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Claus Fussek

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Beschreibung

Schlechte Pflege ist Folter! Sie werden ans Bett gefesselt, obwohl sie noch gehen können und kommen nie an die frische Luft. Ihnen werden Windeln verpasst, obwohl sie noch auf die Toilette gehen könnten, und sie haben niemand, der ihnen in der Todesstunde die Hand hält. – Wie man bei uns mit alten und pflegebedürftigen Menschen umgeht ist ein Skandal! "Ein wichtiges, gut recherchiertes Buch – eine erschreckende Bilanz. Eindrucksvoll und schonungslos berichten die Autoren über den oft gnadenlosen Umgang mit alten und wehrlosen Menschen." Christine Lüders, Leiterin der Antidiskriminierungsstelle des Bundes "Es stimmt alles, es kommt auf jeden zu!" Dieter Hildebrandt, Kabarettist

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Claus Fussek / Gottlob Schober

Es reicht!

Auch alte Menschen haben Rechte.Deutschlands bekannteste Pflegekritiker klagen an

Knaur e-books

Inhaltsübersicht

EinführungDer alte Großvater und der EnkelDie PolitikDie Pflege-ChartaGrund- und Menschenrechte für alte und pflegebedürftige Menschen1. Grundrecht auf ausreichend Essen und Trinken und ausgewogene Ernährung2. Grundrecht auf Bewegung und frische Luft3. Grundrecht auf Toilettengänge4. Grundrecht auf Schutz und Sicherheit auch in der Nacht5. Grundrecht auf einen angstfreien Lebensabschnitt und geschlechtsspezifische Pflege6. Grundrecht auf das Verbot pflegeerleichternder Maßnahmen7. Grundrecht auf eine angemessene Medikamentenversorgung8. Grundrecht auf menschenwürdige Pflegequalität: Pflegekräfte müssen »Schutzengel« der alten Menschen sein9. Grundrecht auf palliativgeriatrische Versorgung und Hospizkultur10. Grundrecht auf altersspezifische haus- und fachärztliche Versorgung in Heimen11. Grundrecht auf altersspezifische pflegerische und ärztliche Versorgung in Krankenhäusern12. Grundrecht auf Kommunikation und Grundrecht auf Wahrung religiöser und kultureller Bedürfnisse13. Grundrecht auf Einzelzimmer14. Grundrecht auf aktivierende Pflege, Prävention und Rehabilitation15. Grundrecht auf den Einsatz auch osteuropäischer Pflegekräfte oder Haushaltshilfen, wenn eine Versorgung mit deutschen Helfern weder organisierbar noch bezahlbar ist16. Grundrecht auf ständige Überprüfung der Eignung von gesetzlichen Betreuern17. Grundrecht für die Gleichbehandlung von Demenzpatienten mit allen anderen Pflegebedürftigen18. Grundrecht auf Assistenz von Demenzpatienten im Krankenhaus19. Grundrecht auf eine angemessene Beschwerdekultur20. Grundrecht auf Plagiate: Schlechte Einrichtungen müssen gut geführte Einrichtungen zum Nutzen pflege- bedürftiger Menschen kopieren dürfenForderungen und Sofortmaßnahmen1. Die genannten Grundrechte der alten Menschen sind nicht verhandelbar. Sie müssen juristisch einklagbar sein!2. Die finanzielle Benachteiligung pflegender Angehöriger muss sofort beendet werden!3. Die Pflegeausbildung muss dringend und nachhaltig verbessert werden!4. Die »Nationale Stelle zur Verhütung von Folter« muss finanziell besser aus-gestattet werden!5. Alte und wehrlose Menschen müssen besser vor gierigen Kindern und Erben geschützt werden!6. Wir fordern kreative und unbürokratische kommunale Lösungen für alte, pflegebedürftige und demente Menschen!7. Wir fordern Transparenz im »Pflege- dschungel«: Die unerträgliche Verflechtung von Politik, Lobbyisten und der Pflegewissenschaft muss endlich offengelegt und beendet werden!8. Systematische Dokumentenfälschungen und Pflegebetrug müssen streng bestraft werden!9. Wir fordern die Abschaffung des Pflege-TÜV: Das bisherige System der »MDK-Bestnoten« ist Augenwischerei!AusblickWir können uns menschenwürdige Pflege leisten. Wir müssen sie nur wollen. Ein Streitgespräch zwischen zwei großen Pflege-ChefsWir können uns menschenwürdige Pflege leisten. Wir müssen sie nur wollen. Ein Streitgespräch zwischen zwei großen Pflege-ChefsFazitEin kabarettistisch-ernster Zwischenruf von Dieter HildebrandtDank
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Einführung

