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Wer erzählt? Ist es ein Mensch, ein Gespenst, ein Tier? Es meldet sich in politischen Versammlungen zu Wort. Es erzählt, wie es gelernt hat, die Vorderpfoten zu heben. Indem der Pfleger es auf einen Metallboden stellte, Hinterpfoten in Schuhen, der Boden wurde immer heißer, bis die Hitze unaushaltbar wurde, zugleich erklang ein Fanfarenstoß und ein Befehl. Sie musste die Vorderpfoten heben. Es erzählt also ein Tier. Aus der Perspektive von drei Eisbären, Großmutter, Mutter und Sohn entsteht ein aufregendes Zeitporträt und eine Migrantengeschichte über drei Generationen hinweg. Sie spielt in Moskau, auf Reisen, in der DDR und zuletzt in Deutschland, in Berlin. Dieser Eisbär, der Jüngste der Folge, wurde auf der ganzen Welt bekannt. In Amerika war sein Name weit mehr Menschen ein Begriff als der Name Merkel. Die Eisbären-Großmutter wirft dem Berliner Enkel vor, nur niedlich zu sein. Doch das stimmt nicht, er tritt mit seinen Politikerkontakten für Umweltschutz ein, gegen das Artensterben. Er wird aufgefordert, die Geschichte des Nordpols zu schreiben. Aber, wie viele Migranten, war er selbst nie in seiner Herkunftsregion, auch seine Mutter und seine Großmutter nicht, drei Generationen sind bereits in Europa geboren. Die Pflegerin seiner Mutter tauschte mit ihr Todesküsse. Mythen aus verschiedenen Teilen der Welt werden ebenso lebendig wie zeithistorische Realitäten. Ein germanischer Mythos besagt, dass Bären die Seele der Menschen rauben können. Beim Kuss gehen die Eisbärin und ihre Pflegerin ineinander über. Der ebenso berühmte Pfleger starb vor seinem Schützling. Wurde auch seine Seele geraubt? Wer spricht? Die Eisbärin schreibt gegen das Vergessen an. Die berühmte Eisbären-Pflegerin arbeitete nach Ende der DDR noch eine Weile im Zirkus, wurde dann gekündigt und vergessen. Der „Westen“ behauptet, Zirkus im „Osten“ sei Tierquälerei gewesen. Der Roman lässt sich historisch, politisch und philosophisch – wie lässt sich aus Tierperspektive denken? – lesen. Oder einfach als wunderbare, vergnüglich zu lesende Persiflage auf Migrantenliteratur. Yoko Tawada hat diesen Roman zuerst auf Japanisch geschrieben. Und ihn selbst übersetzt, das erste Mal, dass sie einen ihrer auf Japanisch verfassten Texte selbst übersetzte. Beim Übersetzen verwandelte sich der Text natürlich, manches schrieb sie neu. Ist es nun eine Originalroman oder eine Übersetzung, wenn die Autorin ihren eigenen Text übersetzt und in der anderen Sprache, in der sie auch original schreibt, teilweise neu formuliert? Dürfen wir ein solches Buch zum deutschen Romanpreis einreichen oder zum internationalen Übersetzerpreis oder zu keinem von beiden?
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Seitenzahl: 394
Etüden im Schnee
Roman
konkursbuch Verlag Claudia Gehrke
Inhaltsverzeichnis
Titelseite
Zum Buch
Das erste Kapitel
Evolutionstheorie der Großmutter
Mein Text
Die Sehnsucht
Das zweite Kapitel
Der Todeskuss
Am nächsten Tag
Mein Durchbruch
Mein Vater
Das dritte Kapitel
Im Andenken an den Nordpol
Die frechen Vögel
Eine anonyme Postsendung
Der Spaziergang
In der Nacht
Maurice
Zur Autorin
Einige Bücher
Impressum
Erzählt wird aus den Perspektiven von drei Eisbären aus drei Generationen.
Die Großmutter lebte in Moskau und emigrierte – vor der Wende – nach Westdeutschland, später nach Kanada, ihre Tochter ging wieder zurück nach Europa, in die DDR. Sie arbeitete im Zirkus. Ihr Sohn wird im Berliner Zoo geboren – inzwischen ist der Mauerfall schon lange her – und auf der ganzen Welt berühmt.
In Yoko Tawadas Texten gehen Traumebenen und Realität vergnügt ineinander über. Scheinbar Selbstverständliches aus unserem Alltag zeigt sich in neuem Licht. Mythen aus verschiedenen Teilen der Welt – zum Beispiel, dass Bären Seelen von Menschen rauben – werden ebenso lebendig wie zeithistorische Realität.
