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STILLLEBEN MIT LEICHENTEILEN: KRIMIVERGNÜGEN IN KITZ! Skilehrerterror oder rabiate Hinterseer-Fans? Tote zwischen Touristenattraktionen! Zwischensaison im Tiroler Tourismusort Nr. 1: Die Gäste haben Kitzbühel verlassen. Es könnte so friedlich sein unterhalb der Streif. Fast schon langweilig. Doch da findet man ein Männerbein in der Eisgrube des Eishockeystadions, eine manikürte Männerhand im Schwarzsee und einen Männerkopf in einer Truhe des Stadtmuseums. Wenn man die drei Teile zusammensetzt, bilden sie allerdings kein Ganzes. Will heißen, es handelt sich um die Reste von drei verschiedenen Leichen. Und das ist erst der Anfang! Wo normalerweise Sportgrößen und Promis in schöner Eintracht Weißwürste speisen, kann einem jetzt durchaus der Appetit vergehen: Es geht mörderisch zu! Zimmermädchen Luisa kennt die dunkelsten Geheimnisse ihrer Gäste und ermittelt, tatkräftig und gewieft, auf eigene Faust - denn nirgends ist man den Schurken näher als in ihren Hotelbadezimmern … Doch bald ist auch Luisas Haut in Gefahr … Krimödienkönigin in Kitz: Lachtränengarantie! Wo Tatjana Kruse mordet, ist niemand sicher. Jedenfalls nicht vor den Pointen, die Kruse "völlig ungeniert gleich salvenweise aus der Hüfte" schießt (Focus, Ralf Kramp). Es ist ein Feuerwerk aus Gags und Lachern, das von der "Königin der Krimödie" abgefeuert wird. Diesmal hat sie sich einen ganz besonderen Tatort ausgesucht: Zwischen Hahnenkamm und Stanglwirt, zwischen Reichen, Schönen und Toten treiben Ganoven ihr Unwesen. Ist ein Skilehrer im Sommerloch ausgerastet und zum Serienmörder geworden? Oder sind gefährliche Kriminelle in Kitz unterwegs, um die Dienste der hervorragenden Schönheitschirurgen hier in Anspruch zu nehmen? Ein paar äußerst dubiose Gestalten treiben sich in der Stadt herum (also noch mehr als ohnehin schon), und auch die Hinterseer-Fan-Gruppe benimmt sich noch seltsamer als sonst. Und dann fällt auch noch die Presse ein … "Herrlich, wie Kruse Kitzbühel auf die Schippe nimmt: großartig getroffen und trotzdem liebevoll!" "Endlich ein neuer Krimi von Tatjana Kruse: Keine kann es besser, keine schreibt lustiger! Nach einem Buch von ihr bin ich jedes Mal bester Laune!"
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Seitenzahl: 281
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Tatjana Kruse
Leichen, die auf
Kühe starren
Ein rabenschwarzer Alpenkrimi
Dieser Roman spielt zwar in einer realen Stadt, aber alle Personen sind frei erfunden und der Plot ist fiktiv. Auch den Marchwardushof gibt es nicht. Allerdings mümmelt irgendwo da draußen tatsächlich eine Kuh namens Barbarella und leistet ihren Beitrag zur Erhaltung der Tiroler Almlandschaft. Darum eine Bitte: Weidevieh nie erschrecken und Hunde beim Passieren immer an der Leine führen. Ganz wichtig: Weideflächen mit Kühen drauf nicht durchqueren. Sie wollen ja auch nicht, dass eine Kakerlake durch Ihren Salat marschiert …
Kühe, Kühe, Kühe …
Für Bettina Laber
Kitzbühel.
Ein Ortsname wie ein Versprechen,
mit rauchiger Stimme gehaucht.
Kitzbühel.
Mythos, Legende, Märchenwinkel.
Aber der mondäne Ruf ist das eine. Wie eine schöne Frau mit glamourösem Make-up.
Die Wirklichkeit ist das andere.
Also, nicht völlig anders. Nur eben in der Alltagsversion. Quasi dieselbe Frau, aber ungeschminkt. Das echte Kitzbühel. Meistens ganz normal.
Mit all seinem Licht.
Aber – wie überall – auch mit ein bisschen Schatten.
Die dunkle Seite der Macht …
Ja, das Böse gibt es auch im bezaubernden Kitzbühel.
Können Sie es röcheln hören?
Eine menschliche Leiche in sechs Teile zu zersägen, ist mathematisch nicht weiter schwer: Kopf, zwei Arme, zwei Beine, ein Torso.
Wahlweise lassen sich Arme und Beine noch weiter zerteilen, das muss aber nicht sein.
Und Kopf und Torso in noch kleinere Teile zu zerlegen, ist nur was für echt Zwangsgestörte.
Aber selbst in der Grundvariante – wie gesagt: Kopf, Arme, Beine, Torso – kann man umsetzungstechnisch durchaus auf Probleme stoßen. Wenn man das Sägen nicht gewöhnt ist. Also, diese ganz spezielle Art des Sägens. Des Durchsägens von Menschenknochen.
Das fängt schon mit der Ausrüstung an: Zwischen der Laubsäge für den schulischen Handwerksunterricht und einer professionellen Hochleistungs-Kettensäge aus dem Försterei-Fachbedarf gibt es eine große Auswahl an Sägen für Arbeiten aller Art, aber bedauerlicherweise steht nirgends dabei: Besonders geeignet für menschliche Knochen.
Diese Säge hier war es eindeutig nicht. Zumal es auch nichts gab, um den Knochen zu fixieren. Das war die Krux, wenn man kein Heimwerker war – entscheidend wichtige Dinge wie die Fixierung fielen einem erst ein, wenn man beim Sägen feststellte, dass man ohne eine solche wie die Göttin Kali acht Arme bräuchte, um das Bein festzuhalten, während man sägte, weil es nämlich ständig wegglitschte.