Der alte Großvater und der Enkel

Es war einmal ein steinalter Mann, dem waren die Augen trüb geworden, die Ohren taub, und die Knie zitterten ihm. Wenn er nun bei Tische saß und den Löffel kaum halten konnte, schüttete er Suppe auf das Tischtuch, und es floss ihm auch etwas wieder aus dem Mund. Sein Sohn und dessen Frau ekelten sich davor, und deswegen musste sich der alte Großvater endlich hinter den Ofen in die Ecke setzen, und sie gaben ihm sein Essen in ein irdenes Schüsselchen und noch dazu nicht einmal satt; da sah er betrübt nach dem Tisch, und die Augen wurden ihm nass. Einmal auch konnten seine zitterigen Hände das Schüsselchen nicht festhalten, es fiel zur Erde und zerbrach. Die junge Frau schalt, er sagte aber nichts und seufzte nur. Da kauften sie ihm ein hölzernes Schüsselchen für ein paar Heller, daraus musste er nun essen. Wie sie da so sitzen, so trägt der kleine Enkel von vier Jahren auf der Erde kleine Brettlein zusammen. ›Was machst du da?‹, fragte der Vater. ›Ich mache ein Tröglein‹, antwortete das Kind, ›daraus sollen Vater und Mutter essen, wenn ich groß bin.‹ Da sahen sich Mann und Frau eine Weile an, fingen endlich an zu weinen, holten alsofort den alten Großvater an den Tisch und ließen ihn von nun an immer mit essen, sagten auch nichts, wenn er ein wenig verschüttete.

Jacob Grimm 1785–1863) und Wilhelm Grimm 1786–1859)

Schon zu Zeiten der Gebrüder Grimm hatten es die alten Menschen nicht leicht, wie das Märchen vom alten Großvater und seinem Enkel zeigt. Bis heute hat sich daran kaum etwas geändert. Verantwortlich für die Versorgung der Bedürftigen waren damals ausschließlich die Angehörigen. Auch wenn es heute professionelle Pflegekräfte und Heime gibt: Verantwortung, dass es den pflegebedürftigen Menschen gutgeht, tragen Angehörige immer noch. Wenn die »Alten« heute im Heim sprichwörtlich mit einem Holzschüsselchen ins Eck gesetzt werden, müssen sie dafür sorgen, dass ihre Eltern und Großeltern wieder an den Tisch kommen. Wenn Pflegekräfte überfordert und überlastet sind, dürfen Angehörige das nicht dulden, sondern sie müssen sich bei der Heimleitung beschweren. Angehörige tragen für hilfebedürftige Menschen auch dann Verantwortung, wenn Pflegekräfte ihrer Arbeit nicht im Sinne der Bewohner nachkommen (können) und vor dem vielfach menschenverachtenden Pflegesystem am liebsten davonlaufen möchten. Angehörige müssen ganz genau hinsehen. Das sind sie ihren Eltern und Großeltern schuldig.

Es kann doch nicht sein, dass Bewohner in einem Pflegeheim morgens auf den Toilettenstuhl gesetzt und aufgefordert werden, Urin und Stuhl auszuscheiden, gleichzeitig aber frühstücken sollen. Was hat das noch mit Menschenwürde zu tun? Warum werden Hilfebedürftige im Minutentakt versorgt? Warum gelten einfühlsame Gespräche als nicht finanzierbar? Warum zwingt das System Pflegekräfte, mehr Leistungen zu dokumentieren, als sie tatsächlich erbracht haben? Warum akzeptieren Politik und Gesellschaft den systematischen Betrug an pflegebedürftigen Menschen? Die Geschichte der Gebrüder Grimm ist heute so aktuell wie damals.

