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Erziehung, Beratung, Psychotherapie: Drei Begriffe, deren Unterscheidung im Alltag kaum Probleme bereiten dürfte. In vielen psychosozialen Arbeitsfeldern liegen die professionellen Profile allerdings eng beieinander, und manchmal verschwimmen die Grenzen. Im Mittelpunkt des Buches steht daher eine Doppelfrage: Was unterscheidet diese drei Handlungsformen - und was verbindet sie? Drei Kapitel stehen dabei für drei theoretische Perspektiven, die stets zu Beginn erläutert werden: Operation, Profession und Systemfunktion. So wird die Doppelfrage in jeweils eigenen Durchführungen - für Erziehung, für Beratung und für Psychotherapie - aus drei verschiedenen Blickwinkeln beantwortet. Klare Struktur und klare Sprache machen das Buch nicht nur für Studierende attraktiv, sondern auch für alle, die in diesen Bereichen arbeiten.
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Seitenzahl: 619
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Der Autor
Prof. Dr. phil. habil. Volker Kraft (Dipl.-Päd., Dipl.-Psych./PP), langjährige Tätigkeit in Lehre und Forschung an Hochschulen sowie in Praxis der Beratung und der Psychotherapie.
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1. Auflage 2021
Alle Rechte vorbehalten
© W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart
Gesamtherstellung: W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart
Print:
ISBN 978-3-17-040448-9
E-Book-Formate:
pdf: ISBN 978-3-17-040449-6
epub: ISBN 978-3-17-040450-2
»Einladungen« werden gelegentlich von einer gewissen Ambivalenz begleitet. Auf manche freut man sich und kann das Ereignis kaum erwarten, andere hingegen sind mit eher gemischten Gefühlen verbunden. Wenn im Untertitel eines Buches von »Einladung« die Rede ist, dürften vermutlich milde Irritation, leise Zweifel oder vage Vorbehalte sich einstellen. Denn ein Buch kauft man ja oder leiht es aus, liest es aus Interesse und freien Stücken oder blättert es flüchtig durch und legt es beiseite.
Was also hat es mit dieser »Einladung zu Unterscheidungen« für eine Bewandtnis? Zunächst, wenig verwunderlich, gibt es einen biographischen Hintergrund: Als ich mein Studium begann, fiel mir irgendwann ein Buch in die Hände, das mich sogleich fasziniert und seitdem nicht wieder losgelassen hat: Peter L. Berger: Einladung zur Soziologie (München 1977). Wer es kennt, wird meine anhaltende Begeisterung vermutlich nachvollziehen können; wer nicht, sollte es lesen – darüber mehr zu berichten, ist hier nicht der Ort.
In jedem Fall ist das Wort »Einladung« mit der Vorstellung einer gewissen Leichtigkeit und Lockerheit verbunden, freundliches Beisammensein sozusagen, bestimmt von der Aussicht, mit anderen zugleich Anderes, Neues und Ungewohntes kennenzulernen, all das im Duktus höflicher Unverbindlichkeit und mit der entlastenden Gewissheit, jederzeit wieder gehen zu können. Dogmatische Engstirnigkeit mit furchteinflößender Strenge theoretischer Begriffe scheint demnach nicht zu befürchten. Es wird nur die Einladung ausgesprochen, drei Handlungsformen – Erziehung, Beratung und Psychotherapie – einmal vor allem im Hinblick darauf zu betrachten, was sie voneinander unterscheidet und was sie womöglich auch miteinander verbindet. Fröhliche Wissenschaft ist damit nicht gemeint; vielmehr um eine Art von spielerischer Neugier geht es, um methodische Naivität sozusagen, orientiert am Prinzip des Einfachen, das schwer zu machen ist.
Von drei Handlungsformen ist die Rede. Ihnen entsprechen drei mehr oder weniger breit gefächerte Berufsbereiche, zu denen unterschiedliche Ausbildungen führen, in denen wiederum verschiedene wissenschaftliche Disziplinen leitend sind. Eine homogene Leserschaft ist demnach nicht zu erwarten. Umso mehr braucht es einen übergeordneten Gesichtspunkt, von dem ausgegangen werden kann.
Zwar richtet sich das Buch in erster Linie an Studierende, die einen pädagogischen Beruf anstreben, wie auch an Interessierte, die bereits in einem solchen tätig sind, an ein pädagogisches Publikum also. Gleichermaßen ist es allerdings aufgrund seiner Anlage, die in der Einleitung näher erläutert wird, für diejenigen von Nutzen, die vor allem an Beratung und an Psychotherapie interessiert sind. Denn es handelt sich weder um eine Einführung in »die« Erziehungswissenschaft noch in »die« Beratung« oder in »die« Psychotherapie. Vielmehr geht es allein um den Versuch, ausgehend von einer bestimmten Weise, pädagogisch zu denken, auch die beiden anderen Handlungsformen auf gleiche Weise in den Blick zu nehmen. Indem alle drei Praktiken als spezifische Formen des Zeigens verstanden werden, wird das möglich. Denn es gibt eine »Zeigestruktur der Erziehung« ebenso wie eine »Zeigestruktur der Beratung« und eine »Zeigestruktur der Psychotherapie«. Dass hierbei von ›Erziehung‹ ausgegangen wird, hat seinen eigentlichen Grund in der Sache selbst, denn ohne Erziehung keine Beratung und keine Psychotherapie.
Allen drei Gruppen wird also zugemutet, die das eigene Arbeitsfeld bestimmende Zeigestruktur einmal aus der Perspektive der beiden anderen in den Blick zu nehmen. Das vertieft nicht nur das Verständnis für das Andere, sondern schärft eben gerade dadurch den Sinn für das Eigene, für dessen Möglichkeiten wie für dessen Grenzen. Derlei Zumutungen sind zumeist mit einigen Anstrengungen verbunden, was auch hier gelegentlich der Fall sein dürfte. Denn ›einfach‹ ist nicht immer gleichbedeutend mit ›leicht‹. Aber, das zumindest ist die Überzeugung des Autors, die Anstrengung lohnt sich, winkt doch am Ende größere Klarheit. Und Klarheit über das, was man tut, ist eine notwendige Bedingung für professionelles Selbstbewusstsein – eben für ein Bewusstsein des professionellen Selbst, das auf anspruchsvollem Terrain sich wirksam zur Geltung zu bringen bemüht – sei es in der Erziehung, in der Beratung oder in der Psychotherapie. Welche Einsichten dabei im Einzelnen zu gewinnen sind, das zeigt sich natürlich erst dann, wenn man die Einladung annimmt – also zu lesen beginnt.
Bei der Ausarbeitung der vorliegenden Studie habe ich vielfältige Unterstützung erfahren, wofür ich an dieser Stelle ausdrücklich danken möchte:
Wertvolle Einblicke in unveröffentlichte Texte hat mir das Luhmann-Archiv an der Universität Bielefeld (Johannes F. K. Schmidt) ermöglicht.
Jonas Heinzel ist nicht nur für die elektronische Gestaltung der Graphiken zu danken, sondern auch für die mühevolle Transformation des Manuskripts in das Gewand moderner Textverarbeitung, eine Arbeit, die er mit bewundernswerter Kompetenz und großer Sorgfalt auf sich genommen hat.
Zudem gab es »Vor«-Leserinnen und »Vor«-Leser«, die frühe Fassungen so wohlwollend, kritisch und konstruktiv kommentiert haben, dass der Text dadurch zweifellos an Verständlichkeit gewonnen hat.
Besonderer Dank gilt Werner Glenewinkel, Ekkehart W. Müller und Klaus Schwerda, die den gesamten Prozess der Arbeit mit freundschaftlichem Zuspruch, fachlicher Expertise und kreativen Änderungsvorschlägen begleitet haben und, wie Joachim Burmeister und Dagmar Kube, auch vor der Durchsicht der Druckvorlage nicht zurückgeschreckt sind.
Herr Dr. Klaus-Peter Burkarth vom Kohlhammer Verlag hat mit großer Geduld an diesem Projekt festgehalten und es schließlich in der nun vorliegenden Form auch möglich werden lassen.
