Essenz der Götter II - Martina Riemer - E-Book

Essenz der Götter II E-Book

Martina Riemer

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Beschreibung

**Romantisches Prickeln vereint mit griechischer Mythologie** Eine dunkle Gefahr braut sich am Horizont zusammen. Größer noch als der seit Jahrtausenden tobende Krieg zwischen den Abkömmlingen der Götter und Titanen, in den Loreen seit wenigen Monaten verwickelt ist. Verstoßen aus dem Dorf der Divinus, ist sie als göttliche Nachfahrin plötzlich auf sich allein gestellt und fürchtet nichts mehr, als von ihren Feinden entdeckt zu werden. Bis auf den Verlust ihrer große Liebe Slash, dessen Überleben ungewiss ist. Doch Loreen steht vor einer weit größeren Prüfung, denn die aufziehende Dunkelheit bedroht nicht nur das Leben der Divinus und Titanus, sondern auch das eines jeden Menschen. Und es gibt nur einen Weg, die Welt zu retten… //Textauszug: Der Krieg bleibt bestehen und die Welt dreht sich weiter wie bisher. Slash gehört nun zu ihren Feinden. Aber wie soll das alles funktionieren? Sie kann nicht gegen Slash kämpfen oder gegen ihre Freunde, nie im Leben – vorher würde sie selbst sterben.// //Alle Bände der romantischen Götter-Reihe: -- Essenz der Götter I -- Essenz der Götter II -- Essenz der Götter. Alle Bände in einer E-Box// Die »Essenz der Götter«-Reihe ist abgeschlossen.

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Im.press Ein Imprint der CARLSEN Verlag GmbH © der Originalausgabe by CARLSEN Verlag GmbH, Hamburg 2015 Text © Martina Riemer, 2015 Lektorat: Marion Lembke Umschlagbild: shutterstock.com/ © NeonShot / © Ron Dale / © Jackie Stukey Umschlaggestaltung: formlabor Gestaltung E-Book-Template: Gunta Lauck Schrift: Alegreya, gestaltet von Juan Pablo del Peral Satz und E-Book-Umsetzung: readbox publishing, Dortmund

Für meine Familie und Freunde, die noch nicht genug von mir haben und immer an meiner Seite bleiben, obwohl sich meine Gedanken manchmal an andere Orte begeben und in fremde, fantastische Welten eintauchen. Danke für eure Geduld. :)

1. Kapitel

Loreen

Ich weiß nicht, ob ich lebe oder sterbe – wo der Anfang, wo das Ende ist. Eine selige Schwerelosigkeit folgt einer Abfolge von unruhigen Träumen voller blutiger Bilder und Schreie, die sich bis ins Mark fressen. Gesichter, Stimmen, Laute, die sie an jemand Besonderen erinnern, aber ihr immer wieder aus dem Bewusstsein gerissen werden, bevor sie diese zu fassen bekommt. Manchmal ist es, als wäre jemand bei ihr, dann glaubt sie wieder, dass sie träumt, und nichts ist sicher, nur unwirklich und außerhalb ihrer Reichweite.

Nach einer Ewigkeit in Dunkelheit und Ferne glaubt sie eine Bewegung wahrzunehmen. So als würde sie durch den Raum schweben, nur um diese Empfindung im nächsten Moment wieder zu verlieren und in die finstere Nacht zurückzufallen, die nicht enden will.

Irgendwann, es kann nach Stunden, nach Tagen oder Wochen sein, ist es das erste Mal, dass Loreen wieder etwas Wahrhaftiges spürt. Zu gerne würde sie sofort in das schwarze, gefühllose Loch zurückkehren, denn alles, was sie fühlt und ist, ist Schmerz. Er drückt ihren Körper zusammen und brennt durch ihre Blutbahnen. Ihre Arme, Beine, Gelenke, Lider, wenn nicht sogar ihre Haare schmerzen. Können Haare überhaupt wehtun?, geht es ihr durch den Kopf, bevor sie erneut abdriftet.

Als sie das nächste Mal aus dem Dunkel an die Oberfläche schwimmt, hört sie Stimmen, kann sich aber noch immer nicht bewegen, nicht reden, vielleicht nicht einmal atmen. Sie weiß es einfach nicht. Erst beim dritten Versuch kann sie die Lider öffnen und blinzelt schwach im dämmrigen Licht, das ihr trotzdem tränend in den Augen brennt.

Loreen schließt die Lider erneut und öffnet sie erst gefühlte Stunden später. Endlich kann sie sich umsehen, sogar ihren Kopf bewegen. Die Kammer, so kann man es bezeichnen, ist zwei mal zwei Meter groß, beherbergt nur das Bett, in dem sie sich befindet, ein Nachttischchen mit einem Glas Wasser und einen leeren Stuhl neben dem Bett. Den kleinen Raum sieht sie später immer genauer, immer länger. Bei jedem Erwachen ist sie alleine und eine Totenstille umgibt sie, aber ständig steht ein frisches Glas Wasser neben ihr und später liegt sogar eine Scheibe Brot dabei. Warum ist Slash nicht bei ihr? Wieso besucht sie keiner ihrer Freunde?

Nach geschätzten zwei Tagen, in denen sie langsam wieder zu Kräften kommt, kann Loreen endlich aufstehen. Dabei findet sie heraus, dass die Tür abgeschlossen ist, dass ihre Rufe niemand erwidert und auch dass der Stuhl als Toilette benutzt werden kann. Kein schöner Gedanke, aber ihr bleibt nichts anderes übrig.

Noch immer hat sie keine Menschenseele gesehen und sie hält diese Stille nicht länger aus. Schwankend schleift sie ihre müden Gelenke zur Holztür und pocht nun stärker dagegen, ruft nach Hilfe, nach irgendjemandem, der sie hier rausholen kann, ihr sagt, was los ist und was mit ihren Freunden, was mit Slash passiert ist. Ist sie schwer krank, vielleicht in Quarantäne? Oder wird sie hier als Gefangene gehalten, weil sie etwas angestellt hat, an das sie sich nicht mehr erinnern kann?

Doch je länger sie sich ihr Hirn zermartert, desto mehr Bilder strömen auf sie ein, Bilder von einem Kampf auf der Insel, Slash, der neben ihr seine Blitze auf Kerberoi schleudert, und dann … die Erinnerung, dass sie eine ungewohnte Macht einsetzt, eine Kugel … eine Sonnenkugel. Ist das wirklich passiert oder entspringt das bloß ihren komatösen Träumen? Verwirrt und ungläubig rauft sie sich ihre Haare und lässt sich auf dem Bett nieder.

***

Am nächsten Morgen erwacht Loreen durch das Knarren des Holzbodens. Sie ist nicht länger alleine. Goldenes Kerzenlicht scheint ihr ins Gesicht und es hätte ein schönes Aufwachen sein können, wenn nicht Elderly im Stuhl neben ihr sitzen würde. Loreen kann sich gerade noch zusammenreißen, bevor sie erschrocken zusammenzuckt, weil diese Frau an ihrem Bett sitzt, wo sie sich doch nach jemand ganz anderem sehnt. Als sie Elderlys Gesichtsausdruck sieht, bestätigt dieser Loreens Sorge der letzten Tage – sie ist hier kein Gast, sondern eine Gefangene.

Schwerfällig stützt sie sich auf die Arme und schiebt sich hoch, bis sie aufrecht im Bett sitzt. »Guten Morgen. Schön, wieder eine Menschenseele zu sehen. Aber wo bin ich hier genau und warum hat man mich eingesperrt?«

»Schone deine Kräfte, undankbares Kind. Du wirst sie brauchen. Zurzeit bist du in einem Zimmer des Ratsgebäudes. Wir haben dich vorgestern hierher transportieren lassen«, erklärt Elderly ihr streng und verschränkt die Finger in ihrem Schoß. Sie sitzt mit einer Decke um die Schultern eingefallen auf dem Stuhl und die einst stolze Anführerin wirkt schwach, beinahe schon erbärmlich. Nur noch ihre Stimme strahlt die gleiche eiserne Kraft aus wie zuvor, der Rest ist verwelkt wie Blätter im Herbst.

Trotz Elderlys sichtbarer körperlicher Schwäche haben ihre Worte einen Stich in Loreens Magengegend hinterlassen, doch sie beißt fest die Zähne aufeinander, um nichts zu erwidern, sich nichts anmerken zu lassen.

»Falls du dich fragst, der Kampf mit den Ungeheuern und den Titanus ist vier Tage her. Wir haben alles gehört, was passiert ist. Auch von dir und deinen Taten.«

Daraufhin wird ihr noch unbehaglicher zumute und Loreen schluckt schwer, zwingt dabei auch ihre Frage nach Slash hinunter, da sie sich sicher ist, dass Elderly ihr keine Antwort darauf geben wird. Deshalb fragt sie zuerst nach dem Teil, bei dem es Elderly wohl eher kitzelt mehr zu erzählen. Sie scheint sogar richtig darauf zu warten.

