Es gibt ein Sterben nach dem Tod - Tatjana Kruse - E-Book

Es gibt ein Sterben nach dem Tod E-Book

Tatjana Kruse

5,0

Beschreibung

Keep calm und geh' nicht ins Licht: Mordopfer Börnie ermittelt in eigener Sache! Karma is a bitch – und der Tod schadet dem Teint Was hat man falsch gemacht, wenn auf den Abschied aus der Firma gleich noch der Abschied aus dem Leben folgt? Börnie, gewesene (und jetzt verwesende) Marketingexpertin bei Schön Cosmetics, stellt sich diese Frage aus gegebenem Anlass. Denn als sie auf dem Büroboden aufwacht, merkt Börnie, dass sie ermordet wurde. Wer zum Aasgeier hat ihr das angetan? Etwa ihr Ex-Verlobter Yannick, der sie mit Kollegin Bine betrügt? Oder die hinterlistige Bürohyäne Frau Hagedorn? Da Börnie nicht die einzige Angestellte der Kosmetikfirma bleibt, die ihren Dienstvertrag mit dem Leben unfreiwillig auflösen muss, ist auch diese Frage von einigermaßen brisanter Aktualität. Weil die Polizei keinen leichenblassen Schimmer hat, muss frau selber ran. Sterben ist eben auch nicht mehr das, was es mal war! Gestorben, um zu bleiben – die ewige Ruhe kannst du dir abschminken Als Geist Ermittlungen aufzunehmen, ist aber leichter gesagt als getan. Stell dir vor, du bist tot und keiner hört zu. Weil dich überhaupt keiner hören kann! Naja fast: Auf die kürzlich bei Schön wegrationalisierte Reinigungskraft Jenny und Medium Kai-Uwe ist immerhin Verlass. Zugegeben, die kulturellen Hürden in der Zusammenarbeit zwischen Lebenden und Gerade-nicht-mehr-Lebenden sind nicht unbeträchtlich. Und ein Medium mag übersinnliche Wahrnehmungen haben – bei gleichzeitig unterirdischer Kombinationsgabe benötigt Kai Uwe mehr als nur etwas geistigen Beistand, um sich im Wirrwarr von Bürointrigen, Betriebsspionage und Bordellbesuchen zurechtzufinden. Wird es dem etwas anderen Ermittlertrio gelingen, Börnies Mörder dingfest zu machen, ehe der gesamte Personalstamm von Schön Cosmetics ein unschönes Ende nimmt? Zu Risiken und Nebenwirkungen … fragen Sie die lustigste Autorin, seit es Kriminalromane gibt! Tatjana Kruse, ungekrönte Königin der Krimödie, schafft pro Seite mehr Anschläge auf das Zwerchfell als manch zweistündiger Kabarettauftritt – Lachmuskelkater vorprogrammiert! Ihr jüngster Krimi-Streich enthält Pointen in derart hoher Konzentration, dass er eigentlich rezeptpflichtig sein müsste. Vorsicht: Kann bei täglicher Einnahme zu Lachfalten, anhaltender Heiterkeit und allgemeinem Seriositätsverlust führen. Außer Reichweite von Langeweilern aufbewahren.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 273

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
5,0 (1 Bewertung)
1
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Stell dir vor, du bist tot und keiner hört dir zu. Weil dich überhaupt keiner hören kann! Marketingexpertin Börnie, seit Kurzem Mordopfer, findet das Dasein als Geist vor allem: langweilig! Ein Grund mehr, um herauszufinden, wer sie auf dem Gewissen hat. Etwa ihr Ex-Verlobter Yannick, der sie mit Kollegin Bine betrügt? Oder die hinterlistige Bürohyäne Frau Hagedorn? Bei den Ermittlungen braucht Börnie allerdings Hilfe – und die Auswahl ist begrenzt. Kontakt aufnehmen kann sie nämlich nur mit der kürzlich bei Schön wegrationalisierten Reinigungskraft Jenny und Medium Kai-Uwe.

Zugegeben, die Hürden in der Zusammenarbeit zwischen Lebenden und Gerade-nicht-mehr-Lebenden sind nicht unbeträchtlich. Ein Medium nämlich mag zwar übersinnliche Wahrnehmungen haben – bei gleichzeitig unterirdischer Kombinationsgabe benötigt Kai-Uwe aber mehr als nur etwas geistigen Beistand, um sich im Wirrwarr von Bürointrigen, Betriebsspionage und Beziehungsdrama zurechtzufinden.

Wird es dem außergewöhnlichen Ermittlertrio gelingen, Börnies Mörder dingfest zu machen, ehe der gesamte Personalstamm von Schön Cosmetics ein unschönes Ende nimmt?

Tatjana Kruse

Es gibt ein Sterben nach dem Tod

Eine Karma-Krimödie

Inhaltsverzeichnis
Cover
Titel
1
Alkohol ist nicht die Antwort.Alkohol ist die Frage.Und „Ja!“ ist die Antwort.
2
Wer lächelnd stirbt, ist glücklicher tot
3
Die dreckige Lache des Todes
4
Im Wartezimmer der Ewigkeit.Blöderweise ohne alte Zeitungen …
5
Wer Kopfhörer trägt, pupst deswegen nicht lautlos
6
Eins, zwei, drei, im Sauseschritt eilt die Zeit. Wir eilen – nicht – mit.
7
Madama ArkanaBitte nicht klingeln – ich weiß, dass Sie da sind!
8
Wer „A“ sagt, muss auch „(iii) Bäh“ sagen(das iii ist optional)
9
„Zwei Drittel aller Morde sind Beziehungstaten.“Kai-Uwe, Single aus Sicherheitsgründen
10
Alles roger, Roger!
11
Venus – nicht dem Meere,dem Badewannenschaum entstiegen …
12
Mordkommission, Zimmer 324 –wo die Hoffnung hingeht, um zu sterben
13
Wenn am Ende des Regenbogens kein Goldtopf wartet, sondern eine Kasserolle mit Kuttel-Carbonara ….
14
Wenn man als Mordopfer verschwindet,ist man dann ein Vermisstenfall oder ein Diebstahlsdelikt?
15
Wo’s Leben hat, gibt’s Narben
16
Wir lernen:In einer Welt, in der es Win-Win-Situationen gibt, gibt’s halt auch Lose-Lose-Situationen.
17
Kopflos durch die Nacht
18
Alkohol ist ein Zaubermittel – er ist die Abschminklösung für den Charakter
19
Egalité, Fraternité, Amour und Tee
20
Schokolade ist wie Sex – nur besser,weil man sich dafür nicht die Beine rasieren muss!
21
Döner macht schöner
22
Das Leben ist eine Kombination aus Magie und Pasta
23
In der Höhle des Nacktmulls
24
Es gibt ein Sterben nach dem Tod
25
Um alt und weise zu werden,muss man erstmal jung und dumm sein
Danksagung
Tagsüber glaube ich nicht an Geister – nachts bin ich etwas aufgeschlossener.
Tatjana Kruse
Zur Autorin
Impressum