Kiel, im September 2021
Volker Kraft
Vorwort
Einleitung
1 Differenzen in operativer Perspektive
1.1 Begriffliche Klärungen und theoretische Werkzeuge
1.1.1 Was heißt »operativ«?
1.1.2 Das Zeigen
1.2 Die Zeigestruktur der Erziehung
1.2.1 Die entwicklungspsychologische Fundierung der pädagogischen Situation: Von ›joint-attention‹ zum ›didaktischen Dreieck‹
1.2.2 Pädagogisches Zeigen: die Grundform
1.2.3 Varianten pädagogischen Zeigens
1.2.4 Zeigestruktur und Emotion
1.2.5 Das Zeigen des Zeigens: ›Natural Pedagogy‹
1.3 Die Zeigestruktur der Beratung
1.3.1 Beratung als ›umbrella term‹: Komplexität und Möglichkeiten der Reduktion
1.3.2 Die Beratungssituation
1.3.3 Problemtypen und Formen des Zeigens
1.3.4 Beratung und Emotion
1.3.5 Beratung und Erziehung
1.4 Die Zeigestruktur der Psychotherapie
1.4.1 Psychotherapie als »Behandlung«
1.4.2 Die behaviorale Grundorientierung der Psychotherapie
1.4.2.1 »Erlernte Probleme« und Formen des Zeigens
1.4.3 Die psychoanalytische Grundorientierung der Psychotherapie
1.4.3.1 Unbewusste Konflikte und Formen des Zeigens
1.4.4 Psychotherapie und Beratung
1.4.5 Psychotherapie und Erziehung
1.5 Resümee
2 Differenzen in professioneller Perspektive
2.1 Begriffliche Klärungen und theoretische Werkzeuge
2.1.1 Profession und Semi-Profession
2.1.2 Professionalisierung
2.1.3 Professionalität (professionalism)
2.1.4 Die Klassifikation der Berufe (KldB 2010)
2.2 Erziehung als Beruf
2.2.1 Erziehungsberufe im Spiegel amtlicher Klassifikation
2.2.2 Berufsspezifische rechtliche Kontexte
2.2.2.1 Schule
2.2.2.2 Jugendhilfe und Soziale Arbeit
2.2.2.3 Vorschulische Erziehung
2.2.3 Erziehung als Semi-Profession
2.3 Psychotherapie als Beruf
2.3.1 Berufsklassifikationen und Ausbildungswege
2.3.1.1 Von der Medizin in die Psychotherapie
2.3.1.2 Von der Psychologie in die Psychotherapie
2.3.2 Berufsspezifische rechtliche Kontexte
2.3.3 Psychotherapie als Profession
2.4 Beratung als Beruf
2.4.1 Beratung im Spiegel der Berufsklassifikationen
2.4.2 Ausbildungswege, Weiterbildung und Zusatz- qualifikationen
2.4.3 Berufsspezifische rechtliche Kontexte
2.4.4 Beratung als Semi-Profession
2.5 Resümee
3 Differenzen in systemfunktionaler Perspektive
3.1 Systemtheoretisches Werkzeug: Grundlegende Annahmen und Begriffe
3.1.1 »Theorieputsch«: Das Gegenüber von Psychischen und Sozialen Systemen
3.1.2 »Strukturelle Kopplung«: Psychische und Soziale Systeme
3.1.3 Verbreitungs- und Erfolgsmedien
3.1.4 Von »Erfolgsmedien« zum Erfolg der »Funktionssysteme«
3.1.5 Funktionssysteme: Inklusion – Organisation – Exklusion
3.1.6 »Immunsysteme«: Gefühle, Widersprüche, Konflikte und Proteste
3.2 Ausgewählte Einblicke in das Erziehungssystem
3.2.1 Minen im Erziehungssystem
3.2.2 Funktion – ohne Code und Medium?
3.2.3 Strukturelle Kopplungen, Organisation und »Problemüberwälzungen«
3.2.4 Reflexionsprobleme: Reformsemantik als ›Immunsystem‹
3.3 Die Sonderstellung der Psychotherapie im Gesundheitssystem
3.3.1 Das Gesundheitssystem als ›Krankheitssystem‹
3.3.1.1 Krankheitskonzepte: Säkularisierung als funktionale Differenzierung
3.3.1.2 Zeit und Schmerz: Intervention und strukturelle Kopplung
3.3.2 Psychotherapie als ›Gesundheitssystem‹ im ›Krankheitssystem‹
3.3.2.1 Die ›äußere Realität‹ der Psychotherapie
3.3.2.2 Die ›innere Welt‹ der psychotherapeutischen Kommunikation
3.4 Beratung in Systemen
3.4.1 Die Ubiquität der Beratung und die Einheitlichkeit ihrer Form
3.4.2 ›Hans-Dampf‹ zwischen allen Stühlen oder: Umwelten der Beratung und Varianten ihrer Form
3.4.3 Reflexionsprobleme in Beratungssystemen
3.4.3.1 Die disziplinäre Sonderstellung der Beratung im Wissenschaftssystem
3.4.3.2 Thematische Vielfalt und operative Funktion
3.5 Resümee
Ausblick
Zum Verhältnis von ›Knowing That‹ und ›Knowing How‹
Literatur
Wer ein Studium beginnt, hat in der Regel zunächst einige Mühe, sich in dem jeweiligen Fach zu orientieren und zurechtzufinden. Das ist nichts Besonderes. Allerdings: Fächer unterscheiden sich hinsichtlich ihrer Lehrbarkeit wie auch ihrer Lehrgestalt, und sie organisieren das Studium auf unterschiedliche Weise. Die Pädagogik gehört zweifellos zu den »weichen« Fächern. Das hat für Studierende mancherlei Vorteile. Es hat aber auch Nachteile, denn gerade in »weichen Fächern« ist es nicht leicht, sich angesichts der Vielfalt der Themen und Fragestellungen verlässlich zu orientieren. Schaut man einmal in Vorlesungsverzeichnisse pädagogischer Fachbereiche oder Institute, kann man durchaus den Eindruck gewinnen, als hätte sich Jean Paul als Curriculumkonstrukteur nachhaltig in Szene gesetzt, denn in der Vorrede zu seiner 1806 erschienenen Schrift »Levana oder Erziehlehre« heißt es: »Über die Erziehung schreiben, heißt beinahe über alles auf einmal schreiben.« Dieses »irgendwie alles auf einmal« dürfte eine einschneidende Erfahrung vieler Studierender sein, die sich für ein Studium der Pädagogik entschieden haben.
Um nicht missverstanden zu werden: Natürlich hat auch die Pädagogik ihre Ordnungen, die den Gang des Studiums in den unterschiedlichen Ausrichtungen des Faches festlegen und vorschreiben. Und gerade durch jenen Reformprozess, der mit dem Namen einer italienischen Universitätsstadt geschmückt ist, verstärkt sich der Eindruck, als sei nun alles bestens geordnet, in tabellarischen Übersichten und Kombinationstabellen, in Pflicht-, Wahl- oder Wahlpflichtmodulen. Diese äußere Gestalt des Faches soll hier nicht weiter behandelt werden. Gleichwohl lässt sich der Frage nicht ausweichen, in welcher Weise äußere Organisation des Studiums und innere Struktur des Faches miteinander verbunden sind. Nimmt man die innere Struktur in den Blick, kommt zumindest dreierlei zum Vorschein:
Erstens orientiert sich die Lehrgestalt wesentlich an der gegenwärtigen Struktur der Erziehungswissenschaft als Disziplin, nicht aber an Erziehung als einem Phänomen eigener Art und den damit verbundenen Möglichkeiten und Grenzen erzieherischen Handelns, kurzum: die »Reflexion über Erziehung« scheint im Mittelpunkt zu stehen, nicht aber »das Erziehen« selber.1Zweitens fehlt es an einer Systematik, die es erlaubte, die Vielfalt der Themen und Fragestellungen so aufeinander zu beziehen, dass erkennbar wird, was diese miteinander verbindet, voneinander unterscheidet und was sie von den Zugriffsweisen anderer Disziplinen trennt. Es mag zudem gelegentlich der Eindruck entstehen, als wäre das Fach an einem Studienort ein anderes als an einem anderen. Drittens, und in unmittelbarem Zusammenhang damit, bleibt offen, wie sich das Studium aufbauen soll, was also die Grundlagen des Faches ausmacht, die zuerst studiert werden müssen, und was dann als Erweiterung oder Ergänzung, als Vertiefung oder Modifikation, danach und darauf aufbauend folgen soll. So gewinnen Studierende vielfach den Eindruck, als müssten sie eben »irgendwie alles auf einmal« studieren, ein Umstand, der durchaus geeignet ist, die Studierlust spürbar zu untergraben und der damit das Fach selbst in den Köpfen schwächt, die sich ihm aufgeschlossen, voller Neugier und mit häufig bewundernswertem Engagement zuwenden.
Natürlich gibt es für diesen Zustand Gründe, die weit in die Geschichte der Pädagogik zurückreichen und sehr eng mit den Besonderheiten ihrer Entwicklung als Disziplin in Zusammenhang stehen (vgl. Keiner 1999; Kraft 2004). Dem wird hier nicht weiter nachgegangen. Man kann aber auch sehen, dass die Pädagogik äußerst einfallsreich ist, ihre systematischen Schwächen zu kompensieren. Auf der Außenseite des Faches geschah dies lange Zeit, immer wieder und geschieht immer noch, durch eine enge Bindung an (Bildungs-) Politik. Das soll hier keine Rolle spielen. Auf der Innenseite des Faches hingegen, und um die geht es hier vor allem, werden systematische Defizite unter anderem durch die fortgesetzte Produktion von immer neuen Enzyklopädien, Lexika, Handbüchern und Einführungen auszugleichen versucht, so, als ahnte man, dass es besonderer Anstrengungen bedürfe, um die Lehrbarkeit der Pädagogik zu sichern.
Auch dieses Buch ist als einführender Text angelegt, wiewohl ihn einige Besonderheiten auszeichnen, die ihn von anderen Einführungen unterscheiden. Denn es geht hier weder um eine Einführung in die Pädagogik insgesamt noch um eine Einführung in eine spezielle Untergliederung des Faches, also z. B. in die Schulpädagogik, die Erwachsenenbildung oder die Sozialpädagogik. Auch geht es nicht um spezifische thematische Zusammenhänge wie z. B. »Erziehung und Geschlecht«, »Pädagogik und Religion« oder »Generation, Erziehung und Bildung«. Vielmehr geht es um die Einführung in eine spezifische Art und Weise, pädagogisch zu denken. Auf den ersten Blick scheint diese Zielbestimmung weder neu noch besonders originell, denn natürlich hat die Geschichte pädagogischen Denkens etliche Schriften dieser Art hervorgebracht. Was soll da noch Neues oder Überraschendes kommen? Warum noch ein weiteres Buch zu diesem Thema, warum noch einmal die alten abgenagten Knochen beschreiben? Wiewohl erst nach der Lektüre zu ermessen ist, ob sie sich denn gelohnt hat, wird im Folgenden der Versuch gemacht, die Leserinnen und Leser dafür zu gewinnen, der hier entfalteten Perspektive des Autors zu folgen.
