Inhaltsverzeichnis
Vorwort
Erster Teil – Dauerbrenner Pflegenotstand
1 Daheim oder im Heim?
Auf der Demenzstation: Pflege in einem guten Heim
2 Artgerechte Pflege – artgerechte Haltung: Ein Besuch im Pflegeheim für alte Tiere
3 Das Horrorkabinett: Erfahrungen im Heimalltag
Die Situation in schlechten Einrichtungen aus der Sicht einer Pflegerin
4 Festgebunden, ruhig gestellt: Das Elend alter Menschen im Heim
Die Fixierungspraxis in Deutschland
Die Genehmigungspraxis
Keiner will es wissen
Von Häftlingen und alten Menschen
Ein positives Beispiel: Das Bürgerheim in Biberach
Sicherheit oder Freiheit?
Drohen mutigen Heimleitern, die nicht fixieren, Strafen?
Pflegefall nach Sturz: Kassen verweigern vorbeugenden Schutz
Wie sich alte Menschen an ihren Fixiergurten strangulieren
Das Versagen der Staatsanwaltschaft
Eine Pflegerin bricht ihr Schweigen: Der Fall der Silke V.
Eine Rechtsmedizinerin kämpft um die posthume Würde pflegebedürftiger Menschen: ...
5 Die Heimleiter
Heimleiter im Visier der Wissenschaft
Keine verbindlichen Anforderungen an die Heimleiterqualifikation
Kann ein Heimleiter drei Heime leiten?
Die Bekenntnisse eines engagierten Heimleiters
6 Die Kontrolleure
Not im Pflegeheim: Schönt der Medizinische Dienst die Lage?
Angemeldete Kontrollen: Wie ein Heimleiter den MDK austrickst
Warum die Praxis angemeldeter Kontrollen nicht aufgegeben wird
Der Fall »Pro Seniore«
Die Heimaufsichten
Ein Pflegemanager fordert mehr Kontrollen und schärfere Konsequenzen
Nächtliche Kontrollen in Heimen? Eine Rarität!
7 Pflegenotstand im Krankenhaus
Zweiter Teil – Die Pflegelobby
8 Die Geburtsstunde der Pflegeversicherung
9 Wer ist die Pflegelobby?
10 Das »Kinderberücksichtigungsgesetz« oder: Was 2004 eine Pflegereform hätte ...
11 Lobbyarbeit im Namen Gottes
Der »Runde Tisch Pflege«
12 »Prävention vor Rehabilitation vor Pflege«
13 Pflegeversicherung pervers: Warum demenziell erkrankte Menschen einen neuen ...
14 Warum dürfen die Prüfberichte des Medizinischen Dienstes nicht ...
Die mühsame Suche nach einem guten Pflegeheim
Die Gesetzeslage
Die Arbeit der Pflegelobby und ihr Einfluss auf die Politik
Vorreiter Rheinland-Pfalz: Prüfberichte auf einer DIN-A4-Seite
Warum die Wohlfahrtsverbände in Bayern gegen die Veröffentlichung von ...
Der Macht der Pflegelobby: Eine Chronologie
Wer überall die Finger »drin hat«, kann keine Faust mehr ballen: Interview mit ...
Der »Fall« Meurer
Dritter Teil – Die Profiteure der Pflegeversicherung
15 Sinnlose Noteinsätze: Wie Ärzte pflegebedürftige Menschen unnötig ins ...
Eine dringende Notwendigkeit: Heimärzte
Der Alltag einer Allgemeinmedizinerin: Interview mit der Hausärztin Dr. Jutta Holland-Cunz
Ein jahrelanger Kampf um den Heimarzt
Das Berliner Projekt
Warum die Kassenärztliche Vereinigung Bayern Hausarztprojekte hinauszögert
16 Die Zukunft: Leben in tristen Alten-Ghettos?
Pflegefonds: Wie Investoren am Produkt Pflege verdienen
Interview mit Nikolaos Tavridis, dem Geschäftsführer der Bad Homburger ...
17 Wie bei Kassen und alten Menschen abkassiert wird – Inkontinenzpauschalen
Billigfood für Alte
Medikamente für eine höhere Pflegestufe
Betrogene Pflegekassen: Die Tricks der ambulanten Dienste
Warum ein kirchlicher ambulanter Pflegedienst seine Mitarbeiter »versklaven« muss
Mitarbeiter der Wohlfahrtsverbände proben den Aufstand
Interview mit dem Gewerkschafter Dominik Schirmer:
»Wer will in der Altenpflege arbeiten?«
Vierter Teil – Das Versagen der Justiz
18 Ein Arzt verzweifelt am System
19 Der Fall Gertrud Frank
Harte Urteile gegen Tierquäler
Fünfter Teil – Auswege aus der Pflegemisere?
20 Vision Pflegeroboter
21 Die Pflegestammtische
22 Es geht auch anders
So arbeiten gute Heime: Das CBT-Wohnheim in Wesseling
Ein realsatirisches Fazit von Dieter Hildebrandt
Zehn zusammenfassende Thesen/Forderungen
Danksagung
Orts- und Sachregister
Copyright
Vorwort
Jeder Mensch hat seine unverlierbare Würde, die ihm von Gott verliehen ist. In diesem Geist wird die Bewohnerin/der Bewohner betreut. Ihr/ihm wird im Rahmen dieses Vertrages die bestmögliche Hilfe für ein weitgehend selbstbestimmtes Leben gewährt. Präambel des Heimvertrags eines kirchlichen Trägers
In keinem anderen Bereich unserer Gesellschaft ist der Kontrast zwischen dem, was Träger zu leisten vorgeben, und dem, was tatsächlich für hilfsbedürftige Menschen getan wird, größer als in der Altenpflege. In den letzten Jahren wurden unerträgliche Zustände in Heimen und in der ambulanten Pflege aufgedeckt. Artikel 1 unseres Grundgesetzes ist hier, wenn man die Realität betrachtet, quasi außer Kraft gesetzt. Die Würde der alten Menschen ist »antastbar«, müsste es eigentlich heißen. »Pflegeerleichternde Maßnahmen« wie Fesselungen, Psychopharmaka-Missbrauch und Ähnliches sind leider an der Tagesordnung.
Hilf- und wehrlose Menschen werden häufig so behandelt, dass sie zwangsläufig in eine höhere Pflegestufe eingruppiert werden müssen. Dahinvegetierende Pflegebedürftige bringen nach der Logik der Pflegeversicherung mehr Geld als Menschen, deren noch bestehende Fähigkeiten ständig gefördert werden. Die Folgen sind vielfach Erniedrigung, Gewalt und Vernachlässigung. Die meisten Pflegerinnen und Pfleger sind auch aufgrund restriktiver Arbeitsvorschriften überfordert. Sie fühlen sich ausgebeutet, können sich mit ihrem Beruf kaum noch identifizieren. Dass für persönliche Zuwendung im System keine Minute vorgesehen ist, demotiviert sie.
Natürlich geht es auch anders. Wir haben Pflegeheime kennengelernt, denen wir unsere Eltern anvertrauen würden. Wir sind Pflegekräften begegnet, die mit leuchtenden Augen erzählten, dass sie Pflegebedürftige wieder von der Magensonde wegbekommen haben. Die alten Menschen essen und trinken jetzt wieder selbst und haben damit eine höhere Lebensqualität. Doch leider sind das Ausnahmen.
Dass in einem der reichsten Länder der Welt das Argument der finanziellen Engpässe immer wieder als Rechtfertigung für einen kaum merklichen Fortschritt und damit für menschenunwürdige Pflege herhalten muss, halten wir für einen Skandal. »Unter den gegebenen Bedingungen leisten wir eine optimale Pflege« ist einer der Lieblingssätze vieler Heimträger. Nur ein radikaler Systemwechsel vermag diese Zustände zu ändern. Wir brauchen eine Abkehr von passivierender Pflege. Sie ist teuer und zerstört die Eigenständigkeit alter Menschen. Das ist unstrittig! Alle Probleme sind wissenschaftlich ausreichend aufgearbeitet – alle Ergebnisse liegen auf dem Tisch. In der deutschen Pflegelandschaft gibt es kein Erkenntnis-, sondern ein Umsetzungsproblem.
• Warum sind gerade alte und pflegebedürftige Menschen derart entwürdigenden und lebensbedrohenden Bedingungen ausgesetzt?
• Warum lösen Skandalberichte in der Öffentlichkeit nur hilflose Empörung aus (im Gegensatz zu sonstigen Reaktionen auf Missstände oder Vergehen, bei denen in aller Regel sofort Gesetzesverschärfungen gefordert werden)?
• Warum bitten unsere Informanten um Wahrung ihrer Anonymität, wenn sie nachweislich nur die Wahrheit wiedergeben?
• Warum droht engagierten und couragierten Pflegekräften der Verlust ihres Arbeitsplatzes, wenn sie sich zur öffentlichen Kritik an ihrer entwürdigenden Berufspraxis entschließen?
• Warum stellen Staatsanwälte Ermittlungsverfahren, in denen es um alte Menschen geht, häufig schnell wieder ein? Handelt es sich hier um einen rechtsfreien Raum?
• Warum steht eine hohe Rendite über menschenwürdiger Pflege? Wer verdient an Pflegefonds?
• Warum werden die Auswirkungen dubioser Immobiliengeschäfte auf die Pflegequalität fast nicht untersucht?
• Warum kostet auch schlechte Pflege im Heim zwischen 2500 und 3500 Euro?
Diese Fragen wollen wir auf den folgenden Seiten beantworten. Kaum jemand interessiert sich für das Preis-Leistungs-Verhältnis. Eine ehrliche Kostentransparenz ist offensichtlich politisch nicht durchsetzbar! Auch eine Reform der Pflegeversicherung wird daran wenig ändern.
Wir, die Autoren dieses Buches, kennen uns seit sechs Jahren. Vom Beginn unserer Zusammenarbeit haben wir es uns zur Aufgabe gemacht, die Situation pflegebedürftiger Menschen zu verbessern, und führen in den folgenden Kapiteln die Ergebnisse unserer jahrelangen Arbeit, ergänzt durch viele neue Recherchen, zusammen.