Uns liegen mittlerweile rund 50000 Briefe, E-Mails und telefonische Beschwerden von Angehörigen, Pflegekräften und anderen Beteiligten aus der Pflegebranche vor. Wenn man sie alle liest oder den Menschen einfach nur zuhört, bekommt man einen erschütternden Eindruck von einer »Pflegeindustrie«, in deren Fänge über kurz oder lang jeder von uns kommen kann. Die Qualität der Pflege hat sich seit den Brüdern Grimm kaum verändert und wenn überhaupt, dann zum Schlechten hin. Denn: Alte Menschen dürfen heute häufig nicht einmal mehr aus dem Schüsselchen essen. Man ernährt sie über Magensonden und Infusionen und nimmt ihnen so auch das letzte Stück Würde, nur weil man sich damit die Pflege erleichtert. Das macht betroffen, und deshalb heißt unsere Forderung: »Es ist genug! Auch alte Menschen haben Rechte.«

Bitte versetzen Sie sich einmal in die Situation behinderter, hilfebedürftiger, kranker, sterbender, besonders schutzbedürftiger alter Menschen und denken Sie daran, dass uns das Thema »Altenpflege« früher oder später alle betrifft. Wollen Sie irgendwann einmal in einem Pflegeheim untergebracht werden? Wollen Sie dauerhaft mit wildfremden Menschen ein Doppel- oder Mehrbettzimmer teilen? Wollen Sie in ein paar schnellen Minuten gepflegt und »abgefertigt« werden? Was glauben Sie, wie Sie sich fühlen, wenn Sie eine Pflegekraft im Akkord wäscht, kämmt und Sie dabei vor lauter Stress nur noch im Kasernenton anbrüllt, anstatt mit Ihnen ein paar freundliche Worte zu wechseln? Wie würden Sie reagieren, wenn Ihre Pflegekraft nicht einmal Deutsch spricht? Wie wäre das, wenn ein Pfleger Ihnen keine Zeit zum Verrichten Ihrer Notdurft lässt, weil er zum nächsten Patienten muss? Wenn er Ihnen dann Windeln verpasst, weil er keine Zeit hat, Sie zur Toilette zu begleiten? Sie wollen das alles nicht!

Wir, die Autoren, wollen so auch nicht versorgt werden. Natürlich nicht. Niemand will menschenunwürdig leben. Wir hören immer wieder bei Vorträgen und Diskussionen, die Menschenrechte seien doch in unserer Gesellschaft verwirklicht. Im Grundgesetz steht als oberstes Prinzip: Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt. Dass in der Praxis aber die Würde vielfach eine Frage des Alters und der Fitness ist, zeigen die vielen von uns recherchierten Beispiele hilfebedürftiger alter Menschen. Sie müssen tagtäglich Demütigung, Erniedrigung und Entwürdigung erleben. Und das seit Jahren! Solche Pflege ist Folter!

Unzählige Berichte über Gewalt und Folter liegen uns aus allen Bundesländern in Deutschland vor, flächendeckend. Aber: Es ist nicht überall so. Nicht in jedem Heim und nicht bei jedem ambulanten Pflegedienst und nicht in jedem privaten Haushalt, in dem alte, pflegebedürftige Menschen leben. Selbstverständlich, und das betonen wir immer wieder, gibt es auch sehr gut geführte Einrichtungen mit hochmotivierten Mitarbeitern. Wir fragen uns aber, warum es so große Qualitätsunterschiede gibt. Gute wie schlechte Einrichtungen arbeiten unter denselben Rahmenbedingungen. Der Unterschied ist nur: Die einen schaffen es, die Menschen gut und würdig zu versorgen, andere greifen zu problematischen »pflegeerleichternden« Maßnahmen.

Wir wollen, dass alle pflegebedürftigen Menschen würdig versorgt werden, und fordern dazu auf, die Positivbeispiele zu »plagiieren«: d.h. zum Nutzen der Bedürftigen alle guten Ideen zu »klauen«. Plagiatoren werden hier nicht wie bei erschwindelten Doktortiteln bestraft, sondern wir und sicher auch alle »Hilfebedürftigen« würden ihnen am liebsten einen Orden verleihen.