Erziehung ist ein komplexes Phänomen, und als solches kennt es zunächst weder Fach-, Disziplin- oder Professionsgrenzen. Es ist daher kein Wunder, dass es in verschiedenen Wissenschaften zum Thema wird. Entweder geschieht dies dort in eigenen Gebieten, z. B. in der Pädagogischen Psychologie, der Pädagogischen Soziologie oder der Pädagogischen Anthropologie. Oder Erziehung wird im Zusammenhang zentraler Fragestellungen eines Faches zum Thema, wie z. B. in der Philosophie; oder sie wird, meist didaktisch gewendet, zu einem speziellen Anwendungsfall und kommt dann, wie in der Theologie, als »Religionspädagogik« wieder zum Vorschein. Jede wissenschaftliche Disziplin bearbeitet einen bestimmten Weltausschnitt nach Maßgabe ihrer jeweils leitenden Grundbegriffe und methodischen Möglichkeiten, die beide ihre jeweiligen Grenzen markieren. Ein Phänomen ist allerdings etwas anderes als der wissenschaftliche Zugriff hierauf. Nur in der Erziehungswissenschaft dient Erziehung als Grundbegriff, nur hier ist er zentral. Das wiederum hat zur Folge, dass der Erziehungswissenschaft die Aufgabe gestellt ist, ihren Begriff von Erziehung so zu schärfen, dass er von der Art und Weise, wie in anderen Disziplinen darüber gehandelt und geforscht wird, deutlich zu unterscheiden ist. Man könnte es auch so sagen: In der Pädagogik muss über Erziehung »irgendwie anders« gedacht und gesprochen werden als in anderen Disziplinen, denn sonst bräuchte es sie nicht zu geben, sie wäre schlicht überflüssig und verzichtbar.
Schon der einfach anmutende Satz »Der Grundbegriff der Erziehungswissenschaft ist Erziehung« ist innerhalb der Disziplin nicht unumstritten und vermag unverzüglich heftige Debatten auszulösen, wie auch die Stellung der Pädagogik zu anderen Wissenschaften aus verschiedenen theoretischen Blickwinkeln betrachtet werden kann. Für die hier verfolgten Zwecke soll er gleichwohl als Ausgangspunkt genommen werden. Denn nur dann lässt sich die Anschlussfrage formulieren: Wie begründet die Erziehungswissenschaft ihren Grundbegriff? Die einfachste Antwort lautet wohl: auf ganz verschiedene Weisen. Man kann, um einige Beispiele zu nennen, Erziehung aus der Evolution der Gattung her begründen, die ohne sie gar nicht denkbar ist; oder aus der Anthropologie, die die Sonderstellung des Menschen zum Thema hat; oder aus der Philosophie, indem man nach den Bedingungen der Möglichkeit von Erziehung überhaupt fragt; oder aus der Ethik, die Werte und Normen in den Mittelpunkt rückt; oder aus der besonderen Funktion der Erziehung für Kultur und Gesellschaft. Diese Aufzählung denkbarer Perspektiven ließe sich noch erweitern, und dass sie alle ihre Berechtigung haben, ist nicht zu bestreiten. Nur: gibt es nicht noch eine einfachere Form der Begründung, eine solche also, die so dicht wie möglich am Phänomen anschließt, ihm gleichsam anhaftet? Die basale Begründung des Erziehungsbegriffs, so lautet die Antwort auf diese rhetorische Frage, findet sich in der Erziehung selbst, genauer gesagt in den Praktiken des Erziehens und in den Formen, in denen diese Gestalt gewinnen. Kurzum: das Erziehen selber liefert die Grundlage für den Begriff der Erziehung.
Für diese Sichtweise gibt es in der Tradition eine gewichtige Unterstützung. Denn es ist Kant, der 1803 in der Einleitung seiner berühmten Schrift »Über Pädagogik« schreibt: »Der Mechanismus in der Erziehungskunst muß in Wissenschaft verwandelt werden, sonst wird sie nie ein zusammenhängendes Bestreben werden« (1978, S. 704). Der Ausdruck »Mechanismus« mag sich für moderne Ohren sehr technisch anhören und Assoziationen an »Mechanik« wecken. Aber natürlich ist Erziehung keine Maschine, und das hat Kant auch nicht gemeint. Er denkt vielmehr an den Zusammenhang zwischen einer Absicht, die sich in einer bestimmten Form des Handelns zur Geltung bringt und auf die dann eine bestimmte Wirkung zu erwarten ist und aller Wahrscheinlichkeit nach auch folgt. In moderner Diktion würde man vermutlich von »soft technology« sprechen, von spezifischen kommunikativen Techniken, die bestimmte Effekte erzeugen. Ein Beispiel mag das veranschaulichen: Wer sich einem anderen empathisch, also einfühlsam, zuwendet, kann nach aller Erfahrung erwarten, dass der andere sich verstanden fühlt. Von dieser Art sind die »Mechanismen«, die Kant vor Augen gehabt haben dürfte. Die Frage ist nun, ob sich in der Erziehung solche »Mechanismen« aufdecken lassen, denn nur dann kommt man der Antwort auf die Frage näher, warum Erziehung funktioniert, warum sie wirkt. Dass sie allerdings nicht immer wie beabsichtigt wirkt, ist dabei kein Einwand, sondern ein Umstand, dem theoretisch Rechnung getragen werden muss. Dass sie aber nicht immer so wirkt, wie gedacht, heißt ja nicht, dass sie überhaupt nicht wirkt. Diesen Tatbestand kann man sich leicht an einem Beispiel aus dem Alltagsleben verdeutlichen: Wenn wir mit anderen sprechen, wollen wir, dass wir verstanden werden. Dass wir nun manchmal nicht verstanden werden, heißt aber nicht, dass Verstehen prinzipiell unmöglich ist. Denn bei einem Missverständnis haben wir die Möglichkeit, es noch einmal, vielleicht mit anderen Worten, zu versuchen. Oft gelingt dann das Verstehen, manchmal allerdings auch nicht. Kommunikative Mechanismen sind also einerseits wirksam, andererseits aber ist ihnen, man könnte sagen: naturgemäß, stets eine Unsicherheit eigen. Genau darin liegt der Unterschied zur Technik, von der wir zu Recht erwarten, dass sie stets verlässlich so funktioniert, wie es ihrer Anlage entspricht: Wenn man das Radio einschaltet, kann man erwarten, dass man etwas hört; man erwartet aber nicht, dass die Kaffeemaschine anspringt. Wenn man einem Kind etwas sagt, erwartet man natürlich auch, dass es dem Gesagten Gehör schenkt, ihm folgt und sich demgemäß verhält – das aber muss, wie jeder weiß, nicht so sein.
Aber hier soll es ja nicht um die Wirkungslosigkeit der Erziehung gehen, sondern in erster Linie um ihre Wirksamkeit. Schon an dieser Stelle ist zu sehen, welche Vorteile es hat, den Begriff der Erziehung aus dem Erziehen selber abzuleiten, ihn gleichsam von unten, von der erzieherischen Interaktion ausgehend, nach oben, zur Reflexion über Erziehung, zu entwerfen. Denn nur so bleibt man gewissermaßen so dicht wie möglich an dem Phänomen, das der Erziehungswissenschaft zu Grunde liegt und das aufzuklären und anzuleiten ihre Aufgabe ist. Eine Besonderheit des folgenden Textes besteht also darin, dass hier ein Erziehungsbegriff verwendet werden soll, der, modern gesprochen, ›bottom-up‹ verfasst ist. Eine solche Sichtweise ist nicht neu, sondern sie hat, als »Operative Pädagogik« gefasst, mittlerweile den Status eines eigenständigen Ansatzes der Allgemeinen Pädagogik gewonnen (vgl. Prange 2005/2012a; Prange/Strobel-Eisele 2006). Dieser Perspektive ist diese Studie verpflichtet, hieran schließt sie an und führt sie weiter.
Wie der Titel anzeigt, geht es im Folgenden nicht nur um Erziehung, sondern auch um Beratung und Psychotherapie. Das scheint auf den ersten Blick nicht zu den bisherigen Ausführungen zu passen, soll es doch primär, so das oben gegebene Versprechen, um die Einführung in eine besondere Form des pädagogischen Denkens gehen. Wieso ist es dann notwendig, sich dazu auf das weite Feld der Beratung zu begeben? Was bringt es, sich in diesem Zusammenhang genauer mit Fragen der psychotherapeutischen Behandlung zu beschäftigen?
Zunächst soll das Gemeinsame dieser drei Begriffe herausgestellt werden. Alle drei stehen für jeweils spezifische Formen kommunikativen Handelns, denn alle drei Begriffe stehen für bestimmte Redeweisen, die ihnen ihre eigentümliche Form verleihen: es wird immer gesprochen (und das natürlich auch dann, wenn geschwiegen wird). In der Tradition ist es die Rhetorik, die über die einzelnen Redegattungen informiert und das diesbezügliche Wissen aufbewahrt. So kennt man das docere als belehren, das consiliare als beraten und die cura animi, die Seelsorge als Vorläufer der Psychotherapie seit altersher. Man könnte also in moderner Diktion sagen, dass das Medium – Kommunikation – gleich ist, während die Formen verschiedene Gestalt annehmen. Gleichwohl wird in allen dreien versucht, darin liegt die Bedeutung des Mediums, mit ausschließlich kommunikativen Mitteln auf Einstellung und Verhalten anderer Menschen Einfluss zu nehmen, aber, wie gesagt, auf jeweils unterschiedliche Weise.
Dieser letztgenannte Gesichtspunkt, die Unterschiedlichkeit der Formen, ist es, der Beratung und Psychotherapie für das pädagogische Denken in systematischer Hinsicht interessant macht. Denn damit eröffnet sich die Möglichkeit, genauer zu beschreiben und durchsichtig zu machen, welche Merkmale die jeweiligen Formen charakterisieren. Man kann also gleichsam durch die Form der Beratung wie auch durch die Form der Psychotherapie verdeutlichen, worin das Besondere der pädagogischen Kommunikation zu sehen ist. Es ist wie mit dem Erlernen einer anderen Sprache: studiert man Latein und die dazugehörige Grammatik, sieht man klarer, was diese vom Deutschen unterscheidet (und deswegen ist das Erlernen einer anderen Sprache gerade für die Ausbildung der eigenen Muttersprache so bedeutsam). Genauso ist es in Hinsicht auf das Verhältnis von Erziehung, Beratung und Psychotherapie: alle drei können als eigene Sprachen oder Sprechweisen verstanden werden, und alle drei haben unterschiedliche Voraussetzungen und demgemäß auch eine eigene Grammatik, die die Regeln enthält, wie jeweils gesprochen werden soll (und natürlich auch: wie nicht).