„Die glänzende, weiße Farbe meines Fells unterschied sich vom gewöhnlichen Weiß. Sie war durchlässig. So konnte das Sonnenlicht durch das Fell meine Haut erreichen, und das Licht wurde sorgfältig unter der Haut aufbewahrt. Das ist die Farbe, die meine Vorfahren erlangten, um im Nordpolarkreis zu überleben.“
Der Roman lässt sich auf viele Weisen lesen, als tiefgründige Tiergeschichte, als zeithistorischer Roman oder als leichtfüßig erzählte Persiflage auf Migrantenliteratur.
„Yoko Tawada beschreibt die Welt sowie sie aussähe, könnte man gleichzeitig träumen und hellwach sein …” (taz)
Jemand kitzelte mich hinter den Ohren, unter den Achseln, ich krümmte mich, wurde zu einem Vollmond und rollte auf dem Boden. Vielleicht kreischte ich dabei mit heiserer Stimme. Dann streckte ich meinen Hintern gen Himmel und schob den Kopf unter den Bauch: Jetzt war ich ein Sichelmond, ich war noch zu jung, um mir eine Gefahr auszumalen. Ich öffnete ohne Bedenken meinen Anus zum Kosmos und spürte ihn in meinen Därmen. Man hätte mich sicher belächelt, wenn ich damals vom „Kosmos“ gesprochen hätte, denn ich war noch so klein, so unwissend, so neu in dieser Welt. Ohne das flauschige Fell wäre ich kaum anders als ein Embryo gewesen. Ich konnte noch nicht gut gehen, obwohl meine Pfotenhände schon kräftig genug entwickelt waren, um zuzupacken und festzuhalten. Jedes Stolpern brachte mich zwar nach vorne, aber ob man das als Gehen bezeichnen könnte? Mein Blickfeld war stets mit einem Nebel überzogen, in meiner Gehörhöhle hallte es. Alles, was ich sah und hörte, besaß keine klaren Konturen. Mein Lebenswille hauste hauptsächlich in den Krallenfingern und auf der Zunge.
Meine Zunge konnte sich noch an den Geschmack der Muttermilch erinnern. Ich nahm den Zeigefinger jenes Mannes in den Mund, sog dran, was mich beruhigte. Die Haare, die aus seinen Fingerrücken wuchsen, waren wie Borsten einer Schuhbürste. Der Finger kroch wurmartig in meinen Mund hinein, es stachelte. Dann stupste mich der Mann gegen meine Brust und lud mich zum Ringkampf ein.
Erschöpft von der Spielstunde legte ich beide Pfotenhände flach auf den Boden und obendrauf das Kinn – eine Körperhaltung, in der ich am liebsten auf die nächste Mahlzeit wartete. Im Halbschlaf leckte ich meine eigenen Lippen ab, der Geschmack des Honigs kehrte zu mir zurück, obwohl ich ihn nur ein einziges Mal im Leben gekostet hatte.
Eines Tages band der Mann merkwürdige Gegenstände an meinen Füßen fest. Ich versuchte, sie von mir abzuschütteln, aber es gelang mir nicht. Meine nackten Pfotenhände empfanden Schmerzen, als würde der Fußboden sie von unten stechen. Ich hob die rechte Pfotenhand hoch und gleich danach die linke, konnte aber nicht das Gleichgewicht halten, kippte nach vorne. Durch die Berührung mit dem Boden kehrten die Schmerzen zurück. Ich stieß mich vom Boden ab, mein Rumpf wurde weit nach oben und hinten gestreckt, ich konnte einige Sekunden lang senkrecht stehen. Nach einem Atemzug fiel ich wieder, dieses Mal auf meine linke Pfotenhand. Es tat weh, und deshalb stieß ich wieder den Boden von mir weg. Nach mehreren Versuchen konnte ich auf zwei Beinen balancieren.
Schreiben: eine unheimliche Tätigkeit. Als ich auf den Satz starrte, den ich gerade niedergeschrieben hatte, wurde mir schwindelig. Wo bin ich gerade? Ich bin in meine Geschichte eingetreten und von hier verschwunden. Um hierher zurückzukommen, riss ich meinen Blick vom Manuskript, ließ ihn in Richtung Fenster treiben, bis ich endlich hierher, in die Gegenwart, zurückkam. Aber wo ist hier, und wann ist jetzt?
Die Nacht hatte bereits ihre eigene Tiefe erreicht. Ich stand am Fenster meines Hotelzimmers und blickte auf den Platz hinunter, der mich an eine Theaterbühne erinnerte; vielleicht wegen des kreisförmigen Lichtes, das eine Laterne um sich warf. Eine Katze schnitt den Lichtkreis mit ihren schwunghaften Schritten entzwei. In der Nachbarschaft herrschte eine transparente Stille.
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