keine Engel, kein Himmel, kein Weihnachtsmann. (Sie konnte an keinem Gekreuzigten vorbeigehen, ohne ihn zum Teufel zu wünschen.)

Sie fluchte viel, wenn ihr etwas nicht gelang. Störte ich sie dann, entgegnete sie mir bestenfalls ein Schweigen. Die Verachtung in ihrem Blick war tödlich. Ihr Hassen machte mir Angst, da es immer auch mich treffen konnte. Ihr Schwärmen wärmte mich, ließ mich aber stets in dem Gefühl zurück, nicht zu genügen, ihr unterlegen zu sein.

Ich liebte sie mit heißem, sehnsuchtsvollem Herzen. Immer auf der Jagd nach den kleinen Momenten der großen Nähe und Wärme, des Lachens oder Gefeiertwerdens. Denn sie war nicht nur die Zornigste in diesen Momenten, sondern auch die Blendendste, die Ambestengelaunte.

Neben Johan war Klaus bloß Salonkommunist. Er trat zwar Elke zuliebe auch in die KPM ein, aber eigentlich wollte er bloß seinen Eltern vor den Koffer scheißen (natürlich bin ich ungerecht), was er sich allein nicht traute. Elke war seine Rettung. Elke war stark. Sie hatte auf alles eine Antwort. Sie war in der Lage zu handeln. Sie behauptete, keine Angst zu haben, und Klaus glaubte ihr. Aber war das sein einziges Motiv? Provokation der Eltern? Autonom von seinem Elternhaus zu werden, war für Klaus ein existenzielles Problem. Gleichzeitig imitierte er seine Eltern und setzte ihre Tradition fort: den Schwachen zu helfen. Ihm taten die Arbeiterkinder wirklich leid, die Ungerechtigkeit empörte ihn, er fand sie nicht okay. (Ja, ich bin ungerecht gegenüber meinem Vater.) Die kommunistische Ideologie sprach ihn an, weil sie auf Idealisierung setzte. Sonnenaufgang. Strahlende Gesichter. Entschlossenheit. Lösungen. Antworten. Elkes Erzählungen waren ein wärmendes Lagerfeuer im Grauen.

Bad Dornen 1970. Der Schweinebraten dampfte schon auf dem Tisch, als Klaus zum ersten Mal an der Seite seines neuen Liebchens durch den Stubentürbogen im Hause Estor schritt. Elke trug ein rotes Hemd zum knielangen roten Rock, eine Haarspange hielt den kurzen Seitenscheitel, ihr ungebremstes Lachen legte die Zähne frei. Meiner Großmutter fiel die Sauciere aus der Hand, mein Großvater rang gequält um Fassung.

Nach einem peinlichen Mahl bat Dr. Oskar Estor meine blutjunge Mutter ins Untersuchungszimmer. Sie wollte nicht unhöflich sein, war beeindruckt von all den Zimmern, dem Porzellan, den Teppichen, den Manieren – und hasste all das ebenso sehr, wie sie sich davon angezogen fühlte, und hasste sich selbst dafür, dass sie sich von den Insignien bürgerlicher Machtdemonstration verführen ließ, und stritt gleich alles wieder ab vor sich selbst und beharrte darauf, darüber zu stehen, ganz unabhängig zu sein, durch nichts würde sie sich je korrumpieren lassen, nein.

Oskar Estor befragte sie nach etwaigen Vorerkrankungen, Tuberkulose vielleicht, abgebrochenen Schwangerschaften, Drogenkonsum. »1952, Kinderlähmung.« Nicht weil sie sich zur Wahrheit verpflichtet fühlte, erzählte sie davon, sondern weil sie meinte, sich selbst beweisen zu können, dass es egal war. Dass sie kein Opfer war, kein Opfer ihrer Herkunft und kein Opfer irgendwelcher Kinderkrankheiten. Oskar Estor horchte auf, aber Elke unterstellte ihm das falsche Motiv. Kritisch beäugte er ihren Körper, suchte nach Deformationen und fand keine. »Bleibende Lähmungen?« »Rechter Mundwinkel.« Sie stellte sich vor ihn hin, als wäre sie ein zu begutachtendes Pferd und reckte das Kinn nach oben. Er leuchtete ihr in die Augen und schien plötzlich mit allem zufrieden. Wenngleich sich Elke im Busenhalter vor dem Vater ihres Freundes unwohl fühlte, so hob sie doch stolz die Brust. Oskar Estor registrierte die stramme, fast militärische Haltung der jungen Frau.