To Laura DeVries Tindall, for sharing the “Badassery” day after day after day.

1

Alkohol ist nicht die Antwort. Alkohol ist die Frage. Und „Ja!“ ist die Antwort.

Egal, wie leckerschnittig einer aussieht, aus der Froschperspektive haben alle Kerle Doppelkinn und Nasenhaare.

Dachte Börnie, als sie die Augen aufschlug.

Sie lag auf dem Boden. Und neben ihr kniete ein fantastisch aussehender Mann, der sich über sie beugte und ihren Duft einzuatmen schien.

Ist das der Neue aus der Buchhaltung?

Ungefähr ihr Alter, lockige schwarze Haare, etwas zu kurz für ihren Geschmack, aber nicht dealbreakerkurz, samtbraune Augen, olivfarbene Haut, Dreitagebart, schwarze Lederjacke, schwarzes T-Shirt über einem sichtlich durchtrainierten Oberkörper – im Grunde genau Börnies Beuteschema.

Sie wollte schnurren, aber ihre Stimmbänder gaben das nicht her.

Ich muss aufhören, bei Betriebsfeiern über die Stränge zu schlagen!, dachte Börnie.

Wobei es total egal war, ob sie sich hier und heute im Vollsuff über den Maßanzug des Chefs erbrach und von den Kollegen rausgetragen werden musste – es war ihre Abschiedsfeier. Ab morgen war sie keine Angestellte von Schön Cosmetics mehr.

„Ich habe da eine Vermutung …“, sagte der potenzielle One-Night-Stand-Anwärter. Seine Stimme war mindestens so sexy wie sein Look.

Vielleicht war das auch gar kein Neuer, sondern der Taxifahrer, den Bine für Börnie bestellt hatte. Bine war die gute Seele der Abteilung. So oder so, Börnie beschloss, dass dies seine Glücksnacht werden würde.

Sie seufzte wohlig. Die Welt um sie herum drehte sich nicht, sie hatte auch keinen Brummschädel. Es lohnte sich eben, wenn man in Qualitätsalkohol investierte.

In diesem Moment wurde ihr klar, dass ihr Kleid verrutscht war. Ein supersexy, sündhaft teures Cocktailkleid mit einem Ausschnitt bis zum Bauchnabel, über den Brüsten mit beidseitig klebenden Styling-Tapes festgehalten. Offenbar hatte der Kleber versagt. Ihre linke Brust hing heraus. He, Börnie war über dreißig – da stand das Bindegewebe eben nicht mehr wie eine Eins. Andererseits bestand ihr Busen auch noch nicht aus zwei Lappen, die sie sich über die Schulter werfen konnte, wie bei der Hagedorn, der rechten Hand vom Chef. Was Börnie natürlich nur vermutete und noch nie gesehen hatte. So nah stand sie sich mit der Hagedorn, der alten Giftspritze, glücklicherweise nicht.

Okay, das „Nipplegate“ war Börnie schon einen Ticken peinlich, aber so bekam die Leckerschnitte wenigstens gleich einen Eindruck von ihren Goodies.

Mist, der schmierige Krenz sieht das aber auch.

Börnie drehte den Kopf. Sie hatte einen kleinen alkoholbedingten Aussetzer, aber sie wusste noch, dass sie vor ihrem Blackout vor einem Männer-Trio aus Marketing-Kollege Yannick Bollmann, Chefchemiker Tobias Krenz und Murat Keine-Ahnung-wie-weiter von der Security gestanden war. Sie hatten sich zu dritt vor der Bowle aufgebaut, als wollten sie sie bewachen – und nicht sukzessive leertrinken.

Krenz stand jetzt allerdings nicht mehr neben der Bowle. Es war überhaupt niemand zu sehen, den sie kannte.

Moment mal … was?

Sie wollte das Kleid züchtig zurück über ihren Busen ziehen, aber ihre Hand versagte ihr den Dienst.

Ich bin gelähmt!, dachte es in Börnie. War sie sturzbesoffen auf einen Bürostuhl geklettert, heruntergefallen und hatte sich das Genick gebrochen? Würde sie für den Rest ihres Lebens vom Hals abwärts bewegungsunfähig sein?

Börnie neigte zur Schwarzmalerei. Und zur Hypochondrie.

Was waren das überhaupt für Menschen um sie herum? Ersthelfer wegen der Genickbruchsache? Oder war sie, angeschickert, wie sie war, beim Rückweg von den Toiletten in der Zwischenetage versehentlich in den falschen Hochhausstock gewankt und hatte eine andere Bürofeier gecrasht?

Nein, an der Decke hingen die bunten Luftballone mit dem Bye-bye-Börnie-Aufdruck. Und die Wand über dem Besprechungstisch zierte das Ölgemälde von Mechthild Schön, der Gründerin des Beauty-Konzerns. Ein mehr als schmeichelndes Gemälde, eigentlich schon frech gelogen.