Also schön, dann tue ich ihr eben den Gefallen, seufzt Loreen innerlich. »Wovon sprichst du? Welche Taten?«

»Jemand hat den Schutzzauber um das Lager außer Kraft gesetzt. Erst dadurch konnten diese Monster einfallen. Wir wissen zwar noch nicht, wie sie uns hier gefunden haben, aber wir sind gerade dabei Kate zu verhören.«

»Was? Wer hat das getan und was hat Kate damit zu tun?«, ruft Loreen erschrocken aus.

»Stell dich nicht dumm«, zischt Elderly und ihr stechender Blick durchbohrt sie. »Kind, ich weiß, dass du es warst. Du brauchst es nicht zu leugnen. Kate muss dir mit den Ungeheuern geholfen haben, sie ist die Einzige, die die Kraft besitzt, diese Monster zu steuern.«

Loreen schüttelt ungläubig den Kopf und glaubt ihren Ohren nicht zu trauen. »Das ist doch ein Scherz! Kate hat gar nichts damit zu tun. Und ich genauso wenig. Ich habe für uns gekämpft, immer. Warum sollte ich das tun? Ich wüsste ja noch nicht einmal wie.«

Auf Loreens Frage lacht Elderly, dann werden ihre Augen schmal und starren sie verkniffen an, als wäre Loreen Hades höchstpersönlich. Nichts an ihr wirkt mehr wie die nette Großmutter von nebenan, sie strahlt Härte und Eis aus. »Weil du ein Titanus bist. Wir haben von dem Einsatz deiner Kraft gehört. Slash, Haistos und auch andere können es bezeugen. Du bist unser Erzfeind und hast uns seit dem ersten Tag ausspioniert. So wie ich es immer befürchtet habe.«

Schlagartig wird Loreen schlecht und sie kann das alles nicht glauben, will es nicht glauben. Doch dann drängen sich erneut Bilder in ihren Kopf, zeigen anstatt goldener Farbe silberne Sonnenkugeln, was nur eines bedeuten kann. Ihr Atem stockt, während ihr Herz gleichzeitig zu rasen anfängt, immer schneller, bis sie keucht. Aber stimmt es, hat ihre Essenz den Ursprung von den Titanen? Wie kann das sein? Stimmt es tatsächlich oder sind Elderly und sie dem Wahnsinn verfallen?

»Das kann nicht sein, das … das ist doch … unmöglich«, japst sie beinahe wie ein Fisch auf dem Trockenen. Loreen kann ihre Stimme nicht halten, ihre Gedanken nicht ordnen, dennoch klammert sie sich an ihrer bisherigen Realität fest. »Ich wüsste es doch, wenn ich ein Titanus wäre. Ich will mit Slash reden oder mit den anderen. Sofort!«, fordert Loreen mit der ganzen Kraft, die sie in ihrem geschwächten Zustand noch aufbringen kann.

Doch sie stößt auf taube Ohren. »Keiner von ihnen will dich sehen, jetzt wo sie wissen, was du bist. Du kannst froh sein, dass wir dich gepflegt und nicht umgebracht haben.«

Die Sache ist ernst, verdammt ernst. Elderly scheint das wirklich alles zu glauben und Loreen hat keine Idee, wie sie das wieder hinbiegen soll. Insbesondere, da sie erkennt, dass sie vielleicht Recht haben könnte.

»Kind, schau nicht so nachdenklich, als würde es einen Ausweg geben. Du wirst das Dorf verlassen, noch heute. Dafür kannst du uns dankbar sein. Andere wollten deinen Tod.«

Elderly spuckt ihr diese Worte beinahe entgegen und Loreen hegt keinen Zweifel, dass die alte Frau für ihren Tod gestimmt hat. Eisige Kälte kriecht ihr Rückgrat empor und hinterlässt eine Gänsehaut auf ihrem Weg.

»Was? Nein! Ich bin nicht das, was ihr glaubt. Ehrlich, ich schwöre es und falls doch … ich gehöre dennoch zu euch«, bettelt Loreen mit brechender Stimme. Tränen brennen in ihren Augen, doch sie reißt sich zusammen. Beißt sich so fest auf die Zunge, dass der Schmerz ihr wieder Klarheit verschafft, um nicht noch mehr Schwäche zu zeigen. Vor diesem Weib wird sie sicherlich nicht zu heulen anfangen, egal was noch kommen soll. »Wo ist Slash? Ich will mit ihm reden. Ich will Beweise. Und mir steht eine Anhörung zu. Du kannst nicht alles machen, was dir in den Sinn kommt!«

»Wir haben die Aussagen der anderen, denen ich vertraue. Auch der Rat hat in dieser Sache die gleiche Meinung und wir haben eine einstimmige Entscheidung über dein Urteil getroffen. Denn deine Augen sind Beweis genug. Du hast blaue Punkte darin! Was bedeutet, dass du irgendetwas Absonderliches bist, aber sicher keine Divinia, keine von uns.«

Galle und Bitterkeit kann Loreen in ihrem Mund schmecken, genauso wie Blut, weil sie nun noch stärker auf ihre Zunge beißt, um nicht laut aufzuschreien. Dabei spürt sie, wie jegliche Farbe ihr Gesicht verlassen hat. Eine Erinnerung blitzt auf: Die blauen Punkte! Die Punkte, die sie in der Nacht vor dem Kampf noch selbst im Spiegel gesehen hat. Ihr wird schwindelig und sie weiß nicht, was das bedeutet.

Will ich es überhaupt wissen?

»Aber die Titanus haben die Farbe Silber, nicht Blau!«

Wider besseren Wissens stellt sie diese Frage laut, will Antworten von der ältesten lebenden Divinia, obwohl sie weiß, dass sie an der falschen Stelle fragt.

»Wir denken, dass es irgendeine Hexerei von dir, von euch ist. Also sag du es uns! Du musst es doch wissen! Halte uns mit deinen Lügengeschichten nicht länger zum Narren. Du bist enttarnt.«

»Was? Nein …! Wie … Ich, ich weiß es nicht … Das kann nicht sein«, stottert Loreen und rauft sich wieder die Haare. Wie konnte sie in so ein Durcheinander schlittern, in dem Wahrheit und Lügen verschwimmen und sie selbst die Realität nicht mehr erkennt? Erneut versucht sie zusammenhängende Worte aneinanderzureihen und schafft es, in ihrem verängstigten, verwirrten Zustand tatsächlich einen ganzen Satz zu formulieren: »Was passiert nun mit mir?« Sie bringen mich doch nicht um, oder? Das sagte sie vorhin zumindest.

Elderlys zittrige Hände greifen nach der Decke um ihre Schultern und ziehen sie enger um ihren Leib. »Wir sind keine Unmenschen. Du wirst bloß verbannt und du bekommst immerhin Proviant für zwei Tage. Dann kannst du deine Familie suchen gehen und ihnen die Nachricht überbringen, dass wir euch bis zum letzten Titanus ausmerzen werden.«

»Ihr macht einen Fehler! Was ist mit Slash? Was sagt er dazu?«, fragt Loreen erneut mit einem letzten Hoffnungsschimmer. Er würde das doch nie zulassen, er würde für sie kämpfen, egal was passiert.

»Er hat dich verstoßen. Ist dir das noch nicht klar? Slash hat für mich gearbeitet und nur deshalb ein Auge auf dich gehabt. Du bist sein größter Feind – wie für uns alle! Und jetzt genug mit dem Theater. Wachen!«, ruft die Ratsfrau mit neuer Autorität in der Stimme und die Tür schwingt auf. Durch sie treten zwei große, stark gebaute Divinus, die Loreen nur vom Sehen kennt.

Einer von ihnen hat einen Rucksack in der Hand und schmeißt ihn ihr auf das Bett. »Den wirst du brauchen, wenn du überleben willst.«

»Nein, ich gehe nicht. Nicht bevor ich Slash gesprochen habe«, verlangt Loreen, obwohl sie weiß, wie lächerlich es ist noch irgendeine Forderung zu stellen. Es ist vorbei, doch sie will es nicht wahrhaben.

Erneut klingt Elderlys Stimme unerbittlich: »Doch, das wirst du, Kind. Freiwillig oder mit Gewalt. Such es dir aus.«

Hat sie eine Wahl? Soll sie darum kämpfen hier bleiben zu dürfen, wo sie allen Anschein nach als Feind angesehen und ansonsten vielleicht getötet wird? Aber wenn sie jetzt geht, wird sie nie wieder hierherkommen, Slash nie wiedersehen. Loreen kann nicht glauben, was Elderly gesagt hat, dass Slash sie verstoßen hat. Nicht mehr, nicht in diesem Leben. Sie wird sich nicht damit abfinden, aber für den Moment muss sie nachgeben.

