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Der Tag einer Ankunft. Einer Reise durch die Kulturen. Und durch Lebensgeschichten der FreundInnen der Reisenden. Gegliedert durch japanische Schriftzeichen, jedes Zeichen ist eine Sekunde der Erinnerung, jede Sekunde der Erinnerung ein kleiner Roman.Yuna reist nach Bordeaux, in das Haus von Maurice, dem Schwager ihrer Hamburger Freundin Renée. Das Haus ist frei, denn Maurice möchte selbst verreisen, und Yuna möchte Französisch lernen. Während dieses Tages tauchen in ihrer Erinnerung nach und nach Freunde, Freundinnen und Bekannte auf, auch ihr Kater, die Geschichte entspinnt sich, hinein in den Ankunftstag von Yuna und in das vielfältige Lieben und Leben, auch mal Sterben, ihrer Freunde. Nichts scheint Zufall, oder ist doch alles Zufall? Ideogramme gliedern den Text, jedes Ideogramm eine Sekunde der Erinnerung, ein Roman. Eine Geschichte über das Verhältnis von Sprache und Leben, über die manchmal bedrohliche Kraft von Häusern, über die Sehnsucht, das Wasser, das Reisen. Die Schauplätze Bordeaux und Hamburg, beides Hafenstädte, die nicht direkt am Meer liegen, sind Orte verschiedener Formen von Sehnsucht. ?Tawadas Roman bereitet eine große Freude, da er verwinkelt ist und spannend. Auch viele schöne Sprachbilder sind zu entdecken - 'Vielleicht ist jedes Wort ein Musikinstrument', heißt es. Tawadas extrem pointiertes Denken und Schreiben ist immer wieder beeindruckend. Sie betreibt in ihren Büchern eine zärtliche, wohlmeinende Kulturanalyse. Eine, die dennoch Distanz schafft und uns über uns selbst wundern lässt.? (Carsten Klook, ZEIT-Online)
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Seitenzahl: 185
Veröffentlichungsjahr: 2016
Yoko Tawada
Schwager in Bordeaux
Roman
konkursbuch
VERLAG CLAUDIA GEHRKE
Inhaltsverzeichnis
Titelseite
Zum Buch
始 – 語 Anfang
売 – 雪: Momente
写 – 香: Momente 2
雄–今: Momente 3
記 –壁: Momente 4
精 – 議: Momente 5
攻 – 詩: Momente 6
蔑 – 霊: Momente 7
声 – 叩: Momente 8
汗 – 頭: Momente 9
空 – 汝: Momente 10
Zur Autorin
Impressum
Zum Buch
Yuna reist nach Bordeaux, in das Haus von Maurice, dem Schwager ihrer Hamburger Freundin Renée. Das Haus ist frei, denn Maurice möchte selbst verreisen, und Yuna möchte Französisch lernen. Während dieses Tages tauchen in ihrer Erinnerung nach und nach Freunde, Freundinnen und Bekannte auf, auch ihr Kater, die Geschichte entspinnt sich, hinein in den Ankunftstag von Yuna und in das vielfältige Lieben und Leben, auch mal Sterben, ihrer Freunde. Nichts scheint Zufall, oder ist doch alles Zufall? Ideogramme gliedern den Text, jedes Ideogramm eine Sekunde der Erinnerung, ein Roman. Eine Geschichte über das Verhältnis von Sprache und Leben, über die manchmal bedrohliche Kraft von Häusern, über die Sehnsucht, das Wasser, das Reisen. Die Schauplätze Bordeaux und Hamburg, beides Hafenstädte, die nicht direkt am Meer liegen, sind Orte verschiedener Formen von Sehnsucht.