Der muskulöse Adonis-Fremdmann beugte sich noch tiefer über sie und schnupperte wieder. „Ja, der Geruch ist eindeutig!“

Ich muss doch sehr bitten! Börnie schmollte. Ich rieche nicht, ich dufte. Und zwar nach Caprice No. 5, dem Hausparfüm des Konzerns, wegen dem man schon seit Jahren mit Chanel im Rechts-Clinch lag, weil die fanden, es läge eine sittenwidrige Namensgleichheit vor. Dabei mussten die sich keine Sorgen machen: Caprice No. 5 machte der echten No. 5 keine Konkurrenz. Nicht mal annähernd.

„Sie hat sich zweimal erbrochen.“

Die knarzende Frauenstimme, die diese Information lieferte – und die von weit weg zu kommen schien, genauer gesagt vom Flur –, gehörte zu Frau Hagedorn, der Assistentin des Chefs. Eine knochige, menopausige Frau, die immer etwas verkniffen guckte – außer, sie hatte gerade ihre Hitzewallungen, dann guckte sie wie eine Ertrinkende in einem Heißwasserbecken. Sie trug ausnahmslos pastellfarbene Twinsets mit einer zweireihigen Perlenkette. Sie hatte allerdings noch viel unangenehmere Vorlieben, die man nicht auf den ersten Blick erkannte. So war die Hagedorn beispielsweise die Bürointrigantin. Und sie hatte Börnie immer schon auf dem Kieker gehabt. Kein Wunder also, dass sie diese Information mit einer deutlich herauszuhörenden Genugtuung weitergab. Und nochmal genüsslich wiederholte: „Zweimal!“

Börnie fiel wieder ein, dass sie – ohne Rücksicht auf Unverträglichkeiten – querbeet alles eingeworfen hatte, was das Catering-Buffet hergab – von Fischbrötchen über Zimtschnecken bis zum Eiersalat. Das hatte sich offenbar gerächt. Und rächte sich immer noch. Nichts war für einen potenziellen Flirt abtörnender als Eau de Kotze.

„Beim ersten Mal auf der Damentoilette habe ich es noch persönlich aufgewischt, aber für das hier braucht man die Putzkolonne.“ Die Hagedorn zeigefingerte anklagend auf die Pfütze mit Erbrochenem in der Raumesmitte, die wirklich nicht von schlechten Eltern war.

Blöde Kuh. Jetzt reicht’s mir aber.

Bloß weil Spaßbremse Hagedorn bei einer Bürofeier noch nie über die Stränge geschlagen hatte und auch an diesem Abend mit gequältem Gesichtsausdruck neben dem Buffet gestanden war, als ob sie gerade eben mit einem Darmreinigungsfasten angefangen hätte und Börnie dieses hehre Unterfangen absichtlich mit ihrer Abschiedsparty unterlief, musste sie nicht die Petze spielen. Aber vielleicht war sie ja selbst scharf auf den Schönling. Laut der Gerüchteküche hatte die Hängebacken-Hagedorn eine Schwäche für festes Frischfleisch. Eigentlich unvorstellbar, aber angeblich gab es ja dieses Leben jenseits der fünfzig.

Verdammter Filmriss, dachte Börnie, wenn ich mich nur erinnern könnte. Sie nahm all ihre Restkonzentration zusammen und richtete sich auf. Es ging einfacher, als sie gedacht hatte. Sie fühlte sich irgendwie auch leicht. Und hatte immer noch keine Schwindelgefühle. Womöglich lag darin das Geheimnis eines wohltuenden Rausches: einfach auf die Shots verzichten und – unter Umgehung des Punsches für die Fußtruppen – nur die edlen Tropfen kippen, die für das obere Management parat standen. Aber … Moment mal …

Was …?

Börnie hatte das Gefühl, sich nicht nur aufzurichten, sondern nach oben zu schweben, weiter und immer weiter, in Richtung der silberfarbenen Deckenstrahler.

Hui, ich bin eine Seifenblase.

Okay, sie war eindeutig nicht nüchtern. Als sie das Gefühl hatte, oben zwischen den Luftballonen an der Decke zu kleben, drehte sie sich um und sah …

… sich selbst.

Auf dem Teppichboden in Firmenfarben liegend.

Und neben ihrem Körper kniete der lockige Lederjackenträger, der – von oben ließ sich das natürlich sehr gut sehen – noch volles Haupthaar ohne lichte Stellen hatte.

Unglücklicherweise sah man aus dieser Position auch, dass der freiliegende Busen nicht das Peinlichste war: Börnies Gesicht – also das der liegenden Börnie, nicht das der schwebenden – war enorm unschmeichelhaft wie zu einer Fratze verzogen, mit Schaum und Erbrochenem vor dem Mund, und … Um Himmels willen, echt jetzt?! Sie hatte sich auch eingenässt. Das sah man, weil das Kleid hochgerutscht war und den fleckigen Slip freigelegt hatte. Immerhin der gute Spitzenslip, mitgebracht von der letzten Paris-Reise.

Was …?, dachte Börnie erneut. Habe ich gerade eine Komarausch-induzierte außerkörperliche Erfahrung?

Sie schwor sich, künftig in Sachen Alkohol kürzerzutreten. Diesmal war es kein verkatert hingeworfenes Versprechen, diesmal war es ein ernst gemeinter Blutschwur: Ihre Zeit der Sauf-Eskapaden war von nun an definitiv vorbei, jawohl!

In diesem Moment richtete sich der männliche Leckerhappen auf und verkündete: „Bläulich verfärbte Haut, Geruch nach Mandeln. Ich bin mir ziemlich sicher, bei der Toten liegt eine Zyanidvergiftung vor.“

Wen meint er damit? Etwa mich?

Börnie sah sich um. Außer ihr lag sonst niemand mit Schaum vor dem Mund auf dem Teppichboden in Firmenfarben.

