Europadiskurse in der Gegenwartsliteratur des vergangenen Jahrzehnts -  - E-Book

Europadiskurse in der Gegenwartsliteratur des vergangenen Jahrzehnts E-Book

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Beschreibung

In der vergangenen Dekade war die Idee der europäischen Integration zunehmender Kritik ausgesetzt. Nationalistische Bestrebungen haben in den meisten Ländern der Europäischen Union an Akzeptanz gewonnen, was sich schließlich im Austritt eines der großen Staaten, dem Vereinigten Königreich (2016/20), manifestierte. Der Band erkundet Möglichkeiten und Bedingungen des Diskurses über Europa in der Literatur der letzten Jahre. Ein Augenmerk liegt dabei auf divergenten Perspektiven: Literarische Texte spiegeln unterschiedliche Europa-Erfahrungen. Es finden sich Verarbeitungen unmittelbarer Erlebnisse von Menschen, die aus Regionen an Grenzen stammen und deren tägliches Leben dadurch von der europäischen Politik bestimmt ist. Auf einer anderen Ebene thematisieren Texte zunehmend Migrationserfahrungen von Menschen, die innerhalb Europas ihre Lebensorte wechseln oder nach Europa flüchten.

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Hermann Gätje / Sikander Singh (Hrsg.)

Europadiskurse in der Gegenwartsliteratur des vergangenen Jahrzehnts

DOI: https://doi.org/10.24053/9783772057946

 

© 2024 • Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KGDischingerweg 5 • D-72070 Tübingen

 

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

 

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Internet: www.narr.deeMail: [email protected]

 

ISSN 2512-8841

ISBN 978-3-7720-8794-3 (Print)

ISBN 978-3-7720-0249-6 (ePub)

Inhalt

VorwortCorina Erk, Bamberg | Von literarischen Europa-Ideen des 20. Jahrhunderts für Gegenwart und Zukunft lernen? Die Beispiele Hugo von Hofmannsthal und Stefan ZweigI. Zur EinführungII. Hugo von Hofmannsthals Reflexionen über die europäische IdeeIII. Gedanken des ‚Parade-Europäers‘ Stefan ZweigCaren Bea Henze, Freiburg im Breisgau | Grenzüberschreitende literarische Aushandlungsversuche in Kontroversen um das erinnerungskulturelle Erbe Europas – Christiane Hoffmanns Alles, was wir nicht erinnern (2022)I. Literatur im Spannungsfeld östlicher und westlicher ErinnerungstraditionenII. Erkundungen eines transnationalen Erinnerns an ZwangsmigrationIII. Divergierende Ansprüche institutionalisierter ErinnerungsarbeitIV. Europäisches Zukunftsgedächtnis trotz erinnerungskultureller Konflikte?V. Fazit: Notwendige Gedächtnisrevisionen statt unzulässigen GeschichtsrevisionismusAnnabelle Jänchen, Ústí nad Labem | Europa und Familienromane – Interkulturelles Erzählen bei Nino Haratischwili und Sabrina JaneschDer Familienroman um 1900: Thomas Mann und die BuddenbrooksFamilienromane im 20. und 21. Jahrhundert„Im Osten, sagen sie, zerfällt die Welt zu Staub und Asche“: Bewegungen in Raum und Zeit„Was, wenn Dämonen, wie Sprache oder Land, vererbbar sind?“ Postmemory und TraumataConclusioPaola Quadrelli, Mailand | Von Brandenburg nach Brüssel – Gedanken über die Europäische Union anhand von Juli Zehs Roman – UnterleutenHermann Gätje, Saarbrücken | „Die Hölle hat in Europa eine Pause gemacht“ – Perspektiven auf die Friedensjahre im Europa der Nachkriegszeit in Emine Sevgi Özdamars Roman – Ein von Schatten begrenzter RaumSikander Singh, Saarbrücken | Gegenwart und Zukunft Europas in Christoph Ransmayrs Roman – Der FallmeisterI.II.III.IV.Anne-Rose Meyer, Wuppertal | ‚Europa‘ in Romanen Yoko TawadasI. Europa – literarische KonturenII. Ja, wo fängt Europa denn nun an? Europadiskurse im Werk Yoko TawadasIII. Darstellungen Europas in Etüden im Schnee, Ein Balkonplatz für flüchtige Abende und Celan und der chinesische Engel von Yoko TawadaIV. Ein vorläufiges FazitEwout van der Knaap, Utrecht | Mnemotopisches Schreiben – Zu Robert Menasses Roman – Die ErweiterungI. EinleitungII. KristallisationspunkteIII. EinzelanalysenIII.1 SkanderbegIII.2 Flüchtlingsschiff VloraIII.3 WiderstandIII.4 Ehrenkodex KanunIII.5 GenderIII.6 AuschwitzIII.7 Stadtentwurf von TiranaIII.8 WinnetouIV. Poetologisches FazitMarco Maffeis, Wuppertal | Das Europa der zwei Geschwindigkeiten in Nina Yargekovs Roman – Double nationalitéEinleitungI. HandlungII. Stimme, Modus, ZeitIII. Der Faktor Raum und das ‚Europa der zwei Geschwindigkeiten‘IV. SchlussJasmina Đonlagić Smailbegović, Tuzla | Einheit in Vielfalt – Zur Europa-Utopie in Saša Stanišićs Roman – Herkunft