„Tawadas Roman bereitet eine große Freude, da er verwinkelt ist und spannend. Jedem Abschnitt, und es sind derer viele, ist ein Schriftzeichen vorangestellt. Auch viele schöne Sprachbilder sind zu entdecken - wie man dies von der Schriftstellerin gewohnt ist. "Vielleicht ist jedes Wort ein Musikinstrument", heißt es. Tawadas extrem pointiertes Denken und Schreiben ist immer wieder beeindruckend. Sie betreibt in ihren Büchern eine zärtliche, wohlmeinende Kulturanalyse. Eine, die dennoch Distanz schafft und uns über uns selbst wundern lässt.“ (Carsten Klook, ZEIT-Online)
始 – 語 Anfang
始
An jenem hellen, trockenen Sommertag, genau um zwölf Uhr mittags, kam der Zug, den Yuna in Brüssel genommen hatte, in Bordeaux an. Yuna suchte auf dem Bahnsteig nach einem Mann, den sie noch nie im Leben gesehen hatte. Die Passagiere bildeten eine flüssige Masse in Richtung Ausgang, während Yuna an einer Stelle stehen blieb und sich umschaute. Am Ende blieben nur noch Yuna und ein junger Elektromechaniker übrig. Er stellte seinen Werkzeugkasten auf den Boden und öffnete die grau angemalte Tür einer Anlage.
堂
Yuna betrat den Bahnhofssaal, der eine hohe Decke hatte wie ein Dom. Das Knattern des rollenden Reisekoffers, das Klappern der Teller aus der Brasserie und die Vokale, die die Reisenden ausspuckten, vermischten sich über den Köpfen der Menschen zu einer Klangwolke. Yuna schaute sich um, fand aber keinen Mann, der Maurice sein konnte.
捜
Jedes Wort, das – egal aus welchem Grund – einmal geschrieben wird, beeinflusst die Zukunft. Drei Tage zuvor hatte Yuna die letzte E Mail von Maurice bekommen, in der stand: I search you at the station. Genau wie die meisten größeren Bahnhöfe dieser Welt war der Bahnhof Bordeaux St. Jean so gebaut, dass man sich leicht verfehlen konnte. Ein Labyrinth, dachte Yuna, ich muss einen roten Seidenfaden hinterlassen, damit er mich findet.
駅
Yuna schaltete ihr Mobiltelefon an. Eine lokale Telefonfirma meldete sich sofort mit einer fremdartigen Tonfolge. Gleich danach klingelte es. Es war Maurice. Yuna fragte, wo er sei. Er antwortete. Sein Wort wurde durch ein elektrisches Zischen unterbrochen, sodass sie nur Bahnhof verstand. Der Hof vom Bahnhof klang wie Huf. Ein schwarzes Pferd stand vor der Brasserie. Es galoppierte los und verschwand geräuschlos in der Glaswand. Pardon? Maurice wiederholte seine Antwort. Er sagte tatsächlich Bahnhof auf Deutsch, aber Yuna hörte das Wort nicht, weil sie kein deutsches Wort von ihm erwartete.
乳
Maurice war ein Schwager von Renée, einer Romanistin, die seit Jahrzehnten in Hamburg lebte und lehrte. Yuna, die in der Hansestadt studierte und arbeitete, hatte eine seltsame Beziehung zu ihr. Letztes Jahr verbrachte Yuna den Heiligabend bei ihr zu Hause. Weihnachten hatte für Yuna keine besondere Bedeutung, aber sie wusste, dass eine junge Frau wie sie den Heiligabend eigentlich mit demjenigen verbringen sollte, mit dem sie ein sexuelles Verhältnis hatte. Zumindest erwartete man es von ihr, und zwar nicht nur in Hamburg, sondern auch in Osaka. Dafür musste man nicht einmal wissen, wer Jesus gewesen war.
Yuna machte nicht den Fehler, Renée als Freundin zu bezeichnen. Renée hatte ihr schon zweimal gesagt, das scheußlichste Wort in der deutschen Sprache sei Busenfreundin. Vielleicht verabscheute sie aber bloß das schwulstige Wort Busen und nicht die Freundin.
閑
Bei ihrem vorletzten Besuch bei Renée hatte Yuna erzählt, dass sie die nächsten Sommerferien im Ausland verbringen möchte. Sie sei schließlich an nichts mehr gebunden. Ich bin jetzt frei, sagte Yuna und spürte einen unangenehmen Nachgeschmack auf der Zunge, als hätte sie gesagt, sie sei eine Sklavin gewesen. Renée nickte ihr verständnisvoll zu und wartete mit aufgerissenen Augen auf die nächsten Worte von Yuna.
瞼
Wenn Renée ihre Augen aufriss, zeigte sich ein schmaler, blasser Streifen zwischen dem Ansatz der Wimpern und der schwarzen Linie, die sie mit ihrem Augenstift sorgfältig gezogen hatte. Die empfindliche Haut sah an dieser Stelle zu nackt aus. Yuna schaute jedes Mal weg, als hätte sie unerwartet einen unfreiwillig entblößten Körper erblickt.