Mit zwei Armen funktionierte es jedenfalls nicht gut. Man konnte sich den Bär sägen, aber durch den Oberschenkel kam man einfach nicht durch.
Obwohl, durch das Fleisch schon. Machte eine Riesensauerei und roch auch nicht gut. Nur der Knochen wehrte sich. Als ob sich der Tote noch im Tod absichtlich querstellte.
Fürs nächste Mal musste definitiv eine Anleitung her. Sowas wie eine Heimwerker-Bibel. Oder ein YouTube-Tutorial.
Und womöglich wäre die Flex-Säbelsäge mit Pendelhub und Quick-Change-Sägeblattwechsel trotz des nachgerade unsittlich hohen Preises doch die bessere Wahl gewesen, aber diese Erkenntnis kam nun zu spät.
Also hieß es: Weitersägen!
„Scheiße!“ Beppi vergoss vor Schreck den kochend heißen Chai Latte aus seinem Thermosbecher. Sein Schritt dampfte.
Die Reifen quietschten, als der himmelblaue Kleinbus mit den aufgemalten Flügeln abrupt stehenblieb. Es roch nach verbranntem Gummi. Und nach zu heiß gewaschenem Jeansstoff.
Auch die vier anderen Männerkehlen im Innern des Wagens, die eben noch lauthals gesungen hatten, verstummten schlagartig. Nur Hansi Hinterseer sang fröhlich weiter „… Viva oh Viva Tirol. Viva oh Viva Tirol. Lederhosen, Dirndl, Hände an den Po …“. Denn er sang ja vom CD-Player und konnte die Erscheinung ergo nicht sehen.
Im dunstigen Licht der Scheinwerfer war im Nebel der Nacht schlagartig eine Frau aufgetaucht. Sie stand mitten auf der Landstraße. In einem roten, hautengen Lederoverall und kniehohen roten Stiefeln mit Pfennigabsätzen. In der Linken hielt sie eine übergroße, ausgebeulte Gobelintasche. Die Rechte streckte sie ihnen wie ein lebendes Stop-Zeichen entgegen.
Reglos stand sie da. Eine geisterhafte Erscheinung. Wobei Geister in der Regel weiße Kutten und rasselnde Ketten trugen, kein sexy dominataugliches Lederoutfit.
Rudi, Manni, Beppi, Hansi (nicht der Hinterseer) und Karl-Heinz starrten durch die Windschutzscheibe ungläubig nach draußen.
„Es ist halb zwei in der Nacht“, sagte Karl-Heinz fassungslos. Als hätte er noch nie eine freilaufende Frau nach Mitternacht gesehen.
Wobei man ihm zugutehalten musste, dass es in ihm natürlich dachte, hier – mitten im Tiroler Nirgendwo – klappe man geschlechterübergreifend bei Anbruch der Dunkelheit die Bürgersteige hoch, Fuchs und Hase riefen sich ein „Pfüatdi“ zu, und danach seien allenfalls noch Zitherklänge hinter zugeklappten Fensterläden zu hören. Hier zitherte allerdings niemand, weil unbewohntes Terrain. Wäre es nicht zappenduster gewesen, hätte man sehen können, dass sich links und rechts steile Hänge in die Höhe zogen, mehr oder weniger bewaldet, aber definitiv ohne Häuser oder Hütten. Und da weit und breit kein fahrbarer Untersatz auszumachen war, war Beppis Fassungslosigkeit durchaus verständlich. Wie kam die Frau hierher?
Beppi pustete wieder in seinen Schritt.
„Ein Geist!“, hauchte Hansi in tremolierendem Bariton. Sie nannten ihn alle nur Nicht-der-Hinterseer. Außer sie hatten es eilig, dann nannten sie ihn Hansi, weil er halt so hieß. Verwechslungen mit dem echten Hansi hätte es so oder so nie gegeben, weil der falsche Hansi nämlich ein ganz dunkler Typ war. Nicht charakterlich, aber äußerlich.
„Mach dich nicht nass“, erklärte Rudi. „Geister spuken in alten Gemäuern, nicht auf Landstraßen.“
„Ja, aber die Toten der Verkehrsunfälle?“, hielt Manni dagegen. Hatten sie nicht gerade eben ein Kreuz mit einem Blumenstrauß davor gesehen? Hieß es nicht immer, dass Menschen, die den Tod nicht kommen sahen, weil alles so schnell ging, dazu verdammt waren, so lange am Ort ihres Dahinscheidens herumzuspuken, bis sie sich mit ihrem unverhofften Ableben abgefunden hatten? Was dauern konnte. Jahre. Jahrhunderte. Leute, die von einem Ochsenkarren umgenietet worden waren, spukten womöglich immer noch Seite an Seite mit den Opfern von Pferdekutschen und SUVs. Zumindest hatte Mannis Oma das immer gesagt. Laut seiner Großmutter waren die Landstraßen und Autobahnen dieser Welt von Geistern förmlich gesäumt. Eine Bordüre aus lauter Verblichenen.
Manni schluckte schwer.
„Oder sie ist die Ziege, mit der man den T-Rex ködert“, mutmaßte Beppi, der seinen Schritt wieder auf Normaltemperatur gepustet hatte.
„Dinosaurier sind ausgestorben!“, erklärte Karl-Heinz.
Karl-Heinz war ein Idiot. Grundsätzlich, aber auch, weil er nie Jurassic Park gesehen hatte. Er bevorzugte Fassbinder- und Lars-von-Trier-Filme.