2008 haben wir das Buch »Im Netz der Pflegemafia« geschrieben. Wir haben recherchiert und schlimme Missstände angeprangert: Alte und pflegebedürftige Menschen werden gefesselt, obwohl sie noch gehen können. Sie werden mit Psychopharmaka ruhiggestellt, obwohl sie es gar nicht müssten. Sie werden mit Magensonden ernährt, obwohl sie, mit etwas Zeit, noch selbst essen könnten. Sie werden eingesperrt, obwohl sie gerne täglich an die frische Luft möchten. Ihnen werden Windeln verpasst, obwohl sie noch selbst zur Toilette gehen könnten. Wir haben Menschenrechtsverletzungen gegenüber pflegebedürftigen Menschen aufgedeckt und eine Branche entlarvt, in der viele Akteure gerade an der schlechten Pflege viel Geld verdienen. Alte Menschen werden immer noch in vielen deutschen Pflegeheimen und sogar auch in den eigenen vier Wänden misshandelt und gefoltert. Mit dem Buch damals wollten wir, indem wir viele Missstände anprangerten, die Situation alter und pflegebedürftiger Menschen grundlegend und nachhaltig verbessern.

Heute müssen wir uns eingestehen, dass sich nichts geändert hat. Die Pflegemafia gibt es immer noch, ihre Strukturen leider auch. Die Situation vieler pflegebedürftiger Menschen ist immer noch unerträglich! Niemand will das wahre Ausmaß der Pflegekatastrophe zur Kenntnis nehmen. Es ist wie bei den drei Affen: nichts hören, nichts sehen und nichts sagen.

Vertreter der Pflegebranche leugnen, relativieren, ignorieren und bagatellisieren die wahre Situation emotionslos und in unverantwortlicher Weise. Aber sie verdienen sehr gut daran, dass alles so bleibt, wie es ist. Zwischen vielen Heimbetreibern, MDK (Medizinischer Dienst der Krankenversicherung), Heimaufsicht, Ärzten, Politik und Kostenträgern hat sich ein wechselseitiges Abhängigkeitsverhältnis entwickelt. Die Politik mischt maßgeblich bei den Wohlfahrtsverbänden und Heimaufsichten mit. Mitarbeiter vieler Heimaufsichten haben exzellente Kontakte zu den von ihnen kontrollierten Einrichtungen. Viele MDK-Mitarbeiter waren selbst einmal Pflegekräfte. Jetzt kontrollieren diejenigen, die früher selbst in Pflegeheimen gezwungen wurden, Dokumentationen zu fälschen, Pflegedokumentationen ihrer Kolleginnen und Kollegen, von denen sie wissen, dass die dokumentierten Leistungen gar nicht erbracht worden sein können. Ist das nicht ein perverses System? Der Kabarettist Dieter Hildebrandt formuliert es so: »Wer überall die Finger drin hat, der kann keine Faust mehr ballen!«

Wie schon erwähnt: Täglich erreichen uns Schreiben von Angehörigen, aber auch von Pflegekräften, Ärzten und anderen Beteiligten der Pflegebranche, die von Missständen und Misshandlungen hilfsbedürftiger Menschen berichten. Fast immer hören wir: Bitte nennen Sie meinen Namen nicht! Es herrscht eine unheimliche Allianz des Schweigens, die Omertà funktioniert wie in Sizilien bei der Mafia! Viele scheuen davor zurück, sich zu beschweren. Wir fordern dennoch alle Angehörigen und Pflegekräfte zur Zivilcourage auf. Denn Änderungen im System kann es nur geben, wenn viele auf die Barrikaden gehen. Dass ein organisierter Protest überfällig ist, zeigen die folgenden Beispiele von gravierenden Missständen in der Pflege, die für ein ganzes System stehen und beliebig erweitert werden könnten.

Im November 2012 erreichte uns auch dieser verzweifelte Hilferuf einer Pflegekraft mit typischen Erlebnissen und Erfahrungen:

»Drei Bewohnern gleichzeitig, in abwechselnder Reihenfolge, das Essen zu Mittag anreichen.

Durch ständigen Personalmangel werden oft Pflegetätigkeiten nicht vollständig getätigt, aber in der Dokumentation abgezeichnet.