蝟
Ich will irgendwohin gehen, wo ich etwas Neues lernen kann. – Was willst du lernen? – Zum Beispiel Französisch. Renée hob ihre Augenbrauen. Französisch!
Yuna war hungrig, wollte wieder an einer neuen Sprache knabbern. Während der Schulzeit hatte sie nur dürftige Noten in den Pflichtfächern Englisch und Klassisches Chinesisch bekommen, aber sie hatte nie den gesunden Appetit auf neue Sprachen und Wörter verloren. Sie aß sogar Wörterbücher Seite für Seite auf, um Vokabeln zu lernen. Daher wusste sie, dass einige Verlage knuspriges Papier benutzen, andere faseriges oder mehliges. Beim Erlernen der Sprachen verwandelte sich ihr Schreibtisch in einen Esstisch und ihr Bleistift in ein Stäbchen.
箸
Ein Sprichwort sagt: Man isst mit zwei Stäbchen, während man nur mit einem Stift schreibt. Deshalb verdient man mit Schreiben genau die Hälfte von dem, was man für das Essen ausgibt. Wie wäre es aber, wenn man mit zwei Stäbchen gleichzeitig schreiben würde? Die linke Hand von links nach rechts, die rechte Hand von rechts nach links, sie kreuzen sich in der Mitte und dann gehen sie auseinander.
西
Möchtest du wirklich Französisch lernen? Wie kommst du darauf? Renée tat so, als hätte sie noch nie jemanden gesehen, der diese Sprache lernen wollte. Jeder Dialog mit Renée war ein Spiel, ein Lernspiel. Yuna war dran, sie musste etwas sagen: Ich wollte eigentlich in Dakar Französisch lernen. Ich kannte früher einen Japanologen aus Senegal, der in Kyoto lebte. Den gibt es nicht mehr.
Daraufhin erzählte Renée von ihrem Schwager Maurice, der in Bordeaux ein Haus habe. Er wolle die Sommerferien in Vietnam verbringen, sein Haus werde also zwei Monate leer stehen. Soll ich ihn fragen, ob du in seinem Haus wohnen kannst, während er weg ist? Bordeaux ist nicht Dakar, aber auch dort kann man Französisch lernen. Renée lächelte gewissenhaft. Yuna lächelte zwar mit, aber nur zögernd. In dem Moment klingelte das Telefon, Renée sprang in ihr Arbeitszimmer und Yuna verpasste die Chance zu erzählen, warum sie am liebsten in Westafrika Französisch lernen wollte.
誘
Renée kam nach einer Weile ins Wohnzimmer zurück und sagte, dass Jakob, ein Student von ihr, sie gerade angerufen habe, um zu fragen, ob er zu ihr kommen dürfe, und zwar jetzt sofort. Er habe sich vorletzte Woche Masern geholt und erst heute seine Hausarbeit fertig geschrieben. Das Thema der Arbeit sei Racine.
Yuna stand auf vom Sofa auf und sagte: Wir müssen uns nicht schon wieder über dieses Thema streiten, also, wenn er kommen will, gehe ich sofort nach Hause! Renée drückte sie zurück ins Sofa. Keine Sorge, natürlich darf er nicht kommen, das habe ich ihm schon gesagt, jetzt rufe ich meinen Schwager an. Renée verschwand wieder in ihrem Arbeitszimmer, und Yuna blieb allein im Wohnzimmer, entdeckte den Titel Phèdre im Bücherregal und erinnerte sich an den Frühlingsnachmittag, an dem sie Renée zum ersten Mal gesehen hatte.
皺
An jenem sonnigen Tag ging Yuna an einem der Seitenkanäle in der Hamburger Innenstadt spazieren und stand auf einmal neben einer riesigen Glaswand. Eine Frau mit silbernem Haar redete am Stehpult. Yuna konnte ihre Stimme gerade noch hören, den Inhalt der Rede aber nicht verstehen.
Der Sonnenstrahl zerbrach auf dem Kanalwasser, die Lichtsplitter flogen durch die Glaswand hindurch, sprangen über das Gesicht der Frau, um mit ihrer Mimik zu spielen. Ihre Lippen waren in derselben Farbe angemalt, wie die, die auf der Farbskala im Friseurladen als Bordeaux bezeichnet wird.