Wir möchten erreichen, dass pflegebedürftige Menschen jeden Tag zu essen und zu trinken bekommen, und zwar in dem Tempo, in dem sie kauen und schlucken können. In etlichen Pflegeheimen ist dies aus zeitlichen Gründen nicht mehr möglich. Bewohner werden dort mit »pflegeerleichternden und pflegevermeidenden« Magensonden versorgt. Damit sind nicht die medizinisch notwendigen Hilfsmittel gemeint, sondern die zahlreichen Sonden, die inzwischen in den Krankenhäusern »auf Druck vieler Pflegeheime« eingesetzt werden. Die auf solche Weise »Versorgten« dürfen nichts mehr essen, nichts mehr kauen, nichts mehr schlucken, nichts mehr schmecken! Diese
Vorstellung ist für die meisten Pflegeheimbewohner ein Albtraum und auch ein Grund, warum sie dann erklären: »So möchte ich nicht mehr leben!«
Inzwischen hat auch der Medizinische Dienst der Kranken- und Pflegekassen festgestellt, »dass in einer Vielzahl von Pflegeheimen die Nahrungs- und Flüssigkeitszufuhr nicht mehr sichergestellt werden kann«. Das heißt im Klartext: Pflegebedürftige Menschen hungern und verhungern beziehungsweise trocknen in Pflegeheimen aus. Wir sprechen hier nicht vom Elend der Flüchtlinge in der sudanesischen Provinz Darfur, sondern von Pflegeheimen in Deutschland. Wir sind fassungslos, dass alte Menschen teilweise wochenlang nicht aus dem Bett kommen. Sie liegen den ganzen Tag herum und starren die weiße Wand an. Niemand spricht mit ihnen, sie warten auf den Tod, isoliert und endgelagert! Das ist unmenschlich und grausam!
Beim Besuch der Altenpflegemesse 2007 in Nürnberg konnten wir uns ein Bild davon machen, zu welch einem Wirtschaftsfaktor sich die Altenpflege in letzter Zeit entwickelt hat. So sind inzwischen Windeln erhältlich, die ein Fassungsvermögen von unglaublichen 3,8 Litern haben. Wir fragen uns, wer sich das ausgedacht hat. Wie lange müssen Menschen in solchen Windeln liegen, damit sich dieses Produkt für potenzielle Käufer rechnet? Es ist ein Anreiz für Heimträger und deren Pflegekräfte, Menschen nicht mehr zur Toilette zu führen! Wie lange würde ein fröhlich Zechender in einem Zelt des Münchener Oktoberfestes nach dem Genuss von vier Maß Bier diese unwürdige Situation aushalten?
Sprechen wir jetzt einmal nicht von »Würde«, von den »entsetzlichen Schmerzen« – betrachten wir den Pflegeskandal nur unter »volkswirtschaftlichen Gesichtspunkten«!
Die Behandlung eines großen Dekubitalgeschwürs in einem Krankenhaus kostet etwa 25 000 bis 30 000 Euro. Zehntausende offene Druckwunden müsste es nicht geben, wenn man heute nach den medizinisch-pflegerischen Erkenntnissen – den »Expertenstandards« – vorgehen würde. Das heißt, wir leisten uns den Irrsinn, volkswirtschaftlich hunderte Millionen zu verschwenden und gleichzeitig vielfach menschenunwürdig zu pflegen. Wer soll das verstehen?
Uns ist in den vergangenen Jahren der »Pflegediskussion« eines vollkommen klar geworden: Solange an den Folgen der schlechten Pflege viel Geld verdient werden kann, wird sich am Grundsatz nichts ändern. Selbst die Krankenkassen scheinen kein großes Interesse daran zu haben. Warum stellen sie den Verantwortlichen kaum Regressforderungen für teure »Pflegefehler«?
Die Pflegekassen haben sich zusammen mit der Bundesregierung und den Heimträgern inzwischen offensichtlich »arrangiert«: Man möchte »die alten Menschen nicht weiter verunsichern« und eine »Skandalisierung« verhindern. In der Vergangenheit haben sich nach Pflegeskandalen immer wiederkehrende Argumentationsschemata entwickelt.
Ein Beispiel: Mehrere alte Menschen leiden in einem Pflegeheim unter Dekubitalgeschwüren, und sie bekommen zu wenig zu essen und zu trinken. Zunächst wird der Träger, von Journalisten darauf angesprochen, darauf verweisen, dass personenbezogene Daten nicht weitergegeben werden können. Manchmal lassen sich Journalisten auf diese Weise abwimmeln. Ist die Beleglage aber erdrückend, so wird der Heimträger einen »bedauerlichen Einzelfall« einräumen und in diesem Zusammenhang auch auf ein »zertifiziertes Qualitätssicherungssystem«, das »den Qualitätssicherungsprozess« überwache, hinweisen. Damit möchten die Betreiber den Journalisten zu verstehen geben, dass man auf individuelle Fehler entsprechend zu reagieren in der Lage sei. Die nächste Eskalationsstufe: Den Medien, die über die sogenannten »Einzelfälle« berichten, wird im Nachgang eines solchen Berichts »Skandalisierung« und »Panikmache« vorgeworfen.
Daraufhin schaltet sich häufig die Politik ein. Sie verharmlost und mahnt, dass ein »ganzer Berufsstand durch bedauerliche Einzelfälle und ein paar schwarze Schafe« unter »Generalverdacht gestellt« werde. Man dürfe nicht »pauschal kriminalisieren und diffamieren«. Und: Nicht alle Heime seien schlecht!
So sagte zum Beispiel die Bundesgesundheitsministerin im September 2007 in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung: »Die überwiegende Mehrheit der Pflegeeinrichtungen und -dienste leistet eine hervorragende und aufopferungsvolle Arbeit an den pflegebedürftigen Menschen!« Fünf Jahre zuvor hatte ebendiese Ulla Schmidt der Opposition vorgeworfen, ihr seien »die erschreckenden Missstände in Pflegeheimen« offensichtlich völlig gleichgültig. Wie kann es zu so grundverschiedenen Einschätzungen kommen? Haben sich die Rahmenbedingungen in den letzten Jahren deutlich verbessert? Nein! Dieser Zitatvergleich bestätigt, dass Politiker in die Richtung argumentieren, aus der gerade der Wind weht.
Hält der öffentliche Unmut über die Pflegemisere länger an, so folgen möglicherweise Anfragen von Abgeordneten, oder man bildet Arbeitsgruppen und veranstaltet Anhörungen wie beim »Runden Tisch Pflege«. Damit wird wenigstens der Anschein erweckt, als wäre man aktiv geworden. In diesen Gremien treffen sich dann die Vertreter der Kassen, Wissenschaftler, Experten, Vertreter der Pflegeverbände... Man kennt sich, man duzt sich, man diskutiert, und am Ende kommen nur unverbindliche Erklärungen, Empfehlungen und Verlautbarungen heraus, die man dem Volk auch noch als Erfolg verkauft.
Vage Formulierungen wie etwa das Wort »mittelfristig« verdeutlichen, dass man zunächst einmal nichts ändern will. Es steht zum Beispiel im Koalitionsvertrag von Union und SPD aus dem Jahr 2005 bezüglich des sogenannten Pflegebegriffs. Der liegt zwar mittlerweile aus Bayern schon fertig ausformuliert und evaluiert vor und soll beispielsweise demenziell erkrankte Menschen in der Pflegeversicherung besser berücksichtigen – dennoch sieht es die Bundesregierung als notwendig an, unter anderem »die finanziellen Konsequenzen« umfassend zu klären. Das Ergebnis wird erst im November 2008 erwartet, also nach Inkrafttreten der Pflegereform. Umgekehrt hätte das Ganze Sinn gemacht.
Und so gab es zuerst ein »rundes Tischchen«, ein Eckpunktepapierchen, ein Gesetzesentwürfchen, und bald wird auch noch ein Gesetzchen verabschiedet. Über all dem steht das ungeschriebene Gesetz: Die Pflege darf nicht mehr kosten! Pardon, liebe Politiker – für solche Mauscheleien haben alte Menschen kein Verständnis mehr.
Erster Teil
Dauerbrenner Pflegenotstand
1 Daheim oder im Heim?
In häuslicher Obhut: Pflege mit der Stoppuhr
Die Ökumenische Sozialstation in Ludwigshafen. Es ist 6. 45 Uhr am Morgen – Arbeitsbeginn für Schwester Christel. Die einundsechzigjährige Altenpflegerin ist zwar noch etwas verschlafen, aber das lässt sie sich nicht anmerken. »Guten Morgen!«, ruft sie laut in die Runde. Vielen jüngeren Kolleginnen gilt Schwester Christel als Vorbild, denn in ihrem Alter schafft fast niemand mehr den anstrengenden Job. Seit 15 Jahren ist sie Akkordarbeiterin in Sachen ambulanter Pflege. Ein Taschencomputer gibt ihr das Arbeitspensum vor. Allein heute muss sie 25 alte Menschen versorgen – unter permanentem Zeitdruck. Schon am frühen Morgen ist ihr klar, dass auch heute für persönliche Zuwendungen und nette Worte kaum Zeit sein wird. »Für eine Insulinspritze habe ich drei oder vier Minuten. Für ›Hilfe zur Ausscheidung‹ sieben Minuten«, sagt sie etwas frustriert. Dabei überlegt sie sich, wie es wäre, wenn sie selbst einmal pflegebedürftig würde und ihre »ganzen Dinge in sieben Minuten erledigt haben« müsste.
Ihren Arbeitgeber gibt es seit rund 30 Jahren. Die Zentrale liegt in Fußnähe zum Hauptbahnhof. Früher waren hier vor allem Ordensschwestern beschäftigt. Aber in den 1960er- und 1970er-Jahren war abzusehen, dass der Bedarf an Pflegepersonal durch die Orden bei Weitem nicht mehr abgedeckt werden konnte. Aus diesem Grund waren in Rheinland-Pfalz die Sozialstationen gegründet worden. Die Kirchengemeinden und Krankenvereine hatten sich zu eingetragenen Vereinen zusammengeschlossen, den »Ökumenischen Sozialstationen e.V.«, und die Ordensschwestern bekamen Verstärkung durch weltliche Krankenschwestern. Die Tatsache, dass es in der Pfalz keine Diakonie- oder Caritas-Stationen gibt, beruht auf der – in Deutschland einmaligen – Besonderheit, dass die Gebiete der evangelischen Landeskirche in der Pfalz und der Diözese Speyer deckungsgleich sind und der damalige rheinland-pfälzische Sozialminister Heiner Geißler auf große, leistungsstarke Stationen Wert legte. Zusammen mit den Kirchenverantwortlichen gelang es so, sozial engagierte Einrichtungen zu gründen, die seit Jahren als gelebte Ökumene Vorbildcharakter haben.