Übergriffe und Entmündigungsversuche haben in der Familie Estor bis heute Tradition. Besonders die Themenfelder »Berufswahl«, »Familienplanung« beziehungsweise »Geburtenkontrolle«, »Erziehung« und »Partnerwahl« sind davon überschattet. Es gibt gute und schlechte Partner. Ihr Wert bestimmt sich über Herkunft, Status der Familie, beruflichen Erfolg und das damit verbundene gesellschaftliche Ansehen.

Sie verstand nicht, was für eine Prüfung sie gerade absolviert hatte. Oskar Estors Lächeln wusste sie nicht zu deuten.

Er hielt sie im Grunde für eine gesunde Frau. Ihre niedere Herkunft war in seinen Augen kein Makel. Sie schien robust zu sein, fleißig und zupackend. Elke hatte ein hinreichend breites Becken und eine gesunde Brust. Seine Frau war damals auch ein einfaches Bauernmädchen gewesen, er hielt die Vermischung der Stände sogar für erstrebenswert. Solange sich die richtigen Eigenschaften durchsetzten. Nichts sprach dagegen, dass sie sich mit seinem Klaus fortpflanzte nach einer möglichen Heirat.

Von meiner Oma Mine Estor wurde Elke nicht akzeptiert – die zukünftige Schwiegermutter suchte die Hochzeit zu verhindern, mit allen ihr zur Verfügung stehenden Waffen. Diese waren jedoch begrenzt: Schweigen, Leiden, Protest; ihre einzigen öffentlichen Ausdrucksmittel. Sie richtete Schaden an, war aber machtlos gegen das Wort Oskar Estors, der sagte: »Wir werden Elke erziehen. Sie wird Kinder bekommen und ihren Platz finden. Es gibt keinen Skandal.«

Elkes Eltern (der Schneider-Strang) waren hingegen gleich begeistert von Klaus (Arztsohn!). Sie hofften, er werde einen guten (bürgerlich-ordnenden) Einfluss auf ihre hochfliegende Tochter haben. Die Haare und der Bart seien vielleicht etwas ungepflegt, aber das lasse sich leicht ändern. Zum Beispiel in Oma Ilses Friseursalon! Opa Fritz prüfte den jungen Mann schweigend aus der Ferne. Ließ ihn beim Schnapstrinken schließlich übers Messer springen. (Großbesäufnis bei Schneiders. Elke schämte sich für ihre Eltern und war gleichzeitig stolz verteidigend.)

Estors und Schneiders standen sich vor dem Standesamt zunächst etwas säuerlich gegenüber. Mine ertrug die Schmach kaum, warf mit vernichtenden Blicken um sich und klagte über Lähmungserscheinungen in Armen und Beinen. (Oskar hatte die ganze Nacht beschwörend auf sie eingeredet: Einfache Leute seien nicht selten ehrbarer als die Reichen.)