Vorwort

In der vergangenen Dekade war die Idee der europäischen Integration zunehmender Kritik ausgesetzt. Nationalistische Bestrebungen haben in den meisten Ländern der Europäischen Union an Akzeptanz gewonnen, was sich schließlich im Austritt eines der großen Staaten, dem Vereinigten Königreich (2016/20), manifestierte.

Innerhalb der Staaten der Gemeinschaft differieren die Ansichten, ob es sich bei der Europäischen Union um eine Zweckgemeinschaft zur Stärkung der eigenen national- bzw. wirtschaftspolitischen Interessen oder um einen die politische Einigung anstrebenden Staatenbund handelt. Auch sind Kompetenzen und Funktion europäischer Einrichtungen wie des Parlaments in Straßburg oder des europäischen Gerichtshofes in Luxemburg zwischen nord- und süd-, west- und osteuropäischen Staaten umstritten.

Die Covid 19-Pandemie hat die Probleme sichtbar vor Augen geführt. Auch wenn die Grenzschließungen lediglich pragmatisch im Hinblick auf eine Begrenzung des Infektionsgeschehens gedacht waren, haben sie dennoch gezeigt, wie fragil jahrelange Selbstverständlichkeiten (wie die Personenfreizügigkeit) sein können. Der Umgang mit der Infektionskrankheit hat eindringlich vor Augen geführt, wie schwierig Organisation und gemeinsames Handeln im konkreten Fall angesichts divergenter politischer Grundeinstellungen sind.

Demgegenüber lässt der Angriffskrieg der Russischen Föderation auf die Ukraine die Bedeutung jener Werte, auf denen die Europäische Union gründet, wie ihre geostrategische Funktion zwar wieder in den Vordergrund treten; trotzdem werden auch bei dieser, für die Zukunft Europas entscheidenden Frage differente Einschätzungen außen- und verteidigungspolitischer Fragen sichtbar.

Dass die prekäre Lage des europäischen Gedankens im Diskurs der Gegenwartsliteratur exponiert Eingang findet, hat sich bereits 2017 markant gezeigt, als mit Robert Menasses Brüssel-​Roman Die Hauptstadt ein Text mit expliziter politischer Europa-​Thematik den Deutschen Buchpreis gewann. Im von der Pandemie gezeichneten Jahr 2021 hat mit Antje Rávik Strubels Blaue Frau wiederum ein Erzählwerk diesen Preis erhalten, der Europa, seine Mentalitäten, Grenzen und Probleme, in den Fokus rückt. Schon diese beiden durch ihre Publizität hervorstechenden Texte zeigen, auf welch unterschiedliche Weise der Europadiskurs literarisch behandelt werden kann.

Der vorliegende Band, der die Ergebnisse einer internationalen Tagung im November 2022 im Literaturarchiv Saar-​Lor-​Lux-​Elsass der Universität des Saarlandes in Saarbrücken zusammenfasst, erkundet Möglichkeiten und Bedingungen dieses Diskurses in der Gegenwartsliteratur der letzten Jahre. Ein Augenmerk liegt dabei auf den divergenten Perspektiven: Literarische Texte spiegeln unterschiedliche Europa-​Erfahrungen. Es finden sich Verarbeitungen von unmittelbaren Erlebnissen von Menschen, die aus Regionen an Grenzen stammen und deren tägliches Leben dadurch von der europäischen Politik maßgeblich bestimmt ist. Auf einer anderen Ebene thematisieren Texte zunehmend Migrationserfahrungen von Menschen, die innerhalb Europas ihre Lebensorte wechseln oder aus anderen Regionen der Welt nach Europa flüchten. Nicht zuletzt werden Perspektiven Europas im Spannungsfeld nationalistischer Diskurse und Debatten über Möglichkeiten einer weitergehenden europäischen Integration literarisch reflektiert und bis in das Feld der Dystopie fortgedacht.