Nun liegt es in der Eigenart des Mediums (Kommunikation), dass gelegentlich der Eindruck entsteht, als verwischten sich die Unterschiede der Formen, als würde, zumindest in Teilen, sozusagen »gleich« gesprochen. Und weil es den Anschein hat, als würde teilweise gleich gesprochen, ergibt sich der Eindruck, auch die Formen seien offensichtlich gleich. Eben dieser Umstand sorgt dann für Irritation oder Verwirrung. Das ist gegenwärtig in vielen pädagogischen Handlungsfeldern zu beobachten. Das »Unterrichten« wie vor allem auch das »Erziehen« haben keinen besonders guten Ruf (und in Deutschland aufgrund unserer jüngeren Geschichte schon gar nicht), das »Beraten« scheint demgegenüber weitaus besser gestellt zu sein und größere Anerkennung zu genießen, und die Psychotherapie schließlich erscheint als hohe Schule kommunikativer Kompetenz. Anders gewendet: ein mangelndes Verständnis pädagogischer Handlungsformen schwächt das professionelle Selbstbewusstsein des pädagogischen Personals. Genau diesem misslichen Umstand soll hier entgegengewirkt werden, denn jede einzelne Form hat nicht nur ihre besonderen Voraussetzungen, sondern auch ihre jeweils eigene Reichweite. Es kann also, nüchtern betrachtet, gar nicht um ein »besser oder schlechter« gehen, sondern ausschließlich um die Frage: Welche Form für welchen Zweck? Insofern besteht ein Ziel der vorliegenden Studie darin, das pädagogische Selbstbewusstsein zu stärken, und zwar, das ist das Besondere, im Durchgang durch andere, eng verwandte Handlungsformen. Indem man sich mit anderen »Sprachen« beschäftigt, soll das Bewusstsein für die eigene – pädagogische – Sprache verfeinert und gestärkt werden. Insofern stehen Unterschiede und Unterscheidungen im Mittelpunkt, sie bilden das eigentliche Thema dieses Buches.
Dieser Akzent auf Differenzen ist nicht ohne Probleme. Denn einerseits ist Beratung mittlerweile ein weit verzweigtes Feld mit einer Vielzahl von theoretischen Ansätzen, Konzepten und Methoden (vgl. Nestmann/Engel/Sickendiek 2004; 2013), wie andererseits gerade auch Psychotherapie als Teil der Psychologie und der Medizin ein komplexes eigenständiges Fachgebiet darstellt. Angesichts der damit verbundenen Materialfülle muss daher versucht werden, sie umsichtig so zu reduzieren, dass gleichwohl die Unterschiede und Unterscheidungen sichtbar und prägnant herausgearbeitet werden können. Das soll, wie in der Gliederung des Inhaltsverzeichnisses deutlich wird, in drei Hinsichten versucht werden, die gleichsam drei Ebenen der Unterscheidung repräsentieren.
Im ersten Kapitel (Kap. 1) wird es um »Differenzen in operativer Perspektive« gehen, das ist die Ebene der Interaktion, also der spezifischen Form des Sprechens in den drei kommunikativen Praxen. Zunächst einmal müssen die Tatbestände ja phänomenologisch beschrieben und so gesichert werden, dass klar wird, worum es eigentlich geht. Das theoretische Werkzeug, das hierfür vornehmlich verwendet werden soll, ist die »Zeige-Theorie«, da alle drei Formen des kommunikativen Handelns der Sache nach auch als Zeigeformen verstanden werden können. Denn die Zeigestruktur der Beratung ist eine andere als die Zeigestruktur der Psychotherapie, und beide unterscheiden sich von der Zeigestruktur der Erziehung.
Im zweiten Kapitel (Kap. 2) wird nachgezeichnet, wie die drei Zeigestrukturen berufsförmige Gestalt gewinnen. Denn alle drei Interaktionsformen brauchen Menschen, die sie leibhaftig vergegenwärtigen und sie verwirklichen. In modernen Gesellschaften gibt es dafür Berufe und Professionen, die eben »professionell« handeln und in aller Regel auch dafür bezahlt werden, »Interaktionsagenten« sozusagen. Dafür wird man ausgebildet, muss studieren und bestimmte Praxiserfahrungen sammeln, bevor man selbständig und in jeweils spezifischen Grenzen autonom tätig werden darf. Die Palette pädagogischer Berufe ist weit gefächert, es gibt eine Vielzahl von Ausbildungsgängen und Handlungsfeldern; der berufliche Korridor der Psychotherapie erscheint demgegenüber sehr viel enger zu sein und genießt, wenn er in eigener Praxis ausgeübt wird, zudem den Status einer Profession. Das professionelle Bild der Beratung zeigt sich hingegen äußerst schillernd, denn einerseits gibt es nur sehr wenige eigenständige Beratungsberufe, andererseits wird Beratung in zunehmendem Maße und in immer mehr Bereichen ausgeübt.
Nun schweben die drei Handlungsformen mit den dazugehörigen Berufen nicht im luftleeren Raum, sondern sie sind kulturell fundiert, sozial institutionalisiert und gesellschaftlich organisiert. Durch diese besondere Art der Rahmung gewinnen sie überhaupt erst eine gewisse Verlässlichkeit und Stabilität, denn so werden die jeweiligen Interaktionen von individuellen Umständen, Motiven und Zufällen unabhängiger. In moderner Diktion: diese drei Formen von Interaktion sind Teil von spezifischen sozialen Systemen. Deswegen geht es abschließend im dritten Kapitel (Kap. 3) um die »Differenzen in systemfunktionaler Perspektive«. Die Erziehung gehört in das Erziehungssystem, während die Psychotherapie Teil des Gesundheitssystems ist. Wie lassen sich diese beiden Systeme theoretisch unterscheiden, und welche Einsichten folgen daraus? Und schließlich: Wo bleibt in dieser Sichtweise die Beratung? Gibt es auch ein eigenes Beratungssystem, oder kommt der Beratung nicht vielmehr eine Sonderstellung zu? Gerade die letzte Frage macht deutlich, dass es durchaus Sinn macht, auch auf systemfunktionaler Ebene den Unterschieden nachzugehen.
Es sind also, zusammengefasst, drei Ebenen, auf denen jeweils Unterschiede und Unterscheidungen zum Thema werden sollen: Operation und Interaktion (Ebene 1), Profession (Ebene 2) und System (Ebene 3); im Vorgriff auf systemtheoretische Einsichten könnte man auch sagen: Interaktion, Organisation und Gesellschaft.
Der Umstand, dass zu jeder der drei genannten Aspekte eine Fülle von Material zur Verfügung steht, kann für die Darstellung nicht ohne Folgen bleiben. Um sich in den komplexen und teilweise auch miteinander verwobenen Sachverhalten nicht zu verlieren, muss also drastisch reduziert und vereinfacht werden. Das ist, wie immer bei Vereinfachungen, nicht ohne Risiko. Denn der Autor läuft Gefahr, sich als »terrible simplificateur« zu erweisen, ein Ausdruck, den Jacob Burckhardt in einem Brief an Preen erstmals 1889 als seitdem häufig verwendeten Lehnbegriff in die deutsche Sprache eingeführt hat, als jemand also, der die Dinge auf grobe und unzulässige Weise vereinfacht, sie dadurch entstellt und ihnen nicht gerecht wird. Allerdings gibt es nicht nur unzulässige, sondern auch zulässige Vereinfachungen. Zulässig sind sie immer dann, wenn mit ihrer Hilfe versucht wird, in komplexe Sachverhalte auf elementare Weise einzuführen (vgl. Benner 2020). Es ist so wie mit dem Erlernen einer neuen Sprache, denn dabei beginnt man ja auch nicht mit grammatikalischen Ausnahmen, Sonderformen, Überschneidungen und semantischen Raffinessen, sondern zunächst mit dem möglichst Einfachen, das dann im Fortgang relativiert, modifiziert und verfeinert wird.
Diesem Prinzip der Darstellung soll hier gefolgt werden. Der Anspruch ist also nicht, mit diesem Text alle Fragen pädagogischen Denkens vollständig und abschließend zu behandeln (und sozusagen en passant auch gleich noch jene der Beratung und Psychotherapie), sondern vielmehr, gleichsam im Sinne einer Minimaldefinition, das herauszuheben und zu sichern, das notwendig gegeben sein muss, wenn pädagogisch gedacht und argumentiert werden soll. Ob das gelingt, lässt sich allerdings erst am Ende beantworten.
Für den Aufbau des Buches und für die Gestaltung der einzelnen Kapitel hat dieses Prinzip (»so-einfach-wie-möglich«) bestimmte Konsequenzen. Es gibt drei Kapitel, die jeweils Differenzen aus drei spezifischen Perspektiven zum Gegenstand haben. Jedes Kapitel beginnt mit einem Abschnitt über »Begriffliche Klärungen und theoretische Werkzeuge«. Hier werden nur die Begriffe eingeführt und erläutert, die für den jeweiligen Abschnitt von grundlegender Bedeutung sind und ohne deren Kenntnis der Gang der Darstellung nicht nachvollziehbar wäre. Danach folgt jeweils der »begriffliche Dreiklang« von »Erziehung – Beratung – Psychotherapie« in Form von drei eigenen kleinen Durchführungen (nur im letzten Kapitel wird aus Gründen einer prägnanteren Darstellung diese Reihenfolge verändert). Am Ende jedes Kapitels findet sich eine Zusammenfassung, in der auch auf Überschneidungen, Grauzonen und theoretische Anschlussmöglichkeiten hingewiesen wird. Es gibt ein umfangreiches Literaturverzeichnis; die Darstellung selbst wird daher von erweiternden Kontexten und theoretischen Hintergründen möglichst frei gehalten.
Das Prinzip der Einfachheit einer Theorie ist ohne Anschauung nicht zu verwirklichen. Begriff und Anschauung sind gleichsam Geschwister des Erkennens, oder, um das berühmte Kant-Zitat nicht zu übergehen: »Gedanken ohne Inhalt sind leer, Anschauungen ohne Begriffe sind blind« (Kr.d.r.Vernunft, B 75, WA III, S. 98). In der Anschauung steckt sozusagen das Phänomen, aber um es angemessen zu erfassen, braucht es den Begriff. Insofern könnte man auch sagen: Nichts ist so praktisch wie eine einfache Theorie. Ob diese Ankündigung eingelöst werden kann, muss der folgende Text zeigen.