Klaus hatte Examen gemacht, Elke studierte in Frankfurt. Das Wie und Was und die Nebenereignisse waren von Bad Dornen aus durch uns Eltern nicht so ganz genau zu beurteilen. Ihr selbst werdet es ja wohl noch wissen und solltet es auch nicht vergessen. Es war ja – Ende der 60er- und Anfang der 70er-Jahre – nun mal eine stürmische Zeit in der akademischen Jugend, von der wir uns wünschen, dass das eine oder andere von der Gesellschaft übernommen werde. Wir Eltern haben nicht viel davon mitbekommen. Nur einmal schlugen die Wellen bis nach Bad Dornen, als ich von einem Polizeibeamten, den ich beruflich gut kannte, gefragt wurde, ob wir einen Sohn Klaus in Würzburg hätten, von dem wollte er nicht der Vater sein. Nun – wir haben gedacht, etwas Schlechtes oder Schlimmes wird es bestimmt nicht sein, so viel Vertrauen hatten wir zu unseren Kindern. Dann merkten wir, dass unser Klaus für uns nicht immer erreichbar war, obwohl regelmäßig Anrufe von Würzburg kamen, dass er eine andere Anschrift hatte als die, die wir gemeinsam angemietet hatten. Dann plötzlich eine neue Adresse in Frankfurt, nun wurde ein Besuch fällig, das Ergebnis stellte allerdings große Anforderungen an unser Verständnis für revolutionierende Jugend. Ihr werdet das noch besser wissen als wir. Durch ein finsteres Treppenhaus in eine »eigenwillige Wohnung« geführt zu werden, war beklemmend, auf jeden Fall schön bunt möbliert, Grundfarbe rot. Aber das Leben geht weiter. Die Heirat war noch in Würzburg. Auf dem Standesamt erwarteten die Eltern Schneider und wir das Brautpaar, das sodann erschien – schön bürgerlich, brav angezogen und unser Klaus mit einem tollen Strauß, bestehend aus drei die Köpfe hängen lassenden Nelken. Wir schluckten, Frau Schneider erblasste. Dann sah Herr Schneider, wie ihr euch mit anderen Hochzeitern unterhieltet, und nahm an, es seien von euch geladene Gäste. Diese sahen allerdings wild verwegen nach echtem Bürgerschreck aus. Elkes Vater platzte bald vor Wut, bis er merkte, dass sie gar nicht zu euch gehörten. Die Trauung verlief hernach absolut bürgerlich im traditionellen Rahmen, die Väter als Trauzeugen. Mittagessen war in einem guten Dachgartenrestaurant, anschließend fuhren wir zu Schneiders zum Kaffeetrinken. Nur zur weiteren Illustrierung, unsere Mutter war an dem Tag krank, die gefürchtete, immer noch unbekannte Erkrankung, die gewiss mit eurer Hochzeit nichts zu tun hatte, hatte sie wieder einmal erwischt, aber sie wollte euch den Tag nicht verderben.

Ilse betrank sich und wurde anzüglich. Fritz schwieg lächelnd. (In seiner Meseritzer Familie hatten peinliche Motive bei Hochzeiten Tradition.)

Oskar versuchte, harmlose Kommunikation zu machen, fragte nach der Heimat Fritzens, erzählte Interessantes und lobende Geschichten aus dem Familienbuch seiner Frau. Mine bockte weiter. Elke wollte tanzen. Klaus verstummte schließlich, blass, mühsam lächelnd.

Meine kantige Mutter, mein runder Vater.

Sie muskulös und sehnig, er dick und weich.

3

Ich kann mich nicht sonderlich gut an die Szene erinnern.

Ich erinnere mich an die Kacheln unseres Küchenfußbodens: schmutzweiße, leicht gewölbte Steinquadrate mit grauen Fugen. Ich erinnere mich an die Kacheln an der Wand: holländische Windmühlen und Schiffe in Preußischblau auf Elfenbeinweiß. Ich erinnere mich an die Eckbank, die Kissen mit gelbem Bezug, an das staubfettige Radio, den Blick aus dem Fenster, die Oberfläche unseres Küchentisches.

Die Erzählung meiner großen Schwester Iris überlagert meine Erinnerung. Triumphierend zitiert sie immer wieder, was ich angeblich gesagt habe im Anschluss an die Rede. (Ich will es nicht wiederholen.) Als wäre damit irgendetwas klar.

Ich denke, Elke stand, als sie die Rede hielt. Ich bin mir sicher, dass Klaus schwieg.

Die Familienansprache zum Anbruch der neuen Zeit hieß: »Über die Unnötigkeit zu trauern.« Elke arbeitete darin heraus, dass sich im Grunde nichts ändern würde. Sie würde zwar zukünftig abwesend sein, doch trotzdem sei sie immer »da«. (Wie ließ sich das mit ihrem historischen Materialismus verbinden?) Die Trennung der eigenen Eltern möge auf den ersten Blick wie ein Unglück erscheinen. Doch sollten wir Kinder uns glücklich schätzen, dass unsere Eltern nicht uns Kindern zuliebe zusammenblieben. Denn damit nähmen sie uns in Geiselhaft und nur das sei traurig.