Von der Wohnbereichsleitung genötigt, vermehrt über den Bewohner zu berichten (›Märchenstunde‹) für eine Höherstufung beim MDK!

Wenn Personalmangel, dann bleiben Bewohner im Bett oder werden vor dem Abendessen ins Bett gebracht! Eine zugeklappte Stulle tut es dann auch!

Habe entsetzt miterlebt, wie eine über Wochen überforderte examinierte Pflegekraft einen Bewohner auf die Stirn schlug, weil dieser eingekotet war.«

 

Allein in diesem Fall haben wir es nicht nur mit moralischem Fehlverhalten zu tun. Streng genommen müsste der Staatsanwalt wegen Betrug und Körperverletzung tätig werden. Und auch der folgende Brief einer Angehörigen steht für viele Schreiben, die uns erreichen.

»Die Pflegedienstleitung betreibt bewusst und unverantwortlich gefährliche Pflege, durch Einstellung von Personal, das der deutschen Sprache nicht mächtig ist. Die Bewohner werden nicht ordnungsgemäß versorgt. Es hapert schon gewaltig an der Grundpflege (bei meiner Mutter mache ich es fast immer selber). … Meine Mutter hat noch mich, die sich um alles fachgerecht kümmert. Wie sind dann die Bewohner dran, die keinen Angehörigen haben, der sich in diesem Chaos auskennt und die Menschen so wie ich zwei- bis dreimal die Woche besucht. Oft kommt es vor, dass meine Mutter gar nicht versorgt wird und noch am Nachmittag im Nachthemd auf dem Gang herumgeistert. (…) Trotz der horrenden Heimkosten muss ich jedes Mal frisches Obst, Gemüse, Salat (ich mache mit der Mutter zusammen als Beschäftigungstherapie Salate), Süßigkeiten, verschiedene Säfte usw. mitbringen. Im Pflegeheim bekommen die Bewohner nur grüne, unreife Äpfel, Kiwis oder Birnen und als Getränke abgestandenes Wasser mit Farb- oder Süßstoff.

Früher wurden zweimal im Jahr Abende für Angehörige organisiert. Da war alles auf dem Tisch: belegte Kanapees vom Feinsten, Sekt und delikate Säfte. Die Bewohner haben jedoch an den Folgetagen Eintöpfe serviert bekommen. Daraufhin habe ich wütend protestiert. Seitdem gibt es keine Angehörigenabende mehr. Wenigstens etwas ist mir gelungen, für die Bewohner zu erkämpfen. (…) Ich habe riesige Angst, alt zu werden! Denn ich habe niemanden, der sich im Alter für mich einsetzen kann.«

 

Aus solchen Briefen gewinnt man den Eindruck, dass sich viele Einrichtungen mehr um das Wohl der Angehörigen kümmern als um das derjenigen, die sie eigentlich zu versorgen hätten. Geht es womöglich darum, lästige Kritiker bei Prickelndem und Schnittchen mundtot zu machen, damit die auch sagen: Ach so schlimm ist es doch gar nicht? Die Gebrechlichen und Dementen jedenfalls können sich nicht mehr wehren.

Viele Menschen haben Angst vor Pflegebedürftigkeit, weil sie dann Dritten hilflos ausgeliefert sind. Wer als Pflegebedürftiger engagierte Angehörige hat und im Verlauf seines Lebens ein intaktes Familienverhältnis gepflegt hatte, der hat gute Chancen, dass es ihm, wenn er einmal hilfebedürftig ist, verhältnismäßig gutgeht. Pflegebedürftige, die keine Kinder haben oder deren Kinder aus irgendwelchen Gründen zu geldgierigen Erben mutiert sind, die nur noch auf den Tod ihrer Eltern warten, haben Pech gehabt. Ihnen wird es, wenn sie einmal abhängig sind, wahrscheinlich weniger gutgehen. Warum ist das so? Pflegekräfte reagieren auf den Druck von Angehörigen und versuchen dort, wo es ihn gibt, Missstände abzustellen. Das kostet sie aber so viel Zeit, dass für die anderen, die alleingelassen sind, keine Zeit mehr bleibt.