1 Vgl. dazu das »Kerncurriculum Erziehungswissenschaft« (DGfE 2008), das als Grundlage vieler Studienordnungen dient.
In diesem Kapitel stehen die Unterschiede der drei Handlungsformen (Erziehung – Beratung – Psychotherapie) auf der Ebene der Operationen im Mittelpunkt. Dazu bedarf es einiger begrifflicher Klärungen und der Erläuterung der theoretischen Werkzeuge, die dabei verwendet werden: Zunächst ist zu klären, was hier mit dem Ausdruck »operativ« gemeint ist (Kap. 1.1.1), dann wird die Zeige-Theorie in ihren Grundannahmen näher erläutert (Kap. 1.1.2). Nach diesen Vorklärungen stehen die drei Handlungsformen selbst im Mittelpunkt, also die jeweiligen Zeigestrukturen von Erziehung (Kap. 1.2), Beratung (Kap. 1.3) und Psychotherapie (Kap. 1.4); als Abschluss dieses Kapitels wird der Ertrag dieser Bemühungen zusammengefasst (Kap. 1.5).
Wenn man ein Studium der Pädagogik beginnt, hat man zumeist kaum theoretische, sondern zuallererst praktische Ambitionen: man möchte Kinder in ihrer Entwicklung fördern und unterstützen, Schülern etwas beibringen oder mit Jugendlichen arbeiten, und oft sind es gerade die schwierigeren Arbeitsfelder, die einen anziehen, benachteiligte Kinder etwa, verhaltensauffällige Schüler oder besonders problembeladene Jugendliche. Und es gibt den damit verbundenen Wunsch, auf diese – pädagogische – Weise, einen Beitrag zur Veränderung oder Verbesserung gesellschaftlicher Verhältnisse zu leisten. Diese Motive sind ohne Frage aller Ehren wert und nicht nur als emotionale Grundlage für Studium und Beruf unerlässlich und überaus bedeutsam.
Von einer guten Absicht zu einer guten Wirkung führt allerdings kein direkter Weg. Gute Absichten alleine reichen nicht, sondern sie müssen in ein jeweils besonderes Handeln transformiert werden, ein bestimmtes »Können« also, das heute gerne »Kompetenz« genannt wird. In dieser Hinsicht sind pädagogische Berufe überhaupt nicht besonders, sondern allen anderen gleich. Jedoch sind auch »Absicht« und »Können« durch keinen direkten Weg miteinander verbunden, dazwischen liegt das weite Feld von Theorie und Wissen, Einübung, praktischer Erfahrung und kontinuierlicher Reflexion. Wenn es gut geht, verstärken sich diese Elemente wechselseitig und verschmelzen zu dem, was man berufliches Können nennen kann.
Wie in der Einleitung deutlich gemacht worden ist, geht es in diesem Buch darum, sich in Form von Abgrenzungen und Unterscheidungen mit den Problemen pädagogischen Handelns vertraut zu machen. Dieses erste Kapitel soll die Grundlage dafür liefern. Damit ist zunächst eine Zumutung verbunden, denn jenseits aller praktischen Ambitionen bedarf es dafür einer theoretischen Einstellung. Sie soll sich, eng umgrenzt, auf einen einzigen Sachverhalt richten: eben das jeweils spezifische Handeln. Es geht im Folgenden also nicht darum, zu beantworten »Was ist Erziehung« oder »Was ist Beratung« oder »Was ist Psychotherapie«? Sondern im Zentrum stehen »Was macht man, wenn man erzieht?« und »Was macht man, wenn man berät?« und schließlich »Was macht man, wenn man psychotherapeutisch handelt?« Es geht demnach, anders gesagt, primär um die professionellen Interventionen, nicht um die Phänomene in ihrer ganzen Komplexität. Diese eben soll gerade reduziert werden, damit dann einzelne Variablen oder Komponenten umso deutlicher zum Vorschein kommen.
Damit sind natürlich die Kontexte der jeweiligen Handlungsform – historische, soziale, politische, institutionelle, organisatorische oder biographische, um nur einige beispielhaft zu nennen – keineswegs aus der Welt geschafft. Sie werden nur zum Zwecke theoretischer Klarheit erst einmal ausgeklammert und in den Hintergrund verschoben, dort sorgsam aufbewahrt und bei Bedarf an entsprechenden Stellen eingeführt. Genau das ist gemeint, wenn von theoretischer Einstellung gesprochen wird. Denn zunächst muss zerlegt und isoliert werden, was in der Praxis selbst miteinander verwoben ist und ineinander läuft.
Unterschiede zeigen sich in verschiedenen Hinsichten und dementsprechend lassen sie sich auch auf unterschiedliche Weisen zum Vorschein bringen. In allen drei Fällen handelt es sich um kommunikative Praxen, d. h. ihr Medium ist die Sprache. Und in allen drei Fällen wird versucht, Einstellungs- und/oder Verhaltensänderungen in den Adressaten zu bewirken oder zumindest zu befördern. Anders gesagt: Es geht in allen drei Fällen im weitesten Sinne um die Initiierung von Lernprozessen. Ungeachtet dieser Gemeinsamkeiten sind die Formen der Kommunikation offensichtlich sehr verschieden: die Aufzeichnung einer psychotherapeutischen Sitzung ergibt ein anderes Bild als die einer Schulstunde oder die eines Gespräches mit dem Steuerberater. Zudem gibt es in allen drei Handlungsfeldern nicht nur jeweils eine spezifische Form der Kommunikation, sondern es finden sich mehrere, die sich wiederum voneinander unterscheiden. Wie soll man sich da orientieren und Klarheit gewinnen? Denn gesucht wird ja im Sinne Max Webers sozusagen nach »Typen« der Kommunikation, wenn möglich sogar nach »Idealtypen« pädagogischen, beratenden oder psychotherapeutischen Handelns.
Ein (in der Wissenschaft häufig gewählter) Ausweg aus diesen Schwierigkeiten besteht darin, dass man die Ebenen wechselt und einen anderen, höheren Abstraktionsgrad wählt. Es wird also ein theoretisches Instrumentarium oder Konzept benötigt, das es erlaubt, sowohl die Gemeinsamkeiten der drei Praxen als auch deren Unterschiede abzubilden. Damit kommt, buchstäblich verstanden, ein anderer Maßstab zum Einsatz. Seine Eigenschaft besteht darin, dass er einerseits die drei Fälle in ihren zentralen Merkmalen angemessen zu erfassen erlaubt, andererseits aber nicht in ihnen aufgeht, sondern über sie hinausweist; eben dafür sorgt der höhere Grad der Abstraktion. Für die Zwecke dieser Darstellung soll die Zeige-Theorie als ein solches begriffliches Werkzeug dienen. Das ist im Falle der Erziehung schon unter dem Titel »Operative Pädagogik« erprobt und in Teilen ausgearbeitet.2 In Bezug auf Beratung und Psychotherapie erscheint ein solches Vorgehen neu und daher ungewohnt, und man wird sehen, ob das auch dort funktioniert und wieweit man damit kommen kann.
Damit sind, wie eingangs angekündigt, die nächsten Schritte festgelegt: zunächst soll in einem kurzen Abschnitt genauer erläutert werden, was gemeint ist, wenn hier und im Fortgang des Buches von »operativ« gesprochen wird (Kap. 1.1.1); dann ist die Zeige-Theorie in ihren wesentlichen Grundzügen vorzuführen (Kap. 1.1.2). Und erst danach geht es zu den Sachen selbst, also zu den typischen Zeigestrukturen von Erziehung (Kap. 1.2), Beratung (Kap. 1.3) und Psychotherapie (Kap. 1.4), bevor am Ende dieses Kapitels Bilanz gezogen werden kann (Kap. 1.5).
Da der Ausdruck »operativ« (und dann auch »Operative Pädagogik«) für den hier verfolgten Ansatz kennzeichnend ist und im Gang der Darstellung häufiger vorkommt, soll er an dieser Stelle genauer erläutert werden.
Das Wort stammt, wie unschwer zu erkennen ist, aus dem Lateinischen und geht auf »opus« zurück, was »Werk, Arbeit, Beschäftigung, Handlung« bedeutet (bzw. auch auf »opera« – »Arbeit, Tätigkeit, Mühe«). Hiervon abgeleitet ist das Verb »operari«, was mit »beschäftigt sein, arbeiten, wirken, verrichten« übersetzt werden kann. Später bildet sich dann die adjektivische Form »operativ« heraus, das »wirkend, tätig eingreifend, eine Operation betreffend« bedeutet (vgl. Pfeifer 1999, S. 951).
Vor diesem semantischen Hintergrund ist es nicht verwunderlich, dass aus diesem Wortfeld stammende Ausdrücke in vielen Lebensbereichen auftauchen. In der Medizin unterscheidet man zwischen »operativer« (wenn etwas durch einen Eingriff entfernt wird) und »konservativer« Behandlung, und man spricht vom Chirurgen als »Operateur« (übrigens der ursprünglich verwendete Ausdruck). In der Musik kennt man die »Oper« und die »Operette« (das »Werkchen«) und in Literatur und Wissenschaft das opus magnum (oder magnum opus). In der Mathematik ist der »Operator« eine formale Vorschrift, die festlegt, was geschehen soll (z. B. das Pluszeichen bei der Addition), und auch in Logik und Informatik ist der Ausdruck in verschiedenen Wendungen gebräuchlich. »Operateure« kennt man nicht nur bei Film und Fernsehen, sondern auch in der Datenverarbeitung oder generell an zentralen Schaltstellen in komplexen technischen Anlagen. In der Betriebswirtschaft spricht man vom »operativen Geschäft« und meint damit dasjenige, das sich ausschließlich auf den eigentlichen Zweck des Unternehmens richtet (Finanzspekulationen von z. B. Automobilkonzernen gehören demnach nicht zum »operativen Geschäft«). Auch Zeithorizonte kommen ins Spiel, wie im Management, wo zwischen »operativer« (kurzfristiger), taktischer (mittelfristiger) und strategischer (langfristiger) Ebene unterschieden wird. Beim Militär ist das anders, dort liegt die operative Ebene zwischen Strategie und Taktik, wiewohl auch dort der Begriff der »Operation« in verschiedenen Zusammensetzungen (z. B. Defensiv- oder Offensivoperation, Operationslinie oder Operationsbasis) verwendet wird, ganz abgesehen davon, dass gerade besondere Aktionen spezieller Einheiten mit diesem Ausdruck verbunden werden (z. B. »Operation Neptune’s Spear«, der Name für die Tötung Bin Ladens am 2.5.2011).