»Okay. Ich gehe«, sagt Loreen ruhig, legt sich den Rucksack um und steht mit so viel Grazie auf, wie es ihr möglich ist. »Aber vorher möchte ich ihn sehen. Ich will von ihm hören, dass er mich fortschickt.«

Loreen weiß, dass das nie passieren wird. Er ist der Einzige, der sie im Kampf retten konnte, weil sie ihre ganze Essenz aufgebraucht hatte. Nur ein Bell-Par, der sie wirklich liebt, hätte das vollbracht, indem er die Kraft auf sie übertrug. Der Beweis für ihre unerschütterliche Zuversicht ist sie selbst, weil sie hier steht und noch am Leben ist.

Auf Loreens Bitte hin kichert Elderly beinahe wie ein albernes Schulmädchen, doch gleich darauf wird ihr Blick wieder todernst. »Verschwinde! Für immer!«, faucht sie, während im selben Moment eine der Wachen Loreen von hinten packt und ihre Arme im Rücken zusammenbindet.

Loreen wehrt sich, tritt um sich und stößt den anderen mit der Schulter, doch ihr Zappeln hilft nichts, die beiden sind zu stark für sie. Unbeeindruckt packen sie Loreen an den Oberarmen, einer links, der andere rechts, und ziehen sie zur Tür.

Als sie über die Schwelle treten, ruft Elderly mit süßlicher Stimme hinterher: »Nur um das ein für alle Mal klarzustellen: Slash war die ganze Zeit über mein Informant, was dich betrifft. Er hat mir auch von den Briefen deiner Mutter erzählt. Dass sie Angst um dich hatte und dass du auf dich aufpassen sollst. Wie glaubst du, hätten wir so schnell gewusst, dass du zwei Essenzen hast, wenn ich diese Briefe nicht gekannt hätte? Slash hat dich die ganze Zeit benutzt und angelogen. Und nun fort mit ihr!«

Die Wachen befolgen ihren Befehl und Loreen wird aus der Tür geschleift. Aber anstatt sich weiterhin zu wehren, ist sie in den Armen der Männer erschlafft und wird nun von ihnen beinahe schon hinausgetragen. Das alles ist zu viel für sie, Schock und Kummer sind zu groß.

»Noch etwas, Kind. Wenn wir das nächste Mal auf dich treffen, werden wir dich nicht mehr verschonen. Der nächste Divinus, dem du begegnest, ist angehalten dich zu töten«, erklärt Elderly, die nun in der Tür steht, mit so einer eisigen Kälte in der Stimme, dass die Temperatur schlagartig sinkt.

***

Im Freien herrscht Dunkelheit und Sterne leuchten friedlich am Himmel, als würde nicht gerade etwas Schlimmes passieren und die Welt für Loreen zusammenbrechen. Es muss mitten in der Nacht sein. Der perfekte Zeitpunkt, um sie ungesehen aus dem Dorf zu schaffen wie einen illegalen Einwanderer, den man heimlich loswerden will.

Auch wenn Elderly von den Briefen gewusst hat, will Loreen keine Sekunde daran glauben, dass Slash sie verraten oder verstoßen hat. Das, was sie haben, ist einzigartig und geht über die Grenzen der unterschiedlichen Abstammung hinaus. Aber warum ist er dann nicht hier? Wieso hat er sich in den letzten Tagen nie blicken lassen?

Auch wenn sie jetzt noch keine Antworten auf die Fragen in ihrem Kopf hat, hält ihr Herz an der Wahrheit ihrer Liebe fest. Und diese Wahrheit gibt ihr Kraft und neue Energie, die wie ein Stromschlag durch ihren Körper schießt und sie aus ihrer Lethargie befreit.

Doch durch ihre verschwommenen Gedanken ist Loreen abgelenkt und bemerkt nicht, dass sie bereits das Dorf verlassen und beinahe die Hütte am See erreicht haben. Wieder bei klarem Verstand wehrt sie sich nun heftig gegen die eisenfesten Griffe der Kämpfer an ihrer Seite. Während sie an den Armen zerrt und versucht mit den Beinen gegen die Männer zu treten, die wüst fluchen, beginnt sie laut um Hilfe zu schreien. So laut, dass es selbst in ihren Ohren dröhnt. Im nächsten Moment bekommt sie eine schallende Ohrfeige, die ihren Kopf zur Seite schleudert und ihr Geschrei wimmernd verstummen lässt. In ihrem Kopf dreht es sich und ihre Wange brennt wie Feuer, aber der Kiefer dürfte nicht gebrochen sein, auch wenn er höllisch wehtut.

Noch bevor sich ihr Schwindel beruhigt hat, wird ihr ein Stück Stoff in den Mund gestopft. Gleich darauf spürt Loreen einen warmen Atem im Gesicht, als ihr einer der Typen entgegenzischt: »Hättest besser deine Klappe halten sollen, du Titanus-Schlampe!«

Wut blitzt in ihr auf und sie hebt den Kopf, um ihn nach vorne schnellen zu lassen und ihre Stirn gegen den Kerl zu knallen. Aber der Typ hinter ihr zieht sie grob zurück, bevor sie ihr Ziel erreicht – so fest, dass sie beinahe zu Boden fällt. Wie ein Schraubstock liegen im nächsten Moment seine starken Hände wieder um ihre Arme, während der andere den Stoff an ihrem Hinterkopf enger zieht.

»Wo bringt … ihr mich hin?«, schafft sie es erstickt, aber gerade noch hörbar durch den dicken Knebel hervorzupressen. Dabei zerrt sie erneut an den Armen und reißt herum, aber die Griffe lockern sich keinen Millimeter, egal wie stark sie dagegen ankämpft.

»Hör auf mit dem verdammten Gezappel. Wohin denn schon? Zu deiner verfluchten Sippschaft in Neuseeland. Irgendwo dort halten sie sich auf, also sei froh. Ich hätte ja ganz andere Dinge mit dir gemacht«, erwidert einer von ihnen grimmig.

Bei dieser Drohung bekommt Loreen kurz zittrige Knie, doch trotzdem wehrt sie sich noch heftiger, als ihr bewusst wird, was das tatsächlich für sie bedeutet. Zur Antwort bekommt sie einen Schlag gegen den Hinterkopf, doch sie lässt nicht locker. »Das dürft … ihr nicht! Die bringen … mich um. Für die bin ich … der Feind!«

»Schluss jetzt, verdammt! Lass das Theater«, antwortet der Zweite ungerührt. »Hoffe lieber, dass wir nicht so schnell wieder auf dich treffen, denn wir kennen keine Gnade, was den Feind betrifft.«

Amüsiert stimmt der andere zu. »Richtig. Beim nächsten Mal ziehen wir dir deine hübsche Haut ab.«

Lachend sagt der Erste: »Wenn du dann noch lebst. Es kann auch sein, dass dich vorher ein Krokodil oder eine giftige Spinne erwischt. Wäre mir alles recht.«

Darauf erwidert Loreen nichts mehr und spart ihre Kräfte, statt weitere Worte zwischen dem Knebel hindurchzupressen. Was könnte sie auch schon sagen, das die Männer zur Vernunft bringt? Die zwei sind eindeutig barbarisch und haben sich ihre Meinung über sie längst gebildet. Vermutlich ist es besser zu schweigen und eine Chance zu haben dort zu überleben, wo sie Loreen hinbringen, anstatt sie weiter wütend zu machen, bis ihnen noch etwas anderes einfällt. Aber daran will Loreen gar nicht denken.

In diesem Moment betreten sie die Hütte im Tal und einer der beiden aktiviert den Spiegel. Der zweite hält ihre Arme schmerzend hinter ihrem Rücken verdreht und Loreen überlegt fieberhaft, wie sie im Kampf die Sonnenkugeln beschworen hat. Vielleicht … vielleicht schafft sie es irgendwie sie zu aktivieren und sich so zu befreien.

Aber es geht nicht. Vermutlich, weil sie oder jemand, den sie liebt, nicht direkt bedroht wird. Das Einzige, was entsteht, sind Schweißperlen, die bei dem Versuch auf ihre Stirn treten. Frustriert lässt sie von ihrem Plan ab die Typen in Asche zu verwandeln oder ihnen eine gehörige Portion Angst einzujagen.

In diesem Moment tritt der erste Krieger durch das Portal. Der zweite folgt direkt hinter ihm und schiebt sie dabei mit einem unbarmherzigen Griff an den Oberarmen weiter, so fest, dass es in ihrer Schulter stechend schmerzt. Ein letzter Atemzug und sie treten in den Spiegel und in das Unbekannte.

