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Große Schriftstellerinnen wie Patricia Vandenberg, Gisela Reutling, Isabell Rohde, Susanne Svanberg und viele mehr erzählen in ergreifenden Romanen von rührenden Kinderschicksalen, von Mutterliebe und der Sehnsucht nach unbeschwertem Kinderglück, von sinnvollen Werten, die das Verhältnis zwischen den Generationen, den Charakter der Familie prägen und gefühlvoll gestalten. Mami ist als Familienroman-Reihe erfolgreich wie keine andere! Seit über 40 Jahren ist Mami die erfolgreichste Mutter-Kind-Reihe auf dem deutschen Markt! Stefanie Dannhoff und ihre Tochter Bianca waren auf dem Wochenmarkt. Während die Mutter Salat und Mohrrüben kaufte, beschäftigte sich die fünfjährige Bianca mit dem benachbarten Blumenstand. In großen Kübeln standen dort die schönsten Blumen. Unendlich vorsichtig betastete die Kleine eine langstielige Rose, zuckte mit den Fingern, als sie die Dornen fühlte und lächelte selig, als ihre Fingerkuppen die samtweichen Blütenblätter erreichten. »Sie riechen gut, Mutti«, sagte sie glücklich. »Sie riechen rosa.« »Sie sind aber gelb, Bianca«, entgegnete die Mutter. »Die Farbe kann man nicht riechen.« »Aber fühlen?« »Nein, auch nicht fühlen.« »Willst du mal die Rosen in Ruhe lassen!« schimpfte die Marktfrau und unterbrach damit das Zwiegespräch zwischen Mutter und Tochter. »Wo käme ich hin, wenn alle Leute an den Rosen herumfingerten«, fuhr sie ärgerlich fort. »Ich will sie ja kaufen«, sagte Stefanie Dannhoff schnell und fragte nach dem Preis. »Geben Sie mir drei Stück«, sagte sie dann nach einigem Zögern.
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Seitenzahl: 145
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»Morgen früh beginnt für mich wieder der Alltag«, seufzte Peter Schellmann. »Da heißt es, am Zeichentisch zu stehen und die Pläne meines Chefs auszuarbeiten.« »Ist dein Chef ein Ekel?«, erkundigte sich Peters siebenjähriger Bruder Ulrich neugierig. »Nein, Herr Zinner ist kein Ekel. Im Gegenteil, er ist ausgesprochen freundlich. Ich kann mich glücklich schätzen, dass ich in Oswald Zinners Bauun¬ternehmen untergekommen bin, obwohl …« »Obwohl – was?«, fragte Ulrich, als Peter stockte und nicht gesonnen schien weiterzusprechen. »Nichts«, entgegnete der junge Architekt einsilbig. Er fand, es hatte keinen Sinn, dem kleinen Bruder etwas vorzujammern. Während seines Studiums hatte er teils von kühnen Brückenkonstruktionen, die reißende Urwaldflüsse überspannten, geträumt, teils von atemberaubenden Prachtbauten, die weltweite Bewunderung und Anerkennung gefunden hatten. Natürlich hatte er schon damals gewusst, dass seine Chance, diese Träume zu verwirklichen, gering war, und war durchaus bereit gewesen, sich mit weniger anspruchsvollen Aufgaben zufriedenzugeben. Nur hätte er gern irgendeinen greifbaren Erfolg seiner Arbeiten gesehen. Oswald Zinners Bauvorhaben schienen jedoch über das Planungsstadium nicht hinauszukommen. Was will ich eigentlich?, fragte sich Peter. Die Firma war neu, erst vor kurzem gegründet.
Stefanie Dannhoff und ihre Tochter Bianca waren auf dem Wochenmarkt. Während die Mutter Salat und Mohrrüben kaufte, beschäftigte sich die fünfjährige Bianca mit dem benachbarten Blumenstand. In großen Kübeln standen dort die schönsten Blumen. Unendlich vorsichtig betastete die Kleine eine langstielige Rose, zuckte mit den Fingern, als sie die Dornen fühlte und lächelte selig, als ihre Fingerkuppen die samtweichen Blütenblätter erreichten.