Wie man an diesen Beispielen sieht, ist immer dann, wenn von »operativ« gesprochen wird, die unmittelbare Handlung selbst und ihre Zweck-Mittel-Relation gemeint. In der Situation entscheidet sich operativ, was geschieht, und dadurch wird festgelegt oder festzulegen versucht, was darauf folgt oder folgen sollte. Plus ist eben plus und nicht minus, und wie in der Genetik und gemäß dem dort leitenden »Operon-Modell« entscheidet sich durch eine bestimmte Operation, welche Reaktionen sich einstellen, wie es aller Wahrscheinlichkeit nach weitergeht. Der Ausdruck »operativ« bezieht sich also, anders gesagt, auf den unmittelbaren Handlungsvollzug selbst und dessen Verbindung oder Verknüpfung mit anderen zu einer Abfolge zielgerichteter Handlungsketten.
Nun liegt der Einwand nahe, dass dieses zwar für technische Abläufe gelten mag, nicht aber für kommunikative. Macht es überhaupt Sinn, das Erziehungsgeschehen auf diese Weise zu modellieren? Die Antwort lautet schlicht: Ja, es macht Sinn. Denn wir wissen, dass Erziehung funktioniert, und zwar, denkt man in evolutionstheoretischen Dimensionen, schon ziemlich lange. Damit wird nicht bestritten, dass es Unterschiede zur Technik gibt, die sich genauer aufweisen ließen. Gleichwohl: auch die größten, wichtigsten und schönsten Erziehungsziele verwirklichen sich nicht von selbst, sondern müssen durch das enge Nadelöhr pädagogischer Operationen.
Von »pädagogischen Operationen« zu sprechen, mag zwar ungewohnt klingen, ist aber der Sache nach durchaus vernünftig, um damit Handlungsweisen zu kennzeichnen, die sich unmittelbar auf das lernende Bewusstsein der Edukanden richten – manchmal als Eingriff, manchmal vermutlich auch als Angriff, immer aber als Versuch des Zugriffs, der Einflussnahme eben. Wer erzieht, bringt sich als »pädagogischer Operator« zur Geltung, als eine Kraft also, die auf andere Kräfte zu wirken versucht. Insofern, das ist mit dieser Sichtweise notwendig verbunden, sind nicht die Kinder, sondern die Erzieherinnen und Erzieher die Subjekte der Erziehung. Wenn also von »Operativer Pädagogik« die Rede ist, sind hier damit stets all jene Theoriebemühungen gemeint, die den unmittelbaren Handlungsvollzug selbst als Ausgangspunkt zu Grunde legen. Erziehung, das ist für manche vermutlich eine arge Zumutung, wird hierbei also aus der Sicht der Erzieher rekonstruiert und konzeptualisiert. Denn es geht, um auf Kant anzuspielen, um die »Mechanismen in der Erziehungskunst«, sozusagen um pädagogische Technologie und damit zuallererst um die Frage, wie man pädagogisch Wirkungen zu erzielen vermag. Das ist, so könnte man sagen, eine theoriekonstitutive Entscheidung, eine Festlegung eben. Dass damit nicht alle pädagogischen Probleme erfasst oder gar gelöst werden können, liegt auf der Hand. Die Frage ist vielmehr, welche Gestalt eine Theorie der Erziehung annimmt, wenn sie auf diese Weise angelegt wird. Demnach könnte das Motto für dieses Kapitel so lauten: Wenn Du pädagogisch denkst, denke zuallererst operativ (und sieh zu, wie weit Du damit kommst, und welche Probleme sich dann im Fortgang einstellen).
Auf den ersten Blick scheint »zeigen« ein einfacher, schlichter Ausdruck zu sein, geradezu selbstverständlich. Diese vermeintliche Selbstverständlichkeit rührt daher, dass das Zeigen unseren Alltag auf vielfältige Weise durchzieht, ein erster Hinweis darauf, dass ihm für Kultur und Gesellschaft eine ebenso grundlegende wie vielfach verdeckte Bedeutung zukommt: An einer Kreuzung erscheint eine rote Figur in der Ampel, und wir bleiben stehen. Wir sehen Wahlplakate, und denken uns unseren Teil über den Kandidaten und seine Partei. An der Litfaßsäule sehen wir die Ankündigung eines Konzertes, das unser Interesse erregt, und am Abend gehen wir dorthin. Nach einem Einkauf führen wir stolz die schicke Jacke vor, die wir erworben haben. Wir gehen in ein Museum und werden über die Geschichte des Kieler Hafens belehrt. Bei der Anfertigung eines Referats verwenden wir natürlich »power-point«, und später im Seminarvortrag lenken wir die Aufmerksamkeit des Publikums mit dem Laserpointer auf besonders wichtige Teile der projizierten Graphik. Im Laborpraktikum kommt unter dem Mikroskop plötzlich etwas zum Vorschein, was vorher mit bloßem Auge nicht zu erkennen war. Wir kandidieren für ein Amt im AStA und werden aufgefordert, uns vorzustellen. Wir haben in der Statistikübung eine Regressionsgleichung nicht verstanden und bitten eine Kommilitonin, uns den Zusammenhang genauer zu erklären, so dass auch wir es verstehen und selbst damit weiterarbeiten können. Und wenn beim Segeln im Sturm das eigene Wort nicht mehr zu vernehmen ist, reicht ein Handzeichen, um zu wissen, was zu tun ist.
Die Reihe solcher Beispiele ließe sich leicht fortsetzen. Schaut man sie sich genauer an, dann sieht man, dass das »Zeigen«, so selbstverständlich es uns auch erscheinen mag, so selbstverständlich offenbar nicht ist. Es ist daher nicht verwunderlich, dass das »Zeigen« in verschiedenen Wissenschaftsgebieten verstärkt theoretische Aufmerksamkeit gefunden und empirische Forschungen stimuliert hat. »Zeigen« gilt – gerade in jüngster Zeit unter der Formel »iconic« oder »visual turn« – nicht nur in Evolutionstheorie, Anthropologie und Entwicklungspsychologie, sondern auch in den Bildwissenschaften, in Philosophie und vor allem in der Phänomenologie als ein überaus bedeutsames Thema. Die Erziehungswissenschaft befindet sich also durchaus in guter Gesellschaft. Auf dieses weit verzweigte diskursive Netz von Theorien und Befunden kann an dieser Stelle nicht genauer eingegangen werden.3 Hier interessiert zunächst nur die Frage, durch welche gemeinsamen Merkmale sich das »Zeigen« näher bestimmen lässt. Wie die Beispiele deutlich machen, deckt der Ausdruck eine ganze Palette von Verhaltensweisen oder Phänomenen, und er wird offensichtlich in sehr verschiedenen Situationen verwendet. Was ist das Gemeinsame, gibt es einen strukturellen Kern des Zeigens?
Zunächst sieht man, dass das »Zeigen« eine Tätigkeit ist, ein Handeln, ein aktiver Vollzug. Wer zeigt, tut etwas. Dieses Handeln ist auf eine prinzipielle, man kann sogar sagen: auf eine buchstäblich radikale Weise sozial: Jemand zeigt jemandem etwas. Es werden also, anders gesagt, Personen durch Orientierung auf eine Sache miteinander verbunden oder zu verbinden versucht. Damit kommen zunächst drei konstitutive Elemente zum Vorschein: ein »Zeiger«, ein Adressat und ein Sachverhalt. Im Sinne der Logik ist »zeigen« demnach ein »mehrstelliges Prädikat«. Denn es enthält sowohl einen Verweis auf Sachverhalte oder Themen (auf nichts lässt sich nicht zeigen) als auch, damit unmittelbar verbunden oder gleichsam verschmolzen, einen Verweis auf Personen. Die Beispiele verdeutlichen zudem, dass das »Zeigen« auf verschiedene Weisen geschehen kann. Es findet sich ohne oder vor der Sprache, in Sprache eingebettet oder als Sprache allein, durch eine schlichte Geste wird ebenso zu zeigen versucht wie beispielsweise durch diesen Text. Der Zeigeakt selbst lässt sich also als ein weiteres (viertes) konstitutives Element herausstellen. Schließlich, und damit steht und fällt die ganze Figur, ist das »Zeigen« ohne Absicht nicht zu denken, es ist, anders gesagt, prinzipiell intentional: Wer immer einem anderen etwas zeigt, verfolgt dabei eine bestimmte Absicht (was spätestens dann – mit befreiendem Lachen, oft allerdings mit Irritation, Verlegenheit oder gar Beschämung – bemerkt wird, wenn man »unbeabsichtigt« etwas zeigt). Über seine Absicht ist ein »Zeiger« nicht nur mit einem bestimmten Sachverhalt verbunden, sondern unmittelbar auch mit dem Adressaten seiner Bemühungen, denn der Andere muss ja, zumindest der Möglichkeit nach, das, was gezeigt wird, auch verstehen können. Dafür sind nicht nur Aufmerksamkeit, Wahrnehmung und kognitive Verarbeitung notwendige Voraussetzungen, sondern auch ein gemeinsamer kultureller Horizont: was bei uns als höfliche Geste aufgefasst wird, kann in anderen Teilen der Erde unverzüglich für Entsetzen sorgen. Durch diese fünf konstitutiven Elemente (Zeiger, Adressat, Sachverhalt, Zeigeakt und kultureller Horizont) wird erkennbar, dass dem »Zeigen« eine Struktur zugrunde liegt oder eingeschrieben ist, die auch aus der Rhetorik bekannt ist (vgl. Landweer 2010). Zeigen ist eben immer auch eine Art gestisch verdichteten Sprechens, und es gibt gute Gründe für die Annahme, dass sich im Prozess der Evolution die Sprache aus dem Zeigen heraus entwickelt hat. Nicht zuletzt in der »Gebärdensprache« kommt eben diese Eigenschaft prägnant zum Vorschein. Der genuine Zusammenhang zwischen Zeigen und Reden macht deutlich, dass es sich offensichtlich um eine anthropologische Universalie handelt, etwas also, das für Menschen typisch ist.