***

Warme Luft schlägt ihnen entgegen und über dem geschützten Dach aus dicken Ästen und unzähligen Blättern kann man Sonnenstrahlen erahnen. Der Krieger hinter ihr schneidet die Handfesseln auf und lässt sie los, als hätte sie die Pest. Dabei stößt er sie brutal zu Boden, wodurch sie zuerst auf die Knie und schließlich keuchend nach vorne auf die Arme fällt.

Der zweite Mann packt sie am Hinterkopf so fest an den Haaren, dass ihr vor Schmerzen die Tränen in die Augen schießen. Er drückt ihr einen ekligen Kuss auf die Lippen und fährt mit der Zunge ihre Wange entlang. Sofort überläuft ein widerwärtiger Schauer ihren Körper. »Eigentlich schade um dich. Was für eine Schönheit du doch bist.«

Als er ihr den Kopf in einem unnatürlichen Winkel noch weiter zurückbiegt, stöhnt sie vor Schmerz auf. Offenbar scheint ihn ihr Leid anzumachen und Loreen befürchtet einen zweiten ekligen Kuss. Auch wenn sie hier wie zur Schlachtbank geführt wird, wird sie nicht zulassen, auf diese Weise benutzt zu werden. Vorher wird sie bis zum letzten Atemzug dagegen ankämpfen. Obwohl es dumm ist, gehen Wut, Panik und Stolz mit ihr durch und als er sich erneut nähert, beißt sie ihm fest in die Unterlippe. So fest, dass sie sein eklig salziges Blut im Mund schmecken kann. Loreen spuckt es aus und bevor sie registriert, was als Nächstes passiert, wird ihr Kopf mit einem mächtigen Hieb zu Boden geknallt und sie schluckt Erde. Einen Atemzug später wird sie hastig herumgedreht und der Mann mit der blutigen Lippe verpasst ihr eine weitere Ohrfeige, die ihre Ohren klingeln lässt.

Von hinten hört sie wie weit entfernt den anderen Divinus, der nun nervös klingt: »Hey Mann, das reicht jetzt aber.«

»Diese verschissene Hure hat mich gebissen. Das reicht noch lange nicht«, sagt er wütend und dann sieht sie, wie er seine Hose aufschnürt. Ihr wird übel.

Nein, nein, nein! Das kann nicht sein! Das kann jetzt nicht wirklich passieren!, geht es Loreen panisch durch den Kopf – surrend laut wie rote Warnleuchten.

Der andere Krieger schreitet ein und packt ihn barsch am Arm. »Beim Hades! Was tust du? Elderly hat gesagt, wir sollen sie nur ein wenig einschüchtern. Aber doch nicht das hier! Das ist falsch und gegen jede Regel der Götter. Egal zu wem sie gehört.«

Der Mann über ihr blickt weiterhin hungrig auf sie hinab und Loreen rutscht langsam und ungeschickt zurück, stößt an einen Baumstamm und hat keine Kraft mehr, um aufzustehen, geschweige denn um davonzulaufen.

»Na, na. Wo willst du denn hin? Hiergeblieben«, lacht der eklige Typ, kommt näher und wischt sich mit dem Handrücken Blut vom Mund.

Adrenalin schießt in ihren Körper und Loreen kann endlich das heiß ersehnte Vibrieren in ihren Armen spüren, das fast schon zu lange auf sich hat warten lassen. Sie blickt hinunter auf ihre Hände, die zu leuchten beginnen und um die sich langsam aber stetig ein Geflecht aus silbernem Licht bildet, das sich beinahe zu einer Kugel formt. Bisher wusste sie nicht, wie sie mit ihrer Macht auch spielen kann, aber dieses Wissen macht sie mutig. Nun genießt sie das Gefühl, wieder Herrin über ihren Körper zu sein, und nicht umgekehrt.

Sie blickt gespannt zu dem Mann, um zu sehen, was er als Nächstes vorhat, aber er steht nur wie angewurzelt da, mit offener Hose, offenem Mund und großen Augen.

»Verschwinde oder ich brate dich wie ein verdammtes Schwein«, warnt Loreen.

Sein Blick huscht zu ihr, dann auf den flackernden Ball, aber noch immer rührt er sich nicht. Glaubt er ihr nicht oder ist er zu erschrocken, um sich zu bewegen? Egal, sie wird nicht so lange warten, bis er erneut Mut sammelt. Loreen lässt den Feuerball los und schießt ihn auf den Boden. Direkt vor die Beine des Divinus. Er wird zwar nicht verletzt, aber die Hitze muss deutlich spürbar sein, ebenso die Gefahr, die dahinter schlummert. Das scheint ihn aus seiner Trance zu reißen und er stolpert zurück. Zieht dabei seine Hose wieder hoch, die ihm heruntergerutscht ist. »Los, hauen wir ab!«, ruft er dem anderen zu.

Dieser lässt sich das nicht zweimal sagen und gemeinsam laufen sie davon.

Langsam nimmt Loreens Puls wieder eine normale Frequenz an und ihr Atem wird ruhiger. Bevor sie darüber nachdenken kann, was passiert, werden ihre Lider vor Müdigkeit bleischwer. Sie hätte wohl doch nicht schon wieder ihre Essenz verwenden sollen, denkt sich Loreen noch, und in der nächsten Sekunde fällt sie erneut in eine schwarze Leere.

2. Kapitel

Loreen

Als Loreen erwacht, schmerzen ihre Glieder genauso stark wie beim letzten Mal. Aber sie weiß nicht, ob es wegen der verbrauchten Essenz ist oder ob es an dem harten Untergrund liegt, auf dem sie zusammengebrochen ist. Noch nie hat sie auf dem Boden geschlafen, also direkt auf der Erde, und da, ja genau da ist auch ein Stein, der sich in ihre rechte Hüfte gebohrt hat. Fluchend und ächzend hebt sie sich noch ein Stück höher, zieht den Stein hervor und schmeißt ihn in hohem Bogen fort, was ihr eine gewisse Genugtuung verschafft.

Danach richtet sie ihre Aufmerksamkeit auf die Umgebung. Sie befindet sich in einem tiefen Wald und wenn es stimmt, was die beiden Krieger gesagt haben, dann irgendwo in Neuseeland. Mit dem Rücken schiebt sie sich hoch, um sich an den Baumstamm hinter sich zu lehnen. Alles, was sie sehen kann, sind unzählige Bäume, die fast keine Sonne durchlassen. Zwischen den hohen Stämmen wachsen Büsche, an denen verschiedene bunte Blüten sprießen. Etwas weiter im Dickicht verborgen sieht Loreen eine eingefallene Hütte, von der nur noch zwei Holzwände stehen. Der Rest ist verwittert, an einer der Wände ist ein Spiegel befestigt. Über diesen Weg sind sie also hierhergekommen.

In welche Richtung die beiden Männer gelaufen sind, weiß sie nicht, aber sie hegt keinen Zweifel daran, in dieser Gegend auf noch mehr dieser versteckten Spiegel zu stoßen. Was die Möglichkeit erhöht jederzeit weiteren Divinus oder Titanus zu begegnen. Wobei Loreen keine Ahnung hat, zu wem sie sich zählen soll oder wer sie nicht beim ersten Blickkontakt umbringen wird.

Längere Zeit betrachtet sie nachdenklich den Spiegel, doch ihr fällt keine Lösung auf die Frage ein, wohin sie gehen soll. Wenn sie nach Hause in die Menschenwelt flüchtet, findet sie dort früher oder später eine der beiden Gruppen. Ein Leben in ständiger Furcht und auf der Flucht will sie nicht wieder von neuem beginnen. Sie wägt ihre Optionen ab und kommt im Endeffekt nur auf eine Lösung: Sie muss, so schnell es geht, die Titanus finden, versuchen mit ihnen zu reden und hoffen, dass sie die Konfrontation überlebt. Immerhin hat sie die gleiche Gabe wie Rion, was bedeutet, dass er irgendwie mit ihr verwandt sein oder die gleichen Vorfahren haben könnte. Genau kann sie ihre Verbindung mit ihm nicht benennen, vielleicht wird sie das nie können.

Wo hat sich meine leibliche Mutter da nur reingeritten? Sie ist fort und nun muss Loreen sich alleine mit den Konsequenzen herumschlagen.

Just in dem Moment knurrt ihr Magen. Sie hat keine Ahnung, wann sie das letzte Mal gegessen hat, aber es fühlt sich an, als hätte sie ein Loch im Bauch, was aber auch andere Gründe haben kann. Im Rucksack befinden sich eine Decke, ein Laib Brot, harter Käse, getrocknete Früchte, Nüsse und eine Glasflasche mit frischem Wasser. Damit dürfte sie zwei oder drei Tage auskommen, je nachdem, wie viel sie isst und ob sie noch einmal ihre Kraft verwenden muss.