Kurz nach 7 Uhr sitzt Schwester Christel in ihrem Kleinwagen und startet zu ihrer »Insulin-Rallye«. Zuckerkranke brauchen möglichst früh eine Spritze, um den Tag zu überstehen. Schon der Weg zu ihrem ersten Patienten dauert zu lange. Schwester Christel steckt im Berufsverkehr fest. Verspätet kommt sie bei dem Diabetiker Adolf J. an. Sie soll ihm Insulin spritzen. Dafür hat sie gerade mal drei Minuten Zeit. Mehr zahlt die Kasse nicht. Adolf Js. Ehefrau aber bittet die Altenpflegerin auch noch in einer anderen Sache um Hilfe. Die Beine ihres Gatten sind über Nacht dick angeschwollen. Schwester Christel kümmert sich um ihn, obwohl sie das nicht vergütet bekommt. Das ist zwar menschlich, dafür aber ist sie schon nach ihrem ersten Patienten im Zeitverzug.
Jetzt ist Tempo gefordert. Schwester Christel fährt zu ihrer nächsten Patientin im Ludwigshafener Stadtteil Hemshof, einem sozialen Brennpunkt. Hier ist die Pflegerin zu Hause, hier ist sie aufgewachsen, hier betreut sie heute Pflegebedürftige. Sie wird schon ungeduldig erwartet. Frau O. sitzt in der Küche. »Welchen Finger wollen Sie heute Morgen? Sie haben die freie Auswahl«, fragt Schwester Christel die alte Frau. Frau O. ist fast blind und wie viele andere alte Menschen nicht in der Lage, ihr Insulin selbst zu spritzen. Schwester Christel sticht in den Finger und tupft einen Blutstropfen ab. Die Überprüfung des Blutzuckerstandes mittels der BZ-Kontrolle ergibt ein zufriedenstellendes Resultat. 129, das ist ein guter Wert. Der Haken dabei: Die Kasse zahlt Schwester Christel zwar das Spritzen von Insulin, verweigert jedoch das Geld für die notwendige Blutzuckermessung. Eine absurde Situation. »Was bei ihr das Problem ist: Die BZ-Kontrolle wird immer abgelehnt bei ihr, generell. Jedes Mal ist das ein Zirkus, bis wir das genehmigt haben. Jetzt im Moment ist es auch wieder abgelehnt. Sie hat Einspruch erhoben, weil ich ja kein Insulin spritzen kann, wenn ich keinen Wert habe«, schimpft die Altenpflegerin. Auch die völlig zugestellte
Wohnung von Frau O. macht ihr große Sorgen. Überall lagern Zeitungen und Gerümpel. Der Zugang zum Wohnzimmer ist kaum möglich. Obwohl sie es wieder nicht abrechnen kann, kann Schwester Christel über bestimmte Notlagen nicht hinwegsehen. Sie packt an, wo sie meint helfen zu müssen: »Wir haben die Sozialarbeiterin eingeschaltet!«, sagt sie. Wenn es in der Wohnung brennen würde, hätte Frau O. nämlich keine Chance. Schwester Christel findet den Zustand der Unterkunft menschenunwürdig: »Sie war immer gepflegt und ordentlich, und jetzt kann sie halt nicht mehr. Es geht nicht mehr.«
Der Zeitdruck bei der Insulin-Rallye wird immer größer. Ihren nächsten Termin hat Schwester Christel bei einem schier hoffnungslosen Fall, Frau K. Wieder überprüft sie den Blutzuckerwert, obwohl sie für diese Tätigkeit keinen Cent bekommt. Diesmal ist die Altenpflegerin geschockt. Mit diesem hohen Blutzuckerwert balanciert Frau K. zwischen Leben und Tod. 448 ist lebensgefährlich. Schwester Christel muss die Insulindosis drastisch erhöhen – aber: »Das geht nicht. Sie haben jetzt 74 Einheiten Insulin gekriegt. Das ist Mord. Das hält keiner aus«, sagt sie. »Ich muss jetzt halt was essen«, entgegnet Frau K. Die alte Dame ist insulinresistent, war deshalb auch bereits im Krankenhaus. Sie wurde auch schon unter Aufsicht gestellt, weil man vermutete, sie esse unkontrolliert. »Und dann ist sie immer auf eigene Faust nach Hause. Ich kann das nicht verantworten. Ich bin auch kein Arzt«, sagt Schwester Christel verzweifelt. Sie verständigt den Mediziner. Dennoch wird Frau K. wenige Tage später sterben.
Ihre nächste Patientin ist Anna K. Die sechsundachtzigjährige Frau leidet seit acht Jahren an Diabetes und leichter Demenz. Außerdem hatte sie einen Schlaganfall. Für ihre Pflege sind zehn Minuten vorgesehen. Als Schwester Christel an der Haustür klingelt, öffnet niemand. Zehn Minuten, ihre komplette geplante Zeit, ist sie gezwungen zu warten. Jetzt will sie den Rettungsdienst und die Feuerwehr rufen, um in die Wohnung zu gelangen. Sie vermutet, dass Frau K. etwas zugestoßen ist. Als sie schon ihr Handy in der Hand hält, öffnet zufällig eine Nachbarin die Tür, die auch einen Schlüssel für Frau K.s Wohnung hat. Beim Betreten des Schlafzimmers ist Schwester Christel erleichtert. Die alte Dame döst seelenruhig, das Klingeln hat sie heute einfach nicht gehört.
Helmut G. wartet schon auf Schwester Christel. Zu ihm kommt sie wieder einmal später als geplant. Eigentlich wäre er ein Fall fürs Pflegeheim. Er hat mehrere Bypässe, einen Herzschrittmacher und leidet an schwerer Altersdemenz. Vor Kurzem hat er sich wieder einmal verirrt. Die Polizei fand ihn völlig orientierungslos auf dem Mannheimer Maimarktgelände. Nur weil ihn Schwester Christel über das normale Maß hinaus pflegt, kann er daheimbleiben. Über seine Pflegerin sagt er: »Ja, die ist super. Wenn die nicht wäre, wäre ich schon längst gestorben.« Für Herrn G. zahlt die Pflegekasse unter anderem die sogenannte »kleine Körperpflege«. Binnen zwanzig Minuten soll ihn Schwester Christel waschen und ankleiden. Für das Wechseln der Kompressionsstrümpfe hat sie noch einmal drei Minuten Zeit, desgleichen für die Verabreichung seiner Medikamente. Der alte Mann will das so. »Ich geh nicht ins Heim, im Leben nicht. Hier bin ich groß geworden, und da sterbe ich auch«, sagt er bestimmt. Eine Träne kullert aus dem rechten Auge. »Und was haben wir gesagt? Sterben tun wir jetzt noch nicht. Ihnen geht es doch gut!«, tröstet ihn Schwester Christel.
Danach hat sie Mittagspause. Schon jetzt ist sie völlig erschöpft und trinkt eine Flasche Apfelsaftschorle in einem Zug aus: »Fix und alle bin ich. Und in dem Auto sind mindestens 50 Grad. Es ist anstrengender als sonst, wegen der Hitze. Ich bin halb verdurstet. Gehen Sie mal den ganzen Tag Treppen hoch, Treppen runter. Ja, das reicht.«
Wenige Minuten später ist sie wieder unterwegs – zu einer Patientin, die auf keinen Fall ihre Wohnung aufgeben möchte. Frau H. hat ihr einen Schlüssel überlassen. Jedes Mal, wenn die Schwester die Tür öffnet, erhöht sich ihr Puls. Um diese Patientin macht sie sich besonders große Sorgen. »Ist etwas passiert?«, fragt sie heute. Frau H. liegt noch im Bett und sagt nichts. Schwester Christel ist erleichtert, als sie auf der Nachtkonsole zwei leere Piccolo-Fläschchen findet: Ihre Patientin kommt nach dem Konsum von Alkohol etwas schwerer in die Gänge als sonst. Frau H. ist zwar alt und zierlich, aber dennoch selbstbewusst und energisch. Sie weiß ganz genau, was sie will.
Bevor Schwester Christel die Verantwortung für Frau H. übernahm, lebte die alte Dame völlig allein und verwahrlost. Schritt für Schritt organisierte sie ihr ein menschenwürdiges Leben. Frau H. musste trotz ihrer Not erst mühsam lernen, Hilfe anzunehmen – zum Beispiel beim Essen. Früher hat Schwester Christel für ihre Patientin Lebensmittel eingekauft. Der Cousine von Frau H. wurde diese Dienstleistung aber irgendwann zu teuer, woraufhin diese »Verwandte« die Aufgabe übernahm, für ausreichend Lebensmittel im Haushalt der alten Frau zu sorgen. Als die Altenpflegerin aber an diesem Morgen den Kühlschrank inspiziert, ist bis auf etwas Öl und Milch fast nichts da. Das sei immerhin »fett- und eiweißreich«, kommentiert Schwester Christel sarkastisch: »Da verhungern ja die Mäuse«, macht sie ihrem Zorn gegenüber Frau H. Luft. Denn die alte Dame ist unterernährt. »Ich ruf jetzt Ihre Cousine an und sag, dass nichts zu essen da ist«, sagt die Altenpflegerin bestimmt. »Nein, bitte nicht!«, fleht Frau H. Offensichtlich möchte sie es nicht zu einer Auseinandersetzung mit ihrer Angehörigen kommen lassen. Schwester Christel wird immer wütender: »Sie verhungern mir. Ich muss Ihnen doch etwas zum Essen machen können. Wir brauchen Bananen, wir brauchen ein paar Trauben, ein paar Erdbeeren, ein bisschen Wurst. Sie haben keine warme Mahlzeit – nur Ihren Kaffee und trockenes Brot! Irgendwann stecken sie mich ins Gefängnis, weil ich da zuschaue. Ja, und da sagen sie: Die Schwester Christel hat nicht aufgepasst bei der Frau H. Und dann?« – »Dann würde ich schon mein Veto einlegen«, entgegnet Frau H. lakonisch. Die beiden Frauen verstehen sich. Gerne würde Schwester Christel sich mehr Zeit für Frau H. nehmen.