»Sie riechen gut, Mutti«, sagte sie glücklich. »Sie riechen rosa.«
»Sie sind aber gelb, Bianca«, entgegnete die Mutter. »Die Farbe kann man nicht riechen.«
»Aber fühlen?«
»Nein, auch nicht fühlen.«
»Willst du mal die Rosen in Ruhe lassen!« schimpfte die Marktfrau und unterbrach damit das Zwiegespräch zwischen Mutter und Tochter.
»Wo käme ich hin, wenn alle Leute an den Rosen herumfingerten«, fuhr sie ärgerlich fort.
»Ich will sie ja kaufen«, sagte Stefanie Dannhoff schnell und fragte nach dem Preis.
»Geben Sie mir drei Stück«, sagte sie dann nach einigem Zögern. Bianca durfte die Rosen heimtragen. Zufrieden schnupperte sie an den Blüten.
»Sie waren dir zu teuer, nicht wahr?« sagte sie leise und hob ihr Gesicht zur Mutter.
»Ein wenig teuer waren sie schon. Aber sie machen dir Freude, ja? Nur darauf kommt es an.«
Wer die beiden sah, die zarte junge Frau und das fröhlich plappernde Kind an ihrer Seite, der glaubte wohl, ein ungetrübtes Glück vor sich zu haben. Konnte eine Mutter liebevoller mit ihrem Kind umgehen, und gab es Kinder, die sich so zärtlich an ihre Mutter anschlossen? Doch dieser Schein trog. Zwar liebten sich Mutter und Kind von Herzen, aber auf ihrem Glück lastete ein schwerer Schatten.
Bianca Dannhoff war blind.
Sie war es nicht von Geburt an. Als Baby hatte sie die ganze Verwandtschaft mit ihren samtbraunen Augen entzückt. Ihr Vater war stolz, wenn sie bei seinem Anblick vor Freude krähte und seine Bewegungen interessiert mit den Augen verfolgte. Als Bianca zwei Jahre alt war, griff das Schicksal unerbittlich in das Leben dieser jungen Familie ein.
Von einer Stunde zur anderen… nein, in einer winzigen Sekunde geschah es, daß Stefanies Glück sich in Schmerz und Leid verwandelte. Ein Autounfall nahm ihr den geliebten Mann und der kleinen Bianca das Augenlicht. Nur Stefanie blieb wie durch ein Wunder unverletzt.
Anfangs war sie wie erstarrt, doch dann begriff sie, daß sie kein Recht hatte, sich ihrer Trauer hinzugeben. Sie wurde ja gebraucht. Sie mußte ihr Kind für ein Leben erziehen, das schwer sein würde. Sie mußte es lehren, sich in einer Welt ohne Licht zurechtzufinden.
»Warum hast du der bösen Marktfrau nicht gesagt, daß ich blind bin, Mutti?« fragte Bianca ihre Mutter. »Dann hättest du die teuren Rosen nicht kaufen brauchen. Sie muß doch wissen, daß ein Blinder mit seinen Fingern das fühlen muß, was andere sehen können.«
Stefanie zog ihr Kind zärtlich zu sich heran.
»Du weißt doch, Kleines, daß ich es fremden Leuten nicht gern erzähle. Man merkt es dir nicht gleich an, und das ist gut so. Niemand soll dich bedauern, niemand soll dir Steine aus dem Weg räumen vor lauter Mitleid. Sie sollen dich behandeln, wie sie jedes normale Kind behandeln, auch wenn du einmal unverdient Schelte bekommst, wie eben.«
»Wenn ich groß bin, kann ich dann wieder sehen, Mutti?«
»Ich weiß es nicht, Bianca. Niemand kann es mit Sicherheit sagen, auch der Arzt nicht. Darum wollen wir uns nicht auf ein Wunder verlassen. Wir wollen lieber alles tun, was notwendig ist, damit du dich in der Welt zurechtfindest. Bald kommst du in eine Blindenschule und lernst dort lesen und schreiben, bis du richtige Bücher in Blindenschrift lesen kannst. Später sollst du in eine normale Schule gehen. Dort wirst du merken, daß du vieles besser kannst als die anderen Kinder.«
»Und wenn doch ein Wunder passiert, Mutti?«
Hilflos streichelte Stefanie dem Kind über den Kopf. Tränen standen ihr in den Augen. Sie wagte nicht zu antworten. Sie wußte ja, wie sensibel Bianca war. Jede kleine Schwankung in ihrer Stimme wurde von ihr erfaßt, jeder Kummer gefühlt.