Wie jetzt?

Vergiftet?

Und tot?

NEIN!

Um Börnie herum wurde es schwarz.

2

Wer lächelnd stirbt, ist glücklicher tot

Als Börnie wieder zu sich kam, schwebte sie immer noch zwischen den Luftballonen. Direkt unter dem Lüftungsgitter, das – wie man von hier oben deutlich sah – dringend gereinigt gehörte. War das Schimmel? Eklig!

Börnie sah nach unten.

Neben der Börnie auf dem Teppichboden stand jetzt ein scheinbar geschlechtsloser Mensch in einem knittrigen weißen Ganzkörperkondom und verkündete: „Ich bin hier fertig, sie kann weg.“

Was? Weg? Nein! Halt!

Börnie sauste nach unten. Ihrem Empfinden nach wie ein Bussard, der sich auf eine Maus stürzt. Über den Abbremsvorgang hatte sie sich dabei keine Gedanken gemacht. Das war aber auch egal, weil sie nämlich gar nicht wirklich stürzte, sondern in Zeitlupe glitt. Ihre Geschwindigkeitswahrnehmung stimmte nicht mit der Echtzeit überein. Vielleicht wegen des Blutalkoholgehalts. Oder aufgrund ihres kürzlich erfolgten Ablebens.

Ich bin nicht tot!, brüllte sie im Schneckentemposturzflug. Hört mich keiner? Ich lebe noch!

Unten angekommen, wollte sie sich in die weiße Plastikwurstpelle des Spurensicherers verkrallen, aber das war unmöglich. Sie konnte den Arm des Mannes nicht berühren, sosehr sie es auch versuchte. Ihre Hand glitt einfach durch ihn hindurch.

Ihr blieb jedoch keine Zeit, um das genauer zu analysieren. Zwei weitere Gestalten in Tatortschutzanzügen legten einen länglichen dunkelblauen Plastiksack neben ihrem Körper aus.

Hören Sie nicht? Ich bin noch da! Machen Sie Mund-zu-Mund-Beatmung! Herzmassage! Pumpen Sie meinen Magen aus! Holen Sie den Defibrillator aus der Kaffeeküche und defibrillieren Sie!

Börnie schaute sich verzweifelt um. Obwohl sie sich die Lunge aus dem Hals schrie, schien sie niemand zu hören. Der Rechtsmediziner nicht, die Spurensicherer nicht, die Polizisten in Zivil nicht, auch nicht der schnuffige Lederjackenträger, der mit dem Handy am Ohr am Panoramafenster stand, in die Nacht hinaussah und sich mit seinen langen Pianistenfingern über die Dreitagebartstoppeln strich.

Börnie eilte zu ihm hinüber.

Sie haben mich doch angefasst. Sie müssen doch gemerkt haben, dass ich noch warm bin. ICH LEBE NOCH!

„Nein, sie war bei meinem Eintreffen schon tot. Ja, Müller und Krawuttke nehmen gerade die Personendaten aller Anwesenden auf. Sie hat offenbar ihre Abschiedsparty gefeiert. Nee, kleiner Kreis, da sind wir zügig durch.“

Börnie wollte ihn packen und schütteln, aber es war ein bisschen so, als wollte sie Wackelpudding packen – sie bekam einfach keinen festen Griff.

Mochte sie die Situation anfangs noch leicht belustigt betrachtet haben, machte sich jetzt Panik in ihr breit. Sie sah sich schon auf dem Seziertisch, sah den Gerichtsmediziner, der sich über sie beugte und ihr den Brustkorb aufsägte. So viel stand fest: Wenn erstmal ihre Innereien herausquollen, wäre sie gesichert tot. Wie konnte sie sich nur bemerkbar machen? Sie musste das verhindern!

Das darf doch alles nicht wahr sein.

Zwei Spurensicherer ratschten den Plastiksack auf.

Börnie eilte zu ihrem Körper zurück. Nein! Keiner fasst mich an!

Sie kniete sich auf den Teppichboden und wollte sich muttergluckenschützend über ihren Körper werfen, als sie sich zum ersten Mal von Nahem sah und innehielt. Von hier unten, gewissermaßen Gesicht an Gesicht und Auge in Auge, wurde ihr klar, was der Lederjackenträger schon längst begriffen hatte.

Was alle hier wussten.

Börnie schluckte. Selbst ein Medizinstudent im ersten Semester hätte angesichts des verätzten Mundraumes und der weit aufgerissenen, wenn auch blicklosen Augen den Tod festgestellt.

Und sogar ein absoluter Laie wie Börnie konnte bei der Inaugenscheinnahme nur zu einem einzigen Schluss kommen: Der Körper, der da vor ihr lag, war ganz eindeutig tot.

Mausetot.

3

Die dreckige Lache des Todes

Offenbar brauchte man auch als Geist eine Brille, wenn man einen Sehfehler hatte. Und dass Börnie jetzt ein Geist war, ließ sich ebenso wenig leugnen wie ihre Kurzsichtigkeit. Ihr „Ich“, das immer noch dachte und fühlte und zu atmen schien, hatte keinen Körper mehr. Jedenfalls keinen lebendigen.

Börnie erhob sich hilflos und blieb mitten in ihrem Büro stehen. Sie sah zu dem Lederjackenträger, der hier offenbar das Sagen hatte. Er telefonierte immer noch vor dem Fenster. In diesem Moment fiel ihr auf, dass sie kein Spiegelbild hatte. Wie ein Vampir. In der Fensterscheibe spiegelte sich alles, vom Lederjackenträger über die Spurensicherer bis hin zu dem Plastiksack, in dem jetzt ihr Leichnam lag. Nur Börnie nicht.

Scheiße.

So hatte sie sich den Tod nicht vorgestellt. Wenn man tot war, hörte doch alles auf. Auch das Denken. Der Mensch war ein Konglomerat aus biochemischen Prozessen, und wenn diese Prozesse aufhörten, gab es keinen Menschen mehr. Nur noch eine verwesende Hülle. Und irgendwann nichts weiter als ein Häufchen Staub.