Die Unterstellung, er wisse nicht, dass es keine T-Rexe mehr gab, fraß an Beppi. „Das weiß ich! Ich meinte, eine Diebesbande will uns mit ihr als Lockvogel aus dem Wagen herauslocken und uns dann umnieten und ausrauben.“
Manni presste sich die Nase an der Seitenscheibe platt und lugte in den finsteren Wald. „Ich sehe nichts.“
Rudi versetzte ihm eine Kopfnuss.
„Die steht da wie eine Salzsäule“, konstatierte Nicht-der-Hinterseer. „Ob die überhaupt echt ist?“
Das stimmte. Die Frau schien nicht einmal zu blinzeln.
Die fünf Männer – allesamt Mitglieder des Hinterseer-Fanclubs Rosengarten-Uttenhofen e. V. – beugten sich jetzt gemeinschaftlich nach vorn. In einer fließenden Bewegung. Wie Synchronschwimmer. Sie atmeten so heftig aus, dass die Windschutzscheibe beschlug. Karl-Heinz, der am Steuer saß, zog den Duschabzieher aus dem Ablagefach in der Fahrertür und sorgte für klaren Durchblick. Er betrachtete sich als Mann der Tat.
Doch auch bei nunmehr bester Fernsicht schien die Frau starr wie eine Marmorstatue. Einem unbewussten Lemming-Reflex folgend reckten die fünf Männer unisono ihre Köpfe noch weiter nach vorn.
Was jetzt auch die Frau tat. Ein unbeteiligter Dritter (rein rechnerisch ein unbeteiligter Siebter) hätte mutmaßen können, dass sie sich über die Männer lustig machte.
„Huch, sie lebt!“, entfleuchte es Manni. Die Männer zogen ihre Köpfe wieder ein.
„Was machen wir jetzt?“, fragte Beppi.
Sie waren alle fünf gestandene Kerle. Angesehene Bürger ihrer süddeutschen Heimatgemeinde. Beppi und Manni arbeiteten in der Stadtverwaltung, Rudi leitete ein Versicherungsfilialenbüro, Nicht-der-Hinterseer war Schlosser, und Karl-Heinz, das ergab sich fast zwangsläufig aus dem Bindestrich in seinem Namen und dem Duschabzieher in der Fahrertür (den er mitgebracht hatte), war Lehrer. Für Französisch und Mathematik.
Und natürlich war es Karl-Heinz, der sagte: „Wir fragen sie, ob sie Hilfe braucht.“ Er löste den Sicherheitsgurt, ruckelte seine Baskenmütze gerade und stieg aus.
Die anderen sahen ihm nach.
Karl-Heinz war mitnichten ihr Anführer. Sie hatten keine Numero uno in ihrer Truppe. Sie waren einfach fünf Männer, die eine Leidenschaft teilten – die Leidenschaft für Hansi Hinterseer. Also nicht für den Mann per se, sondern für das, wofür er stand: Musik, die ins Blut und ins Herz und in die Schunkel-Muskulatur ging. Leichtigkeit, Lässigkeit, lockere Männlichkeit. So wollten sie alle sein. Aber weil man bei Hinterseer-Fans an völlig enthemmte Matronen dachte – wie beispielsweise die Frau in dem YouTube-Video, die während einer Show von Hansi auf die Bühne sprang und mit ihm tanzte und einfach nicht wieder gehen wollte und von einem Ordner weggeführt werden musste –, also weil man gemeinhin Hinterseer-Fans nicht mit echten Kerlen assoziierte, war ihr Fanclub sowas wie ein Männergeheimbund, von dem niemand etwas wusste. Nicht die Ehefrauen von Rudi, Manni und Beppi und auch nicht die Mama von Nicht-der-Hinterseer. Karl-Heinz war Single. Man durfte aber davon ausgehen, dass seine beiden Wellensittiche aufgrund täglicher Beschallung durchaus eine Ahnung von seiner heimlichen Liebe hatten. Glücklicherweise hatte er ihnen nie das Sprechen beigebracht, und somit konnten die Federträger es auch nicht ausplaudern – beispielsweise gegenüber der Nachbarin von Karl-Heinz, die sich während seiner Abwesenheit um Amore und Mio kümmerte und sie mit Körnerfutter und Frischwasser versorgte. Ja, Karl-Heinz hatte seine Sittiche nach einem Hit von Hansi Hinterseer benannt. Und ja, das Geheimnis von Manni, Rudi, Beppi, Nicht-der-Hinterseer und Karl-Heinz war zu 99 Prozent sicher. Das einprozentige Restrisiko hatte einen Namen. Es hieß Manni. Weil der immer erst redete, bevor er dachte. Sehr oft dachte er auch einfach nicht.
„Sollten wir nicht auch aussteigen und dem Karl-Heinz Rückendeckung geben?“, fragte Rudi.
Manni, der viel zu früh viel zu viele Hollywoodhorrorfilme gesehen hatte, betätigte die Zentralverriegelung. „Nee, der Karl-Heinz macht das schon.“
Sie sahen zu, wie sich Karl-Heinz der Erscheinung näherte.
Eigentlich waren die fünf auf einer Pilgerfahrt nach Kitzbühel. In der Hoffnung, Hansi Hinterseer zu begegnen. Und um etwas zu erledigen. Etwas Großes. Eine Mission Impossible. Sie fühlten sich alle ein bisschen wie Tom Cruise, der das Unmögliche möglich machte, ohne dass dabei seine Föhnwelle auch nur ein einziges Mal verrutschte.
Sie hatten sich den Kleinbus von Beppis Frau Gabi ausgeborgt, die ihr Geld als mobile „Frisöse und Maniköse“ verdiente. Beppis Worte. Deswegen auch die Flügel auf dem himmelblauen Wagen – weil Gabi „ein Engel war, der Schönheit und Wohlbefinden selbst in die entlegensten Ortschaften brachte, sowie zu Frauen und Männern und Nicht-Binären, die aufgrund von Einschränkungen das Haus nicht verlassen konnten und dennoch nach Ästhetik lechzten“. Gabis Worte.
