Es wurde lebenslänglich - Thesi Frei-Bur - E-Book

Es wurde lebenslänglich E-Book

Thesi Frei-Bur

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Beschreibung

Als junge Lehrerin kam Thesi Frei-Bur 1971 nach Grenchen und schlug hier wider Erwarten schnell Wurzeln. Über 50 Jahre lang blieb sie der Stadt verbunden. Obwohl sie den Wohnort mehrmals wechselte, verliess sie nie die Umgebung und behielt ihre Engagements in Vereinen und kulturellen Organisationen bei. Seit 2012 lebt sie mit ihrem Partner, einem Grenchner Bürger, wieder in der Stadt, die sie inzwischen längst ihre Heimat nennt.

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Für meinen Lebensgefährten Georges Schild, der mir in Grenchen ein Zuhause gibt.

«Hier werde ich nicht alt!»

Das war meine feste Überzeugung im Frühling 1971, wenige Wochen nach meiner Ankunft in Grenchen.

Inzwischen bin ich 77 Jahre alt, lebe in Grenchen und hoffe, dass ich hier noch älter werden darf.

«Du bist ja nicht mehr bei Trost, das kannst du unmöglich machen!» So etwas hatte die Mutter noch nie zu ihm gesagt.

Mein Vater war trotzdem nicht sonderlich beeindruckt. Er sollte eine Ansprache halten.

Bei uns im Dorf hatte er schon oft vor vielen Leuten geredet, immer aus dem Stegreif, immer mit Erfolg.

Jetzt aber sollte er in GRENCHEN sprechen, in einer richtigen Stadt, vor den Mitgliedern des freien Arbeiterverbandes aus dem ganzen Kanton.

Eine unerhört wichtige Angelegenheit. Sogar ein Nationalrat würde dabei sein. Da konnte er nicht einfach drauflos schwatzen, fand Mama.

GRENCHEN war zum ersten Mal auf meinem Radar aufgetaucht.

Ich war etwa sechs Jahre alt und verstand die Welt nicht mehr. Meine Eltern stritten sich laut.

Meine Mutter, stolz auf ihre Schreibkünste, wollte Papas Ansprache unbedingt aufsetzen.

Mein Vater, der in seinen schwieligen Arbeiterhänden kaum einen Bleistift zu halten vermochte, wollte davon nichts wissen:

«Soweit kommt es noch, dass ich den Leuten erzähle, was du mir aufgeschrieben hast! Ich mache das wie immer. Mir ist egal, wer mir zuhört.» Für einmal setzte sich Papa durch. Mama konnte aufschreiben, was sie wollte. Er würde es nicht einmal durchlesen, geschweige denn vortragen.

Sie musste mit ihren Befürchtungen, sich mit ihm zu blamieren, selber fertig werden.

Am folgenden Samstag war es soweit.

Schon nach dem Mittagessen wurde die Küche für mich und meine älteren Geschwister zur Sperrzone erklärt. Kurzerhand war sie für das Reinigungsritual der Eltern zum Badezimmer umfunktioniert worden.

Bald roch es in der ganzen Wohnung betörend nach Seife und Pitralon-Rasierwasser.

Gespannt wartete ich darauf, die beiden in ihren Festtagskleidern, herausgeputzt für den Auftritt in Grenchen, bewundern zu dürfen.

Sie war kaum wiederzuerkennen. In einem dunkelblauen Deux-Pièces mit weisser Bluse betrat Mama das Wohnzimmer. Die rötlichen Haare hatte sie zu einem akkuraten Dutt aufgesteckt. Ihr Gesichtsausdruck war, dem bevorstehenden Ereignis angepasst, noch selbstbewusster als sonst. In meinen Augen sah sie atemberaubend aus.

Auch Papa machte eine gute Figur, durchaus passend zur eleganten Dame, in die sich unsere Mutter verwandelt hatte. Der dunkelgraue Anzug aus Halbleinen, das blendend weisse Hemd und die dezente Krawatte mit Krawattennadel standen ihm ausgezeichnet.

Wo aber waren die passenden Manschettenknöpfe?

Sie lagen nicht in der dafür vorgesehenen Schatulle.

Alle anwesenden Familienmitglieder machten sich auf die Suche nach den Schmuckstücken. Nervosität breitete sich aus.

Mir wurde ziemlich flau im Magen. Ich wusste genau, wo ich suchen musste, um Papas Problem zu lösen. Die Manschettenknöpfe hatten mir letzte Woche verbotenerweise noch als Spielzeug gedient.