Davon war sie immer ausgegangen. Nicht einmal als Kind hatte sie an Engel geglaubt, die einen an die Hand nahmen und in den Himmel geleiteten. Tot war tot. Der Tod war ein Fakt des Lebens. Nur keine Gefühlsduseleien.

Wie damals, als ihr Hamster Schnubbel eines Morgens stocksteif im Laufrad lag und ihre Eltern ihn in einer feierlichen Zeremonie im Garten vergraben wollten. Stattdessen wickelte ihn Börnie kurzerhand in Küchenpapier und warf ihn in die Mülltonne. Oder als während ihres Studiums der zwei Meter hohe Gummibaum ihrer WG-Mitbewohnerin Britt verdurstete. Börnie hatte ihn während Britts Auslandspraktikums gießen sollen, das aber vergessen. Die vertrockneten Überreste hatte sie vom Nachbarn zerhäckseln lassen und für Britt einfach einen Geldschein für einen Ersatzgummibaum an der leeren Stelle deponiert, wo einst Helmuth gestanden hatte. Ja, Britt hatte den Gummibaum benamst. Helmuth. Mit h. Britt hatte seitdem nie wieder mit ihr geredet. Obwohl Börnie einen echt großen Geldschein spendiert hatte. Quasi ausreichend für drei Gummibäume. Plus Schmerzensgeld. Mal ehrlich, so ein Gummibaum war doch kein Schoßtier. Manche Leute waren einfach viel zu schneeflockig, oder?

Ganz kurz flackerte ein Gedanke in Börnie auf. Hm, war sie womöglich kein guter Mensch gewesen?

Aber da trat ein Schütterhaariger an den Lederjackenträger heran und meinte: „Du, Alexander, ein paar Leute sind besorgt, weil sie nicht nur den Punsch, sondern auch Champagner getrunken haben. Wie die Tote. Sie fragen, ob sie sich untersuchen lassen sollen?“

Der Gerichtsmediziner, der das mitbekommen hatte, lachte. „Wenn sie eine Zyanidvergiftung hätten, wären sie schon tot. Sind sie tot, Hasso?“

Der Schütterhaarige mit dem Schäferhundnamen legte eine kurze Pause ein, als würde er nachdenken. „Nein.“

„Dann müssen sie sich keine Sorgen machen.“

Börnie schmollte. Der Schampus war nicht für die Menge freigegeben gewesen. Wer von diesen Schnorrern hatte sich an ihm vergriffen? Und vor allem, wann? Als sie kurz auf der Toilette gewesen war?

„Es liegt kein Glas neben der Toten. Wo ist es?“, fragte der Gutaussehende, der allem Anschein nach das Sagen hatte. Und Alexander hieß.

„Öhm … alle Gläser, die wir hier vorgefunden haben, sind anderen Leuten zuzuordnen. Das von ihr fehlt.“

Börnie war durch die Erkenntnis ihres eigenen Ablebens zu benommen, um mehr zu tun, als nur dazustehen und zuzuhören. Es war ohnehin alles zwecklos. Sie konnte sich nicht bemerkbar machen, sie konnte nichts anfassen, sie war … ein Geist.

„Danke, Hasso. Es war also entweder ein vorsätzliches Tötungsdelikt und der Täter hat alle Beweise entsorgt …“, er zögerte kurz, „oder es war ein Selbstmord, und irgendwer hat die leeren Gläser weggeräumt und damit unabsichtlich das Beweismaterial vernichtet.“

Der Gerichtsmediziner, offenbar in Plauderstimmung, rief fröhlich: „Das Kaliumsalz der Blausäure – also Zyanid – wird auch in der Kosmetikindustrie eingesetzt. Und wir sind hier in einer Kosmetikfirma.“

„Dann war es womöglich ein Unfall?“ Hasso strahlte. Der Vergleich mit einem Schäferhund, der ein im Garten vergrabenes Schweineohr gefunden hatte, bot sich an.

Der Gerichtsmediziner lachte. „Das hier sind die Verwaltungsbüros, da steht in der Kaffeeküche mit Sicherheit kein Kaliumsalzstreuer neben der Pfeffermühle. Aber die Leute hier hätten sich bestimmt Zutritt zu den Produktionsstätten verschaffen können.“

„Apropos … was das Champagnerglas der Toten angeht … habt ihr im Geschirrspüler in der Kaffeeküche nachgesehen?“, wandte Alexander ein, ohne einen Gesichtsmuskel zu verziehen. Er arbeitete wohl nicht zum ersten Mal mit Hasso und dem Gerichtsmediziner zusammen und war Kummer gewöhnt – der eine bemühte sich zu viel, der andere zu wenig.

„Äh …“ Der Schütterhaarige, der für die von ihm favorisierte Überkämmfrisur eigentlich viel zu jung war, guckte peinlich berührt. In einer Art Übersprungshandlung strich er sich ein einzelnes, marodierendes Haar auf der Schädeldecke glatt, wobei er es sich allerdings ausriss. Wenn er das öfter tat, war seine Schütterhaarigkeit nicht allein die Schuld seiner Gene.

Gell, blöd, wenn man nicht nur der Hässlichere, sondern auch der Dümmere ist, dachte Börnie ganz automatisch.

Spätestens jetzt musste sie sich eingestehen, dass schon deswegen kein Engel sie zu einer Wolke im Himmel geleiten würde, auf der eine Harfe auf sie wartete, die sie dann sphärenklängig klampfen konnte, weil sie nämlich schnurstracks in die Hölle käme. Um ihr Schandmaul im Fegefeuer der Läuterung mit heißer Seifenlauge zu reinigen.