»Das muß sehr lustig sein, wenn ich plötzlich alles sehen kann, was ich bisher nur hören konnte«, redete Bianca weiter. »Ob wohl Herr Meier vom Kiosk so dick ist, wie ich ihn mir vorstelle und wie wohl Schnuppi aussieht, der immer an mir hochspringt? Aber eins weiß ich bestimmt…«
»Ja?« fragte Stefanie gequält.
»Daß du schön bist, Mutti. Ich habe dich so oft gestreichelt. Ich weiß genau, wie du aussiehst.«
Mutter und Tochter hatten das Haus erreicht, in dem sie wohnten. Stefanie war froh, weiteren bohrenden Fragen ihres Kindes vorerst zu entgehen. Sie verabschiedete sich von Bianca, weil sie einen Termin beim Zahnarzt hatte.
»Ich muß dich allein lassen, Kleines«, sagte sie. »Aber ich bleibe nicht lange fort, höchstens eine halbe Stunde. Wirst du brav und vernünftig sein?«
Bianca versprach es hoch und heilig.
»Vor allem, geh nicht an die Tür, wenn es läutet. Wer etwas von uns will, soll wiederkommen, wenn ich auch zu Hause bin.«
Auch das versprach Bianca.
»Ich höre mir eine Märchenkassette an, Mutti«, sagte sie. »Dann vergeht die Zeit ganz schnell.«
Stefanie legte das Märchen vom häßlichen jungen Entlein in den Recorder. Bianca liebte diese Geschichte ganz besonders.
Stefanie Dannhoff war kaum zehn Minuten fort, als es an der Tür läutete, Bianca erschrak und verhielt sich mucksmäuschenstill. Aber der Märchenerzähler auf ihrer Kassette schwieg nicht, so daß der Besucher glauben mochte, es sei ein Erwachsener in der Wohnung. Es läutete noch einmal, diesmal länger und energischer.
Bianca ging zur Tür, öffnete aber nicht.
»Wer ist da?« fragte sie.
»Ich bin Bodo Klettner, ich wohne seit kurzem in der Wohnung im ersten Stock, genau über eurer Wohnung.«
Die Männerstimme draußen im Treppenhaus war warm und ruhig. Bianca kannte sich in Stimmen aus, Diese gefiel ihr. Etwas mutiger antwortete sie: »Meine Mutti ist im Augenblick nicht hier. Können Sie in einer halben Stunde noch einmal kommen?«
»Eigentlich wollte ich ja zu dir.«
»Zu mir?«
»Ja. Ich möchte dich für übermorgen nachmittag einladen, zu Kakao und Kuchen und natürlich auch zum Spielen. Ich erwarte nämlich Besuch. Ein Junge ist dabei, der kaum älter ist als du. Was meinst du? Möchtest du ihm Gesellschaft leisten? Natürlich müßte es deine Mutti erlauben.«
Bianca hatte jetzt ihre Scheu ganz verloren. Eine Einladung? Das war wunderbar. Vorsichtig öffnete sie die Wohnungstür, ließ aber die Sicherheitskette zu. Mit Wohlgefallen betrachtete Bodo Klettner das kleine Mädchen. Welch ein hübsches Kind. Sie hatte ihre braunen Augen auf ihn gerichtet.