Das Ministerium für Bildung und Kultur des Saarlandes hat die Ausrichtung der Tagung sowie die Drucklegung dieses Bandes durch sein großzügiges Engagement finanziell unterstützt. Die Herausgeber sagen hierfür Dank. Ebenso danken wir den Referentinnen und Referenten für ihre engagierten Diskussionsbeiträge und – nicht zuletzt – den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des Literaturarchivs Saar-​Lor-​Lux-Elsass für ihre hilfreiche Unterstützung bei der Durchsicht und Einrichtung der Manuskripte für den Satz.

 

Saarbrücken, im Frühjahr 2024

Hermann Gätje und Sikander Singh

Von literarischen Europa-Ideen des 20. Jahrhunderts für Gegenwart und Zukunft lernen?

Die Beispiele Hugo von Hofmannsthal und Stefan Zweig

Corina Erk, Bamberg

I.Zur Einführung

Schon vor einiger Zeit sprach der Spiegel von Europa als einem „Kontinent der Krisen“1 und die FAZ schrieb: „Nie war das Ende der EU so realistisch wie heute“.2 Zwar ist die Rede von der Krise Europas respektive der EU so alt wie der (Sub-)Kontinent bzw. das politische Konstrukt selbst, doch wirkt es so, als habe sich gerade die EU der Gegenwart in besonderem Maße erschöpft, ja beinahe überlebt. Während sich auf der einen Seite in vielen Ländern Europas nationalistische Tendenzen zeigen, scheint der Krieg in der Ukraine den viel beschworenen Schulterschluss zumindest der EU zu befördern.

Zu fragen ist daher, welche kulturellen, explizit literarischen Antworten auf das europäische Krisennarrativ gefunden wurden und werden, zumal die Rede von Europa allenthalben mit der Frage nach einer europäischen Identität verbunden ist. Während Jürgen Habermas für Identitätsstiftung via Verfassungspatriotismus als Zukunftsmodell für die EU plädiert,3 konstatiert Yōko Tawada: „Eigentlich darf man es niemandem sagen, aber Europa gibt es nicht“.4 Während Robert Menasse seinen Essay mit „europäischer Landbote“5 überschreibt, spricht Hans Magnus Enzensberger von Brüssel als einem „sanften Monster“6 und Konstantin Küspert bringt sein Stück „Europa verteidigen“7 auf die Bühne. Dabei hat schon Leibniz in diversen Schriften eine aus heutiger Sicht als modern zu bezeichnende Idee von Europa als einem „System föderierter Staaten“8 vorgelegt. Im 18. Jahrhundert folgten mit Kant, Herder oder Schiller weitere Autoren mit eigenen Europa-​Figurationen, vom 19. und 20. Jahrhundert mit den jeweiligen literarischen Gegenreaktionen auf den sich etablierenden, erstarkenden, bis hin zu grausamen Nationalstaat ganz zu schweigen.

Waren Philosophie und Literatur, bei aller Skepsis, also schon immer ‚schlauer‘ und wussten einem kriselnden Europa oder gegenwärtig einer erschöpften EU ein konstruktives, mitunter utopisches Zukunftsmodell entgegenzusetzen? Im Folgenden sollen diesbezüglich exemplarisch Autoren aus dem 20. Jahrhundert und Publizistik in den Blick genommen werden, und zwar die Europa-​Gedanken in Schriften von Hugo von Hofmannsthal und Stefan Zweig. Gefragt werden soll dabei, ob von den im Prozess der essayistischen Auslotung entstandenen Texten – insbesondere dem Redemanuskript Über die europäische Idee (1917) und dem Aufsatz Blick auf den geistigen Zustand Europas (1922) von Hofmannsthal sowie, neben Zweigs Europa-​Rede Der europäische Gedanke in seiner historischen Entwicklung (1932), dessen posthum erschienene Autobiographie Die Welt von Gestern. Erinnerungen eines Europäers (Erstausgabe 1942) – etwas für die Gegenwart und/oder die Zukunft Europas zu lernen ist, was sich auch in realpolitische Zusammenhänge einbetten ließe.