Dummerweise hatte Gabi kein GPS in ihrem mobilen Schönheitsstudio, nur auf ihrem Handy. Und die Handys der Männer waren – wie immer gegen Monatsende – wegen des vielen Streamens schon an ihrer Volumengrenze. So hatten sie sich nach der letzten Pinkelpause mit Fahrerwechsel verfranzt, einen großzügigen, unbeabsichtigten Schlenker durch das wunderschöne Tirol gemacht und waren nun hier gelandet. Im nebligen Nirgendwo. Aber egal. Alle Wege führen nach Rom. Respektive Kitzbühel.
Karl-Heinz, den sie nur von hinten sahen, schien etwas zu sagen. Der Kopf mit der Baskenmütze wackelte jedenfalls.
Manni war felsenfest davon überzeugt, dass die Frau in Rot ihrem Kumpel Karl-Heinz gleich den Kopf abbeißen würde. Nervös nestelte er an seinem Kragen. „Warum dauert das so lange?“
Rudi, Beppi und Nicht-der-Hinterseer teilten Mannis Angst zwar nicht, aber auch ihnen war klar, dass „die Weibchen der Spezies“ sehr viel gefährlicher waren als die Männchen.
Immerhin bewegte sich die Erscheinung jetzt. Sie zeigte in den Nebel.
Karl-Heinz verschwand kurz aus ihrem Sichtfeld, dann tauchte er wieder auf, und zwar rücklings. Keuchend zerrte und ruckelte er an einem Koffer. Eigentlich mehr Schrank als Koffer. Jedenfalls zu wuchtig für den mindertrainierten Karl-Heinz.
„Kann mir mal wer helfen!“, rief er über seine Schulter in Richtung Kleinbus.
Rudi entriegelte die Beifahrertür.
Beppi langte über ihn hinweg und drückte den Knopf wieder nach unten. „Wir nehmen sie doch wohl nicht mit?“
„Willst du die Frau etwa hierlassen? Allein? Mitten in der Nacht?“ In Rudi kam der Gentleman durch.
„Du weißt genau, warum das nicht geht. Manni kann seine Klappe nicht halten. Was ist, wenn er plappert? Wenn durch ihn alles auffliegt?“
Manni drehte sich zu Beppi. „Redest du von mir?“
„Nein, ich meine einen völlig anderen Manni.“ Beppi schürzte die Lippen.
„Ach so, dann ist ja gut.“ Manni verschränkte die Arme und schmollte.
Rudi guckte unentschlossen zu Nicht-der-Hinterseer. Der zuckte ratlos mit den Schultern.
„Was ist jetzt?“, brüllte Karl-Heinz ungeduldig. Er rackerte sich an dem Schrankkoffergriff ab, aber seine Kräfte waren aufgebraucht.
Die vier im Kleinbus sahen hinaus in die Nacht. Dann schlug Nicht-der-Hinterseer zur Güte vor: „Wir könnten die Verkehrswacht verständigen, die holt sie dann schon. Oder die Polizei.“
„Oder die Telefonseelsorge?“, lästerte Rudi. „Depp. Niemand Offizielles darf wissen, dass wir hier sind!“
„Aber wenn wir ihr nicht helfen, machen wir uns verdächtig. Dann merkt sie sich vielleicht das Kennzeichen, meldet es, und meine Gabi bekommt Schwierigkeiten. Nee, so nicht!“ Beppi entriegelte die Tür.
Die Tür glitt auf, und in diesem Moment materialisierte sich die Frau direkt vor ihnen. Weil sie so mit sich beschäftigt gewesen waren und es nicht hatten kommen sehen, quietschten die vier auf. Unisono.
„Grüß Gott!“ Ihre Stimme klang sympathisch. Von Nahem wirkte sie gar nicht mehr bedrohlich. Dafür sehr viel älter, als es der knallrote Lederoverall und die High Heels von Weitem hatten vermuten lassen. Also, nicht nur älter. Richtig alt.
„Herr Pflugfelder meinte, es wäre kein Problem für Sie, mich mit nach Kitzbühel zu nehmen.“ Sie lächelte. Es war aber kein gütiges Großmutterlächeln. Die Jungs wurden eher an einen Hai erinnert, der sein Revolvergebiss fletschte. „Ich bin Ihnen wirklich sehr dankbar.“
Alle sahen vorwurfsvoll zu Karl-Heinz. Der das nicht mitbekam, weil er konzentrationstechnisch voll im Kampf Mann gegen Koffer aufging.
„Machen wir doch gern“, log Rudi. „Ich bin der Rudi. Beppi, Hansi, Manni.“ Er zeigte auf die anderen und dann nach draußen zu dem riesigen Schrankkoffer mit dem Wackelmännchen daran. „Den Karl-Heinz kennen Sie ja schon.“
„Freut mich sehr.“ Sie strahlte die Männer der Reihe nach haifischartig an. „Ich fürchte nur, Ihr Karl-Heinz bekommt meinen Koffer nicht allein in den Wagen.“
Keiner rührte sich.
„Vielleicht möchten Sie ihm helfen?“ Sie hatte definitiv was Karl-Heinzisches. Will heißen: Lehrerhaftes. Strenges.