Yuna ging um das Gebäude herum, um den Eingang zu finden. Ein junger Mann, der den Zaun reparierte, beobachtete, wie Yuna mit beiden Händen mühsam die schwere Eingangstür öffnete.
Die Empfangshalle war leer, auch an der Kasse saß niemand. Ein Name stand auf einem Plakat, fast unlesbar, denn jeder Buchstabe war größer als Yunas Kopf: Racine. Yuna ging wie betäubt in den Saal hinein, setzte sich in die letzte Reihe, starrte auf das Gesicht der Vortragenden.
Yuna war erst Mitte zwanzig und fühlte sich von weiblichen Falten, egal an welchem Körperteil sie auftraten, unwiderstehlich angezogen.
Der Vortrag ging zu Ende, einige Zuhörerinnen standen schnell auf, streckten sich, andere blieben sitzen und wechselten mit ihren Nachbarn einige Worte. So wurde aus der stillen grausilbernen See aus Damenhaar plötzlich ein stürmischer Ozean, und die Vortragende verschwand hinter den Wellen.
Eine gepflegte Dame, die vor Yuna gesessen hatte, stand auf, drehte sich in Richtung Ausgang um, entdeckte dabei am Rand ihres Blickfeldes die studentisch angezogene Ausländerin und sah an ihr herab. Yuna ignorierte ihren skeptischen Blick und ging mit großen Schritten auf das Rednerpult zu. Renée steckte gerade ihr Manuskriptpapier, aus dem sie gelesen hatte, in ihre rote Damentasche. Die Papiere schienen sich während des Vortrags vermehrt zu haben und wollten nicht zurück in die enge Tasche.
能
Die schüchterne Studentin konnte selbst nicht glauben, dass sie Renée, die sie bis dahin nicht kannte, in diesem Moment ansprechen konnte. Ich bin eine Schauspielerin und plane gerade, Racine in Form des japanischen No-Theaters zu inszenieren. Ich brauche Ihre Beratung. Yuna brachte all das über die Zunge, oder wie die meisten sagen, über die Lippen, ohne einen einzigen Versprecher. Sie hatte bis dahin nicht gewusst, dass ihre Zunge nicht nur so fließend reden, sondern auch noch so glatt lügen konnte. Yuna hatte noch nie Racine gelesen. Sie wusste kaum etwas über das No-Theater. Außerdem war sie keine Schauspielerin, noch nicht.
虎
Vielleicht war es keine Lüge, sondern ein Tiger. Er wurde mit einem einzigen Pinselstrich in die Luft hineingezeichnet. Schwarzweiß, schlicht, mit einem Schwung. Keine Anatomie, sondern seine Sprungkraft hielt seine Glieder zusammen.
企
Yuna hatte bis dahin nie unter einem Theaterdach, oder wie die meisten Einheimischen sagen, auf einer Bühne, gespielt. Sie hatte noch nie mit einem Theatermenschen ein Wort gewechselt, wenn es überhaupt eine Menschensorte gibt, die man als Theatermenschen bezeichnen kann. Von der Existenz eines sogenannten Theatermenschen hatte Yuna zum ersten Mal aus Ingrids Mund gehört. Die künftige Erbin aus Blankenese sprach damals noch von einem italienischen Theatermenschen, der ihre Stücke aufführen würde, falls sie welche schreiben würde. Keiner aus ihrem Freundeskreis wusste, ob sie überhaupt damit begonnen hatte, ein Bühnenstück zu schreiben. Auf jeden Fall schmiss sie dieses einmal angefangene oder nie angefangene Theaterstück in den Papierkorb, als sie ein Haus geerbt hatte. Man schreibt doch kein Theaterstück, wenn man weiß, dass man eines Tages erbt, sagte eine ihrer Freundinnen.
Renée beobachtete neugierig die Studentin mit geröteten Wangen, die von Theatermenschen oder vom Wunsch, solche zu kontaktieren, sprach. Auch Renée wusste nicht, was ein Theatermensch war, schlug ihr aber sofort vor, zusammen Kaffee trinken zu gehen, um das Projekt genauer zu besprechen.