„Kaffeeküche?“, murmelte Demnächst-Glatzkopf Hasso. „Nee, da war ich noch nicht. Ich kümmere mich aber gleich darum.“

Alexander sah zu Börnie – der Leiche, nicht der Geisteressenz – und murmelte etwas, das – frei nach Hamlet – wie „Mord oder Selbstmord, das ist hier die Frage?“ klang.

Ich habe mich definitiv nicht umgebracht!, erklärte Börnie dem Gutaussehenden, weil er alle Fäden in der Hand hielt. Ich bin überhaupt nicht der Typ für Selbstmord. Außerdem hatte ich doch gar keine Veranlassung für einen Freitod – mit meiner Karriere ging es steil bergauf!

Weil er so gar nicht reagierte, brüllte sie mit aller Kraft: Ich habe mich nicht umgebracht!

Aber es war zwecklos – sie existierte für ihn nicht. Er trat in den Flur. Börnie wollte hinterher, um ihn wider besseres Wissen zu packen und zu schütteln, aber auf der Türschwelle prallte sie an einer Art unsichtbarer Glasglocke ab. Sie tastete sich daran entlang wie ein Pantomime, klopfte sogar dagegen. Ja, etwas schien sie von ihrer alten Realität zu trennen. Eine Art gläserner Käseglocke. Nur eben nicht aus Glas, sondern aus … na ja, Unsichtbarkeit.

Das ist doch lächerlich, ich muss mich doch irgendwie bemerkbar machen können!

Börnie hatte Niederlagen noch nie einfach so hingenommen. Sie war eine Kämpferin. Aus den Augenwinkeln nahm sie einen Lichtpunkt wahr, der links oben aufploppte. Erst dachte Börnie, dass jemand die Strahler über ihrem Schreibtisch angeschaltet hatte. Allerdings war der Lichtpunkt viel kleiner. Anfangs. Doch er wurde stetig größer.

Nein!, rief es in Börnie.

Sie wusste, was das für ein Licht war. Das war das Licht am Ende des Tunnels, von dem man immer hörte. In dem Lichtkegel würden gleich verstorbene Verwandte auftauchen – geliebte Menschen, die sie im Jenseits begrüßen wollten. Oder, bei Börnies Glück, ihre verhasste Großtante Gudrun oder ihr ehemaliger Kommunikations-Professor, der herablassend lächelnd „Aha, doch nicht promoviert, ich wusste es“ näseln würde.

Ich bin noch nicht bereit, rief Börnie dem Lichtkegel zu. Ich muss denen irgendwie klar machen, dass es kein Selbstmord war. Und ich will wissen, wer mich ermordet hat!

Sie drehte dem Licht demonstrativ den Rücken zu, als wäre die Sache damit erledigt. Aber sie konnte spüren, wie es in ihrem Rücken heller und irgendwie auch wärmer wurde.

„Alexander, wir haben jetzt die Personalien aller Anwesenden“, sagte ein Uniformierter, der sich – unbemerkt von der abgelenkten Börnie – neben dem Chefermittler materialisiert hatte. „Sie warten im großen Besprechungsraum auf ihre Befragung.“

Der Lederjackenträger nickte ihm zu. Alexander war offenbar mit allen per Du. Börnie fand, dass ihn das sympathisch machte. Sie mochte coole, lässige Typen.

„Entschuldigung?“ Die Hagedorn jodelte Alexander von der anderen Seite des Flurs zu.

Er sah stirnrunzelnd zu ihr. „Ja?“

„Wie lange wird das hier noch dauern? Ich muss meine Katze füttern. Wenn ich ihre festen Fütterungszeiten nicht einhalte, bekommt sie Magenkrämpfe. Ich habe ein tierärztliches Attest.“ Sie klopfte auf die Tasche ihrer Twinsetjacke, als sei das Attest darin verborgen. Was durchaus der Fall sein mochte.

Wenn Börnie an die Hagedorn dachte, dann immer als warnendes Beispiel, wie sie mal nicht enden wollte: in einem Job ohne Aufstiegschancen, allein und altjüngferlich, umgeben von einer Katzenmeute, deren Anzahl vermutlich zweistellig war und die einen hemmungslos auffressen würde, sollte man im Fernsehsessel herzinfarkten.

Börnie seufzte. Dieses Ende immerhin war ihr erspart geblieben.

Sie hasste die Hagedorn und hatte sie auch gar nicht zu ihrer Abschiedsfete eingeladen. Aber natürlich hatte die Hagedorn extra Überstunden geschoben, um auch ja nichts zu verpassen. Blöde Partycrasherin.

Ermittler Alexander trat auf die Hagedorn zu.

Börnie – die das Licht in ihrem Rücken weiterhin konsequent ignorierte – wollte ihm ganz automatisch folgen, prallte aber wieder gegen die unsichtbare Wand. Einen verzweifelten Moment lang versuchte sie erneut, sich mit aller Kraft dagegen zu stemmen. Sie trat sogar mit dem Fuß gegen die Wand. Mehrmals. Und zunehmend heftig, weil sie merkte, dass man als Geist keinen Schmerz empfand. Sinnlos.

Es blieb ihr nichts anderes übrig, als sich der Tatsache zu fügen, dass sie den Raum nicht verlassen konnte. Resigniert ließ sie die Stirn gegen dieses unsichtbare Hindernis sinken.

Weil die Hagedorn und Alexander – alias Model-Schrägstrich-Ermittler – im Flur stehen blieben und nicht in das Vorzimmer vom Chef gingen, das Börnie immer als „Vorhof der Hölle“ bezeichnet hatte, wobei nicht der Chef der Teufel war, sondern die Hagedorn, konnte sie das Gespräch verfolgen. Schalldicht war ihre Käseglocke also nicht.

„Wir müssen jeden und jede befragen, das verstehen Sie sicher“, erklärte Alexander mit erstaunlich viel Charme, Geduld und Wokeheit.

Perlen vor die Sau, dachte Börnie.