Aber bevor sie sich etwas zu essen gönnt, zieht sie sich am Baumstamm hoch und marschiert los. Zuerst muss sie einen Unterschlupf finden oder auf die Titanus stoßen. Obwohl sie in ihrer derzeitigen Verfassung doch den Unterschlupf bevorzugt und sich erst nach einer Pause ihrem Feind – ach nein, jetzt plötzlich vielleicht ihrer neuen Familie stellen will. Verwirrend.

***

Mindestens vier Stunden irrt sie jetzt schon durch das Dickicht, das überall gleich aussieht und keinen Anhaltspunkt liefert, in welche Richtung sie geht oder ob sie nicht vielleicht sogar im Kreis läuft.

An einem kleinen Tümpel, der sich aus einem Fluss speist und durch den Wald schlängelt, bleibt sie stehen und füllt die leere Flasche auf. Danach sieht sie sich suchend um und erblickt zwei Bäume, die nahe beieinander stehen, und ein paar lange, breite Blätter eines Busches, die darüber wachsen. Was einen kleinen, natürlichen Unterschlupf bildet. Dort schmeißt sie den Rucksack hin und holt ein paar Äste und große Blätter, um diese natürliche Behausung noch etwas weiter auszubauen, wodurch sie ein wenig das Gefühl der Sicherheit verspürt. Außerdem sammelt sie etwas Brennholz für später. Sie will noch gar nicht daran denken, dass es bald finstere Nacht sein wird. Nicht dass sie sich im Dunkeln fürchtet, aber hier in der Wildnis hat sie schon jetzt ein mulmiges Gefühl bei dem Gedanken alleine zu sein. Aber ich schaffe das, denkt sie entschlossen.

Als sie mit der Arbeit fertig ist, rinnt Schweiß über ihre Stirn und überall klebt die Kleidung an ihrem Leib wie eine zweite Haut. Und als sie genauer an sich schnüffelt, stellt sie fest, dass sie auch noch erbärmlich stinkt. Eigentlich dürfte es ihr egal sein, wie sie aussieht, wie sie riecht, aber einen gewissen Stolz will sie sich trotz allem bewahren. Kurzentschlossen zieht sie ihre braunen Lederklamotten aus, schaut sich dabei nur kurz einmal um, ob sie jemand sehen kann. Doch das ist lächerlich. Schließlich ist sie mitten im Nirgendwo, ohne eine Menschenseele.

Nachdem sie Hose und Top ausgezogen hat, legt sie diese ausgebreitet in die Sonne der kleinen Lichtung. Danach klettert sie in den Tümpel, der ihr bis zum Schlüsselbein reicht. Dabei muss sie ihre Zähne fest zusammenbeißen, das Wasser ist um einiges kälter, als sie erwartet hat. Zitternd reibt sie über ihre Arme und Beine, zwingt sich den Kopf unter Wasser zu halten und jeden Bereich ihres Körpers kurz zu schrubben.

Mit der Zeit ist die Kälte leichter zu ertragen, auch wenn ihre Finger und Zehen langsam taub werden. Aber es ist eine gute Taubheit, die den Schmerz und die Sehnsucht in ihrem Körper erträglicher macht. Ein letztes Mal taucht sie den Kopf unter Wasser, trinkt dabei ein paar Schlucke, springt schließlich raus und fühlt sich wie ein neuer Mensch, oder zumindest wie ein sauberer. Die Sonne ist zwar warm auf ihrer nackten Haut, trotzdem wickelt sie sich schnell fest in die Decke aus dem Rucksack.

Um die restliche Zeit bis zum Sonnenuntergang nicht ungenutzt verstreichen zu lassen, beschließt Loreen ihre neu entdeckte Fähigkeit auszubauen. Seit sie vor wenigen Tagen die drei Männer und den Kerberos getötet und heute die zwei Divinus damit verscheucht hat, ist die Erinnerung an das richtige Anzapfen ihrer Essenz aufgrund ihrer Gefühle noch relativ frisch in Loreen verhaftet. Es ist, als wäre sie ihr in Fleisch und Blut übergegangen, nachdem sie die neue Kraft so stark verwendet hat. Aber sie weiß selbst, dass sie im Kampf viel zu hitzig und unbesonnen gehandelt hat. Um sich nicht noch einmal von ihren Emotionen übermannen zu lassen, muss sie lernen, die Kraft auch in geringeren Maßen einzusetzen.

Sie formt eine Kugel und schafft es mit viel Mühe, eine etwas kleinere mit viel geringerem Aufwand ihrer Essenz zu bilden. Diese Fähigkeit dürfte noch interessant werden, denn damit kann sie deutlich mehr vereinzelte Gegner ausschalten, ohne schnell Gefahr zu laufen keine Essenz mehr zu haben. Es erfordert zwar viel Konzentration und Loreen wird nach den Ereignissen schnell müde, aber für später ist es eine lebenswichtige Entdeckung. Sie wirft die kleinere Kugel ein Stück weit entfernt auf die Wiese, um keine umstehenden Bäume zu entzünden.

Zufrieden über den kleinen Erfolg lässt sie sich auf ihr notdürftig gebautes Bett nieder. Es fängt bereits an zu dämmern und Loreen gönnt sich nun endlich etwas zu essen. Das Brot ist noch härter, als es ausgesehen hat, und der Käse liegt scheinbar schon etwas länger herum, als ihr lieb ist. Trotzdem freut sie sich über jeden Bissen, um den leeren Magen zu stopfen.

Nach dem kargen Festmahl stapelt sie Holz, um ein Feuer zu entzünden. Vor einem halben Jahr hätte sie noch ohne auskommen müssen, aber im Lager zeigte ihr Sky, wie man Feuerholz richtig aufeinander stapelt, was man alles dazu braucht und wie man es schließlich entzünden kann. Sie kann sich noch genau erinnern, wie stolz sie damals auf ihr erstes Flämmchen war und wie Sky ihr zufrieden auf die Schulter klopfte. »Sehr gut, Lori. Damit wirst du dir jetzt nie wieder deinen kleinen, süßen Hintern abfrieren müssen.«

Darauf unterbrach Slash kurz das Schreiben in einem Pergament, um irritiert zu ihnen herüber zu sehen und meinte mit seiner tiefen Stimme: »Sky, reiß dich zusammen.«

Damals waren sie noch nicht zusammen und Loreen verdrehte nur die Augen, wenn er Derartiges von sich gab. Die ganze Zeit schon saß er an einem Tisch in ihrer Nähe, um ihnen hin und wieder Ratschläge zu zurufen. »Zeig ihr außerdem noch, wie man einen Bogen bastelt, Pfeile schnitzt und befiedert. Oder eine Falle legt. Nahrung und Verteidigung sind das Wichtigste zum Überleben in der Wildnis. Nicht Wärme.«

Woraufhin sich Sky vor ihm verbeugte. »Ja, großer Herr und Meister, wie Ihr befiehlt.« Natürlich mit einem breiten Grinsen zu Loreen, was sie ebenfalls zum Lachen brachte.

Darauf folgte ein mürrisches Schnauben von Slash. »Witzig. Halt die Klappe, Sky.«

Bei der Erinnerung an das Zanken der beiden muss sie lächeln, was jedoch nicht lange anhält und zu einer traurigen Fratze wird. Jetzt, nachdem sie nichts mehr zu tun hat und ihre Gedanken wieder zurückwandern, kommt auch der Schmerz. Heftiger als zuvor. Bisher war sie zu beschäftigt, hat die Hände Arbeiten verrichten lassen, um ihrem Kopf keine Chance zu geben alles Revue passieren zu lassen. Aber jetzt ist das Essen vorbei, das Lagerfeuer brennt neben ihr und der Kummer und die Tränen haben freie Bahn.

Loreen legt das Kinn auf ihre verschränkten Finger und starrt in das lodernde Feuer. Vor ihr tanzen die Flammen, erwärmen ihr feuchtes Gesicht, das von Tränenspuren gezeichnet ist. Erst ein Tag ist vergangen, seit sie aus dem Lager verschwunden ist, besser gesagt, geworfen wurde, und schon vermisst sie Slash so sehr, als würde sie körperliche Schmerzen erleiden.

Aber nicht nur er, sondern auch die anderen fehlen ihr mehr, als sie je erwartet hätte. Ihre Freunde, Sky, Kate, Melo und sogar Pure, die in der Zwischenzeit Familie für sie geworden sind und die sie nun wieder verloren hat. Sie hätte bei ihrem Untertauchen vor einigen Jahren, nachdem die Divinus ihr eröffneten, dass sie eine von ihnen ist – ein Abkömmling der Götter, die sich seit jeher im Kampf gegen die Titanen-Kinder befinden –, nie damit gerechnet, dass sie doch noch ein Teil von ihnen wird. Ein Teil in ihrem Netz, ihrer Gemeinschaft, die nie mehr zerreißt, egal wie schlimm die Umstände sind.