Sie mussten sich im Korb mit meinen Spielsachen befinden. Wie sollte ich es anstellen, sie «zufällig» zu finden?

Mit einem zaghaften Lächeln trat ich vor meinen Vater und streckte ihm meine Hand mit den

«Fundstücken» entgegen. Vor Erleichterung und Freude dachte er nicht daran, mich zu fragen, woher ich sie plötzlich hatte.

Ich konnte aufatmen. Alle waren zufrieden und die Eltern für die Abfahrt bereit.

Die einzigen Autobesitzer in unserem Dorf waren damals der Direktor der kleinen Uhrenfabrik und der Baumeister. Sie fuhren beide dasselbe Modell, einen kastenartigen schwarzen Mercedes-Benz.

Andere Autos hatte ich bisher nur auf Bildern gesehen.

Nun fuhr ein leuchtend blauer Opel Olympia Rekord auf unserem Hausplatz vor.

Ehrfürchtig betrachtete ich das vornehme Gefährt.

Am Steuer sass ein mir gänzlich unbekannter Mann.

Mama nahm im Fond Platz, während sich Papa auf dem Beifahrersitz niederliess.

Ich winkte dem Wagen hinterher, bis er aus meinem Blickfeld verschwunden war.

Da fuhren sie davon, von einem Fremden chauffiert, nach Grenchen.

Welch eine Aufregung!

Der folgende Sonntagmorgen bleibt für mich unvergesslich.

Noch heute sehe ich die strahlenden Gesichter meiner Eltern vor mir.

Überschwänglich erzählten sie vom Verlauf des wunderbaren, berauschenden Abends in Grenchen.

Sie fielen einander ins Wort und übertrafen sich gegenseitig mit ihren Schilderungen.

Verblüfft hörte ich meine Mutter sogar ein mir bisher unbekanntes Lied vor sich hin trällern. «...und es Bitzeli, Birebirebitzeli, und es Bitzeli näbedra!» Meine Mama, die doch überzeugt war, dass sie seit ihrer Kropfoperation keine Singstimme mehr hatte!

Vom langanhaltenden Applaus nach Papas Ansprache waren sie beide gleichermassen gerührt.

Obwohl sie das nie eingestanden hätte, war mir klar, dass sich Mama im Erfolg ihres wortgewandten Gatten gesonnt hatte.

Die Begeisterung galt aber ebenso der Stadt Grenchen und dem Lokal, in dem der Anlass stattgefunden hatte. Es muss der Saal des Gasthofs Löwen gewesen sein, in dem der freie Arbeiterverband seine Jahresversammlung feierte.

In den allerhöchsten Tönen lobten meine Eltern den Conférencier Werner Wirth und die Jodelkünste seiner Gattin, Therese Wirth-von Kaenel. Ihr war es gelungen, meine Mutter vergessen zu lassen, dass sie nicht mehr singen konnte!

Es waren die ersten Namen von Menschen aus Grenchen, die in meinem Bewusstsein hängen blieben.

Einmal mit den Kindern des Ehepaars Wirth befreundet zu sein, wäre mir nicht in den kühnsten Träumen eingefallen!

Ein gutes Jahr später wurden meine Eltern wieder nach Grenchen eingeladen, diesmal ganz privat und ohne Ansprache.

Sie besichtigten mit ihren Bekannten das neu eröffnete Parktheater, damals das modernste Theater der ganzen Schweiz, in Grenchen, der damals grössten und wichtigsten Stadt im Kanton Solothurn! Die Begeisterung nahm kein Ende.

Grenchen wurde für mich gleichbedeutend mit Glanz und Gloria.

Die leitenden Angestellten der kleinen Uhrmachereien im Thal hatten ab und zu Kontakt zu Firmen in Grenchen.

Staunend hörten wir ihren Geschichten vom Reichtum der Uhrenpatrons zu:

«Jeder eine eigene Villa mit einem riesigen Park darum herum. Jeder ein eigenes, luxuriöses Auto, manche sogar mit einem Chauffeur, Geld wie Heu!» Fast ein wenig unheimlich.

Mein Eindruck, dass Grenchen aus allen Städten der Schweiz herausragen musste, festigte sich.

Wenn wir sonst «in die Stadt» fuhren, bedeutete das eine Reise nach Solothurn oder Olten, beide ungefähr gleich weit entfernt von meinem Heimatdorf im Thal. So eine Tagesreise fand höchstens einmal pro Halbjahr statt, wenn wir beim Grosseinkauf in Balsthal etwas nicht gefunden hatten.