Auch Herr S. ist ein belastender Pflegefall für Schwester Christel. Der alte Mann wurde trotz einer riesigen offenen Wunde am Rücken aus dem Krankenhaus entlassen. Die Mediziner nennen dies ein Druckgeschwür, im Fachjargon »Dekubitus«. Das Geschwür ist mehr als einen Zentimeter tief und größer als ein Tennisball. Es riecht nach verfaultem Fleisch. Ein Dekubitus entsteht meistens durch Vernachlässigung und Nichtbefolgung der anerkannten Pflegestandards. Mit viel Einfühlungsvermögen versucht Schwester Christel, Herrn S.s Schmerzen so erträglich wie möglich zu machen. Die Ehefrau ist sich sicher, dass die Wunde im Krankenhaus entstanden ist. Ihr größter Wunsch: »Dass er bald stirbt, dass er es bald hinter sich hat. Denn es ist zu arg.« Tag und Nacht hat Herr S. Schmerzen. Aber er soll nicht mehr ins Krankenhaus, weil er nicht mehr dorthin will. Frau S. vertraut auf die sorgsame Pflege von Schwester Christel. Regelmäßig wechselt sie seine Verbände. Er soll zu Hause sterben.
Es ist Samstagmittag. Schwester Christel hat Wochenendschicht. Ihrem »Sorgenkind« Frau H. bereitet sie heute eine ganz besondere Überraschung in Form von Frikadellen und Spargelgemüse. Sie hat zu Hause etwas mehr gekocht und versucht, mit dieser Hausmannskost den Appetit ihrer unterernährten Patientin anzuregen. Eine persönliche Geste, die die Kasse natürlich nicht bezahlt. Auf dem Herd ihrer Patientin wärmt sie die Mahlzeit auf. »Essen ist fertig. Vier-Sterne-Hotel. Drei Euro fuffzig, die meisten geben fünf Euro«, scherzt sie, als sie Frau H. den Teller hinstellt und einen guten Appetit wünscht. Die Patientin bedankt sich artig. Für sie ist es ein Festmahl. Trotz des guten Essens – die alte Dame muss gefüttert werden. Jeder kleine Happen ist für die Schwester schon ein Erfolgserlebnis. Frau H. war zwar noch nie eine großer Esserin gewesen, dennoch befürchtet Schwester Christel, dass sie regelrecht verhungern könnte: »Nur einmal am Tag bekommt sie eine Mahlzeit zubereitet. Manchmal ist es Beutelsuppe mit Wurst, davon isst sie eine halbe Tasse. Im Grunde ist sie unterernährt.«
Doch nur selten kann sich die Pflegerin so viel Zeit für ihre Patientin nehmen. Frau H. will aber auf gar keinen Fall ins Pflegeheim. »Ich war mal ein paar Tage in Schifferstadt«, erzählt sie. In dieser Einrichtung aber habe ihr die ganze Atmosphäre nicht gefallen. Man habe darauf geachtet, wie sie esse und ob sie korrekt gekleidet sei. Und »das wollte ich nicht«.
Zwischen zwei Terminen trifft Schwester Christel zufällig Frau S. Ihr Mann ist inzwischen verstorben. Die Pflegerin hört zu, spendet Trost. Frau S. ist ganz in Schwarz gekleidet. 48 Jahre lang war sie mit ihrem Mann verheiratet. Jetzt fehle er ihr. Aber sie verspürt auch Erleichterung, dass er jetzt endlich von seinem Leiden erlöst ist. Schwester Christel rät ihr, regelmäßig spazieren zu gehen und viel zu essen. »Wir wissen alle, wir werden geboren, um zu sterben«, sagt die Altenpflegerin. Sie sei aber sehr froh, dass er in seinen letzten Lebenstagen noch eine Schmerztherapie bekommen habe – Sicherheit, Geborgenheit und Respekt. »Pflege ist Beziehung. Ich gehe ja in das Intimste des Menschen, in ihre Wohnung. Und ich muss mich dann auch angemessen verhalten. Ich muss dann auch schauen, dass ich mit den Leuten klarkomme, dass es läuft. Aber ich kann nicht mit jedem Patienten sterben und das mit nach Hause nehmen. Da dreh ich irgendwann am Rad«, versucht sich Schwester Christel abzuschotten.
Solche Belastungen und Notlagen kann die Altenpflegerin einmal im Monat in der Teamsitzung mit der Pflegeleitung und ihren Kolleginnen zur Sprache bringen.
Heute geht es um die schlechte Zahlungsmoral der Kassen. Sie versuchen immer wieder, notwendige Leistungen auf die Sozialstationen abzuwälzen – zulasten von Pflegerinnen wie Schwester Christel. »Ich muss dann sagen: Es tut mir leid, ich habe keine Zeit. Sage das einmal einem einsamen alten Menschen zu Hause – ich habe keine Zeit. Die warten doch auf uns!« Und ihre Chefin Sabine Pfirrmann pflichtet ihr bei: »Die Pflegestunde für Pflegefachkräfte ist auf keinen Fall kostendeckend. Und nur weil ihr so schnell und so gut arbeitet, sind wir irgendwie so weit, dass es noch einigermaßen geht. Aber selbst das wird in Zukunft nicht mehr ausreichen.« Ein Kreislauf, der immer mehr Pflegedienste in die Pleite treibt.
Als Schwester Christel am nächsten Tag wieder bei Frau H. ist, hat die alte Dame seltenen Besuch. Spontan und ohne Anmeldung ist ihr Hausarzt gekommen. Ab und zu misst er ihren Blutdruck. »Ist überhaupt noch ein bisschen Fleisch dran?«, fragt ihn die abgemagerte Frau. Der Arzt erspart sich die Antwort. Dass Schwester Christel morgens für 20 Minuten vorbeischaue und abends sieben Minuten »Hilfestellung bei der Ausscheidung« gebe, darüber kann er nur den Kopf schütteln. »Das ist einfach viel zu wenig«, sagt er. Die Zeit reiche nicht aus für eine optimale Versorgung. Auf die Frage, ob Frau H. angesichts dieser Einschätzung nicht doch lieber ins Heim möchte, antwortet sie: »Nein. Ich will daheim sterben.« Einige Woche später wird es so weit sein. Die alte Dame wird friedlich einschlafen – zu Hause.
Kurz vor 14 Uhr endet Schwester Christels Schicht, über die auch die ARD in der Reportage »Essen. Waschen. Ruhe geben.« berichtete. Sie ist abgekämpft und durchgeschwitzt, plagt sich mit Selbstvorwürfen. Weil sie zu lange gebraucht habe, arbeite sie nicht wirtschaftlich. »Ich fahre meine Sozialstation in die Miesen«, befürchtet sie.
Fazit: Menschlichkeit in der Pflege wird von den Kassen nicht bezahlt. Alte Menschen aber brauchen Zuwendung. Doch im jetzigen System bleibt dafür keine Zeit.
Auf der Demenzstation: Pflege in einem guten Heim
Nicole Groß arbeitet im Franziska-Schervier-Altenheim in der Frankfurter Innenstadt. Auch der Arbeitstag dieser Altenpflegerin beginnt sehr früh, nämlich um 6.30 Uhr. Ein erster Rundgang. Sie schaut, wer im Heim schon wach ist. Leise und bedächtig öffnet sie die erste Zimmertür: »Frau H. schläft noch«, flüstert sie. Aufwecken will Schwester Nicole niemanden im Heim. Das gehört zum Konzept. Bewohner können selbst entscheiden, ob sie etwas früher oder später frühstücken möchten. Hier achtet man auf Individualität und Professionalität der Pflege und Betreuung. Auf ihrer Station im dritten Stock leben 25 unter Demenz leidende alte Menschen.
Auf dem Gang trifft sie Frau J., eine Frühaufsteherin. Auch die Siebenundsiebzigjährige ist schwer an Demenz erkrankt. Sie weiß nicht mehr, was sie tut, ist völlig verwirrt und so unselbstständig wie ein kleines Kind – typische Symptome der Demenzerkrankung, der Volkskrankheit Nummer eins. Frau J. fordert besonders viel Aufmerksamkeit und Zuneigung von Nicole Groß. Dass auch sie permanent unter Zeitdruck steht, darf sie die Bewohnerin nicht spüren lassen. Geduld ist eine wichtige Tugend für eine Pflegerin, die sich mit dementen Menschen beschäftigt: »Würden wir aber die Betreuungsarbeit, dieses Immer-wieder-Antworten auf sich wiederholende Fragen, dieses Sicherheit-Geben, diese Begleitung – würden wir diese Betreuungsarbeit weglassen, dann hätten wir ganz schnell vielleicht bettlägrige Pflegefälle«, erzählt Nicole Groß. Ziel der Frankfurter Einrichtung ist es, Menschen »aus den Betten« zu pflegen und nicht »in die Betten«. Ohne Betreuungsarbeit ginge es den Bewohnern seelisch und psychisch erheblich schlechter, ist die Altenpflegerin überzeugt. Viele alte Menschen würden sich vermutlich in ihrem Zimmer vergraben, weil sie nicht mehr aufstehen möchten. Als wir von Frau J. wissen wollen, wie es ihr geht, antwortet sie bereitwillig: »Mir geht es gut.« Im weiteren Verlauf des Gesprächs bedauert sie, keine Kinder zu haben, und sie wundere sich, warum das so sei. Vergesslichkeit ist eine Ausprägung ihrer Erkrankung. Denn Frau J. hat zwei Töchter. Sie weiß auch nicht mehr, wie alt sie ist. In solchen Situationen ist Nicole Groß gefordert. Durch persönliche Zuwendung kann sie die Bewohnerin wieder motivieren. Die beiden Frauen blättern in einem »Bilderbuch«, das Frau J. aus ihrer Jugendzeit kennt. An die Inhalte vermag sie sich plötzlich wieder zu erinnern, nur für einen Moment. Dazu trinkt sie einen Kaffee. Der Wohnraum ist so gestaltet, wie die alten Menschen ihn früher von zu Hause gewöhnt waren: mit Tapeten, die in den 1950er- und 1960er-Jahren zum allgemeinen Geschmack gehörten. Dazu läuft Musik aus dieser Zeit. Das gefällt den Bewohnern.