Und dennoch ist sie nun wieder alleine, genauso wie damals, als in ihrer Jugend zuerst ihre Eltern starben und einige Jahre darauf auch Jamie. Er hat ihr viel zu spät von seiner Erkrankung erzählt, damit sie weiterhin trainieren und lernen konnte, und dann erlag er kurz darauf dem Hirntumor. Wahrscheinlich wollte Jamie sie nicht belasten und hat schon viel früher als sie selbst gewusst, dass sie irgendwann, wenn auch nicht gleich, zu den Divinus zurückkehren würde. Was sie auch getan hat. Doch nun wurde sie auch von ihnen verstoßen.

Wie oft soll ich das noch ertragen, bevor ich zerbreche? Wo steht man im Leben, wenn man auf einen Schlag wieder auf sich alleine gestellt ist? Wer gibt einem Kraft und Halt, wenn die eigenen Beine einen nicht mehr tragen? Was passiert, wenn man Familie und Freunde verliert – verblasst man dann auch selbst und wird zu einem farblosen, leeren Abklatsch seines alten Ichs?

***

Am nächsten Morgen wacht Loreen auf und streckt ihre steifen Glieder. Es fühlt sich an, als wäre sie verkatert. Nachdem sie ausgiebig ihr Gesicht im klaren Wasser gewaschen und vom Fluss getrunken hat, macht sie sich auf den Weg, um die Gegend zu erkunden. Den Inhalt des Rucksacks wickelt sie in die Decke und versteckt alles tief im Unterschlupf zwischen den Baumstämmen. Zur Sicherheit legt sie noch ein paar Äste und Blätter darauf, damit niemand zufällig etwas finden kann. Die Asche des Feuers verstreut sie und versucht ihr derzeitiges Heim so unkenntlich wie möglich zu hinterlassen.

Als Nächstes sucht Loreen nach einem passenden Stein und schnappt sich den spitzesten, den sie finden kann. Nicht einmal ein Messer oder Pfeil und Bogen haben sie ihr zum Schutz mitgegeben und auch der mickrige Stein in ihrer Hand wird ihr nicht viel helfen, falls sie angegriffen wird. Aber zumindest kann sie mit dem Ding in die Rinde der Bäume kratzen und sich dadurch einen Weg markieren, um zum Schlafplatz zurückzufinden.

Heute will sie nur auf Nahrungssuche gehen, Beeren sammeln oder Pilze finden, und morgen weiterziehen. Die Stelle am Fluss ist praktisch gelegen und wer weiß, wann sie wieder einen so guten Platz findet, der sie mit ausreichend Trinkwasser versorgt.

Die Sonne ist bereits aufgegangen, brennt auf die Erde und Loreen versucht, die beschienenen Stellen zu meiden und unter dem Blätterdach versteckt zu bleiben. Alles sieht gleich aus, Grün auf Grün mit erdigem, sattem Boden, der von Wurzeln durchpflügt ist. Hier und dort eine rote, weiße oder gelbe Blüte, wie um einen Farbklecks in die immer gleichbleibende Landschaft zu malen.

Nach einigen Stunden findet Loreen mehrere Büsche, die auf einem kleinen Abhang wachsen und eine Fülle von blauen Beeren bieten. Loreen nimmt drei Beeren in die Hand und setzt sich damit auf den Boden. Zuerst zerdrückt sie eine von den Beeren zwischen ihren Finger, riecht am Saft, kostet ganz wenig vorsichtig mit der Zunge und verreibt etwas davon auf ihrem Handrücken. Nachdem sie blau beschmiert ist, setzt sie sich in den Schatten der Bäume. Dabei blickt sie umher, lässt ihre Gedanken wandern und wartet darauf, ob sie einen Ausschlag bekommt oder die Haut zu brennen beginnt. Eine andere Möglichkeit fällt ihr nicht ein, um festzustellen, ob die Beeren giftig oder zum Verzehr geeignet sind.

Auf einmal hört sie das Knacken eines Zweiges und ihr Kopf wirbelt zur rechten Seite herum. Ihr Blick fokussiert sich auf Bäume, Geäste und die Schatten darin, aus denen das Geräusch gekommen ist, aber sie kann nichts erkennen.

»Vermutlich nur ein Tier. Bleib ruhig«, redet sich Loreen selbst gut zu. Was soll auch sonst hier in der Wildnis sein? Sicherlich kein Prinz, der sie retten wird. Den Glauben an Märchen und an ein Happy End hat sie nach allem, was passiert ist, endgültig begraben. Trotz allem will Loreen ihr Schicksal nicht noch weiter herausfordern. Bei ihrem Glück ist es vielleicht sogar ein Titanus oder ein Divinus und zurzeit weiß sie nicht, vor wem sie sich eher verstecken soll.

Hastig pflückt sie die Beeren von den Büschen und sammelt sie im Rucksack. Dabei werden ihre Finger ganz blau, weil sie so schnell zupft und einige Beeren zerquetscht im Rucksack landen. Wenn ich so weitermache, kann ich bald einen Saft daraus pressen, anstatt sie zu essen.

Loreen ruft sich zur Ruhe und sammelt die Früchte etwas langsamer ein. Als sie den Rucksack fast voll hat, knackt es erneut. Dieses Mal von der linken Seite und Loreen kriecht es kalt die Wirbelsäule hoch. Okay, das war's.

Schnell packt sie ihren Rucksack, schmeißt ihn über die Schulter und nimmt den Stein fest in die rechte Hand. Ruckartig dreht sie sich um und blickt in alle Richtungen. Doch erneut ist nichts zu erkennen – kein Mensch und auch kein Tier, aber sie ist sich sicher, irgendetwas ist da draußen und beobachtet sie.

***

Stundenlang muss Loreen durch den Wald zurückhasten und orientiert sich dabei an ihren Markierungen an den Bäumen. Ohne den gekennzeichneten Weg hätte sie sich schon nach der Hälfte verirrt. Loreen geht um eine Biegung, umrundet mehrere eng aneinandergewachsene Bäume – und da, wieder dringt das Knacken eines Zweiges, das Geräusch eines Schrittes durch das Geäst. Dieses Mal kann sie noch deutlicher Blicke in ihrem Rücken spüren, fast wie eine Berührung, und ihr Puls wird schneller, wie auch ihre Schritte.

Sie läuft los, sprintet durch Büsche und zwischen Bäumen hindurch, aber als sie sich umdreht, um nachzusehen, ist dort wieder nichts. Erneut ein Knacken hinter ihr und sie läuft weiter, dieses Mal langsamer und bedachter. Schließlich wird ihr Lauf zu einem gemächlichen Trab und am Ende geht sie das letzte Stück in normaler Geschwindigkeit, ohne dass sie noch einmal ein verdächtiges Geräusch hört.

Verfluchte Paranoia!

***

Es dämmert bereits, als sie zum Unterschlupf gelangt, und ihr Magen knurrt so stark wie am Vorabend. Zuerst holt sie Feuerholz und entzündet damit ein kleines Lagerfeuer. Danach zwingt sie sich erneut in die kühlen Fluten. Loreen wäscht sich, so gut es geht, und setzt sich, eingewickelt in die warme Decke, neben die Flammen. Der Wind bringt sie zum Flackern und Loreen starrt in sie hinein, während sie etwas von ihrem Mitbringsel aus dem Lager isst. Die Beeren hebt sie sich für den Schluss auf, als kleine Belohnung, dass sie vor Kummer und Sehnsucht noch nicht umkam. Sie hat es den ganzen Tag sogar ziemlich gut geschafft, nur sporadisch an ihr Leben im Dorf, an Slash oder die anderen zu denken. Aber jetzt am Abend, als alles wieder ruhig ist – die Welt um sie herum wie auch ihr Inneres –, kommt der Schmerz und holt sie ein.

Gerade als sie drohende Tränen wegblinzelt und einen tonnenschweren Kloß hinunterschluckt, hört sie ein Rascheln und ein weiteres Mal ein verdächtiges Knacken. Verdammt! Dann folgen noch mehrere undefinierbare Geräusche und Loreen schnappt sich leise fluchend den Stein, der neben ihr liegt, steht vorsichtig auf und versteckt sich hinter einem Baumstamm.