夢
Yunas Traum war es, Schauspielerin zu werden und in einer Fremdsprache ihren Text zu sprechen. Das war ihr Traum, denn sie hatte mehrmals geträumt, wie sie auf einer Bühne stand und einen langen Monolog in einer ihr unbekannten Sprache rezitierte. Sie trug eine Krone aus Gras auf dem Kopf, wusste, dass die Krone nicht etwa aus Lorbeerblättern, sondern aus Stiefmütterchen geflochten war.
Fremde Sätze flossen in sie hinein und aus ihr heraus. Yuna hatte nach jedem Satz Angst, nicht weitersprechen zu können. Dabei brauchte sie aber nur ihren Schädel offen zu halten, damit die Sätze hineinfließen konnten. Yuna wusste nicht, ob sie noch wach war oder schon in Ohnmacht fiel. Sie bekam eine Gänsehaut, der unterste Teil ihres Bauches brannte und zitterte.
嘘
Beide Frauen saßen auf der Terrasse eines Kaffeehauses. Es ist mein Traum, Schauspielerin zu werden, sagte Yuna zu Renée und dachte, ein Albtraum ist auch ein Traum, vielleicht der Traum aller Träume. Renée fragte verwundert: Das heißt, Sie sind noch keine Schauspielerin? Yuna wurde rot, hustete und öffnete ihren Rucksack, obwohl sie nichts herausholen wollte. Wenn Yuna damals schon gewusst hätte, dass Renée oft log, hätte sie kein schlechtes Gewissen haben müssen. Renée log nie ausdrücklich, aber sie verschwieg oft den Bauch einer Sache und betonte dafür den Gürtel. Sie sagte zum Beispiel, dass ihr Vater ein Künstlertyp war, verriet aber nie, was er in Wirklichkeit beruflich gemacht hatte. Sie erzählte, wie lieb er manchmal zu ihr gewesen sei, erzählte aber nie, wie er andere Menschen behandelt hatte.
男
Yuna und Renée verließen das Kaffeehaus Seite an Seite. Ein junger Mann stand im Vorgarten und rührte in einem Holzkasten eine graue dickflüssige Masse um. Yuna dachte, er mische Beton, aber wer weiß, was es in Wirklichkeit war. Seine dicken, behaarten Finger wirkten grob, die Bewegung seiner Holzgabel war hingegen zart und einfühlsam. Sie erinnerte Yuna an die Fingerspitzen von Ingrid, wenn sie die Paste für die Gesichtsmaske auf ihren Wangen verteilte.
Als sich der Mann den Schweiß von der Stirn wischte, redete Renée ihn an. Für Sie würde ich sofort die Sonne abbestellen. Er sah sie überrascht an, hatte scheinbar gar nicht damit gerechnet, angesprochen zu werden. Seine Antwort war kurz, bestand aus keinem deutlichen Wort. Yuna hätte sie als Luftausstoßen mit kleinen Reibungen im Hals bezeichnet. Renée fing unvermittelt an, von Racine zu erzählen. Der junge Mann geriet in Verlegenheit, hörte ihr aber aufmerksam zu und sagte, eigentlich lese er gerne Bücher, er habe schon Balzac gelesen, und auch Racine würde er lesen, wenn er Zeit hätte, nein eigentlich fehle ihm nicht die Zeit, sondern die Kraft, denn er sei müde, wenn er abends nach Hause komme. Er trinke kein Bier, er trinke überhaupt nichts, seine Kumpel verstünden ihn nicht, aber es sei immer schon so gewesen, dass er nicht trinke. – Wie heißen Sie? – Jakob. – Wie bitte? Sie heißen auch Jakob?
Renée erzählte weiter von Racine mit denselben Formulierungen, die sie vorhin im Vortrag gebraucht hatte. Ihre süß gewordene Stimme wurde langsam zu süß und daher fast herb wie Waldhonig. Die Hände des jungen Mannes kehrten zurück zu seiner Arbeit, aber Renée hörte nicht auf zu reden. Ihre Stimme wurde kratzig, fiebrig, aufdringlich. Der junge Mann schaute hoch ins Leere, als suchte er dort nach Rettung. Die stolzen Seitenflügel seiner Nase bewegten sich immer deutlicher auf und ab. Wenn Renée rechtzeitig aufgehört hätte, hätte Yuna diesen kleinen Dialog mit einem Mann aus einer anderen Berufsgruppe zu schätzen gewusst, aber Renée ging zu weit und schien noch viel weiter gehen zu wollen. Irgendwann würde der junge Mann die Geduld verlieren und platzen. Ich gehe jetzt, kündigte Yuna an, ruhig aber deutlich, und ging tatsächlich los.