Die ganze Branche weiß über die oben angeführten Misshandlungen und Missstände in der Altenpflege Bescheid: Angehörige, Pflegekräfte, Heimleiter, Besucher, Ehrenamtliche, gesetzliche Betreuer, Ärzte, Seelsorger, Apotheker, Therapeuten, Reinigungskräfte, Hausmeister, Köche, Hospiz-Mitarbeiter, Rettungssanitäter, Notärzte, Mitarbeiter in den umliegenden Krankenhäusern, Sozialdienste, Medizinischer Dienst, Heimaufsicht, Kostenträger, Altenpflegeschulen, Betriebsräte, Gewerkschaften, Berufsverbände, Berufsgenossenschaft, Lokaljournalisten, Polizei, Staatsanwälte, Bürgermeister, Gemeinderäte, Kommunal- und Landespolitiker, Vormundschaftsgerichte und Bestatter. Sie machen aber auch mit, schweigen, und viele verdienen im kranken System der Altenpflege viel Geld. Darum sagen wir: »Es ist genug! Auch alte Menschen haben Rechte.«

Dabei müsste es doch eigentlich selbstverständlich sein, dass zur Lösung dieser Problematik alle Beteiligten an einem Strang ziehen. Da kann es doch keine »zwei Meinungen« geben, dachten wir. Bei unseren langjährigen Recherchen haben wir tatsächlich auch niemanden kennengelernt, der für schlechte oder gar gegen menschenwürdige Pflege wäre. Nicht die Krankenkassen, nicht die Pflegekassen, nicht die Heimträger, nicht der Medizinische Dienst der Krankenversicherung, nicht die Gewerkschaften, nicht die Politik und nicht einmal die Arbeitgeber in der Pflege. Es gibt auch niemanden, der etwas gegen bessere Bezahlung und bessere Arbeitsbedingungen hätte. Dennoch werden viele Mitarbeiter in der Altenhilfe ausgebeutet, jeden Tag. Das macht sie krank. Ein fataler Kreislauf, den wir seit Jahren beobachten und kritisieren. Und am Ende dieser Kette stehen die pflegebedürftigen alten Menschen, deren schlimmes Schicksal ignoriert wird und für deren Rechte sich niemand einsetzt. Deshalb: »Es ist genug! Auch alte Menschen haben Rechte.«

Haben die Verantwortlichen vor Ort denn über die vielen Jahre hinweg nie etwas bemerkt, nichts gesehen? Wollten oder durften sie nichts sehen? Vor wem muss man Angst haben, wenn man über dieses Thema spricht? In Presse, Funk, Fernsehen und im Internet werden seit vielen Jahren die Missstände in der häuslichen und stationären Altenpflege thematisiert. Die Probleme und Ursachen müssten eigentlich inzwischen jedem in allen Facetten bekannt sein. Und wer den Berichten und Erzählungen nicht glauben will, kann sich vor Ort von den Lebens- und Arbeitsbedingungen in unseren Pflegeheimen selbst ein Bild machen.

Die meisten wollen es aber offensichtlich gar nicht so genau wissen. Themen wie »Behinderung, Alter, Pflegebedürftigkeit« werden nach wie vor kollektiv verdrängt. Was der Mensch nicht sehen will, nimmt er nicht zur Kenntnis! Leider nimmt auch die öffentliche Wirkung der Medienberichte über nicht zu verantwortende Lebens- und Arbeitsbedingungen ab. Fernsehzuschauer haben sich offenbar an die Bilder von gequälten alten Menschen gewöhnt. Der Pflegenotstand, so scheint es, ist in den Wohnzimmern der Gesellschaft angekommen. Otto Normalbürger reagiert nur noch gelangweilt. Der Anblick von gefesselten alten Menschen stört nicht mal beim Abendessen. Auch Pflegebedürftige, die mit Psychopharmaka ruhiggestellt werden, führen zu keiner Empörung vor der Mattscheibe mehr. Wohin sind wir gekommen, wenn die Gesellschaft das Schicksal alter und pflegebedürftiger Menschen völlig kaltlässt? Die Meinung ist oft, dass die »Alten« ihr Leben eh schon gelebt hätten. Dem Argument begegnet man, wenn Menschen beim »Wegschauen« ertappt werden. Man hat das Leid der alten Menschen offensichtlich viel zu oft gesehen, zappt weg. Die Bevölkerung ist abgestumpft, womöglich weil die Politik mit ihren sinnlosen Alibi-Pflegereformen immer wieder durchblicken lässt, dass die drohende Humankatastrophe kaum noch abwendbar ist. Die Menschenrechtsorganisation »Amnesty International« betont zu Recht immer wieder: »Wer schweigt, wird mitschuldig«, das heißt im Klartext, dass diejenigen, die schweigen, mitmachen. Wir wollen nicht schweigen und geben in diesem Buch alten, wehrlosen, sterbenden und besonders schutzbedürftigen Menschen eine Stimme. Hier sind wir besonders einseitig, parteiisch, kompromisslos und emotional.