Sie ist sich nun definitiv sicher, dass jemand auf sie zukommt. Ganz deutlich kann sie rasche Schritte hören, fast so, als würde jemand in ihre Richtung laufen. Dieser Jemand kommt schneller näher, als ihr lieb ist, und bald darauf hört sie ein Keuchen. Ihr Magen zieht sich ängstlich zusammen und sie umklammert den Stein noch fester, so dass sie sich fast an ihm schneidet. Man kann sie hinter dem Baum zum Teil noch sehen, aber falls ihr Angreifer einen Pfeil hat, wird sie wenigstens nicht sofort getroffen. So hat sie vielleicht noch eine Chance mit demjenigen zu reden und zu hoffen, dass ihr nichts angetan wird.

Zum Glück ist außerdem schon die Nacht hereingezogen, hat ein dunkles Tuch über die Welt gelegt und verbirgt sie dadurch noch ein Stück besser. Das einzig Verräterische ist das Feuer und die helle Decke, die um ihren Leib geschlungen ist. Aber nun ist es zu spät, um in die braunen Lederklamotten zu schlüpfen, die sie besser verbergen würden.

Gespannt hält Loreen den Atem an, als die Geräusche immer lauter werden und näherkommen. Der Puls schlägt ihr bis zum Hals, aber sie widersteht dem Zittern, das sich ihrer bemächtigen will. Ich schaffe das, wie ich bisher alles überstanden habe.

In dem Moment springt eine dunkle Gestalt durch das Dickicht und vor Schreck rutscht Loreen ein kurzer Laut über die Lippen.

***

Slash

Auf einer harten Matratze im Lager erwacht Slash und schaut sich verwirrt in dem kleinen Raum um. Zuerst hat er keine Ahnung, wo er sich befindet. Doch dann bemerkt er die medizinischen Instrumente, die Schränke, und erkennt den Geruch von Krankheit und Ambrosia. Er sieht an sich hinab und stellt fest, dass bloß ein Handtuch um seine Hüfte geschlungen und er mit einem weiteren zugedeckt ist. An seinen Armen und über dem Bauch sind Verbände angelegt, die er mit raschen Handgriffen herunterreißt. Ein paar Kratzer hier und einige Schnitte dort. Mehr nicht.

»Ach, Pios«, seufzt Slash und schüttelt ungläubig den Kopf wegen der Übervorsicht des Heilers. Als gäbe es nicht genug andere Patienten, die seine Heilkräfte dringender bräuchten. Die Schnitte sind nicht einmal lebensbedrohlich gewesen. Trotzdem muss Slash feststellen, dass ihm seine Knochen wehtun und er sich erschlagen und müde fühlt. Sehr müde sogar. Als hätte er eine Woche durchgesoffen und würde mit einem höllischen Kater wieder aufwachen. Aber er kann sich nicht erinnern etwas getrunken zu haben, nicht einmal Nektar.

Schlagartig stürzen die Erinnerungen der Schlacht gegen die Kerberoi, Gryphen und die Titanus auf ihn ein und Bilder spielen sich wie ein Film vor seinem geistigen Auge ab.

»Loreen«, flüstert er mit einer Sorge in der Stimme, die ihm selbst eine Gänsehaut bereitet. Er kann sie wieder vor sich sehen, wie sie mitten im Kampf ihre unglaublich starke Macht einsetzte und die drei Titanus innerhalb weniger Sekunden auslöschte. Aber noch besser kann er sich daran erinnern, wie sie daraufhin plötzlich zu Boden stürzte und reglos liegen blieb – bleich wie der Tod selbst. In der ersten Sekunde dachte er, sie wäre von etwas getroffen oder angegriffen worden, erst auf dem zweiten Blick wurde ihm klar, dass sie ihre Essenz fast verbraucht hatte. Für ihn gab es kein Halten mehr – er lief zu ihr, flehte sie an nicht dorthin zu gehen, wohin er ihr nicht folgen konnte, und tat dann das Einzige, was ihm einfiel: seine gesamte Kraft zu sammeln und in sie hineinzuleiten. Er hatte schon vorher gewusst, dass er sie liebt, aber ihr seine Essenz zu geben, sie mit seiner Energie zu heilen, war der letzte Schritt, um alle Skeptiker zu überzeugen. Und er weiß, dass er erfolgreich war. Denn kurz bevor er selbst in ein schwarzes Loch fiel, bewegte sie sich leicht in seinen Armen und atmete wieder.

Aber eine Frage bleibt dennoch bestehen: »Wo zur Hölle ist sie?«, flucht er und springt vom Krankenbett. Dabei rutscht das Tuch hinab und er steht nackt da. Hastig hebt Slash es hoch, wickelt es sich um die Hüften und verknotet das Ende ungeduldig an der Hinterseite, damit er es nicht halten muss. Kurz begibt er sich auf die Suche nach seiner Kleidung oder nach einer Hose, wird aber enttäuscht. Auch egal, dann such ich sie eben so, denkt er grimmig und öffnet die Tür.

Der Flur ist leer und es herrscht Stille. Da er nicht einfach wie ein Verrückter nach Pios schreien kann, begibt er sich alleine auf die Suche nach Loreen. Im ersten Raum rechts neben seinem liegt ein weiterer Patient und schläft. Leise zieht Slash die Tür wieder zu und schleicht auf Zehenspitzen zum nächsten Raum. Hier liegen zwei Divinus und unterhalten sich leise.

Einer von den beiden ist Tossi aus der Schmiede, der zusammen mit Haistos und ihnen gekämpft hat und durch den Spiegel gegangen ist. »Hey, alles gut bei dir? Siehst ja wieder fit aus«, begrüßt ihn dieser lächelnd.

»Ja, danke. Bei euch auch alles gut?«, fragt Slash und bekommt ein schlechtes Gewissen, da er sich bisher keine Sorgen um die anderen gemacht hat. Sein einziger Gedanke galt Loreen und auch jetzt sieht es nicht viel anders aus. »Wisst ihr, wo sie Loreen untergebracht haben?«

Tossi streicht über seinen fast geschorenen Schädel, an dem ein kurzer, dunkler Flaum schimmert. »Sorry, habe sie seit dem Kampf nicht mehr gesehen.«

»Okay, danke. Alles Gute. Wir sehen uns«, erwidert Slash und schließt die Tür hinter sich.

Die nächsten zwei Räume sind leer und langsam wird Slash unruhig. Er knallt die Türen etwas heftiger auf und zu und kann nicht verstehen, warum er Loreen nicht findet. Sie muss doch irgendwo hier sein oder ist es möglich, dass sie schon entlassen wurde? Nein, das glaubt er nicht. Sie war fast tot, als er ihr geholfen hat, so schnell kann sie sich nicht erholt haben. Da fällt ihm ein, dass er nicht einmal weiß, wie viele Tage seit der Schlacht vergangen sind. Aber so kitschig es klingt – wäre sie dann nicht bei ihm gewesen und hätte an seinem Bett gewacht, wenn es ihr schon wieder besser ginge?

»Verflucht, Pios, wo steckst du?«, ruft er nun ungehalten und stampft auf das Zimmer des Heilers zu, der gerade die Tür öffnet, als Slash nach der Klinke greift.

»Slash … oh, zum Glück … Du bist wieder aufgewacht«, stottert Pios und möchte zur Seite gehen, um Slash hinein zu lassen. Aber für diese Förmlichkeiten hat dieser jetzt keine Zeit, er braucht Antworten und zwar sofort. »Wo ist sie?«

Mit müden Fingern reibt sich Pios über die Augen. »Das … das kann ich dir nicht sagen.«

Was soll das heißen? »Warum nicht? Willst du es mir nicht sagen oder weißt du es nicht?«

Pios scheint nach den richtigen Worten zu suchen. »Um ehrlich zu sein, darf ich es nicht.«

Elderly! Wut flammt ihn ihm auf und Slash könnte wegen Pios ausweichender Antworten an die Decke gehen. Er zwickt sich in die Nasenwurzel und blickt ihm dann wieder in die Augen. »Warum lässt mich Elderly nicht zu ihr? Ich habe ihr meine Essenz geschenkt, das bedeutet, ich bin noch immer ihr Bell-Par. Ich habe das Recht dazu.«

Sein Gegenüber seufzt schwer und findet keine Worte. Wütend schlägt Slash auf den Türrahmen. »Verdammt! Jetzt sag schon.«

Der Heiler zuckt kurz und Slash bekommt sofort ein schlechtes Gewissen. Die Wut, die in ihm brodelt, hat Pios nicht verdient. Kurz räuspert er sich. »Tut mir leid. Ich stehe etwas neben mir.«

Als Antwort bekommt er ein kurzes Lächeln. »Ach, so geht es uns allen in den letzten Tagen. Außerdem ist es ein Wunder, dass du schon wieder aufrecht stehen kannst, bei dem, was du getan hast.« Pios verschränkt die Arme vor der Brust, wodurch sich der Stoff an seinen Schultern spannt, und schaut selbst verstimmt aus. Er schnalzt missbilligend mit der Zunge. »Was hast du dir eigentlich dabei gedacht? Du kannst doch nicht einfach deine gesamte Essenz in jemand anderen leiten. Wenn dich Sky und Pure nicht von ihr weggezogen hätten, wärst du jetzt tot.«

Daraufhin muss Slash kurz lachen: »Das war klar.« Die beiden haben sich schon immer in seine Angelegenheiten eingemischt und meistens dann, wenn er das nicht wollte. Manche Dinge ändern sich nie, sind so fest in seinem Leben verankert wie die Gesetze der Physik.