Beppi, Rudi und Nicht-der-Hinterseer sprangen aus dem Kleinbus und halfen Karl-Heinz mit dem unhandlichen Gepäckstück. Nur Manni blieb sitzen und starrte die Oma an. Gerade wollte er sie fragen, wie sie denn hierhergekommen war, so ganz ohne Fahrzeug, pumperlallein im Nichts. Da sagte sie: „Mein Koffer feuchtelt rot an den Ecken. Das ist aber kein Blut.“ Sie kicherte. Es war ein Blofeld-Kichern. „Nein, kein Blut. Ich habe … Pesto aus Italien als Mitbringsel dabei. Da muss mir wohl ein Glas zerbrochen sein.“ Sie kicherte erneut.
Manni wurde bleich. Ihm schien, als habe sie seit ihrem Auftauchen kein einziges Mal geblinzelt. Wer, bitteschön, war so völlig blinzellos? Mit Wucht meldeten sich seine Horrorfilmerinnerungen wieder. „Ich helfe den anderen“, krächzte er und verließ fluchtartig den Wagen.
Die Frau äugte in den Innenraum des Busses. Die fünf Männer hatten in den wenigen Stunden ihrer Pilgerfahrt aus dem makellosen Interieur von Gabis mobilem Schönheitsstudio ein krümeliges, fleckiges, schlieriges, olfaktorisch bedenkliches Vehikel gemacht. Hätte sie raten müssen, welchem Hobby die Jungs nachgingen, die Frau in Rot hätte auf das Sammeln von Sporen, Grünspan und Schimmelpilzen getippt. Sie seufzte, kletterte dennoch hinein, setzte sich auf den Beifahrersitz und nahm ihre ausgebeulte Gobelintasche auf den Schoß.
Im CD-Player ging Hansi Hinterseer zu einem neuen Song über. Ein flottes Intro erschallte.
Die ausgebeulte Tasche auf dem Schoß der alten Frau wackelte. Nicht im Takt, aber immerhin. Die Alte tätschelte den Gobelinstoff. „Alles gut, alles gut“, raunte sie.
In der Tasche blieb es still. Vitzliputzli liebte Musik, aber er sang nicht.
Draußen schoben sie zu fünft den irrsinnig schweren Koffer in Richtung Kleinbus. Und weil Karl-Heinz und Rudi den Koffer schoben, Nicht-der-Hinterseer und Beppi jedoch den Karl-Heinz und den Rudi und Manni mit je einer Hand den Beppi und den Nicht-der-Hinterseer, sah es ein bisschen so aus wie eine Tiroler Polonaise. Was gut passte, denn genau darüber sang Hansi Hinterseer gerade in diesem Moment vom CD-Player. „... die Tiroler Polonaise, das ist Gaudi total. Die Tiroler Polonaise, und jetzt alle noch einmal …“
Das Ganze zog sich, aber irgendwann gab es ein Happyend. Kaum zu glauben, trotz allem noch deutlich vor Sonnenaufgang.
Den Männern gelang es, den Schrankkoffer auf das Dach des Kleinbusses zu wuchten, wo sie ihn vertäuten. Als sie schwer atmend und durchgefroren – es wurde nachts jetzt doch schon empfindlich kalt – wieder in den Bus stiegen, schenkte die alte Frau in ihrem sexy Lederoverall allen ein herzliches Lächeln. Wirklich herzlich diesmal, nicht fischgebissig. „Danke, Jungs. Ich mach’s wieder gut bei euch, versprochen.“ Das hätte, gerade angesichts ihres roten Leder-Outfits, eindeutig zweideutig rüberkommen können. Aber es klang kein bisschen nach Sexworkerin, sondern eindeutig nach Kindergärtnerin, als sie sagte: „Ich bin die Frau Obermoser. Ihr dürft mich Frau Obermoser nennen.“
Weil alle noch entkräftet keuchten, antwortete keiner. Frau Obermoser nutzte die Gunst der Atemlosigkeit und meinte treuherzig: „Karl-Heinz, Sie erwähnten die Ferienwohnung in der Wehrgasse, die Sie für sich und Ihre Freunde angemietet haben.“
„Mit …“ Keuch, keuch. „... Parkmöglichkeit …“ Keuch, keuch. „… für den Bus.“ Da war Karl-Heinz stolz drauf. Keiner der anderen hätte an dieses Detail gedacht und dann hätten sie womöglich stundenlang zwischen Unterkunft und Parkplatz pilgern müssen.
„Das war sehr weitsichtig von Ihnen“, lobte Frau Obermoser. „Eine Weitsicht, die mir fehlt. Leider habe ich versäumt, ein Hotelzimmer zu buchen. Und jetzt ist es ja irrsinnig spät. Was meinen Sie, dürfte ich – nur für heute Nacht – mein Haupt in Ihrer Ferienwohnung betten?“
Wären die Männer nicht immer noch vom ungewohnt sportlichen Gewaltakt sprachlos gewesen, dann wären sie es aufgrund dieses Ansinnens wohl spätestens jetzt.
„Ich weiß, es ist viel verlangt, aber Sie würden doch eine alte Frau nicht mitten in der Nacht aussetzen, oder?“
Die Jungs warfen sich verstohlene Blicke zu. Keiner traute sich, ihr ein beherztes „Doch!“ zuzurufen. Verdammt, sie waren einfach alle zu gut erzogen.
„Wunderbar!“, freute sich Frau Obermoser. „Sie sind die Besten! Und jetzt los. Auf nach Kitzbühel!“
Es gibt Momente im Leben, da muss man sich dem Schicksal geschlagen geben. Was war schon eine Nacht? Für das, was sie geplant hatten, blieb noch genug Zeit.
Beppi schob Manni vorsorglich einen Energieriegel in den Mund, damit er die Klappe hielt. Nicht-der-Hinterseer und Rudi schunkelten im Rhythmus von Hansi Hinterseers Ein kleines Edelweiß. Karl-Heinz zählte alle Anwesenden durch – er hatte einen Zählfimmel –, rückte seine Baskenmütze neckisch schief und ließ den Motor an.