Andere sind das leider nicht. Die Empörung der meisten Heimträger über Kritik ist sehr groß. Sie regen sich nicht über die gravierenden und beschämenden Missstände in ihren Einrichtungen auf, sondern über die Berichterstattung in den Medien, über die angebliche »Skandalisierung« der gesamten Pflegebranche. Die Rede ist immer wieder von »verantwortungsloser Stimmungsmache« und davon, dass es sich doch »nur« um »bedauerliche Einzelfälle« und »ein paar wenige schwarze Schafe« handele. Das Bayerische Rote Kreuz (BRK) musste im Oktober 2012 in einer Pressemitteilung den Offenbarungseid leisten. Man müsse sich »vor pauschalen Beschuldigungen durch Medien wehren«, sagte der Landesgeschäftsführer des BRK, Leonhard Stärk, »zum Schutz unserer Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter und zum Schutz der Bewohner«. Wie absurd diese Argumentation ist, zeigt sich wenige Zeilen später in genau derselben Pressemitteilung. Dort sagt das Bayerische Rote Kreuz: »Pflege von zunehmend älteren, dementen und in vielfältiger Form kranker Menschen wird für unser Personal fast nicht mehr leistbar. Knappe Personalschlüssel, Kostendruck seitens der Kostenträger … erschweren eine hochwertige Pflege und Betreuung, das führt auch unweigerlich zu Fehlern bei oftmals überlastetem Personal. Das ist uns bewusst.« Was stimmt denn nun? Das Bayerische Rote Kreuz räumt damit faktisch systematische Mängel im Pflegesystem ein, die zu gravierenden Defiziten führen können. Aber darüber kritisch berichten sollen die Medien nicht, weil dadurch die »gesamte Pflegebranche« am Pranger stünde. Wenn das kein Widerspruch ist. Im Fußball nennt man das ein Eigentor.

Immerhin gibt es auch positive Aspekte. Über kritische Berichterstattung regen sich wenigstens noch die Heimträger auf, während, wie schon gesagt, ein großer Teil der Gesellschaft die Berichte weitgehend teilnahmslos zur Kenntnis nimmt. Besser allerdings wäre, wenn sich das Bayerische Rote Kreuz mit derselben Vehemenz, wie es gegen eine kritische Berichterstattung kämpft, für bessere Pflege in ihren Häusern und das Wohl pflegebedürftiger Menschen einsetzen würde. Und auch ein wenig mehr Selbstkritik könnte nicht schaden.

Dass auch die Kirchen zu diesen massiven Verletzungen der Grund- und Menschenrechte vielfach immer noch schweigen, ist ein Skandal. Sie sind einer der größten Arbeitgeber in der Pflege und zu Nächstenliebe und Barmherzigkeit verpflichtet, weil das ihr eigener Anspruch ist. Uns empört immer wieder, dass sich viele der Beschwerden, die bei uns eingehen, auf Einrichtungen kirchlicher Träger beziehen. Doch von ihnen hört man so gut wie kein Zeichen des Bedauerns, kaum Mitgefühl, keine Entschuldigung. Niemand schämt sich! Das Schicksal behinderter, pflegebedürftiger, alter, wehrloser Menschen beunruhigt wenige – man braucht sie offensichtlich nicht mehr! Und viele Menschen reagieren nur, wenn jemand in ihrer Familie betroffen ist!