»Was muss ich tun, um sie zu sehen? Ist Elderly im Ratsgebäude?«, fragt Slash und möchte bereits in diese Richtung marschieren.

»Nein, du verstehst nicht, Slash. Sie gehört nicht mehr zu dir, nicht zu uns.«

Als ihn die Erkenntnis trifft, was Pios damit meint, brüllt er erneut »Was?«, und hat dieses Mal keine Schuldgefühle. Slash sah selbst, dass sie eine silberne Energie, also eine Kraft der Titanus anwandte, aber das war nicht ihre Schuld. Hatten sie nicht schon vorher damit gerechnet, dass ihre Mutter etwas Verbotenes getan hat – jetzt wissen sie es genau. Sie hatte mit einem Titanen geschlafen. Aber das ändert nichts für ihn, nichts für Loreen. Auch wenn sie eine halbe Titanus ist, gehört sie noch immer zu dem Volk der Divinus – sie wusste nichts davon, sie tat nichts Falsches. Niemand kann ihr vorhalten, was ihre Mutter verbrochen hat, oder ändern, was für eine Person sie ist.

»Was ist passiert, Pios? Sag es mir, bitte.«

Doch Pios schüttelt den Kopf wie ein gebrochener, alter Mann, wobei seine kurzen, schwarzen Locken wippen. »Es tut mir leid, mir sind die Hände gebunden. Wenn du etwas wissen willst, musst du Elderly fragen und hoffen, dass sie es dir sagt.«

Zähneknirschend widersteht Slash dem Drang, erneut auf etwas einzuhämmern. Eine weitere Verletzung kann er jetzt nicht gebrauchen. »Danke«, erwidert er kurz angebunden und stampft wütend davon.

»Warte!«, ruft ihm Pios hinterher und als Slash sich umdreht, fügt der Heiler leicht lächelnd hinzu: »Du solltest dir vorher etwas anziehen, bevor du so durch das Dorf gehst. Man kann deinen Allerwertesten sehen.«

Reflexartig greifen Slashs Hände zum Tuch und ziehen den Stoff um seinen Hintern fester. Seine Stimme klingt genervt, obwohl er sich in seiner Ungeduld bemüht, freundlich zu dem Heiler zu sein. »Hast du was da, das ich anziehen kann?«

Kurz begibt sich Pios in seine Kammer und kommt mit einem weißen Stoff zurück.

»Was ist das?«

»Zieh es einfach an. Es ist besser als das, was du jetzt hast.«

Leicht irritiert schlüpft Slash hinein und findet sich in einem Arztkittel wieder, nur dass die Hose fehlt und es dadurch wie ein komisches Kleid aussieht.

»Was zum Teufel«, brummt Slash zu sich selbst. So kann er nicht rausgehen. Wenn Sky oder Melo ihn so sehen, darf er sich das ewig anhören. »Hast du keine Hose dazu?«

Pios gluckst neben ihm. »Natürlich«, gibt er zu und holt den zweiten Teil der Uniform hinter seinem Rücken hervor. »Natürlich. Hier. Das haben wir mal von den Menschen-Krankenhäusern mitgenommen, aber ich habe es selbst noch nie angezogen.«

»Danke«, murrt Slash leicht gereizt, schlüpft hinein und marschiert endgültig davon, um mit Elderly ein ernstes Wort zu reden.

3. Kapitel

Slash

Elderly ist nicht wie angenommen im Ratsgebäude, sondern er wird in ihre persönliche Hütte geschickt, die gleich als erste am Rand der Wohnsiedlung steht. Im Inneren ist alles abgedunkelt und ein modrig feuchter Geruch liegt in der Luft. Er ist schon lange nicht mehr hier gewesen, aber diese Stille und die verdunkelten Räume verwirren ihn. Elderly hat immer die Fenster geöffnet, Luft und Licht hineingelassen, anstatt sie auszusperren. »Elderly, bist du hier?«

Slash hört ein Krächzen aus ihrem Schlafzimmer. Vorsichtig öffnet er die Tür und späht hinein. Sie liegt in ihrem Bett, mehrere Polster stützen ihren Rücken und sie hält die Finger verschränkt im Schoß. Jahrelang ist sie seine Ersatzmutter gewesen und er kann sich nicht gegen den Impuls wehren, sich um sie zu sorgen. Sofort eilt er zum Bett und kniet davor nieder. »Ist alles okay? Bist du krank? Soll ich Pios holen?«

»Nein, nein. Ich bin nur so unendlich müde, Kind«, versichert ihm Elderly und tätschelt seine Hand, die er auf ihr Bett gelegt hat. Ihre zweite Hand deutet auf einen Stuhl, der neben dem Bett steht. »Schön, dass es dir besser geht. Setz dich doch und leiste mir ein wenig Gesellschaft. Du bist lange nicht zu mir gekommen. Was verschafft mir heute die Ehre?«

Slash folgt ihrer Bitte und nimmt Platz. Mit besorgter Miene mustert er ihr Gesicht und abgesehen von müden Augenringen kann er nichts erkennen, das auf eine Krankheit hindeutet. Ein kleiner Teil seiner Sorge fällt von ihm ab und er beginnt sich wieder daran zu erinnern, warum er so schnell hierher gerauscht ist. »Gut, dass du nicht krank bist. Ich bin gekommen, weil ich Loreen sehen will und du die Einzige bist, die mir sagen kann, wo ich sie finde.«

Ihre Augen funkeln bei der Erwähnung von Loreens Namen dunkel auf und sie lächelt freundlich – zu freundlich. »Ach, tut mir leid, Kind. Aber es ist zu spät, sie ist schon fort.«

Er erstarrt. Wie fühlt es sich an, wenn man unter Schock steht? Ist es das Gefühl, wie sich Blut in Eis verwandelt, oder ein Stich, der wie ein Messer tief in die Eingeweide vordringt? Slash weiß es nicht, er fühlt alles auf einmal. Hinzu kommen noch Wut, Zorn und Unglaube. »Was bedeutet das? Was habt ihr mit ihr gemacht?«

Elderlys Stimme wird auf seinen Befehlston hin ebenfalls schärfer. »Sie ist keine von uns. Sie ist eine Titania – du hast es selbst gesehen, wie auch die anderen, die an dem Kampf beteiligt waren. Was hast du denn erwartet? Wir haben sie dorthin geschafft, wo sie hingehört.«

»Ihr habt sie den Titanus ausgeliefert? Wie konntest du das tun? Sie wusste nichts davon, es ist nicht ihre Schuld, was ihre Mutter getan hat!«, schreit er nun und kann sich fast nicht mehr auf dem Stuhl halten.

Ihre Antwort kommt schneidend wie ein Messer. »Sie hat hier nichts mehr zu suchen. Wir haben sie in das Gebiet der Titanus gebracht und dort gelassen. Wer weiß, vielleicht ist sie davongelaufen oder sie haben sie aufgenommen. Keine Ahnung. Es interessiert mich nicht.«

Elderly macht eine theatralische Pause und wartet, bis Slash ihr direkt in die Augen sieht. »Du kannst froh sein, dass wir sie nicht getötet haben, ist dir das klar?! Sie ist der Feind! Wir hätten sie damals schon rauswerfen sollen, als du die Briefe gefunden hast. Als du noch auf der richtigen Seite gestanden, sie für mich ausspioniert und getan hast, was ich dir aufgetragen habe. Aber jetzt …« Sie seufzt tief und wirkt wieder so müde, als wäre das Leben selbst zu schwer für ihre Schultern.

Aber das ist Slash egal. Er wird jetzt sicherlich kein verfluchtes Mitleid mit ihr haben. »Wie konntest du nur?«, schreit er aufgebraucht, springt damit endgültig vom Stuhl hoch und setzt gleich hinterher: »Und ja, ich habe am Anfang ein Auge auf sie gehabt, wie du es wolltest. Aber ich habe – gleich nach der Sache mit den Briefen – aufgehört dir von ihr zu berichten. Lange bevor wir wussten, wer sie wirklich ist. Egal von wem sie abstammt, sie ist nun eine von uns! Ich verstehe nicht, wie du das anders sehen kannst!«