Der Kleinbus machte einen Hops nach vorn, dann zuckelte er durch die Nacht.
Oben auf seinem Dach ruckelte der Schrankkoffer an den Halteseilen. Seine Ecken feuchtelten nicht länger, sie leckten.
Und zwar rot.
Blutrot …
Leo war seit exakt fünf Stunden und fünfzig Minuten 30 Jahre alt, und so richtig prickelnd fand sie das nicht. Deswegen würde sie heute auch nicht feiern. Allenfalls ein Bier zu Feierabend.
Sie pustete sich eine Locke aus dem Gesicht und marschierte den Einsiedeleiweg zügig hangabwärts. Spät dran. Wie immer.
Eigentlich hieß sie ja Luisa, aber schon beim Rausploppen aus dem Mutterleib – deutlich vor dem errechneten Geburtstermin während einer Zugfahrt – hatte sich gezeigt, dass sie gern sternzeichengerecht ihren eigenen Kopf durchsetzte. Und das Abenteuer liebte. So wurde aus Luisa bei allen, die sie als die Löwin kannten, die sie war, kurz Leo.
30. Sie hatte immer gedacht, mit 30 würde sie wissen, was sie vom Leben wollte. Da sei man halbwegs gesettelt. Sie hatte immer geglaubt, nach drei Jahrzehnten müsse klar sein, wohin man gehöre. Gerade als Löwin sollte sie sich bis dahin ihr eigenes Territorium erobert haben – und gut.
Aber nichts war weiter von ihrer derzeitigen Realität entfernt. Sie hatte ihr Studium geschmissen (zweimal), war ein paar Jahre mehr oder weniger ziellos durch die Welt gebackpackt und jobbte nun befristet als Zimmermädchen. Wäre ihre Großmutter – die sie nur aus den wenigen Ferienwochen ihrer Schulzeit kannte, weil sich die Mama mit der Oma böse entzweit hatte und die Mama (alleinerziehend) daraufhin über die Grenze ausgewandert war – nicht vor Kurzem gestorben, hätte sie jetzt nicht einmal ein Dach über dem Kopf. So war sie vor Kurzem nach Kitzbühel gekommen. Um den Nachlass zu regeln. Um herauszufinden, wie es für sie weitergehen sollte. Aber so richtig angekommen war sie noch nicht. Und ob sie nun in Kitz jobbte wie jetzt, oder an der französischen Riviera wie letztes Jahr, oder in Kopenhagen wie vorvorletztes Jahr – irgendwie schien ihr das Leben ein einziger Tempel der Ödnis und Langeweile.
Wenn sie so darüber nachdachte, wurde sie doch einen Ticken nervös. Was sollte aus ihrem Leben werden? Das konnte doch nicht ewig so luschig in der Schwebe bleiben.
Leo hätte sich keine Sorgen machen müssen. In den nächsten 48 Stunden würde das Universum eingreifen und die Richtung vorgeben. Was sie natürlich nicht wusste. Momentan sputete sie sich einfach, um noch halbwegs im Rahmen zu spät zur Arbeit zu kommen.
Kurz darauf wienerte sie das Bad der Sisi-Suite.
Den Job im altehrwürdigen Marchwardushof, einem der allerersten und allerbesten Beherbergungsbetriebe von Kitzbühel und benannt nach Marchwardus, der um 1180 zum ersten Mal Chizbuhel mit Tinte auf eine Urkunde gänsefederte, hatte Leo nur temporär, jetzt in der Zwischensaison. Und auch nur, weil niemand Qualifizierteres zu haben war. Wer jetzt fragt, wie viel Qualifikation es erfordert, Hotelzimmer sauber zu machen, hat das noch nie getan.
Leo hatte sich gut, sogar sehr gut eingearbeitet. Sie machte die Zimmer, reinigte den Poolbereich und half, wenn Not an der Frau war, auch nachmittags im Cafébereich aus. Herr Neuveille, der Hoteldirektor, hatte sie schon beim Einstellungsgespräch gefragt, ob sie nicht den Winter über bleiben wolle. Aber ganz ehrlich, wenn zur Skisaison wieder über 100.000 Verrückte in den kleinen 8000-Seelen-Ort einfielen, dann wollte Leo eher nicht im Hotel arbeiten. Es war so schon stressig genug. Fast alle guten Geister des Hauses waren in Urlaub, und von den Verbliebenen waren zwei krank. Ergo gab es – obwohl das Haus nur zur Hälfte belegt war – Stress.
Die Zwischensaisongäste wussten zwar, dass Zwischensaison war, erwarteten aber dennoch den vollen Service. Und zwar pronto. Erst gestern hatte um Viertel vor zehn ein Gast an die Tür zum Spa-Bereich geklopft – ach was, gehämmert – und Eintritt verlangt, obwohl das Spa erst um zehn öffnete. Und ein anderer hatte sie zur Kaffeestunde angepflaumt, als sie die verschiedenen Kuchenvarianten nicht alle namentlich aufzählen konnte. Pech, aber sie waren ihr in den fünf Minuten, die ihr blieben, um sich vom Poolgirl in eine Aushilfsbuffetkellnerin zu verwandeln, nicht persönlich vorgestellt worden.
Nee, das Hotel- und Gaststättengewerbe war auf Dauer nichts für sie.
Wenn Leo ihr erstes Studium nicht abgebrochen hätte, würde sie jetzt Pubertierende in Sport und Englisch unterrichten. Das wäre aber weder für die Kids noch für sie ein Vergnügen gewesen. Leo war nicht wirklich kompatibel mit Menschen. Wer ihr dumm kam, wurde gerissen wie eine Antilope. Da kam die Löwin in Leo durch. Darum war es rückblickend gut, dass sie auch ihr zweites Studium an den Nagel gehängt hätte. Die Vorstellung, dass sie als Psychologin Menschen in seelischer Not half, war lachhaft.