Klaus hatte mir wenige Monate zuvor versprochen, dass dies nie geschehen würde. Sein Wort war Butter.

Für Elke war es ihr zwanzigster Parteitag. Sie verriet unsere Familie, so wie Chruschtschow 1956 Stalin verraten hatte. (Dabei wollte Elke an Stalin nichts verwerflich finden.) Es war der zweite Weihnachtsfeiertag 1990. Statt Empörung unter den Genossen brach ich in Tränen aus. (Stimmt so nicht.) Iris, als 1. Generalsekretärin, schrieb Elkes Argumente innerlich mit. Sie würde die neue Linie der Familie in Elkes Abwesenheit verteidigen. Erst viel später verstand sie, dass es keine Familie mehr gab und sie hier mit uns gefangen war. Mit der verachtenswerten Klaus-Aki-Karolina-Clique. Mein Bruder Aki las einfach weiter oder tat wenigstens so. Noch im Rausgehen schaute er in sein Buch.

Der These folgend, man könne Schmerz umgehen, indem man den Abschied auslässt – wie damals, als sie meine Ratte plötzlich heimlich fortschafften –, verschwand Elke und mit ihr die Hälfte des Inventars sang- und klanglos, während wir in der Schule waren. Und dann war sie weg. Elke. (Mama hatte ich sie nicht mehr nennen dürfen seit einem Vorfall mit vier.)

Ich nährte mich noch lange vom alten Vokabular meiner Mutter. Ich klammerte mich an ihre Sprache. Ich übernahm ihre Denkfiguren: Misstrauen, Verachtung, Idealisierung. Ich vermisste sie so sehr, hatte aber keine Worte für mein Gefühl. Meine Trauer durfte nicht sein.

Erzählungen meiner Mutter:

– »Ich laufe durch die Innenstadt. Da kommt dieser Scheiß-Akkordeonspieler und quäkt mir alte Revolutionslieder ins Ohr. Der will eine Taste in mir drücken. Mit seiner manipulativen Musik. Ich hab ihm einen Schein in die Hand gedrückt, dass er mich in Ruhe lässt.«

– »Sie hat sich vom Optiker eine Brille andrehen lassen. Ab da ging es bergab mit ihren Augen. Kein Wunder!«

Glaubenssätze meiner Mutter:

– »Hilfsmittel ebnen der Verweichlichung den Weg.«

– »›Hilfe annehmen‹ ist das Deckwort für ›sich abhängig machen‹.«

– »Hilfsangebote sind nur getarnter Verrat.«

– »Alleine kämpfen, niemandem vertrauen.«

– »Es aus eigener Kraft schaffen.«

Eine der fundamentalsten Geschichten meiner Mutter lautete: Ich bin kein Opfer. Nichts kann mich brechen. Ich lebe selbstbestimmt. Sie sprach ihre Gefühle hinfort. Sie empfand die Ideologie, die sie vertrat: Wenn ich nicht schwach sein will, dann bin ich es nicht. Geschichte ist immer die Geschichtsschreibung der Sieger und ich bin der Sieger über meine Geschichte. Ich habe mein Leben in der Hand und wer mir was anderes erzählen will, der kann mich verdammt noch mal am Arsch lecken. Okay?

Sie war meine Heldin.

Sie war grausam. Brüllte rum. Ließ einen alleine. Beachtete einen nicht.

Meine Mutter war ein harter Hund.

Die Ideologie der Schneiders lautete: Wir sind besonders. Wir sind anders als die anderen. Wir sind besonders intelligent. Wir sind besonders stark. Wir lassen uns nicht manipulieren. Wir fallen nicht auf Quacksalber herein und Seelenklempner. Wir verachten die Dummen und die Schwachen. Wir lassen uns von keinem was vorschreiben. Wer uns kritisiert, hat keine Ahnung. Was uns stört, schneiden wir ab.

Elke forderte von mir, ein gesunder Geist in einem gesunden Körper zu sein. Und ich versuchte es, oh ja. Es gelang mir über Jahre. Bis zum Zusammenbruch.