Wenige Minuten später. Frau H. ist inzwischen wach geworden. Sie lächelt, als ihr die Pflegerin einen guten Morgen wünscht. Ohne Nicole Groß könnte die Bewohnerin ihr Leben nicht mehr meistern. Auch sie leidet an Demenz. Altenpflegekräfte müssen besonders viel Zeit aufwenden, um solchen Patienten auch noch im Alter ein menschenwürdiges Leben zu ermöglichen. »Sie vergisst, auf die Toilette zu gehen. Sie würde auch vergessen, sich zu waschen und anzuziehen, wenn ich sie nicht daran erinnern würde«, erzählt Nicole Groß, während sie ihre Schutzbefohlene anleitet, sich selbst das Gesicht zu waschen. Dazu ist die alte Frau nämlich noch fähig. Theoretisch könnte es sich die Pflegerin hier leicht machen und sie mit einem Waschlappen reinigen. Zwar würde dies Zeit sparen, doch gingen auch die letzten vorhandenen Fähigkeiten der Bewohnerin verloren. Genau das aber will man nicht im Frankfurter Franziska-Schervier-Pflegeheim. Die alte Frau nimmt den Waschlappen und streicht sich damit über das Gesicht. Obwohl sie körperlich noch viel zu leisten vermag, könnte sie allein nicht überleben. Nicole Groß ist überzeugt, dass Frau H. verhungern und verdursten würde. Ihre Vergesslichkeit geht so weit, dass sie von sich aus weder isst noch trinkt.
Die Altenpflegerin könnte sie jetzt schnell füttern, das zahlt die Pflegeversicherung. In dieser Einrichtung aber wird auch beim Essen Wert darauf gelegt, dass die Bewohner selbst noch aktiv sind. Und das koste viel mehr Zeit. »Wenn wir die Bewohner selber essen lassen wollen, fördert das natürlich auch die Lebensqualität«, erklärt uns Nicole Groß. Und deshalb sei man hier bestrebt, die Nahrung nicht anzureichen. Alle Mühe und Geduld verwendet sie darauf. Das Essen in 15 Minuten verfüttern, das ginge natürlich schnell. Aber es sei für die Bewohner und sie selbst unschön. »Hier ist das Joghurt, und hier ist der Löffel. Nehmen Sie den Löffel mal in die Hand«, leitet die Schwester eine Bewohnerin geduldig an.
Währenddessen treffen wir Frau J. zufällig auf dem Flur. Offensichtlich ist ihr Interesse an dem Bilderbuch erlahmt, und sie irrt wieder einmal im Pflegeheim umher.
Obgleich dieses Haus als vorbildlich geführt gilt, ist auch hier die Situation äußerst angespannt – wie bereits 2003, als die ARD darüber berichtete. Der damalige Heimleiter Frédéric Lauscher hatte errechnet, dass selbst bei bestem Willen jedem Bewohner maximal 25 Minuten Pflege in einer Schicht zur Verfügung stünden. Für ihn sei das nicht hinnehmbar. »Das wird hier die kleineren Menschenrechtsverletzungen geben – so will ich es mal nennen – oder eine Kette von kleineren Menschenrechtsverletzungen: wie zum Beispiel, dass jemand nicht auf Toilette kann, wenn er möchte, weil keine Zeit da ist. Dass jemand das Essen gereicht kriegen muss, obwohl er selber noch kann; dass er geweckt werden muss, obwohl er noch schlafen möchte. Und diese Summe der kleinen Menschenrechtsverletzungen macht eigentlich dann eine Menschenrechtsverletzung aus – aus meiner Sicht.« Der Mann hat das Problem erkannt.
In Frankfurt versucht man deshalb, an Demenz erkrankte Menschen zu beschäftigen, wie an diesem Vormittag. Alle Bewohner werden um einen Tisch versammelt. Ein Luftballon wird aufgeblasen. Den werfen sich die pflegebedürftigen alten Menschen gegenseitig zu. Zunächst haben sie großen Spaß an dem Spiel. Es soll die Bewohner auf andere Gedanken bringen und den inneren Zwang zum Weglaufen hemmen. Doch als Frau J. den Luftballon nicht mehr hergeben will, kippt die Stimmung um. Sogar gegenseitige Aversionen kommen unverhohlen zum Ausdruck. »Ich kann nicht weitermachen. Ich geh hier fort«, verkündet Frau J. »Ja, dann gehen Sie doch heim«, fordert sie eine andere Bewohnerin auf und packt noch eins drauf: »Und kommen Sie nie mehr wieder.«
Frau J. läuft weg, weil sie vielleicht spürt, dass sie in der Gemeinschaft der Pflegebedürftigen nicht mehr willkommen ist. Ihr Drang nach draußen ist nicht zu stoppen, eine typische Eigenart dieser demenzkranken Frau. Aber sie versucht nicht nur vor Stresssituationen zu fliehen. Bis zu 15 Mal pro Schicht geistert sie irgendwo im Haus umher.
Für die Schwestern ist das zwar Routine, jedoch eine, die viel Zeit und Kraft erfordert. Diesmal findet sie Nicole Groß zwei Etagen tiefer im Treppenhaus. Natürlich weiß Frau J. nicht mehr, was sie hier will. Sie ist müde. »Schlafen wollen Sie? Wollen wir in Ihr Zimmer gehen?«, fragt Schwester Nicole und nimmt sie an der Hand. Erst jetzt wird die alte Frau etwas ruhiger.
Kurze Zeit später ist Frau J. wieder einmal auf der Flucht vor sich selbst, wird jedoch von einem Zivildienstleistenden aufgegriffen und in ihren Wohnbereich zurückgebracht. Dort bekommt sie ihre tägliche Psychopharmaka-Ration. Schwester Nicole glaubt, dass die Dosierung zu hoch ist, und will deshalb bei nächster Gelegenheit den behandelnden Arzt von einer Reduzierung überzeugen. »Dieses Psychopharmakon bekommt Frau J. dreimal täglich. Das ist eine relativ hohe Dosis, und trotzdem sind die Weglauftendenzen noch sehr stark ausgeprägt. Wir würden gerne eine Medikationsumstellung vornehmen, aber die Neurologin argumentiert, wir sollen die Frau J. einfach besser beschäftigen. Aber bei Personalknappheit geht das nicht, und wir sind der Meinung, Frau J. nimmt auch die Beschäftigung gar nicht an, weil sie sich nicht konzentrieren kann«, erklärt die Pflegerin. Ob sie will oder nicht, sie muss ihrer Patientin die vorgeschriebene Medikamentenmenge verabreichen. »Noch ein Schlückchen«, redet sie Frau J. gut zu, die ihre Arznei zunächst nur widerwillig einnimmt und sich dann vollends weigert.
Wie oft muss sie ihren Schützlingen eine zu hohe Dosierung Psychopharmaka verabreichen? Dies ist ein Problem, mit dem sich Nicole Groß schon seit einiger Zeit beschäftigt. Sie kämpft für eine Reduzierung der Medikamente. Unterstützung dabei erhielt sie damals, 2003, auch von ihrem ehemaligen Heimleiter. Seiner Meinung nach stopften Hausärzte rund die Hälfte der Bewohner mit Psychopharmaka voll. Hinzu seien andere überflüssige Medikamente gekommen. »Man könnte sie im Prinzip – aus meiner Sicht – schubkarrenweise wieder wegwerfen. Ich würde sogar behaupten, dass man ein Großteil der Medikamente hier unbeschadet weglassen könnte, und die Leute wären immer noch richtig versorgt.«
Frau J. läuft auf direkt auf Nicole Groß zu und eröffnet ihr unvermittelt, dass sie sich umbringen wolle. Nicole Groß muss darauf reagieren, irgendwie. Auch bei altersverwirrten Menschen darf eine Selbstmordankündigung nicht auf die leichte Schulter genommen werden. »Das ist keine gute Idee«, antwortet sie nach kurzem Zögern und hält die alte Frau an der Hand. Für die Altenpflegerin ist es eine jener Situationen, in denen sie sich immer noch hilflos fühlt. »Ich habe noch keinen guten Weg gefunden, damit umzugehen. Es ist für mich nach wie vor schlimm, wenn sie sagt: Es geht mir nicht gut, oder: Was soll ich machen? Oder: Ich kann nicht mehr. Ich kann nur hoffen und versuchen, das, was sie sagt, so zu interpretieren, dass sie einfach Aufmerksamkeit und Zuwendung braucht. Und so kann ich dementsprechend reagieren und versuchen, ihr Zuwendung zu geben.« Solche Hilfeschreie alter Menschen werden viel zu selten gehört, allerdings scheint Nicole Groß dafür sensible »Antennen« entwickelt zu haben.
Ein »Konzert für zwei« im Frankfurter Altenheim. Die an Demenz erkrankte Roswitha L. gibt ihrer Pflegerin eine Exklusivvorstellung. Sie ist eine schlanke und stolze Frau mit einer ganz besonderen Ausstrahlung. Die ehemalige Konzertpianistin spielt bis heute fehlerfrei Beethoven oder Bach, aber im Alltag kann sie sich an viele Dinge nicht mehr erinnern. In Nicole Groß findet Frau L. immer eine geduldige Zuhörerin und eine aufmerksame Gesprächspartnerin. Die Zweiundachtzigjährige ist sich zum Beispiel nicht sicher, ob ihre Eltern noch leben oder nicht. Und damit die alte Dame über diese Frage nicht allzu lange grübelt, schlägt ihr Schwester Nicole vor, sie bei ihrer Lieblingsbeschäftigung zu unterstützen. Schminken ist ein Höhepunkt im Alltag von Frau L. Für eine durch einen Sturz verursachte Wunde über dem linken Auge nimmt sie sich ausgiebig Zeit, um sie zu verdecken. Infolge ihrer Demenzerkrankung ist sie in die Phase der Pubertät zurückgefallen und so eitel wie ein Teenager. »Wir denken, dass gerade schminken, auf Schönheit achten, mit Kosmetik umgehen besonders wichtig sind und die Seele streicheln«, glaubt Nicole Groß. Ein gutes Make-up gehöre einfach zu den Attributen einer gepflegten Frau.