Und danach hatte Leo sich treiben lassen. War ein Jahr durch die Welt gebackpackt, hatte sich auf Hawaii von einem Surfer das Herz brechen lassen – und beim Bergsteigen in Nepal den linken Unterarm. Solange sie nicht wusste, was sie wollte, würde sie im Haus ihrer Oma bleiben. Schon immer wohnte Leos Familie in diesem – mittlerweile ziemlich windschiefen – Fachwerkhaus, das sich an den Hahnenkamm schmiegte. Beste Lage. Hätte man schon längst für einen Millionenbetrag verkaufen können. Grundstückswert, nicht für das windschiefe Hexenhäuschen, in dem man jedweden modernen Komfort vergeblich suchte. Immerhin hatte die Oma Anfang der siebziger Jahre ein Badezimmer einbauen lassen.
Und so war Leo an diesem kühlen Herbstmorgen, an dem die Wolken so tief hingen, dass man das Gefühl hatte, sie beinahe anfassen zu können, zügig zum Marchwardushof geeilt, der punktgenau an der Stelle stand, wo die „Vorderstadt“ auf die „Hinterstadt“ traf, im mehr als 700 Jahre alten Herzen des Ortes, wo sie um nur zehn Minuten zu spät ihren Dienst angetreten hatte und nun die Sisi-Suite putzte.
Das Einzige, was ihr in diesem drögen Einerlei half, war ihre Neugier. Hier zum Beispiel lag – unter zwei ordentlich gefalteten Handtüchern, als ob man es nicht sehen sollte – eine Heimwerker-Bibel auf dem Wasserkasten der Toilette. Noch in Folie eingeschweißt und mit dem Preisaufkleber Bücherklause Haertel direkt um die Ecke. Die Folie war allerdings an einer Seite aufgeschlitzt und jemand hatte einen gelben Post-it-Zettel hineingeschoben. Auf dem auch etwas stand. Man konnte es nur nicht lesen, weil es falsch herum hineingesteckt worden war. Leo schob ihren Zeigefinger unter die Folie und …
„Was machen Sie denn da?“, brummte plötzlich eine Männerstimme. Sie brummte ungnädig. Der dazugehörige Kerl fixierte sie wie ein Krokodil, das gleich eine zarte Antilope mit einem einzigen Happs verschlingen wollte.
Leo ließ vor Schreck das Buch fallen. Leider fiel es in die Kloschüssel, deren Deckel schon aufgeklappt war. Mit Putzmittel getränktes Wasser spritzte.
„Was fällt Ihnen ein, sich so an mich anzuschleichen?“, donnerte sie.
Wenn sie in ihren nunmehr 30 Jahren auf diesem Planeten eines gelernt hatte, dann das: Angriff war die beste Verteidigung!
„Äh …“
Leo war einen Meter achtzig groß, aber der Mann überragte sie um mehr als Kopfeslänge. Und war doppelt so breit wie sie. Außerdem war er im Recht: Es war sein Zimmer, und sie sollte das Bad nur wischen, nicht inspizieren.
„Haben Sie die grüne Kordel nicht gesehen?“, sagte sie und fischte das Buch aus der Toilette.
Wenn ein Zimmer gerade gereinigt wurde, hing eine grüne Kordel am Türknauf. Wobei natürlich auch der Wagen mit den Handtüchern und Seifen direkt neben der angelehnten Tür als Indiz dienen könnte.
„Sie müssen sich bemerkbar machen, wenn Sie hereinkommen!“ Leo sah ihn streng an.
„Äh …“
Zweite Lektion: Beim Verteidigungsangriff das Gegenüber nie zu Wort kommen lassen!
„Was glauben Sie denn, was ich hier tue? Ich wollte gerade den Wasserkasten freiräumen, um ihn sauberzuwischen.“ Hoffentlich meldete er sie nicht dem Direktor. Zimmermädchen mussten über jeden Verdacht des Herumschnüffelns erhaben sein. „In fünf Minuten bin ich fertig. Ich kann natürlich später wiederkommen, wenn Ihnen das lieber ist.“
Der Ton macht die Musik, und Leos Ton war – ungeachtet der Worte – eher Marschmusik als eine einschmeichelnde Mozartmelodie, wie sie die Hotelleitung für solche Eventualitäten eigentlich vorsah.
Er sah sie unsicher an. Wie so viele Raubtiere verwirrte es ihn, wenn sich ein Beutetier mit knallharter Selbstsicherheit zur Wehr setzte.
„Nein, bitte. Machen Sie nur Ihre Arbeit“, sagte er. „Ich rauche so lange eine Zigarette auf dem Balkon. Schon gut, ich nehme es so.“
Er nahm ihr das tropfende Buch ab und zog sich auf seinen Zimmerbalkon zurück.
Leo atmete tief aus. Nochmal gut gegangen. Sie wollte zwar ihren Vertrag nicht verlängern, aber eine fristlose Kündigung konnte sie jetzt auch nicht gebrauchen.