Die Hagedorn besaß keine Rezeptoren für menschliche Nettigkeit. Wenn es sowas wie Erzfeinde im richtigen Leben und nicht nur in Operetten und Musicals gäbe, dann würde sich die Hagedorn für die Position als Börnies Erzfeindin qualifizieren.

„Natürlich, das verstehe ich“, sagte sie jetzt spitz, „aber Sie verstehen doch sicher auch, dass ich eine Verpflichtung gegenüber meinen Katzen habe. Wenn Sie mich also freundlicherweise als Erste befragen könnten? Ich habe ohnehin nichts gesehen, was für Sie zweckdienlich wäre.“

Der Gerichtsmediziner marschierte durch Börnie hindurch auf den Flur. Sch… Wäre sie nicht schon tot gewesen, der Schreck hätte ihr einen Schlaganfall beschert. Sie musste künftig besser aufpassen. Sie spürte zwar nichts, aber die Vorstellung, dass jemand durch sie hindurchging, verursachte ihr ungute, kalte Schauer.

Der Gerichtsmediziner rief Alexander ein fröhliches „Du kriegst meinen Bericht morgen Vormittag. Schönen Abend noch“ zu und ging zum Aufzug.

Abend war einmal, mittlerweile herrschte tiefschwarze Nacht.

„Dann befragen Sie mich jetzt also?“, hakte die Hagedorn nach.

„Sie sind …?“, fing Ermittler Alexander an.

„Beatrix Hagedorn. Ich bin die persönliche Assistentin von Herrn Schön.“ So, wie sie es aussprach, klang es, als sei sie die handverlesen ausgewählte Bettpfannen-Anreicherin Ihrer Majestät, der Queen von England.

An Alexander prallte die Prahlerei allerdings ab. „Aha. Und wer ist Herr Schön?“

Geschah der Hagedorn recht, dass Alexander sich mit Schönheitskonzernen nicht auskannte.

„Reginald Schön! Der Enkel unserer Gründerin! Der derzeitige Vorstandsvorsitzende von Schön Cosmetics!“

Die Hagedorn zeigte schräg hinter sich. Auch wenn Börnie es von ihrem Standort aus nicht sehen konnte, war ihr klar, dass die Hagedorn auf das riesige Ölgemälde zwischen den beiden Aufzugskabinen wies. Auf dem man Mechthild Schön mit Sohn und Enkel sah. Vom Maler – sicher derselbe, der schon das Einzelporträt der Gründerin schöngemalt hatte – so dermaßen weichgezeichnet, wie es kein moderner Fotofilter schaffen würde. In anderen Kosmetikunternehmen hingen Bilder schöner Menschen, die vermeintlich dank der Produkte des Unternehmens noch schöner geworden waren. Bei Schön Cosmetics waren sämtliche Büroräume und Korridore mit Bildern der Familie Schön bestückt, einzeln oder als Ensemble. Und der Name war nicht unbedingt Programm.

Seit seiner Gründung war Schön Cosmetics ein Familienbetrieb. Und auch immer noch im Familienbesitz. Betonung auf noch. Durch die Umbenennung von Schön Kosmetik in Schön Cosmetics durch den derzeitigen Schön-Chef war schon abzusehen, dass er seine Finger nach dem Weltmarkt ausstreckte. Nicht um ihn zu erobern, sondern um die Familienklitsche für einen Millionenbetrag aufkaufen zu lassen und sich dann auf eine Südseeinsel zurückzuziehen. Das war einer der Gründe, warum Börnie den Laden verlassen und sich bei der Konkurrenz beworben hatte. Bei einer Übernahme wurden Leute in ihrer Position immer geschasst, und sie wollte sich die Fäden für ihre Karriere nicht aus der Hand nehmen lassen.

„Frau Schön hat die Firma nach dem Zweiten Weltkrieg gegründet, um den Frauen wieder etwas Hoffnung auf eine bessere Welt zu geben. Die Schönheit der Welt fängt bei einem selbst an.“ Letzteres war der Erfolgsslogan der Firma. Dank eingängiger Musikuntermalung bei den Fernseh- und Radiowerbespots mit hohem Wiedererkennungswert. „Mittlerweile haben wir natürlich auch Produkte für den Mann. Obwohl die sich nicht so gut verkaufen. Nun ja, Frau Hess zeichnete für das Marketing dieser Reihe verantwortlich.“ Die Hagedorn sah zu dem Leichensack hinter Börnie, der gerade auf eine Trage gelupft wurde.

Blöde Kuh.

„Über die Toten nichts Schlechtes, ich weiß, aber ich gehe davon aus, dass Frau Hess hier im Haus nicht sehr vermisst werden wird. Sie war toxisch. Sehr negative Energie, gar nicht gut fürs Betriebsklima.“

Toxisch?

Börnie fielen spontan ein paar Beleidigungen ein, die sie – weil niemand sie hörte – laut aussprechen konnte. Was in einer Pro-und-Contra-Liste zum Thema „Geist sein, ja oder nein?“ definitiv als positiv zu vermerken gewesen wäre. Blöde Schnepfe! Sumpfkuh! Trulla!

Der Assistent, der so hieß wie ein Schäferhund – Ajax, Bello, Rex? –, kam zurück.

„Ich habe jemanden gefunden, der das Glas der Toten gesehen und am Lippenstiftrand erkannt hat. Ein Herr Bollmann. Er sagt, es ist im Geschirrspüler. Leider ist der von jemandem eingeschaltet worden.“

Alexander fluchte verhalten.

„Das war ich“, meldete sich die Hagedorn reuelos zu Wort. „Ich habe gesehen, dass er voll war, und habe ihn eingeschaltet. Eigentlich sind bei Bürofeiern die Austragenden dafür verantwortlich, dass es für die Putzkolonne möglichst wenig zu tun gibt, aber Frau Hess war sich für Aufräumarbeiten immer zu fein.“

„Weil sie gern trank und in betrunkenem Zustand nicht daran dachte?“, mutmaßte der Schäferhund auf zwei Beinen.