Wer den Umgang mit Haustieren, etwa Hunden oder Katzen, gewohnt ist, weiß, dass das Zeigen im kommunikativen Kontakt mit Tieren nicht auf gewohnte menschliche Weise funktioniert: die geliebten vierbeinigen Gesellen schauen meist beharrlich auf den Arm oder ausgestreckten Finger des Zeigenden, nicht aber oder nur zufällig auf das Gezeigte, denn sie verlängern die Blickachse, die vom Zeiger zum Objekt führt, in aller Regel nicht.
Diese Alltagserfahrung ist mittlerweile durch eine Vielzahl empirischer Studien und daraus entwickelten, differenzierten Theorien wissenschaftlich belegt und bestätigt worden. Die Adresse für dieses Wissenschaftsgebiet ist die »evolutionäre Anthropologie« und seit geraumer Zeit mit dem Namen Michael Tomasello (z. B. 2002; 2009) und einer international weit verzweigten Gruppe von Forscherinnen und Forschern verbunden.4 Um der Menschheitsgeschichte genauer auf die Spur zu kommen, spielt dabei der Vergleich mit unseren nächsten evolutionären Verwandten, den Menschenaffen, eine besondere Rolle. Wie unterscheiden sich hinsichtlich des Zeigens kleine Affen von kleinen Kindern?
Steht man im Zoo vor einem Affen-Gehege, Schimpansen am besten, sorgt der spontane Eindruck frappierender Ähnlichkeit mit menschlichen Wesen unverzüglich für Verwunderung und freudiges Erstaunen. Der Ausdruck ihrer Gesichter kommt uns ebenso bekannt vor wie etliche Gesten, durch die sich die Tiere untereinander (und manchmal auch mit dem Publikum vor dem Zaun) zu verständigen scheinen. Wir bewundern die Geschicklichkeit ihrer Bewegungen, freuen uns, wie sie miteinander spielen oder sich wechselseitig pflegen oder sich »schlau«, manchmal äußerst geschickt herumliegende Gegenstände als Werkzeug benutzend, ihr Futter verschaffen. Diese Eindrücke von Zoobesuchern lassen sich durch die vielfältigen Befunde der Primatenforschung sehr viel genauer fassen, und damit besteht auch die Möglichkeit, Unterschiede und Gemeinsamkeiten zu erkennen und mittlerweile weitestgehend auch zu erklären. Dabei muss man unterscheiden, ob die Beobachtungen und Befunde von Affen in natürlicher Umgebung gewonnen wurden, oder ob sie von Populationen stammen, die im Kontakt mit Menschen (z. B. in Zoos oder eben auch Forschungseinrichtungen) aufgewachsen sind.5
Beide Gruppen unterscheiden sich in einer Hinsicht überhaupt nicht voneinander: Betrachtet man allein die vokale Kommunikation, also das Sich-Verständigen mit der Stimme, ist der Befund eindeutig: Das diesbezügliche Repertoire der Affen ist fast gänzlich genetisch festgelegt. Lernprozesse spielen dabei kaum eine Rolle, und dementsprechend sind ihre stimmlichen Äußerungen beschränkt, stereotyp und gleichförmig: Das Sprechen oder gar das Singen können Affen niemals lernen.
Was die gestische Kommunikation anbetrifft, treten zwischen diesen beiden Gruppen allerdings deutliche Unterschiede zu Tage, vor allem deshalb, weil hierbei in ungleich stärkerem Maße Lernprozesse beteiligt sind. In ihrer natürlichen Umgebung kommunizieren Primaten mit Hilfe bestimmter Gesten wie Körperhaltungen, Gesichtsausdrücke oder Handbewegungen. Auch sie sind zu einem großen Teil genetisch festgelegt und werden dementsprechend, sozusagen strikt programmgemäß, eingesetzt. Allerdings gibt es einen großen anderen Teil von Gesten, die evolutionär weniger dringliche Bereiche betreffen, z. B. spielen, stillen, betteln oder die Fellpflege. Und diese werden individuell gelernt und flexibel benutzt. Primaten verhalten sich also nicht alle gleich, und sie verwenden ihre Signale auch unterschiedlich und dieselben auch zu unterschiedlichen Zwecken. In dieser Hinsicht, also im absichtlichen und flexiblen Gebrauch erlernter Kommunikationssignale, ist die gestische Kommunikation der Primaten mit der sprachlichen Kommunikation des Menschen durchaus vergleichbar (vgl. Tomasello 2009, S. 32). Zwei Typen von Gesten können eindeutig unterschieden werden, »Aufmerksamkeitsfänger« und »Intentionsbewegungen«. Zur ersten Gruppe gehört zum Beispiel das Auf-den-Boden-Schlagen (häufig um zu spielen) oder den Rücken anzubieten (als Einladung zur Körperpflege); zur zweiten Gruppe zählen beispielsweise das Armheben (um mit einem Spiel zu beginnen), das Betteln mit der Hand (um Futter zu bekommen) oder das Armauflegen als Einleitung gemeinsamen Gehens. Von allen faszinierenden Details abgesehen geht es an dieser Stelle nur um zwei Einsichten: Erstens kommt zum Vorschein, dass schon bei Primaten absichtlich auf andere gerichtete Handlungen beobachtbar sind, so dass diese Gesten als Vorläufer menschlicher Kommunikation anzusehen sind. Zweitens darf man nicht übersehen, dass diesen Gesten keine »Bedeutung« innewohnt, die dann vom Anderen erkannt und »verstanden« würde, der dann dementsprechend handelte. Vielmehr haben diese Gesten den Charakter von einem »display«, sie fungieren gewissermaßen als eine Art von Anzeige für veränderliche Informationen, Reize also, auf die dann wiederum reagiert wird.
Affen hingegen, die im Umgang mit Menschen aufwachsen, sind in der Lage, ihr gestisches Repertoire um eine entscheidende Dimension zu erweitern: sie können zu »zeigen« lernen. Hierfür gibt es zahlreiche experimentelle Befunde: Beispielsweise »zeigen« Affen mit Fingern oder Händen auf außerhalb ihrer Reichweite liegendes Futter, damit ein Mensch es für sie holt. Oder sie machen einen Menschen auf ein vorher verstecktes Werkzeug aufmerksam, das für die Futterbeschaffung nötig ist. Oder sie zeigen nachdrücklich auf eine verschlossene Tür, hinter der sie für sie Interessantes vermuten, damit ein Mensch sie öffnet. Solche »zeigeähnlichen« Verhaltensweisen können als Erweiterung von Aufmerksamkeitsgesten verstanden werden, wobei die Versuchstiere sehr genau beobachten und auch der menschlichen Blickrichtung zu folgen vermögen. Dieses »Zeigeverhalten« findet sich allerdings lediglich in auffordernder Absicht, also als imperative Geste. Gesten, die »nur« ein Interesse an einer Sache signalisieren, deklarative Gesten also, zeigen sie ebenso wenig wie informative Gesten, die dazu dienen, darüber zu informieren, was für ein anderes Individuum vielleicht interessant, brauchbar oder nützlich sein könnte. Zudem, und das dürfte ein entscheidendes Argument sein, zeigen Affen diese »zeigeähnlichen« Verhaltensweisen ausschließlich Menschen gegenüber, nicht aber gegenüber ihren Artgenossen. Offenbar gibt es eine unüberwindbare Grenze für die ansonsten so verblüffende Lernfähigkeit dieser Tiere. In den berühmten Objektwahl-Experimenten kommt eben diese Grenze eindrucksvoll zum Vorschein: Eine Person versteckt vor den Augen der Affen Futter unter einem von drei Eimern, während eine andere Person, ein »Helfer«, dabei zuschaut. In dem weiteren Verlauf dieses Experiments zeigt dann dieser menschliche »Helfer« auf den Eimer, unter dem das Futter versteckt wurde. Und obwohl die Affen diese Zeigegeste des menschlichen Helfers auf den richtigen Eimer aufmerksam und hochmotiviert verfolgten, treffen sie ihre Wahl rein zufällig. Anscheinend können sie die Bedeutung dieser Zeigegeste einfach nicht verstehen, also nicht die richtigen Schlüsse daraus ziehen und somit nicht nachvollziehen, dass der Mensch ihnen etwas zeigt, damit sie es sich für ihre Zwecke nehmen können. Kleine Kinder bewältigen diese Aufgabe schon im Alter von 14 Monaten und meist vor dem Spracherwerb mit gutem Erfolg.
Dieser eklatante Unterschied macht auf einen entscheidenden qualitativen Sprung in der Evolution der Kommunikation aufmerksam, einen Sprung, der offensichtlich nur dem Menschen möglich ist: Während Affen bei allem, was sie tun, ausschließlich ihre eigenen Zwecke verfolgen (und dabei davon ausgehen, dass andere Lebewesen genau auf dieselbe Weise verfahren), verfolgen Menschen auch solche Zwecke, die nicht primär ihren eigenen Interessen dienen, sie kommunizieren kooperativ und teilen ihre Absichten mit anderen. Die Kommunikation von Primaten ist, anders gesagt, durch »individuelle Intentionalität« gekennzeichnet, wohingegen die Kommunikation von Menschen auf »geteilter Intentionalität« aufbaut (vgl. Tomasello 2009, S. 65). Dieser Unterschied markiert den entscheidenden Schritt in der Stammesgeschichte (Phylogenese), und er ist dementsprechend, sozusagen im Kleinformat, auch für die Ontogenese, für die Entwicklung jedes einzelnen Menschen vom Säugling bis zum Erwachsenen, von grundlegender Bedeutung. Das Zeigen steht dabei im Zentrum des Geschehens, es ist der Dreh- und Angelpunkt des gesamten Entwicklungsprozesses, an dessen Ende sich das herausbildet, was Tomasello die »im Artvergleich einzigartige psychologische Infrastruktur geteilter Intentionalität« (a. a. O., S. 70) nennt. Aber wie erwerben Kinder diese so besondere Struktur?