Jeden Morgen bekam sie den Belegungsplan, auf dem die Zimmer aufgeführt waren, die sie an diesem Tag reinigen musste. Darauf stand die Personenzahl pro Zimmer und ob eine Ab- oder Anreise anstand. Die Sisi-Suite war von zwei Männern belegt. Für sieben Nächte. Anfangs hatte Leo geglaubt, es müsse sich um ein schwules Pärchen handeln, möglicherweise ziemlich sicher auf Hochzeitsreise, denn die romantische Sisi-Suite wurde fast ausschließlich für diesen Zweck gebucht. Aber nachdem sie die beiden Herren zufällig vor zwei Tagen im Hotelflur in Augenschein hatte nehmen können, war eins klar: Schwul waren die nicht. Also, vielleicht doch, man wusste ja nie. Aber die beiden waren das lebende Stereotyp von zwei Hetero-Schlägern, die für ein Inkasso-Büro arbeiten. Oder für einen Mafiaboss Schutzgelder einsammeln. Etwas in der Art. Körperbau, Anzüge, Ausstrahlung – da konnte es gar keinen Zweifel geben. Vermutlich teilten sie sich nur die Sisi-Suite, weil alle anderen Suiten schon belegt waren und sie was Großes wollten, um nachts zusammen im neuesten Schlagring-Katalog zu blättern.
Leo linste um die Ecke und putzte dann weiter.
Und ja, um der Wahrheit die Ehre zu geben, sie hatte in der Suite herumgeschnüffelt. Schon vor dem Buch unter den Handtüchern. Die meisten Menschen versteckten Dinge, die die Zimmermädchen nicht finden sollten, unter den gefalteten Pullovern im Kleiderschrank. Oder in ihren Koffern. Leo hatte beim Öffnen der Koffer sehr darauf geachtet, dass da kein Haar absichtlich unabsichtlich über dem Reißverschluss lag. Aber in den beiden Carry-ons der Männer befand sich nur die Schmutzwäsche, unter ihren Pullis lagen nur weitere Pullis, und in den Kulturbeuteln hatte sie weiter nichts als das Übliche plus einer Revitalisierungscreme für Schütterhaarige gefunden.
Leo wischte zügig die Fliesen sauber, dann verließ sie mit einem „Schönen Tag noch!“ das Zimmer.
Zu ihrer Verteidigung kann nur gesagt werden, dass ihr Job eben total öde war. Und dass sie als Kind mit ihrer Mutter – die vor nun schon zehn Jahren bei einer Bergwanderung ums Leben gekommen war – immer Privatdetektiv gespielt hatte: verfolgen, aufspüren, deduzieren. Sie hatte es geliebt. Und die Mama auch.
Na gut, die beiden Schläger boten also nichts Interessanteres als eine heimliche Liebe zum Heimwerken. Die Hoffnung stirbt ja zuletzt. Vielleicht bot das nächste Zimmer eine faszinierende Abwechslung.
Leo sah auf den Belegungsplan. An der Tür zur großen Kaisersuite, in der sich eine arabische Familie einquartiert hatte, hing nun schon den dritten Tag in Folge das Bitte-nicht-stören-Schild.
Leo schob den Wagen mit den Putzutensilien und dem Nachschub an Handtüchern und Goodies über den rot-weiß karierten Teppichboden zur letzten Suite, der Bellevue-Suite. Belegung: eine Person. Abreise: noch offen. Das gab es auch nur in der Zwischensaison, dass sich jemand spontan überlegen konnte, wie lange er bleiben wollte.
„Housekeeping“, rief Leo und klopfte an die Zimmertür. Die im selben Bruchteil der Sekunde von dem weiblichen Gast der Suite aufgerissen wurde. Leo bekam beinahe einen Herzkasper. „Oh, Entschuldigung.“
„Nein, bitte, kommen Sie ruhig herein. Mein Zimmer hat es nötig.“
Leo sah über die Schulter der Frau. Wenn es ein Zimmer gab, das es nicht nötig hatte, dann dieses hier. Es sah nachgerade unbewohnt aus. Nirgends lag etwas herum, sogar die Betten waren schon gemacht. Sehr ungewöhnlich. Normalerweise ließen Hotelgäste das innere Ferkel raus, warfen ihre Klamotten überallhin, zielten mit den Abfällen auf den Papierkorb und scherten sich nicht, wenn sie ihn verfehlten, und vermittelten generell den Eindruck, als hätten sie eine Bombe hochgehen lassen. Weil, man musste ja nicht selbst aufräumen und putzen. Dieses Zimmer hier wirkte dagegen klinisch rein. Gehörte die Zimmerbewohnerin zu den Menschen, die auch zu Hause immer putzten, bevor die Putzfrau kam?
Aber auch, wenn Leo quasi nur die Betten machen und einmal über alle Oberflächen wischen musste, sie schätzte es nicht, wenn die Hotelgäste während des Reinigungsvorgangs anwesend waren. „Ich will Sie nicht stören. Ich komme später wieder.“
„Nein, nein. Es passt gerade gut. Bitteschön. Im Bad müssen Sie nichts machen. Nur die Papierkörbe leeren. Und den Aschenbecher auf dem Balkon.“
Die Frau trat zur Seite, um Leo einzulassen. Sie war auf den ersten Blick in Leos Alter, aber das wollte nichts heißen. Die Optik konnte täuschen. Letzte Woche hatte Leo in der Douglas-Filiale drei Blondinen gesehen, die sie von hinten für Drillinge gehalten hatte. Erst als sie an ihnen vorbei zur Kasse ging, wurde ihr klar, dass es sich um Großmutter, Mutter und Enkelin handelte. Drei Russinnen, die zweifelsohne sehr viel Geld in diese mehr oder weniger gelungene Täuschung investiert haben mussten.
Leo seufzte, trat ein und leerte als Erstes die Papierkörbe. Die Frau hatte den kleinen Maiereimer aus dem Bad geholt und die Badezimmertür geschlossen. Leo wollte den geleerten Mülleimer wieder ins Bad stellen, da rief sie: „Schon gut. Ins Bad müssen Sie nicht. Die Handtücher benutze ich alle nochmal.“
„Ich sollte aber …“, fing Leo an.
„Ins Bad müssen Sie nicht!“, erklärte die Frau final.