怒
Es hätte sein können, dass sich die beiden Frauen nie wieder gesehen hätten. Aber in dem Moment wandte sich Renée von dem jungen Mann ab und entschied sich, der jungen Frau zu folgen. Yuna drehte sich nicht um, wartete nicht auf Renée, wusste aber, dass sie mitkam. Warum denn auf einmal so schnell, klagte Renée keuchend. – Ich wollte da weg. – Warum wolltest du weg?
Yuna blieb stehen, starrte wütend auf Renées Gesicht und fragte: Warum reizt du den unschuldigen jungen Mann? Die Romanistin schoss unerwartet scharf zurück: Unschuldig? Kein Mensch ist unschuldig!
管
Es war nicht das einzige Mal, dass Renée einen fremden jungen Mann belästigte. Das Spiel gehörte zu Renées Alltag, wie Yuna nach und nach feststellte. Einmal kam ein junger Handwerker ins Haus, um das Wasserrohr unter dem Waschbecken zu reparieren. Renée sprach ihn zuerst freundlich an, aber dann bohrte sie immer tiefer in sein Nervennetz, blickte tief in seine Augen, und ihr Blick ließ ihn nicht los. Wenn ein Raubtier einem anderen Tier in die Augen blickt, bedeutet es Kampf. Er sagte nichts mehr, packte sein Werkzeug zusammen und verließ das Haus, um Renée nicht ins Gesicht schlagen zu müssen. Es war nicht der Handwerker, sondern Yuna, die die Tür wütend zuknallte und Renée anschrie. Wozu machst du das? Wolltest du ihm deine Macht zeigen? – Macht? Du denkst zu viel. – Warum sollte ich nicht? Wenn ich dich so sehe, fällt mir das Wort Kolonialistin ein.
尼
Und du erinnerst mich an eine Nonne! Renée spuckte jedes der sieben Wörter getrennt aus. Yuna verbeugte sich tief, nicht etwa, um ihren Respekt vor Renées Einsicht zu zeigen, sondern um das kaputte Wasserrohr unter dem Waschbecken zu untersuchen.
Der Raum unter dem Becken war so eng, dass sie schief auf den kalten Fliesen sitzen und wie eine ängstliche Schildkröte ihren Kopf einziehen musste. Aber ihr war diese Haltung lieber als mit Renée in gleicher Augenhöhe stehen zu müssen. Yuna war verwirrt, wollte allein in Ruhe darüber nachdenken, für was Renée die Nonne als Metapher gebraucht hatte. Yuna wusste nicht viel über den Beruf der Nonnen. Die einzige Nonne, die sie bis dahin kannte, war Hildegard von Bingen.
曲
Wasser tropfte aus dem auberginenförmigen Teil des Rohrs hinab. Dem metallenen Ring, der das obere Rohr mit dem unteren zusammenhielt, fehlte eine Schraube. Der Ring war leicht deformiert. Yuna reparierte gerne kleine Geräte und Spielzeug, wusste aber, dass Renée weder einen Schraubenzieher noch eine Zange besaß.
Der Ring ist kaputt. Ich könnte ihn wieder heil machen, aber du hast kein richtiges Werkzeug im Hause. Warum hast du den Klempner nach Hause geschickt?
Als Yuna das Wort Klempner artikulierte, wurde ihr Mitleid mit dem jungen Mann noch größer als vorher. Yuna hatte eine Vorliebe für dieses Wort. Die Kraft einer Hand, die eine Metallstange biegt, war im Klang des Wortes enthalten. Auch der Widerstand der Metallstange, die nicht gebogen werden wollte, war aus dem Wort herauszuhören. Yuna wollte noch einmal das Wort genießen und nur zu dem Zweck machte sie Renée den Vorwurf: Der Klempner war unschuldig. Der arme Klempner!
弱
Du schon wieder mit deiner Unschuld! Wie kannst du so prüde sein?