»Ich denke schon, daß wir kommen werden«, sagte Bianca würdevoll. »Mutti mag es, wenn ich andere Kinder kennenlerne. Wir haben in dieser Woche auch nichts anderes vor.«
»Wir?« fragte Bodo Klettner überrascht. »Wer kommt denn noch? Ich hatte dich eingeladen, mein Kind.«
»Ich heiße Bianca Dannhoff«, holte die Kleine die versäumte Vorstellung nach. »Aber ich komme nicht ohne Mutti. Ich gehe nirgendwohin ohne sie.«
»Eigentlich bist du groß genug, daß du auch mal ohne deine Mutti auf eine Kinderparty gehst. Vielleicht versuchst du es übermorgen einmal. Ich kaufe auch den Kuchen, den du magst. Oder ist dir Eis lieber?«
»Warum wollen Sie Mutti nicht auch einladen?«
»Weil…, ach, das verstehst du nicht, Bianca. Nun gut, ich werde mit deiner Mutti sprechen. Und nun mach die Tür wieder fest zu. Nicht alle Besucher kommen mit einer Einladung.«
Damit ging der neue Hausbewohner. Bianca hörte, wie sich seine Schritte nach oben entfernten. Sie hörte auch noch, wie sich ein Schlüssel im Schloß drehte. Ob Mutti ihr erlauben würde, die Einladung anzunehmen? Bianca hoffte es von Herzen.
Schon am Abend suchte Bodo Klettner Stefanie Dannhoff auf. Sie hatte Bianca bereits ins Bett gebracht. Das Kind war sofort eingeschlafen, so hatte sie Zeit für den Besucher.
»Ich wohne seit vierzehn Tagen in der Wohnung über Ihnen. Ich möchte mich vorstellen und hoffe auf gutnachbarschaftliche Beziehungen im Haus. Ich habe Sie des öfteren mit Ihrer kleinen Tochter gesehen. So kam ich auf den Gedanken, sie zu mir einzuladen.«
»Bianca hat mir bereits davon erzählt. Vielen Dank dafür, Herr Klettner.«
»Wird sie kommen? Werden Sie ihr das erlauben? Bianca sagte mir, sie käme nur zusammen mit Ihnen. Das hat mich verwundert. Es ist nämlich so: Meine Verlobte besucht mich morgen zum erstenmal in diesem Haus. Sie bringt auch ihren Sohn Jan mit, den ich noch nicht kenne, da er bislang bei den Großeltern lebte. Es hängt viel für mich davon ab, ob sich Jan bei mir wohl fühlt.«
»Sollten Sie sich nicht besser um den Jungen kümmern?« warf Stefanie ein. »Ein fremdes Kind könnte den Kontakt zu dem künftigen Vater stören.«
»Das muß nicht sein«, entgegnete Bodo Klettner. »Im Gegenteil. Ich habe viele Dinge mit meiner Verlobten zu besprechen, Dinge, die den Jungen langweilen würden. Da dachte ich…, da meinte ich…«
»Daß Jan eine Spielgefährtin brauchte«, ergänzte Stefanie lächelnd.
»So ist es. Ich habe Sie in den vergangenen Tagen öfter mit Bianca gesehen. Ingrid und Jan werden auch bald hier im Haus wohnen. Wäre es nicht gut, wenn sich die Kinder schon kennenlernten?«
»Und bei diesem Zusammensein würde ich natürlich stören«, bemerkte Stefanie.
»Nun ja«, sagte er schließlich verlegen. »Ingrid ist ein wenig eifersüchtig. Sie würde es nicht verstehen, warum ich eine weitere Dame zu unserem Treffen einlade. Auch hätte ich nicht erwartet, daß eine Fünfjährige eine ständige mütterliche Begleitung braucht, sonst…« Bodo brach ab. In was für eine peinliche Situation war er da geraten!
»Aus all Ihren Worten entnehme ich, daß Sie die Wahrheit nicht ahnen, Herr Klettner«, sagte Stefanie ruhig. »Bianca ist blind. Nur deshalb bin ich auf Schritt und Tritt bei ihr. Ich muß ihr das verlorene Augenlicht ersetzen. Ich muß für sie sehen, verstehen Sie.«
Minutenlang schwieg Herr Klettner.
»Das habe ich nicht gewußt«, sagte er mühsam und wünschte, er hätte nie einen Schritt in die Dannhoffsche Wohnung getan. »Entschuldigen Sie mich bitte. Vergessen Sie die Einladung. Es war dumm von mir…«
»Bianca freut sich darauf«, antwortete Stefanie. Zum erstenmal während ihres Gesprächs lächelte sie, was ihr Gesicht verschönte und verjüngte.