Überraschend ist der Neurologe zu einer Visite eingetroffen. Seit Langem schon drängt Nicole Groß den Mediziner, ein Psychopharmakon abzusetzen. Heute endlich hat sie damit Erfolg. »Die Schwestern berichten mir, dass Sie nicht mehr so unruhig
sind und viel stabiler«, sagt der Facharzt zu Frau L. Er erklärt ihr, dass das Medikament jetzt überflüssig sei. »Ach, Sie hatten ein Medikament verwandt?«, wundert sich Frau L. »Das habe ich gar nicht gemerkt.« Nicole Groß aber ist glücklich über diese Entscheidung. Dadurch, glaubt sie, erhält Frau L. noch mehr Lebensqualität.
Ein langer Arbeitstag für Nicole Groß geht allmählich zu Ende. Auch Frau J. hat einen aufregenden Tag hinter sich, dessen Ereignisse ihr aber schon längst wieder entfallen sind. Die Pflegerin bringt sie zu Bett in der Hoffnung, dass Frau J. diese Nacht ruhig schlafen wird, obwohl sie aus Erfahrung weiß, dass das Gegenteil der Fall sein wird. Und tatsächlich hat es nur wenige Minuten den Anschein, als ob sie einschlafen würde. Dann treibt sie die Unruhe wieder aus dem Bett. Irgendwo im Franziska-Schervier-Altenheim wird sie sich wieder verlaufen und von einer Nachtwache zurückgebracht werden.
2 Artgerechte Pflege – artgerechte Haltung: Ein Besuch im Pflegeheim für alte Tiere
Es ist ein regnerischer Morgen in der Isartalstraße in München. Wassertropfen auf der Stirn verbergen, dass Christian Poka mächtig ins Schwitzen gekommen ist. Der Direktor des Kreszentia-Stifts, eines kirchlichen Pflegeheims, plant einen ungewöhnlichen Ausflug für pflegebedürftige und demente Bewohner seiner Einrichtung. 34 Seniorinnen und Senioren dürfen am Ende ihres Lebens nach Gut Aiderbichl in der Nähe von Salzburg fahren, einem Asyl für alte Tiere. Poka ist ein energischer, stämmiger zweiundvierzigjähriger Mann, der sich für das Wohl seiner Schutzbefohlenen einsetzt. Mit dieser Tour sollen sie noch einmal jene Idylle erleben, die auch den Tieren nicht allzu häufig vergönnt ist. Der Heimleiter kennt die Biografie aller Bewohner und weiß, dass viele von ihnen früher engen Kontakt mit Tieren hatten. Deshalb verspricht er sich von diesem Ausflug auch einen therapeutischen Nutzen, vor allem für demente Menschen, die nur im Hier und Heute leben. »Die profitieren besonders davon«, sagt er. Und auch die Finanzierung steht. Eine Stiftung hat die Reise mit 1200 Euro unterstützt.
Die Exkursion mit so vielen Pflegebedürftigen erfordert einigen Aufwand, alles muss bis ins Detail organisiert werden. Deshalb ist Poka an diesem Morgen auch nervös, denn die Busfahrt nach Österreich hin und zurück beträgt 340 Kilometer. Ob alle Bewohner dieser Strapaze gewachsen sein werden?
Zunächst einmal stellt sich ihm aber ein anderes Problem. Wie bekommt er alle Senioren heil in die zwei gebuchten Busse? Die erste große Herausforderung für den Heimleiter. Die Busse können nämlich nicht direkt vor dem Heim parken. Poka hat zwar eine Sonderparkgenehmigung beantragt, war aber etwas zu spät dran. Nun blockieren mehrere Pkws den Eingang zum Heim. Die Busse stehen rund 150 Meter entfernt. Pflegekräfte schieben die alten Menschen, die auf den Rollstuhl angewiesen sind, zu den Bussen. Regenumhänge schützen sie vor der Nässe. Pokas Handy klingelt. Er erfährt, dass ein Bewohner nicht mitkann. An diesem Morgen hatte er »schwere Atemnot«, muss also zuerst einmal ärztlich versorgt werden. Noch während des Telefonats werden die Rollstuhlfahrer mit einer Hebebühne einzeln in den Bus gehievt. Ruhig lassen die alten Menschen diese Prozedur über sich ergehen. Jeder Bewohner wird von einem Mitarbeiter der Einrichtung oder einem ehrenamtlichen Helfer begleitet. Das ist das Konzept. Poka überprüft ein letztes Mal, ob auch alles mit an Bord ist. Die Checkliste ist lang. Für Notfälle sind die medizinischen Befunde aller Bewohner eingepackt, gekühltes Insulin für die Diabetespatienten ist ebenso dabei wie eine Zeckenzange und Sonnenmilch. Er und seine Pflegedienstleiterin haben an alles gedacht. Aber: »Theoretisch kann es zu Problemen kommen«, sagt er. Zwischen Deutschland und Österreich gibt es zwar offiziell keine Grenzkontrollen mehr, jedoch was tun, wenn der Bus von einer mobilen Streife überprüft wird? Einige der Bewohner sind nämlich von der Ausweispflicht befreit, sie können also keine Papiere mehr vorzeigen. Für diese Fälle hat er ausreichend Bargeld dabei, um im Fall der Fälle eine Kaution zahlen zu können. Auch nimmt er bewusst in Kauf, dass nicht für alle Bewohner eine zusätzliche Auslandskrankenversicherung abgeschlossen werden konnte. Ein kleines Risiko, »aber es wird schon nichts passieren«, gibt er sich optimistisch. Die Bewohner seien bei 17 verschiedenen Krankenkassen versichert. Organisatorisch sei das gar nicht machbar gewesen, für alle eine solche Versicherung abzuschließen.
Als ihm die ersten Alten aus dem Bus zuwinken, lächelt er: »Die Leute kommen raus und sind glücklich.« Früher seien die Menschen doch auch gern Bus gefahren. Jetzt habe er das Gefühl, dass die Fahrt für seine Schützlinge ein Highlight werden könnte – womöglich eines der letzten in ihrem Leben.
Eine alte Frau in der vorletzten Sitzreihe will von einem Moment auf den anderen nicht mehr mitfahren, weil es regnet. Als sie Anstalten macht auszusteigen, erzählt ihr die Betreuerin von den vielen Tieren, den Pferden und den Kühen, die auf Gut Aiderbichl leben. Schnell ändert sie ihre Meinung und setzt sich wieder hin. An Demenz erkrankte alte Menschen verhalten sich häufig wie Kinder.
Es ist inzwischen zehn Uhr. Abfahrt. Viele Bewohner starren fasziniert aus dem Fenster, lassen die regnerische Landschaft an sich vorbeiziehen. Normalerweise unterliegen altersverwirrte Menschen einem großen Bewegungsdrang, die Fahrt beschäftigt sie aber so sehr, dass sie ruhig sitzen bleiben. Heimleiter Poka läuft durch den Bus, spricht mit allen Bewohnern. Dafür hat er im Alltag nur selten Zeit. Zufrieden hält eine altersverwirrte Frau an der Schulter einer Pflegerin ein Nickerchen. Schon jetzt wird deutlich: Die alten Menschen genießen die Zuwendung ihrer Pflegekräfte. Nach anderthalb Stunden macht die Reisegruppe eine Pause. Der Bus hält an einer Raststätte. Die Bewohner werden zur Toilette gebracht. Die zweiundachtzigjährige Irmgard Walter zündet sich sofort eine Zigarette an. »Ein Laster braucht der Mensch«, sagt sie. Aber sie rauche nur fünf bis sechs Zigaretten am Tag. Fast ihr ganzes Leben hatte sie in Dortmund verbracht, bis sie eines Tages die Treppe hinuntergestürzt war und einen Oberschenkelhalsbruch erlitten hatte. Da ihre Kinder nach München gezogen waren, hatte sie sich entschlossen, dort ins Pflegeheim zu gehen. Sie freue sich auf Aiderbichl – auch wegen der Tiere, vor allem aber wegen eines »anständigen Mittagessens«. Ihre kroatische Pflegerin, die sehr gut Deutsch spricht, lacht.
Um 12.20 Uhr ist es so weit: Ankunft auf Gut Aiderbichl. »Ich kann nicht mehr«, stöhnt eine gebrechliche alte Dame und weigert sich auszusteigen. Ihre Betreuerin erzählt ihr, was sie an diesem Nachmittag verpassen würde, wenn sie im Bus bliebe.
Wie durch ein Wunder kommt sie plötzlich wieder zu Kräften. Hand in Hand verlassen beide den Bus. Andere, die kaum mehr gehen können, haben es nicht so leicht. Christian Poka und zwei Kolleginnen helfen einer hundertjährigen Seniorin beim Aussteigen. Sie hat Angst vor den Stufen, fürchtet sich vor einem Sturz. Deshalb will die pflegebedürftige Frau unbedingt rückwärts hinaus – ein schwieriges Unterfangen, vor allem für die Helfer. Stufe um Stufe wird sie hinuntergeleitet. Dabei verliert sie ihren Schuh. Sie besteht darauf, ihn sofort wieder anzuziehen. Erst dann will sie weitergehen. Diesem Wunsch kommt das Personal nach, auch wenn es anstrengend ist. Fünf Minuten später aber hat sie es geschafft. Die alte Frau sitzt in ihrem Rollstuhl inmitten der Tiere auf Gut Aiderbichl.
Von »Angelino«,einem ehemaligen Dressurpferd, sind die meisten Münchener Gäste begeistert. Fast alle Bewohner des Kreszentia-Stifts wollen zu ihm. Die Beine des Hengstes seien durch die sportliche Überbelastung im Verlauf seines langen Lebens so geschädigt, dass er nicht mehr reitbar sei, heißt es auf einer Tafel vor seiner Box. Eine demente Bewohnerin, der es das Tier ganz besonders angetan hat, streckt ihre Hand nach ihm aus. Wie durch ein Wunder senkt sich auch der Kopf des Hengstes. Die alte Frau streichelt das alte Pferd, und beide sind glücklich. Wenige Ställe weiter steht die Stute »Wanda«. Sie musste als »Sportgerät« die meiste Zeit in einem dunklen Stall verbringen. Tierschützer haben sie in letzter Minute vor dem Todestransport bewahrt. Auch das Pferd mit dem Namen »Barrichello« sollte zum Schlachter. Gut Aiderbichl hat ihn gekauft und ihm somit das Leben gerettet. In der neuen Umgebung war Barrichello zunächst sehr unglücklich, bis man auf die Idee kam, auch noch seine Mutter hinzuzuholen. »Als er sie sah, ist er fast durchgedreht«, erzählt ein Gutsangestellter den gespannt zuhörenden alten Menschen. Eine tierische Familienzusammenführung sei das, zum Wohle zweier Pferdegenerationen.