Wir lebten ab da in Grau, als würden die Ölquellen brennen. Klaus war oft stumm. Dann suchte er körperliche Nähe und wärmte sich an mir. Manchmal heulte er und tat so, als sei ich traurig und müsse getröstet werden. Meine Schwester Iris versuchte, Elkes Platz einzunehmen. Sie kopierte ihre Rhetorik. Die Heldengeschichten. Die Verachtung. Aber es blieb doch ein vulgärer Abklatsch. Bald begann sie, in Elke-Manier verächtlich über Elke zu sprechen. Sie übte sich auch im Gute-Laune-Aktionismus und Klaus zog bisweilen mit. Die beiden hatten seit der Scheidung diese irre enge Beziehung und besprachen in endlosen Telefonaten auch nach Iris’ Umzug nach München alle Aspekte ihrer beiden Privatleben. Die Gespräche von Iris und Klaus hatten einen gewissen Suchtcharakter. Ich habe sie oft belauscht. (Daran war natürlich nichts problematisch, Miss Selbstgerecht.) Mein armer Bruder Aki rutschte währenddessen langsam ab. Er rasierte sich den halben Kopf, hüllte sich in schwarze Stoffbahnen und begann, sich intensiv mit Feuerritualen zu beschäftigen.

Ich seilte mich immer öfter in die Schwimmhalle ab, träumte davon, eine Olympionikin zu werden. Alle lachten mich aus. Sie ahnten nicht, dass mein Ehrgeiz von Rache befeuert wurde. Ich würde Elke in die Welt folgen und wieder mit ihr zusammen sein.

Ich trainierte viel und galt bald als Talent. Iris zischte, wenn sie mich beim Träumen erwischte. Sie setzte auf linke Positionen und vielleicht eiferte sie dabei aus demselben Motiv nur mit anderen Mitteln auch Elke nach …

Klaus und Elke hatten sich scheiden lassen. Warum die Ehe auseinanderging, wissen wir bis heute nicht mit Sicherheit zu sagen. Klaus eröffnete uns, es war wohl im Januar 1992, dass sie sich trennen wollten. Ein Zusammenleben sei nicht mehr möglich. Es war für uns nicht fassbar, denn Weihnachten hatten wir alle in schöner Harmonie und Fröhlichkeit gefeiert, ohne im Geringsten zu merken, dass sich das Verhältnis zwischen Klaus und Elke geändert hatte. Wir mussten die Entscheidung der beiden zur Kenntnis nehmen. Wir haben auch nicht versucht, Klaus zu bedrängen, da wir den Eindruck hatten, dass er nicht darüber sprechen wollte. Ein Gespräch mit Elke, zu der wir eigentlich ein gutes Verhältnis hatten, erübrigte sich somit. So schwer es für uns war, wir konnten nichts an der Entscheidung der beiden ändern, vertrauten nur darauf, dass sie alt, klug und erfahren genug waren, sich der Verantwortung für die Trennung bewusst zu sein. Die größten, vor allem seelischen Probleme fürchteten wir natürlich für die Kinder, aber – von heute zurückblickend – glauben wir, sagen zu können, dass die Kinder ohne bisher erkennbare Schäden die Trennung verkraftet haben. Sie halten Kontakt zu ihrer Mutter und haben, so sehen wir es wenigstens, mit ihrem Vater – und die drei Geschwister untereinander – ein gutes Verhältnis. Alle bei Ehescheidungen oft üblichen äußeren Schwierigkeiten sind, so weit für uns erkennbar, mit Anstand und Würde gelöst worden. Die Scheidungsformalitäten verliefen ohne für uns erkennbaren Zank und Streit. Wie es innerlich aussieht, wissen nur die Betroffenen. Wir können nur das Beste wünschen.

Klaus leugnete, dass es ihm schlecht ging. Er erlaubte sich keinerlei Reflexion seiner Lage. Dass er aus dem Himmel gefallen war, merkte er nicht. Er wollte nichts spüren und versuchte, mit aller Kraft zu verdrängen.

Klaus weigert sich bis heute, zu erinnern. Er kann nicht über Elke sprechen. Alle meine Fragen wischt er weg. Du darfst nicht erinnern – das Estorsche Erinnerungsverbot, Erinnerungstabu. Klaus bleibt seinen Eltern verbunden. Er hält sich für ihren Kritiker und pflegt doch ihre Tradition. Du darfst nicht erinnern. Die Geister der Vergangenheit sind gefährlich.