»Vielleicht sollten wir es einmal versuchen, Bianca allein gehen zu lassen. Eis ist hier so günstig wie sonst nie. Es ist keine große Kindergesellschaft, in der sie sich verloren vorkommen müßte. Auf ein einzelnes Kind kann sie sich besser einstellen. Die Wohnung oben hat die gleiche Raumeinteilung wie unsere. Sie wird sich gleich heimisch fühlen. Ich begrüße es außerdem sehr, wenn sie selbständiger wird, wenn sie Kinder und andere Erwachsene kennenlernt. Was soll schon passieren? Wenn Ihre Einladung auch für ein blindes kleines Mädchen gilt, dann erlaube ich ihr gern, auch ohne mich zu Ihnen zu kommen.«
»Danke«, sagte Bodo Klettner. »Danke für das Vertrauen. Ich werde Bianca betreuen wie ein eigenes Kind. Übrigens…, ich bin Lehrer, sagte ich es nicht schon?«
»Bisher noch nicht«, lachte Stefanie. »Nun weiß ich doch, warum Bianca Sie gleich mochte. Sie hat ein Gespür für die richtigen Leute. ›Seine Stimme hat mir gefallen‹, sagte sie mir, als ich zurückkam.«
»Sie macht mich ganz verlegen«, meinte Bodo. »Ja, ich liebe Kinder, aber das ist in meinem Beruf wohl selbstverständlich. Vor allem solche Kinder, die vom Schicksal benachteiligt sind. Ich meine, daß ich alles tun müßte, um ihnen ihr Los zu erleichtern.«
Stefanie holte eine Flasche Wein aus dem Kühlschrank, die dort schon seit Wochen auf die besondere Gelegenheit wartete.
»Trinken wir auf die gute Nachbarschaft!« sagte sie, als sie Bodo das erste Glas reichte. »In meine Wünsche schließe ich natürlich Ihre Verlobte und den kleinen Jan mit ein. Ich hoffe, daß sie sich beide hier gut einleben. Vielleicht entwickelt sich zwischen Jan und Bianca eine Kinderfreundschaft.«
»Ich trinke auf meine Gastgeberin«, entgegnete Bodo und hob sein Glas. »Auf Sie und auf die kleine Bianca! Vielleicht kann sie geheilt werden. Man soll nie niemals sagen.«
Ein Schatten fiel über Stefanies zartes Gesicht.
»Danke für Ihre Wünsche. Aber… die Hoffnung ist gering. Unser Hausarzt verfolgt alle Veröffentlichungen auf diesem Gebiet und informiert mich, wenn es neue Operationsverfahren gibt. Es ist natürlich auch ein finanzielles Problem. Doch bis es soweit ist, will ich Biancas seelische Kräfte stärken. Sie soll sich nicht als zweitklassig empfinden. Gut, im Augenblick kann sie nicht sehen. Aber sie kann trotzdem lesen und schreiben lernen, sie kann Schulen besuchen und studieren. Vieles fühlt sie besser als andere sehen.«
»Sie sind sehr tapfer«, murmelte Bodo Klettner.
»Bianca ist tapfer«, erwiderte Stefanie Dannhoff. »Ich tue nur meine Pflicht. Nicht ich gebe ihr etwas; sie ist es, die mich beschenkt. Das, was mir zuerst als Unglück erschien, hat mein Leben völlig verwandelt und bereichert.«
»Entschuldigen Sie«, sagte Bodo voller Mitgefühl. Behutsam lenkte er das Gespräch auf weniger schmerzliche Themen. Als Bodo sich an diesem Abend verabschiedete, hatte Stefanie das Gefühl, einen guten Freund gewonnen zu haben.
*
Schon am nächsten Abend besuchte Bodo Klettner seine Verlobte in Hildesheim. Die junge Fotografin bewohnte dort ein elegantes Apartment. Die Einrichtung verriet den extravaganten Geschmack der Besitzerin.
Als Bodo klingelte, öffnete ihm Ingrid überrascht. Ihr Gesicht war mit einer Schaummaske bedeckt, und ihr Haar steckte unter einem Turban, den sie aus einem Frottiertuch gebunden hatte.
»Du, Bodo?« fragte sie überrascht.