Die Politik

Die Rolle der Politik in den vergangenen Jahren ist ganz einfach zu beschreiben. Nachwuchspolitiker wie Philipp Rösler (FDP), Daniel Bahr (FDP) und Kristina Schröder (CDU) haben unserer Wahrnehmung nach versucht, sich die Pflegeproblematik in einem Crashkurs anzueignen. Danach wurde das Jahr 2011 zum Jahr der Pflege erklärt:

»Gesundheitsminister plant große Pflegereform«, titelte zum Beispiel Spiegel-online, oder »Philipp Rösler will weg von der Minutenpflege«, verkündete Welt online. Mit mehreren »Pflegedialogen«, zu denen er Verbände, Experten und Interessengruppen ins Ministerium einlud, startete der damalige Gesundheitsminister Rösler in das sogenannte Pflegejahr. Ernüchterung, dass dem Reden keine Taten folgten, machte sich schnell unter den Akteuren breit. Rösler wechselte ins Wirtschaftsministerium. Daniel Bahr, der neue Minister, kam, die Probleme blieben. Auch verschob sich die Vorlage von Eckpunkten für ein Gesetz immer wieder. Als dann endlich ein erster Gesetzentwurf das Licht der Welt erblickte, kritisierte ihn die Opposition als »Pflegereförmchen«. Für Demenzpatienten soll es eine Milliarde Euro mehr geben, für eine freiwillige Zusatzversicherung steuerliche Vergünstigungen. Damit war der Begriff »Pflege-Bahr« geboren.

Diesen Pflege-Bahr halten wir für so unbedeutend, dass wir ihn gar nicht kommentieren wollen. Was aber bleibt: In der Pflegestufe 0 zum Beispiel bekommen Menschen mit eingeschränkter Alltagskompetenz, also Demenz oder geistiger Behinderung, seit 1. Januar 2013 120 Euro Pflegegeld im Monat. Das ist peinlich und beschämend. Für dieses Bonsai-Ergebnis hat die Regierung ein »Jahr der Pflege« gebraucht: als Tiger gesprungen und als Bettvorleger gelandet! Uns tun hier die vielen überlasteten Angehörigen leid, die die würdelose Debatte im Fernsehen ansehen mussten. Eine Pflegereform, die, grob überschlagen, für jeden Demenzpatienten pro Tag eine zusätzliche Leistung von 4 Euro bringt. Das reicht für einen Cappuccino. Für Angehörige, die 24 Stunden am Tag, 30 Tage im Monat und 365 Tage im Jahr für ihre Angehörigen rund um die Uhr da sind, eine glatte Verhöhnung. Der Betrag zeigt die Wertschätzung, den ihnen die Politik entgegenbringt. Von Daniel Bahr hätten wir erwartet, dass er zugibt, dass mehr einfach nicht drin war. Ehrlich wäre gewesen, wenn er den Angehörigen gesagt hätte, dass sie keine Lobby haben, dass er insgeheim sogar froh war, dass sie gar keine Zeit haben, auf die Straße zu gehen, um zu demonstrieren. Angehörige fühlen sich von der Politik zu Recht im Stich gelassen und mit Parolen, wie »das ist doch besser als nichts«, abgespeist. Leider blieb auch hier die große Empörung aus. Für »Rettungsschirme« oder die Unterstützung der energieintensiven Industrie fließen Milliarden, aber für die Pflege ist kein Geld da. Zugegeben, dieser Vergleich ist polemisch. Aber angesichts der sich immer weiter zuspitzenden Lage in der Pflege halten wir ihn für gerechtfertigt.

Und auch die vieldebattierten Ideen von Familienministerin Kristina Schröder (CDU) sind, um es wohlwollend zu formulieren, wenig erfolgreich. Sie trieb ein Gesetz zur Vereinbarkeit von Beruf und Pflege voran. Um ihre Angehörigen zu Hause pflegen zu können, sollen Arbeitnehmer für zwei Jahre ihre Arbeitszeit verringern können. Das Gesetz passierte den Bundestag Ende Oktober 2011. Ein Jahr später, Ende 2012, berichtete Die Zeit: »Die Pflege-Auszeit – (…) nicht mal 200