„Nein, auch im nüchternen Zustand wäre sie dazu nicht bereit gewesen. Rücksichtnahme auf andere lag nicht in ihrem Naturell.“ Die Hagedorn presste die ohnehin dünnen Lippen zu einem noch dünneren Strich zusammen.

Du dumme Wutz! Ich hätte für die Extraarbeit bezahlt! Das mache ich immer! Ich gebe immer Trinkgeld! Börnie echauffierte sich, aber weil sie das unter ihrer Käseglocke allein und nur für sich tat, verschaffte ihr das keine Erleichterung. Im Gegenteil, wie bei einem Schnellkochtopf mit kaputtem Überdruckventil drohte sie sekündlich zu explodieren.

Sie drehte sich nicht um, aber sie hatte das Gefühl, dass es hinter ihr dunkler wurde. Der Lichtkegel wurde offenbar wieder kleiner.

„Hasso, du hast den Geschirrspüler doch hoffentlich sofort ausgeschaltet, oder?“, fragte das Herrchen vom Hundchen.

Hasso sagte nichts, eilte aber rasch zurück in die Kaffeeküche.

Die Hagedorn druckste herum. „Sagen Sie … wenn das Glas mit dem Gift wirklich im Geschirrspüler sein sollte … muss man das Gerät dann nicht entsorgen? Da bleiben doch sonst womöglich Reste an den Armaturen? Sie wissen schon … Giftreste.“

Für Börnie war spätestens jetzt sonnenklar, dass die Hagedorn ihre Mörderin war. Nicht nur, weil sie ihre Erzfeindin war, sondern auch, weil die Hagedorn schon seit geraumer Zeit zu jeder Budgetsitzung das Formblatt B22 für die Anschaffung eines neuen Hochleistungsgeschirrspülers eingereicht hatte. Möglicherweise war es weit hergeholt, dass sie Börnie vergiftet und das Giftglas anschließend in den alten Geschirrspüler gesteckt hatte, um so eine stichhaltige Begründung für die Neuanschaffung zu haben, aber gänzlich auszuschließen war es nicht. Fand Börnie.

„Ich kläre das mit unserem Rechtsmediziner, aber ich bin fast sicher, dass Sie sich da keine Sorgen machen müssen.“

Die Hagedorn guckte enttäuscht.

„Sie haben also nichts bemerkt?“, hakte Ermittler Alexander nochmal nach. „Hat jemand der Toten das Glas angereicht?“

„Nein. Sie hat sich immer selbst nachgeschenkt. Im Akkord. Im Grunde hätte sie sich gleich die Flasche an den Mund setzen können.“

Börnie warf die Arme in die Luft. Wer ist jetzt toxisch, du dämliche Giftspritze?

„Schade. Nun gut, falls Ihnen noch etwas einfällt, dann melden Sie sich.“ Er reichte ihr seine Visitenkarte.

„Dürfen wir?“, erklang in diesem Moment eine Baritonstimme hinter Börnie, und gleich darauf trugen zwei Männer die Trage mit dem dunkelblauen Plastiksack aus dem Büro. Und weil Börnie nicht rechtzeitig zur Seite trat, marschierten jetzt gleich zwei Personen durch sie hindurch.

Börnie schluckte schwer und atmete tief ein und aus.

Jetzt nur keine Panik. Ich weiß, was es ist: Ich träume!

Aber sosehr sie sich auch in den Arm kniff, sie wachte nicht auf.

Das Licht am Ende des Tunnels schien zu flackern. Und als sie sich umdrehte, war der Lichtkegel verschwunden.

Börnie saß fest.

4

Im Wartezimmer der Ewigkeit. Blöderweise ohne alte Zeitungen …

Langweilig.

Hätte man Börnie gebeten, ein kurzes Statement über das Dasein als Geist zu verfassen, so hätte es gelautet: Total langweilig.

Noch eine ganze Zeit lang wuselten Spurensicherer durch ihr Büro, aber Börnies Zeitempfinden schien ebenso tot wie ihre fleischliche Hülle. Irgendwann wurden die Jalousien geschlossen, was eine Tageszeitbestimmung verunmöglichte. Früher hätte Börnie auf ihrem Handy nachgesehen, aber das steckte in ihrem Blazer, und ihr Blazer steckte in einem Plastiksack in der Rechtsmedizin.

Dann verließen alle das Büro, das daraufhin abgeschlossen und versiegelt wurde.

Und dann saß Börnie da.

Erst auf ihrem Schreibtisch, dann auf dem Boden in der Ecke mit ihrem Aktenvernichter, dann quer über ihrem Besprechungstisch, dann auf der Couch, dann wieder auf dem Schreibtisch. Nie in ihrem Schreibtischstuhl, den hatte jemand weggekarrt. Börnie hatte vor lauter „verdammt, ich bin tot“ nicht mitbekommen, wer. Vermutlich Gehrke aus der Buchhaltung. So scharf, wie die Hagedorn auf einen neuen Geschirrspüler war, so scharf war er auf einen ergonomischen Schreibtischstuhl aus der Chefetage. Und den Stuhl einer Toten wollte sonst bestimmt niemand haben.

Warum?, fragte sich Börnie ununterbrochen.

Sie hatte – außer der Hagedorn – keine Feinde, und die Hagedorn – das musste Börnie nach längerem Insichgehen zugeben – bekam ihren Kick eher durch alltägliche Verbalattacken, nicht durch Giftmord.

Börnie war auch keine steinreiche Frau, niemand profitierte finanziell von ihrem Tod. Weder Verwandte, die sie nicht mehr hatte, noch Freunde, die sie auch nicht hatte, weil sie zu Lebzeiten ein Workaholic gewesen war. Letzteres stellte immer noch ein Problem dar: Es trieb Börnie beinahe in den Wahnsinn, nichts tun zu können.

Ein Versehen!

Nach unzähligen Gedankenspiralen lief es für Börnie auf diesen Schluss hinaus: Es musste sich um ein Versehen handeln.