Seine Gereiztheit, seine hinter stumpfem Blick verschüttete Trauer, seine Grobheiten (Depressive sind auch aggressiv), die Kälte – mussten wir hinnehmen. Er war unsere einzige Bezugsperson.

Es war Klaus peinlich, dass Elke fort war. Er brauchte einen Mythos, der ihn sein Gesicht wahren ließ. Einen Opfermythos. (Genau wie Oskar hat Klaus nie einsehen wollen, was er selbst dazu beitrug.)

Nach der vernichtenden Niederlage waren die Deutschen zentral in ihrem Selbstwert getroffen. Die Abwehr des Erlebnisses einer melancholischen Verarmung des Selbst war daher zunächst die dringlichste Aufgabe der Psyche. Eine in ihrem Wahn bloßgestellte, der furchtbarsten Verbrechen überführte Bevölkerung, die sich im weitesten Sinne des Wortes von Traumata und Zerstörung umgeben sah, war so geschockt, dass sie sich zunächst nur um sich selber kümmern konnte. Die Naziperiode wurde derealisiert, sie verschwand wie ein Traum.

Meine Mutter hingegen bestand darauf, Täterin zu sein, weil sie die Opferrolle hasste. Auf den Tod hasste und verachtete. Hätte sie sich in die Opferrolle gefügt, wäre sie schon als Kind gestorben. Hätte zusammen mit ihrer Sehnsucht nach Liebe und Trost vierjährig auf der Isolierstation im Krankenhaus sterben können. Aber sie starb nicht, sondern schwor Rache. Sie lernte ihren ersten Leitsatz: es allen zu zeigen. Immer und überall.

Sie lernte Nichtschwachseindürfen. Lernte Sätze, die Richtung haben müssen, um anerkannt zu werden. Sprache, die die Funktion hat, den Sieg zu verkünden über den Tod. Wir leben, also haben wir glücklich zu sein.

Ich lernte früh, mit Menschen zu brechen. Es gab nicht einen Bruch, es gab immer wieder neue Brüche in meinem Leben. Der Abbruch – das typische Muster. (Kann ich je wieder etwas kitten? Einen einzigen all dieser Brüche wieder zusammenfügen?)

In Phasen brach ich lustvoll mit Menschen. Die Freiheit nach dem Bruch, ich atmete Unbesiegbarkeit. Ja. Ich war stolz darauf, nichts zu empfinden. Ich war nicht sentimental, konnte die Richtung wechseln, sooft ich wollte.

Bleib gebunden, Schmerz, und werde nicht zu Sprache, sonst kommst du wieder zur Welt. Bleib gebunden im unbewussten Boden. Nimm Gestalt an, werde endlich erkannt, zu Sprache, und ziehe als Wolke dahin und vorbei.

Heute sehne ich mich nach deiner Liebe. Zärtlichen, verständnisvollen Worten. Als Kind wusste ich nicht, dass ich sie vermisse. Ich kannte keine liebevolle Nähe. Nähe zu dir war immer vergiftet durch grelles Anerkennen, Herausheben, Bewundern. Das war, was dir einfiel, wenn du nett sein wolltest: mich für meine Leistung, meine Talente zu loben. Der Abstand zu den anderen war nötig. Ich war dann stolz. Wusste aber, dass ich ohne Besonderheit nichts wert sein würde. Was könnte ich für dich sein, wenn ich ohne Talent und Begabung wäre?

Es war deine Art zu sagen: Ich liebe dich. In deiner Sprache, die mit Gefühlen nur mittelbar in Berührung kam. Du konntest nie über ein Gefühl sprechen, weil du es nicht erkanntest. Es galt für dich nicht, du wolltest es nicht wahrhaben. Du verachtetest den Schmerz und wurdest so Herrin über ihn. Um welchen Preis? Du entkamst ihm, aber du musstest dich dafür von deinem eigenen Kern trennen. Du tratst den Beweis an, jedes Gefühl zu bezwingen. Du hast gewonnen. Immer wieder. In jeder Beziehung hast du den anderen Menschen besiegt. Es war unendlich traurig, deinen Siegesfeiern beizuwohnen. Du leugnetest deine Einsamkeit.