Das dünne Metallstück, aus dem der Ring gemacht war, ließ sich leicht biegen. Yuna wurde in Renées Händen gefangen und gebogen, war aber stark genug, um immer wieder kräftig zurückzuspringen. Dabei vibrierte der metallene Leib, tat so, als wäre jede Gewalt dazu da, um eine neue Musik zu produzieren. Es liegt aber auch im Charakter des Metalls, dass es zerbrechlich ist wie der Abziehring einer Coladose, der in den Fingern einer durstigen Frau abbricht.
脚
Yuna versuchte, den Ring zurechtzubiegen, damit er die Röhren wieder fest zusammenfügen konnte. Dabei beobachtete sie ab und zu heimlich Renées Beine. Durch die hellen Damenstrümpfe schimmerten hier und da blaue Adern. Graue Schattierungen der Seidenstrümpfe betonten die weibliche Linie vom Knöchel bis zum Oberschenkel. Die Rundungen an den Kniescheiben hatten sogar etwas Liebliches, was nicht zu den scharfen Worten Renées passte. Die Knochen um die Zehen waren leicht deformiert und die Füße standen krumm auf dem flachen Boden, als vermissten sie die radikale Kurve eines hohen Stöckelschuhes.
Du hast Angst, kein sexuelles Leben mehr zu haben, deshalb redest du schlecht von den Nonnen. Ist es dein Hauptwunsch, sexuell begehrt zu werden oder ist dahinter ein abstrakter Wunsch, den ich nicht verstehe? Yuna sprach diese Frage nicht aus. Sie schluckte sie hinunter und arbeitete schweigend weiter.
伯
Yuna stand auf und teilte sachlich mit, dass ihre Reparatur abgeschlossen sei. Renée drehte am Wasserhahn, füllte ihr Glas halb voll und würgte an ihren Tabletten. Yuna wusch ihre Hände mit einer Edelseife, von der sie wusste, dass sie in Algerien produziert wurde. Renée holte eine Flasche Rotwein aus dem Schrank und die beiden Frauen setzten sich aufs Sofa. Setzte sich Yuna neben Renée, bedeutete das automatisch eine Versöhnung. Dieser Wein kommt aus Pessac, sagte Renée. – Wo ist Pessac? – In der Nähe von Bordeaux. Ich habe einen Schwager in Bordeaux. Er ist Schriftsteller.
義
Renée erwähnte ab und zu diesen Schwager, aber jeder kann behaupten, dass er irgendwo einen Schwager hat. Der Onkel aus Amerika, den viele Hamburger früher besaßen, musste regelmäßig Traumwaren vom Neuen Kontinent mitbringen, um seine Existenz glaubhaft zu machen. Es waren prächtige Geschenke, auch wenn keiner mehr genau weiß, was es war. Ein Schwager in Frankreich hingegen musste kein Geschenk mitbringen, er musste nicht einmal nach Hamburg kommen, dafür muss er aber öfter in flüchtigen Episoden erwähnt werden, damit er nicht vergessen wird.
姉
Renée erzählte nie von ihrer Schwester und durch das Verschweigen wurde diese Schwester für Yuna präsenter als der Schwager. Yuna wusste, dass der Schwager Maurice viel jünger war als Renée. Und sie hatte nur eine ältere Schwester, wenn Yuna sich richtig erinnerte. Sie fragte einmal eher aus Unaufmerksamkeit als aus Neugierde: Hast du eine ältere Schwester? Renée nickte, schwieg aber dann tief, als wäre sie böse. Yuna musste schnell etwas Auflockerndes sagen, hatte aber Angst, sich zu versprechen. Gerade in solcher Situation könnte ihre Zunge sie verraten und anstatt Schwester ein ähnliches Wort aussprechen: Silvester zum Beispiel. Das Wort könnte Renée auf die Idee bringen, erneut in einer fast vergessenen Geschichte zu bohren. In der letzten Silvesternacht auf dem Weg nach Hause traf ein Knaller Yunas Oberschenkel. Ein türkischer Passant brachte sie zum Arzt.
Yuna wurde rot, sagte nichts mehr. Ihr Schweigen reizte Renée noch mehr. Warum fragst du mich, ob ich eine Schwester habe? Du weißt doch, dass ich eine Schwester habe. Was willst du in Wirklichkeit wissen? Sag es ehrlich!
救