Der sechsundachtzigjährige Josef Siegel lacht den ganzen Tag. Mehr als drei Jahrzehnte hat er auf einem Bauernhof gearbeitet, deshalb fühlt er sich auf Aiderbichl wie zu Hause. Im Pflegeheim kümmert er sich um zahme Kaninchen, die im Garten in einem Freigehege umherhoppeln. Aber Gut Aiderbichl ist etwas ganz anderes, hier ist die Anzahl der Tiere erheblich höher. Ein Leben fast wie auf dem Bauernhof – nur viel schöner. Die Bewohner des Pflegeheims sind glücklich. Zusammen mit ihren Betreuern schwärmen sie aus, streicheln die Tiere und sprechen mit ihnen.
Nur einem stehen leichte Sorgenfalten auf der Stirn. »Jetzt weiß ich, warum andere Einrichtungsleiter diese Tour nicht machen. Wenn etwas passiert, bist du der Dumme«, sagt Christian Poka.
Gut Aiderbichl besteht unter anderem aus einer Maschinenhalle, einer Veranstaltungshalle im Landhausstil, mehreren Ställen, einem Schweinehaus, dem etwas abseits gelegenen Schroffnergut, einem Patenschaftsbüro und einer Cafeteria. Auf dem Anwesen sollen in erster Linie Pferde ihr Gnadenbrot bekommen, aber auch Füchse, Kampfhähne, Schweine und Kühe haben hier ein Zuhause. Aiderbichl ist »nicht nur ein Mahnmal für die Rechte der Tiere und ein paradiesischer Ort, sondern ein großer Spiegel. Da spiegeln sich im würdelosen Umgang mit den Tieren, den Legebatterien und Tiertransporten unsere Pflegeheime und Großraumbüros, wie überhaupt unser Verhältnis nicht nur zu den Schwächeren, sondern überhaupt unter- und miteinander. Aiderbichl erinnert daran, dass wir eine Schicksalsgemeinschaft sind auf Erden«, so die Philosophie. »Warum muss man das extra betonen?«, fragt ein kleiner Junge seinen Vater, als er diese Worte hört.
Hinter diesem vorbildlichen Konzept steckt vor allem ein Mann: Michael Aufhauser. Vor Jahren musste der Geschäftsmann miterleben, wie Hunde in Spanien vergast wurden: »Da taten mir zunächst diese armen Hunde leid, die ich zu retten begann. Und dann dachte ich: Wie unmenschlich und zynisch geht man eigentlich mit Leben um! Und dann fiel mir ein, dass wir selber auch ganz schön arme Hunde sind. Und was dann? Um Gottes willen, dachte ich, das hängt doch alles zusammen. Wie wir mit Tieren umgehen, gehen wir im Notfall auch mit Menschen um«, sagte er in einem Interview im Internet. Im Jahr 2000 wurde mit dem Bau von Gut Aiderbichl begonnen. Ziel ist es, irgendwann einmal die enormen Unterhaltskosten selbst zu erwirtschaften. Mehr als 50 fest angestellte Mitarbeiter auf fünf Höfen sorgen rund um die Uhr für 700 Tiere. Die notwendigen Mittel dafür werden durch Gastronomie, Merchandising und den Verkauf von Patenschaften für Tiere gedeckt. Damit werden zwar, so die Auskunft vor Ort, keine Gewinne erzielt, aber rund 70 Prozent der anfallenden Kosten abgedeckt. Den Rest finanziere Aufhauser aus seinem Privatvermögen. »Hält man Tiere so wie wir, kostet jeder Tag über 11 000 Euro«, erklärt man uns. Eine riesige Summe.
Wir wollen wissen, wie der Umgang mit alten Tieren auf Gut Aiderbichl im Vergleich zur Pflege in Heimen ist, und begleiten Tierpfleger Walter Sagmeister bei seiner Arbeit. In seinem Mittelklassewagen fährt er uns zu seinem Lieblingspferd »Elvis«, einem sechsjährigen Haflinger. Auf der Fahrt dorthin hören wir im Autoradio zwei Songs der gleichnamigen einstigen Rocklegende aus Memphis/Tennessee – natürlich in maximaler Lautstärke. Vor allem die Titel »Why Mylord« und »Please Release Me« begeistern den 37 Jahre alten, geschiedenen Tierpfleger. »Pferde gehören nicht zu meinem Leben, sie sind mein Leben«, sagt er. Auf der Fahrt zu Elvis schwärmt Sagmeister von den ausgedehnten Weideflächen, auf denen die Pferde sich austoben können, dazu sind für jedes Tier große Freilauf- und Weideboxen eingerichtet worden. Arztvisiten für die Tiere gebe es jeden Montag durch Tierärzte aus der Umgebung, für besondere Fälle stehe sogar eine Veterinärklinik in München bereit. Mehrere Tierarztpraxen hätten sich zu einem Notdienst zusammengeschlossen. »Der Bereitschaftsdienst ist rund um die Uhr erreichbar. In Notfällen sind die Ärzte in 30 Minuten da«, versichert der Pfleger. In der vergangenen Nacht habe ein 24 Jahre altes Pferd eine Kreislaufschwäche erlitten. Zehn Minuten sei es um Leben und Tod gegangen. Dann hätten die Mediziner den Kollaps wieder behoben. Morgen komme eine Spezialtierärztin, die den Vierbeiner mit homöopathischen Mitteln behandle. Gewalt gegen Tiere werde zu »200 Prozent« abgelehnt, keines festgebunden. Pferde mit psychischen Problemen würden von Fachkräften behut- und einfühlsam therapiert. »Viele Tiere wurden früher geschlagen, und wenn ein Mensch kommt, haben sie Angst«, schildert Sagmeister seine Erfahrungen bei neu eingelieferten Pferden. Die Tiere müssten lernen, dass der Mensch kein Feind sei, sondern ein Freund. Wenn das gelinge, gehe es ihnen schnell wieder besser. »Jedes Tier hat ein Anrecht auf ein menschenwürdiges Leben«, sagt Walter Sagmeister. Die Welt wäre besser, wenn das die Menschen einsehen würden. Elvis und die anderen Pferde freuen sich, als wir am Schroffnergut ankommen. Sie wiehern und stupsen uns mit ihren Nasen an, als wir die Stallungen betreten. »Elvis hat einen prominenten Paten – DJ Ötzi«, erzählt Sagmeister stolz. Mit ihm habe er sogar persönlich gesprochen. Dem Haflinger ist auf Gut Aiderbichl, im Tierparadies, ein friedvolles Leben vergönnt.
Würden die Grundsätze von Gut Aiderbichl in den Pflegeheimen umgesetzt, so wäre in Deutschland das Thema »Pflegenotstand« ein für alle Mal vom Tisch. Es wäre so einfach. Das Konzept auf Gut Aiderbichl ist ebenso schlicht wie effektiv. Alle Tiere haben einen Namen und eine Geschichte. Damit holen die Macher von Aiderbichl Tierschicksale aus der Anonymität, erzeugen Mitleid und Spendenbereitschaft. Elvis ist nicht mehr irgendein Pferd, sondern der Haflinger, für den sich in der Person DJ Ötzis sogar ein Prominenter einsetzt. Insgesamt 7000 Tierpatenschaften wurden bereits abgeschlossen, erfahren wir im zuständigen Büro. Jeder Pate bekommt ein Foto von seinem Liebling. Dafür zahlen die Tierfreunde mindestens zehn Euro im Monat. Im Gegenzug garantiert Gut Aiderbichl, dass für das »Patenkind« bestens gesorgt wird.
Warum gibt es solche Patenschaften nicht auch für alte Menschen? Den pflegebedürftigen Senioren könnte es besser gehen. Man ersetze den Namen »Elvis« nur durch »Erna Müller«, in Kombination mit einer anrührenden Geschichte. Warum sollten Menschen nicht für Senioren in Not spenden? So würde nicht nur Tieren »ein menschenwürdiges Dasein« geschenkt, sondern auch vielen alten Menschen jene Hilfe, derer sie so dringend bedürfen. Vor allem die gängige Praxis der Pflege im Minutentakt, die man auf Gut Aiderbichl nicht kennt, könnte durch Zuwendung und Zuneigung ersetzt werden.
Es ist kurz vor 14 Uhr – Essenszeit für die Reisegruppe aus dem Münchener Pflegeheim. Es gibt Spaghetti mit Tomatensauce. Wir sitzen neben der achtundachtzigjährigen Hildegard M. Ihr sind die Tierschicksale auf Gut Aiderbichl ans Herz gegangen. Sie sei einerseits »erschüttert«, andererseits aber auch »dankbar«, dass die Tiere nicht der Schlachtbank zum Opfer gefallen sind. Sie vergleicht die Situation dieser armen Geschöpfe mit der alter Menschen. »Vielleicht geht es den Tieren ja besser als vielen Senioren im Heim«, vermutet sie. Sie selbst könne sich aber nicht beschweren. Im Kreszentia-Stift sei sie gut aufgehoben. Pflege habe etwas mit Einstellung und Haltung zu tun. Einen kleinen Makel aber hat sie doch entdeckt: Das Essen auf Gut Aiderbichl schmeckt ihr »besser als im Heim«, und daran sei nicht nur die frische Luft schuld. Das betont sie mehrfach nachdrücklich. Wen wundert das? Als wir daraufhin Heimleiter Christian Poka mit dieser Aussage konfrontieren, räumt er ein, dass für die Verpflegung eines Bewohners nur 3,80 Euro zur Verfügung stehen – am Tag, versteht sich. Beim Bäcker bekommt man dafür gerade einmal eine Butterbrezel und einen Milchkaffee.