Am frühen Morgen hiess es dann das Postauto besteigen, das uns zur Thalbrücke in Balsthal führte.

Mit den wackligen Wagons der ÖBB gelangten wir nach Oensingen, vor den Berg, wo wir in den Zug nach Olten oder Solothurn umsteigen mussten. Es blieben wenige Stunden für Einkäufe und ein Mittagessen in einem Restaurant, bevor wir uns wieder auf den umständlichen Heimweg machten.

Grenchen war noch weiter weg, fast unerreichbar, sozusagen in der grossen, weiten Welt! Obwohl sich mit zunehmendem Alter meine Vorstellung von Grenchen ein wenig relativierte, verlor sie ihren Glanz noch lange nicht.

Während meiner Ausbildung im Lehrerseminar wohnte ich zusammen mit drei anderen Seminaristinnen aus dem Thal im Mädchenkosthaus, dem prunkvollen Palais Besenval. Viel grösser hätte die Diskrepanz zu meinem bisherigen Daheim nicht sein können. Ich fühlte mich ziemlich verloren.

Nicht nur in der Stadt, auch im Schulhaus fand ich mich nur mit Mühe zurecht. Die Angst, als Bauerntrampel von hinter dem Berg entlarvt zu werden, war meine ständige Begleiterin.

Einige Klassenkameradinnen und -kameraden kamen aus Grenchen. Offensichtlich fühlten sie sich in der Kantonsschule wie zuhause. Das Labyrinth der endlosen Flure verwirrte sie überhaupt nicht.

Lachend und plaudernd schlenderten sie von einem Schulzimmer zum andern, während ich, völlig verunsichert, durch die Gänge hastete.

Morgens kamen sie mit der Eisenbahn nach Solothurn und konnten jeden Abend nach Hause zurückkehren. Sie mussten nicht wie ich, vom Heimweh geplagt, im Kosthaus wohnen.

Einmal mehr waren meine Mitmenschen aus Grenchen beneidenswert.

*****

Das Kinn in beide Hände gestützt, starrte ich auf das leere Whiskyglas auf dem Tisch vor mir und wartete auf die erhoffte Wirkung. Vergeblich.

Obwohl ich den «Four Roses» in einem Zug gekippt hatte, schwemmte er nichts von meiner Verzweiflung weg.

Als ich resolut einen zweiten bestellte, warf mir Hannes, der österreichische Kellner in der

«Fuchsenhöhle» in Solothurn, einen leicht besorgten Blick zu.

Zum Glück verkniff er sich die Bemerkung, die ihm offensichtlich auf der Zunge brannte. Ich hatte nicht die geringste Lust, mich vor ihm zu rechtfertigen. Es gab keine Worte, in die ich meinen Kummer hätte kleiden können.

Eine unbekannte Männerstimme schreckte mich auf:

«Sie, blondes Fräulein, können sie mir diesen Text vorlesen?» Der fremde junge Mann, der neben mir stand, lächelte mich freundlich an.

Blondes Fräulein! Beinahe hätte ich laut gelacht.

Wenn der wüsste!

Ich war 21 Jahre alt, Mutter einer zweijährigen Tochter und im Begriff, die Scherben meiner kläglich gescheiterten Ehe zu betrachten.

Die Möglichkeit, Zuflucht bei meinen Eltern oder Geschwistern zu suchen, hatte ich mir selber gründlich verscherzt. Als ich mit 18 Jahren schwanger wurde, hatte ich all ihre guten Ratschläge in den Wind geschlagen, meinen Willen durchgesetzt, geheiratet und war mit meinem Ehemann Urs nach Zürich gezogen.

Meine Ausbildung zur Lehrerin hatte ich für ein Jahr unterbrochen.

Verheiratet und schwanger zu sein, einen Haushalt einzurichten, die Verantwortung für das monatliche Budget zu übernehmen, alles war ein spannendes Abenteuer für mich.

Sogar meine anfänglich sehr mangelhaften Kochkünste verstand ich zu überspielen. Jedes misslungene Gericht stellte ich als «türkische Spezialität» auf den Tisch. Mein Ehemann, von seiner Mutter an kulinarische Höhenflüge gewöhnt, verhielt sich äusserst taktvoll und geduldig.

«Die türkische Küche ist nicht meine bevorzugte!» war die härteste Kritik, die er je anbrachte.

In jugendlichem Übermut zelebrierten wir das Unterfangen Ehe, unbekümmert und zuversichtlich.