»Ja, ich. Das klingt aber nicht sehr erfreut.«
»Ich sehe im Augenblick wohl nicht sehr attraktiv aus.«
»Du bist immer schön, Ingrid. Die Sehnsucht hat mich hergetrieben. Ich dachte daran, daß wir beide einen einsamen Abend vor uns haben. Das wollte ich ändern, darum bin ich hier. Sekt habe ich mitgebracht.«
»Das ist gut«, sagte sie zufrieden. »Ich habe nämlich nur Mineralwasser im Kühlschrank.«
Bodo ließ sich in einem der weißen Ledersessel nieder und streckte seine Beine aus. Geduldig wartete er, bis Ingrid ihre Toilette beendet hatte und sich in einem grünen Seidenkaftan auf seine Sessellehne setzte.
»Die Begrüßung!« forderte sie ihn auf.
Zärtlich schlang er seine Arme um ihre schmale Gestalt und küßte sie mitten auf den Mund. Es war wie immer.
Aus einer anfänglichen kühlen Begegnung erwachte schon bald eine heftige Leidenschaft, die sie beide mitriß und die ihnen jede Besinnung raubte. Hatte er nicht einige wichtige Dinge mit seiner künftigen Frau besprechen wollen?
Sie wischte seine Bedenken beiseite.
»Ach was«, sagte sie und schmiegte sich an seine Brust. »Die Liebe ist wichtiger als alles andere. Reden können wir noch, wenn wir Urgroßeltern sind. Jetzt sind wir jung und lieben uns. Kann es Schöneres geben?«
Es war schon spät, als er sich aus Ingrids Armen löste.
»Ich sollte jetzt wohl heimfahren«, murmelte Bodo und setzte sich auf.
»Jetzt noch?« fragte sie enttäuscht. »Kannst du nicht morgen früh fahren? Wir wollen doch auch noch Sekt trinken. Danach darfst du sowieso nicht mehr Auto fahren.«
»Ich bin vorsichtshalber mit der Bahn gekommen.«
»Du denkst wohl immer schon vorher an alles?« fragte sie vorwurfsvoll. »Kannst du nicht einmal improvisieren und den Eingebungen des Augenblicks folgen?«
»Natürlich kann ich das auch. Daß ich heute abend hier bin, beweist es doch wohl. War er nicht schön, dieser Abend?«
»Zauberhaft«, sagte sie gähnend und kuschelte sich in seine Arme.
»Es gibt Augenblicke, da liebe ich dich wahnsinnig«, fuhr sie fort.
»Es gibt Augenblicke…«, sagte er nachdenklich. »Und was ist mit der anderen Zeit? Liebst du mich nicht immer?«
»Natürlich«, lachte sie und zauste ihn in seinem Haar. »Aber wir sind nicht immer zusammen. Du hast deinen Beruf und ich habe meinen. Du bist in Hannover, ich in Hildesheim.«
»Das wird sich doch bald schon ändern, Ingrid. Meinst du nicht auch?«
»Wie stellst du dir das vor? Soll ich mein Atelier aufgeben oder nur noch Hausfrau sein?«
»Irgendeinen Kompromiß werden wir finden müssen.«
»Aber nicht jetzt«, wich sie aus.
Es war wie immer. Die Leidenschaft führte sie zusammen, sie waren glücklich, wenn sie einander nah waren. In den Armen des anderen empfanden sie das ganze Glück ihrer Liebe. Doch immer wieder wurden sie von der Gegenwart eingeholt, einer Gegenwart, die ihnen Fragen stellte. Sie mußten Entscheidungen treffen und schoben sie immer wieder zurück.
»Ich hole jetzt den Sekt«, schlug Bodo vor.
Während Bodo die Gläser holte und die Flasche entkorkte, hatte Ingrid eine Kerze angezündet und eine Platte aufgelegt.
»Parlez-moi d’amour«, klang es leise durch den Raum.
»Sprich mir von Liebe«, flüsterte Ingrid andächtig. »Es ist unser Lied, Bodo.«
Er hob das Glas und trank ihr zu.
»Ich würde auch gern von Heirat sprechen«, sagte Bodo vorsichtig. Er wußte, daß Ingrid über dieses Thema nur ungern sprach. Auch diesmal war es nicht anders.