Walter Sagmeister dagegen kann seinen Lieblingen etwas mehr bieten: »Für beste Futtermittel geben wir zwischen 10 und 20 Euro pro Tag und Tier aus.« Sein »Sorgenkind« ist die fünfundzwanzigjährige »Troja«. Die Stute vegetierte lange Zeit in einer Betonbox dahin. Sie ist unterernährt, die Knochen zeichnen sich unter dem Fell ab. Der Tierpfleger zieht Schmerz- und Aufbaumittel in einer Spritze auf. Diese verabreicht er dem Tier ins offene Maul, sodass es den Inhalt schlucken muss. Das Pferd wehrt sich nicht dagegen. Außerdem sind seine Hufe geschwollen. Auf Gut Aiderbichl wurde ein erfahrener Schmied hinzugezogen. Wie bei einer Einlage in einem Schuh hat er Spezialeisen für die Stute angefertigt, selbstverständlich in Maßarbeit. Seither geht es dem Tier etwas besser. Regelmäßig reibt der Tierpfleger Troja eine Spezialpaste ein, damit die Schwellung am Bein zurückgeht. Dafür nimmt er sich die erforderliche Zeit und spricht immer wieder mit seinem Schützling. Sagmeister ist froh, dass er sein Hobby Springreiten aufgegeben hat. Das Aufpäppeln von Tieren mache ihm mehr Spaß: »Ein Springpferd springt auch mit anderen, aber hier werde ich gebraucht.«
Trojas Boxennachbar heißt »Boris«, der an Hufkrebs leidet. Auf der rechten Seite sei die Wucherung einmal 30 Zentimeter groß gewesen. Der Tierpfleger säubert die Hufe täglich und reibt mit einem Pinsel ein Krebsmittel ein. Resultat der Behandlung: Das Geschwür ist schon deutlich zurückgegangen.
Als Nächste kommt »Amanda«, das Hausschwein, an die Reihe. Um das zehn Jahre alte Tier ist es nicht sonderlich gut bestellt. Die gebrechliche Sau, die 48 Ferkel geworfen hat, leidet an schwerer Arthrose, kann sich nicht mehr erheben. Sie liegt auf feinstem Stroh, das regelmäßig gewechselt wird. Als die Sau Sagmeister sieht, versucht sie sich hochzurappeln. Aber die Hinterbeine versagen ihren Dienst. Frische Äpfel und andere Leckereien sollen sie über ihr Gebrechen hinwegtrösten.
Wenn es mit einem Tier zu Ende geht, merken das die Pflegekräfte. Dann bekommt es Streicheleinheiten von sämtlichen Mitarbeitern, Tag und Nacht. Die Sterbebegleitung wird zelebriert. Alle wollen dabeisein. »Die Zuwendung zum Tier ist zu 100 Prozent da, das Team darf untereinander nicht zerstritten sein«, sagt Walter Sagmeister.
So stellen wir uns Pflege auch im Heim vor: Würde, Respekt und Achtung vor den Schwächeren und Hilfe, die sich auch ohne Vorschriften an den Bedürfnissen der Bewohner orientiert. »Pflegen, so wie man später auch einmal gepflegt werden möchte«, ist der erste Grundsatz der Menschlichkeit. Dazu gehört auch die Sterbebegleitung. Auf Gut Aiderbichl muss kein Tier allein aus dem Leben scheiden, in vielen Heimen dagegen schon.
»Müssen wir wirklich schon heimfahren?«, fragt eine demente Frau um 17 Uhr. Sie hat einen rundum gelungenen Tag erlebt – einen Höhepunkt in einem ansonsten eher eintönigen Leben.
Heimleiter wie Christian Poka sind Vorbilder. Obwohl es zusätzliches Engagement, Zeit für die Organisation und Kosten verursacht, setzen sie sich für ein würdevolles Leben ein. Als die Gruppe wieder in München ankommt, zieht er sein persönliches Resümee: »Für die alten Menschen war es eine Bereicherung. Bewohner, die sonst kaum etwas sagen, erzählen plötzlich, wenn es einen Aufhänger gibt und äußere Reize da sind.« Als Frau M. dem Heimleiter mitteilt, dass sie jetzt ihren Sohn – der vor dem Ausflug Befürchtungen geäußert hatte, dass sie sich möglicherweise überanstrengen könne – telefonisch beruhigen wolle, lächelt Poka. »Bitte, richten Sie ihm aus, die nächste Reise geht nach Las Vegas.«
3 Das Horrorkabinett: Erfahrungen im Heimalltag
In den vergangenen zehn Jahren haben wir weit über 40 000 Briefe, E-Mails und Anrufe von Heimleitern, Pflegepersonal, Kriminalbeamten, Ärzten, Angehörigen und, sofern sie noch schreiben können, auch Betroffenen erhalten. Die schriftlichen Mitteilungen füllen inzwischen Aktenordner und Schrankwände. Die meisten Briefe beschreiben Defizite in der Altenpflege. »Whistleblower« nennt man Personen, die interne Missstände eines Pflegeheims publik machen. Erfreulicherweise melden sich immer mehr Insider bei uns mit vollem Namen, bitten aber bei Veröffentlichung ihrer Informationen um Wahrung der Anonymität. Viele uns so zugetragene »Fälle« haben wir nachrecherchiert. Unser Ergebnis: Die Informanten neigen eher zur Unter- als zur Übertreibung, denn auch angesichts der gravierendsten Übel besteht vor allem bei Pflegekräften immer noch ein Rest Loyalität zum Arbeitgeber.
Vielfach haben die Kontrollinstanzen wie der Medizinische Dienst der Krankenversicherung oder die Heimaufsicht im Nachgang noch ganz andere Dinge zutage gefördert als die, die in den Briefen beschrieben werden. In fast allen Fällen aber wollen unsere Insider unerkannt bleiben, da sie wirtschaftlich von der Branche abhängig sind. Ein »Outing« brächte neben dem Jobverlust zusätzlich einen sozialen Abstieg und »Mobbing« für die Betroffenen mit sich. Denn, so die Befürchtung einer Pflegekraft, die offen Missstände anprangert: Es droht allen »Whistleblowern« in der Branche quasi ein Berufsverbot. Ein Wechsel zu einem anderen Heimträger wäre damit nahezu unmöglich. Wir fühlen uns dem Informantenschutz verpflichtet und haben uns sorgfältig bemüht, die Anonymität unserer Quellen zu schützen.
Was ist eigentlich ein schlechtes Heim? Generell lässt sich sagen: »Der Fisch stinkt vom Kopf her.« Gibt es einen engagierten Geschäftsführer und einen qualifizierten Heimleiter, dann ist das Pflegepersonal meistens motiviert, und die Bewohner werden menschenwürdig versorgt. Ist die Führungsspitze schwach oder auf Profite aus, so haben das in der Regel die Mitarbeiter und die alten Menschen auszubaden – in verschiedenen Ausprägungen. Häufig bekommen die Bewohner nicht genügend zu trinken und zu essen. Sie werden nicht zur Toilette gebracht, wenn sie es wünschen. Sie werden »angebunden«, weil sie stürzen könnten, und mit Psychopharmaka ruhig gestellt. Es gibt zu wenig Personal, und die Pflegekräfte sprechen kaum Deutsch. Gegenüber den alten Menschen wird Gewalt ausgeübt.
Auf den folgenden Seiten wollen wir auch die Menschen, die unter dieser Situation leiden, zu Wort kommen lassen: Angehörige, Pflegekräfte, aber auch Ärzte. Wir veröffentlichen hier nur anonyme Schreiben, die wir für glaubhaft halten, deren Inhalt wir nachgeprüft haben oder die durch mehrere Quellen bestätigt wurden. Es sind authentische Berichte über Zustände, wie sie hierzulande überall vorkommen könnten.
Die Situation in schlechten Einrichtungenaus der Sicht einer Pflegerin
Zunächst wollen wir Ihnen einen aktuellen Fall vorstellen. Eine Pflegerin aus den neuen Bundesländern hat uns im Sommer 2007 geschrieben. Ihr Arbeitstag sieht ganz anders aus als der, den die bisher vorgestellten Kolleginnen und Kollegen beschrieben haben. Es folgt ein Situationsbericht, der symptomatisch für viele Einrichtungen steht:
Ich habe als Altenpflegerin in einem Alten- und Pflegeheim gearbeitet. Die Anlage verfügt über zwei Häuser: einen Altbau mit 170 Bewohnern und nebenan einen Neubau mit ca. 60 Plätzen. Die Pflege in den Einrichtungen ist dieselbe, nur der Preis unterscheidet sich. Das neue Heim kostet weitaus mehr. Irgendjemand muss so eine Immobilie ja bezahlen.
Im November des Jahres 2002 gab es in diesem Heim einen »Super-GAU«. Der Medizinische Dienst der Krankenversicherung [MDK] kontrollierte die Einrichtung unangemeldet, ohne den Geschäftsführer vorab zu informieren. Bislang hatte er immer einen Tipp bekommen. Der Pflegedienstleitung waren sogar die Personen bekannt, die begutachtet werden sollten. Für diesen Tag X wurden im Dienstplan immer bestimmte unternehmenstreue Pflegekräfte für den Frühdienst eingesetzt. Um die Mitarbeiter des MDK am Tag der Kontrolle milde und gewogen zu stimmen, erhielten sie vor Beginn ihrer Kontrollen bei der Heimleitung erst einmal ein Frühstücksbuffet. Doch dieses Mal funktionierte diese Masche nicht. Nach gezielten Kontrollen durch zwölf Mitarbeiter des MDK wurde 2002 festgestellt, dass die Pflege nicht mehr tragbar sei. Bei einigen Bewohnern wurden Dekubitalgeschwüre festgestellt. Das Pflegepersonal war total fertig.
Der Wahrheit entspricht, dass entsprechende Hilfsmittel (Dekubitusmatratzen, Lagerungshilfen etc.) im Hause nicht zur Verfügung standen. Da kann eine Pflegekraft machen, was sie will: Sie kann bettlägerige Menschen ohne diese notwendigen Hilfs- und Lagerungsmittel nicht vor Druckgeschwüren bewahren. Das Heim hatte einen sofortigen Aufnahmestopp. Der dauerte bis zum August 2003. Der Pflegedienstleiter wurde beurlaubt. Später hat er gekündigt.