Die Geburt unserer Tochter schränkte meine Sorglosigkeit abrupt ein. Schlagartig wurde ich mir der Verantwortung für das Kind bewusst, ohne ihr gewachsen zu sein.

Mein Mann erfüllte seine Pflicht, indem er weiterhin seinen Beruf ausübte, dabei gut verdiente und pünktlich den Lohn nach Hause brachte. Alle weiteren Entscheidungen und Aufgaben überliess er grosszügig mir.

Unser Kind zu betreuen, die Finanzen vernünftig einzuteilen und nebenbei den Haushalt zu führen, stellte mich vor Herausforderungen, die mich deutlich überforderten.

So war ich nicht unglücklich, ein halbes Jahr später mit meiner Tochter wieder bei den Schwiegereltern in Solothurn einzuziehen, um das letzte Jahr des Lehrerseminars zu absolvieren. Während der Woche kümmerte sich meine Schwiegermutter tagsüber um das Kind. Die Verantwortung für unsere Tochter mit ihrem Grosi teilen zu können, bedeutete für mich eine grosse Erleichterung. Die Wochenenden verbrachten wir aber wenn immer möglich gemeinsam mit Urs in Kloten.

Es wurde ein sehr anstrengendes, aber auch interessantes und erfüllendes Jahr.

Eigentlich traute mir niemand zu, dass ich den Abschluss unter diesen Umständen schaffen könnte.

Für mich hingegen war das nur der nötige Ansporn, es allen zu zeigen.

Ich hatte es geschafft! Seit ich mit dem Lehrerpatent in der Tasche wieder bei meinem Mann in Kloten lebte, lief mein Leben aber völlig aus dem Ruder.

Es war der Sommer 1968.

Meine Aufgaben als Hausfrau und Mutter vermochten mich nicht mehr annähernd auszufüllen.

Einige meiner Freundinnen und Freunde aus der Kantonsschule hatten ihr Studium an der Universität in Zürich begonnen.

Ich wollte mich an ihren Diskussionen beteiligen, mir eine eigene Meinung zu den brennenden Themen bilden, mich für die Anliegen der Studierenden einsetzen und für die Rechte der Frauen kämpfen. Die Jugendunruhen, die auf den Strassen der Stadt ausgetragen wurden, wiederholten sich in meinem Kopf und meinem Herzen.

Mein vier Jahre älterer Ehemann, der als Flugverkehrsleiter auf dem Flughafen Kloten angestellt war, hatte für diese Probleme wenig Verständnis, nannte sie Flausen und nahm mich nicht mehr ernst. Meine Bewunderung für ihn, den erfahrenen, selbstsicheren Mann, verflüchtigte sich genau so gründlich wie mein Stolz darauf, mit ihm verheiratet zu sein.

So schnell, wie wir uns ineinander verliebt hatten, lebten wir uns jetzt auseinander.

Die Streitgespräche wurden stets lauter und heftiger.

Eine Versöhnung konnte kaum mehr stattfinden, weil ich immer weniger bereit war, klein beizugeben.

Nun sass ich da, in der Fuchsenhöhle, vor meinem zweiten Glas Whisky. Meine kleine Tochter war bei der Schwiegermutter für diesen Abend in sicherer Obhut.

Einen kurzen Text sollte ich dem Fremden vorlesen, mit französischem Akzent.

Wenn’s weiter nichts war...

Die Begeisterung, die ich mit dem einfältigen Satz auslöste, war verblüffend. Plötzlich sassen der Fremde und ein zweiter unbekannter Mann an meinem Tisch.

Beide redeten aufgeregt auf mich ein:

«Theatergruppe, weibliche Hauptrolle ausgefallen, dir sozusagen auf den Leib geschrieben, unbedingt mitmachen, schon bald die erste Aufführung!» Sie erklärten mich zu ihrer Rettung, überhäuften mich mit Lobreden zu meinem Talent.

Ausgerechnet jetzt begann der zweite Whisky zu wirken, verwirrte meine Sinne, machte mich anfällig für die Komplimente.

Selbstverständlich wollte ich Theater spielen, Erfolg haben und bewundert werden!

Die Distanz zwischen meinem Wohnort in Kloten und dem Probelokal in Solothurn liess mich nur eine kleine Weile zögern.

Als ich vernahm, dass die Premiere des Stückes bereits in sechs Wochen im Parktheater in Grenchen stattfinden sollte, gab es für mich kein Halten mehr.

In Grenchen! Im Parktheater!

Das musste ein Wink des Schicksals sein.