Dass kleine Kinder schon sehr früh Zeigegesten verwenden, ist eine alltägliche Erfahrung. Inzwischen weiß man durch zahlreiche Studien, dass dieses Verhalten in allen Kulturen auftritt, wenn auch mit Modifikationen und in Varianten (mancherorts kommen z. B. Kinn oder Lippen anstelle des Zeigefingers zum Einsatz). Man weiß allerdings nach wie vor nicht genau, wie dieses Verhalten erworben wird und in welchem Umfang dabei Lernen eine Rolle spielt. Vermutlich wirken verschiedene Prozesse zusammen und verstärken sich wechselseitig: Zum einen führen Orientierungshandlungen, die fortgesetzt wiederholt werden, zu einer Ritualisierung bestimmter Verhaltensweisen. Zum anderen werden Säuglinge nicht nur in warmem Wasser gebadet, sondern auch in Sprache, und durch diese »Protokonversationen« sind Säugling und Bezugspersonen höchst aufmerksam aufeinander bezogen, sie schauen sich dabei an, berühren sich und geben Laute von sich. Diese frühen »Unterhaltungen«, das ist entscheidend, haben eine klare Struktur von Rollenwechseln, es sind sozusagen Sprachspiele vor der Sprache, durch die basale Muster der menschlichen Kommunikation eingeübt werden wie z. B. Frage und Antwort, Rede und Gegenrede oder vor allem auch das gemeinsame Ausdrücken und Teilen von Gefühlen. Im Zuge solcher Protokonversationen gibt es schließlich vielfältige Anlässe und Ansätze für Nachahmung. Schon wenige Wochen nach der Geburt können das Herausstrecken der Zunge, das Öffnen des Mundes oder Kopfbewegungen imitiert werden, wobei schon früh Identifizierungsprozesse eine Rolle spielen dürften. Zu welchen Zeitpunkten diese Prozesse auftreten und wie sie im Einzelnen zusammenwirken, ist, wie gesagt, noch wenig erforscht. Die kleinen Kinder gelangen eben anfangs »irgendwie auf natürliche Weise zum Zeigen« (Tomasello 2009, S. 124). Menschen sind nicht nur, darin den Primaten gleich, soziale Wesen, sondern, so Tomasello an anderer Stelle, schlicht »ultra-sozial« (Tomasello 2002, S. 74). Und das offensichtlich nicht nur, wie einschlägige Studien belegen, wenige Stunden nach der Geburt, sondern bereits im Mutterleib, wo sie sich schon an die Stimme der Mutter zu gewöhnen vermögen.
Obwohl also die ganz frühen Anfänge des Zeigens noch nicht vollständig aufgeklärt sind, weiß man mittlerweile doch sehr genau, wie sich das Zeigen im Fortgang der Entwicklung weiter ausbildet. Der Entwicklungskomplex, der von alles entscheidender Bedeutung ist, kommt, stammesgeschichtlich betrachtet, einer Revolution gleich und wird daher mit guten Gründen als »Neunmonatsrevolution« bezeichnet. Was hat es mit diesem »Umsturz« in der Entwicklung auf sich? Und wie zeigt sich dabei das Zeigen?
Diese »Revolution« beginnt im Alter von etwa 9–12 Monaten, durchläuft verschiedene Stadien und kommt mit etwa 13–15 Monaten zu einem Abschluss. Kleine Kinder beginnen also noch vor dem ernsthaften Spracherwerb damit, Zeigegesten zu verwenden, wobei sich zwei Motive hierfür deutlich voneinander unterscheiden lassen: entweder wollen sie etwas haben und verlangen nach bestimmten Dingen (in diesem Fall spricht man von »imperativen Gesten«); oder sie wollen Erfahrungen und Gefühle zum Ausdruck bringen, also »mit – teilen«, was sie bewegt (in diesem Fall spricht man von »deklarativen Gesten«).
Das Besondere dieser »Revolution« liegt in dem entwicklungslogischen Zusammenhang ihrer drei Stadien, die nacheinander auftauchen und gemeistert werden müssen. Die folgende Abbildung zeigt das Geschehen in graphischer Vereinfachung:
Im ersten Stadium (9–12 Monate) geht es zuallererst um das »Prüfen der Aufmerksamkeit« (also versprachlicht etwa: »Schaust Du auf das, auf das ich schaue«); danach, im zweiten Stadium, steht das »Verfolgen der Aufmerksamkeit« im Vordergrund (»Ich schaue auf das Objekt, auf das Du auch schaust«); und im dritten Stadium schließlich wird die Aufmerksamkeit der erwachsenen Bezugsperson zu lenken versucht (»Schau auf das, auf das ich schaue«). Diese drei Stadien bilden einen zusammenhängenden Entwicklungskomplex, der als
Abb. 1: Joint attention (vgl. Tomasello 2002, S. 81)
»joint attention« (geteilte Aufmerksamkeit) bezeichnet wird. Hierdurch erfährt die Kommunikation eine grundlegende Umstellung: sie operiert nun nicht länger nur »dyadisch« (Person-Person oder Person-Objekt), sondern sie wird jetzt triadisch, verbindet also zwei verschiedene Personen, eine große und eine kleine, mit einem Objekt. Es entsteht also ein kommunikatives Dreieck. Dass sich dadurch die Lernmöglichkeiten des kleinen Kindes exponentiell erweitern, liegt auf der Hand, und es ist kein Wunder, dass es von jetzt an mit dem Spracherwerb rasch vorangeht.
In diesem Abschnitt der Entwicklung lernen also kleine Kinder, dass Erwachsene in Bezug auf einen Gegenstand eine bestimmte Absicht verfolgen, sie verstehen sie als »intentionale Akteure«. Um das zu können, müssen sie allerdings zuvor auch sich selbst als »intentionale Akteure« zu begreifen begonnen haben (aus diesem Grund findet sich dieser joint-attention-Komplex nicht schon zu früheren Zeitpunkten der Entwicklung). Damit ist die elementare Voraussetzung für kommunikative Kooperation gegeben, denn der kleine Akteur kann nunmehr in Bezug auf einen Gegenstand die Perspektive des großen Akteurs simulierend übernehmen und daraus seine Schlüsse ziehen (»Aha, wenn der Große dort draufdrückt, geht die Schachtel auf – wenn ich also auch auf diese Stelle drücke, dann kann auch ich die Schachtel öffnen«). Entscheidend ist demnach die Möglichkeit, eine andere Perspektive einzunehmen und sodann aus dieser (erwachsen-anderen) Sicht die Welt in Augenschein zu nehmen. Anders als kleine Affen sind kleine Kinder daher sehr an der »Inneren Welt« der sie umgebenden Erwachsenen interessiert, und zwar ungeachtet der neugierigen Faszination für all die unbekannten Gegenstände um sie herum. Aus diesem Grund unternehmen die kleinen Zeiger große Anstrengungen, die Absichten der Erwachsenen »richtig« zu verstehen und sich dessen fortwährend zu vergewissern. Auch dafür gibt es zahlreiche experimentelle Befunde: Zum Beispiel können kleine Kinder zuverlässig unterscheiden, ob die Geste eines Erwachsenen nur beiläufig zeigenden Charakter hatte, oder ob sie wirklich als eine für sie bestimmte kommunikative Botschaft aufzufassen ist. Sie korrigieren daher auch »Missverständnisse« der Erwachsenen, die ihnen anscheinend nur »zufällig« das geben, auf das sie vorher gezeigt hatten, denn sie wollen offenbar, dass ihre Absicht »richtig« verstanden wird.
Die Zeigegeste ist also die erste und ursprüngliche Form menschlicher Kommunikation, und sie erweist sich als im Kern kooperativ.6 Im Zeigen muss »gemeinsam operiert« werden, in welcher Form auch immer, sei es im Auffordern, im Informieren oder im Mit-teilen. Und Kooperation funktioniert nur mit Identifikation, mit eben dem Sich-Hineinversetzen-Können in eine andere Konstellation zur Welt. Kein noch so langes Training kann Primaten dazu verhelfen. Und es ist aufschlussreich, dass viele Schwierigkeiten, die autistische Kinder haben, mit dieser mangelnden Fähigkeit zur Perspektivenübernahme in engem Zusammenhang gesehen werden (vgl. Tomasello 2002, S. 95). Die Zeigegeste ist sozusagen das Minimalprogramm menschlicher Kommunikation, sie ist Sprache vor der Sprache (und deswegen greifen wir in fremden Ländern mit unbekannten Sprachen gerade darauf zurück, wenn wir uns verständigen wollen). Sie bildet, geht die Neunmonatsrevolution erfolgreich ihren Weg, die Grundlage für alle weiteren Entwicklungsschritte, die jetzt folgen, vor allem, wenn über das Gebärdenspiel die Sprachentwicklung nun rasch voranschreitet und durch Worte sich das Zeigen von der unmittelbaren Wahrnehmung lösen kann und symbolisch wird. Dann bekommen Dinge eine Bezeichnung und werden Worte zu Zeichen, auf die gezeigt werden kann. Neben die bis hierhin bestimmenden deiktischen Gesten treten, so der gängige Sprachgebrauch, ikonische (symbolische) Gesten, wodurch sich die Möglichkeiten des Lernens exponentiell erweitern. Das genauer nachzuzeichnen, sozusagen die ontogenetische Geschichte des Zeigens zu erzählen, ist für die Zwecke dieser Darstellung nicht erforderlich und muss anderen Arbeiten überlassen bleiben.