II.Hugo von Hofmannsthals Reflexionen über die europäische Idee

Hofmannsthals Idee von Europa1 entwickelt sich aus seinen Überlegungen zu einer österreichischen Identität, geprägt vom Vielvölkerstaat. Nach einer anfänglich konservativ-​patriotisch gesinnten Phase2 in seinen politischen Äußerungen im Zuge der Erfahrungen des Ersten Weltkriegs. erweitert der Autor, auch vor dem Hintergrund seiner eigenen Kriegserfahrung – Hofmannsthal stand seit 1914 im Dienst der Armee Österreich-​Ungarns, konkret im Fürsorgeamt des Kriegsministeriums – diesen Horizont, dargelegt etwa im Redemanuskript Über die europäische Idee aus dem Jahr 1917. In diesem in Bern gehaltenen Vortrag, der zu großen Teilen auf Ausführungen Rudolf Borchardts in dessen Skizze Gedanken über Schicksal und Aussicht des europäischen Begriffs am Ende des Weltkrieges3 fußt, diagnostiziert Hofmannsthal zunächst die Krise des Europas seiner Zeit: „Der Begriff Europa: Wir sind mit ihm groß geworden. Sein Zusammenbruch für uns ein erschütterndes Erlebnis.“4 Europa gilt ihm in dieser Rede, die zu seinen zwischen 1916 und 1936 entstehenden Europa-​Essays und Vorträgen zählt, nicht als geographische oder ethnische Einheit,5 sondern basiert, so Hofmannsthal, vor allem auf der Civitas dei und der Res publica litteraria.6 Die Einheit Europas stellt der Autor folglich über das Geistige her – auch Heinrich Mann und Klaus Mann etwa ziehen diese Verbindungslinie.7 In seiner auf das Kulturelle abzielenden Ideenbildung Europa betreffend, kommt Hofmannsthal nicht umhin, seinem Stil gemäß, idealistisch zu argumentieren, bis hin zur Aufladung mit religiösem Pathos, etwa wenn er bezüglich der Humanität als Signum Europas formuliert: „Postuliert ist nicht Europa sondern namens Europa die Menschheit (namens der Menschheit göttliche Allgegenwart: Gott selber.)“8 Auch aufgrund derlei religiöser Töne lässt sich sein Europa-​Ansatz als ein gleichsam neoromantischer bezeichnen, der eine Analogie-​Bildung zu Novalis und Friedrich Schlegel erlaubt.9

Bestandteil von Hofmannsthals Europa-​Idee ist zudem die Existenz einer europäischen Identität, eines „neue[n] europäische[n] Ich[s]“.10 Dabei gelte es, den Nationalstaat der europäischen Idee unterzuordnen.11 Diese trägt bei Hofmannsthal durchaus Züge einer Utopie und ist auch nicht vor eurozentrischen Momenten gefeit, wenn es heißt: „[F]ür uns wahrhaft ist Europa die Grundfarbe des Planeten, für uns ist Europa die Farbe der Sterne wenn aus entwölktem Himmel wieder Sterne über uns funkeln“.12 Für seine Europa-​Idee knüpft Hofmannsthal zudem, analog zum Reichsgedanken, an die Donaumonarchie an – Vergleiche zur Vorstellung vom Europa der Regionen ließen sich ziehen –, die als Vorbild für ein Europa des Geistes gelten könne. Aus dessen Einzigartigkeit und der damit verbundenen Überlegenheit ergebe sich ein gewisser Führungsanspruch.

Die Wandlung weg vom Nationalismus hin zum Europa-​Plädoyer vollzieht sich bei Hofmannsthal mithin erst allmählich. Auch in seinem Europa-​Essay Blick auf den geistigen Zustand Europas aus dem Jahr 1922, erschienen posthum, konstatiert er die Krise Europas nach dem Ersten Weltkrieg:

Die Beschädigung aller Staaten und aller Einzelnen durch den Krieg war so groß, die materiellen Folgen davon sind so schwer und verwickelt und bilden eine solche Bemühung und Belastung auch der Phantasie und des Gemütslebens der Einzelnen, daß darüber ein Gefühl nicht recht zum Ausdruck kommt, wenigstens nicht zu einem klaren und widerhallenden, sondern nur zu einem gleichsam betäubten Ausdruck, welches doch alle geistig Existierenden erfüllt: daß wir uns in einer der schwersten geistigen Krisen befinden, welche Europa vielleicht seit dem sechzehnten Jahrhundert, wo nicht seit dem dreizehnten, erschüttert haben, und die den Gedanken nahelegt, ob „Europa“, das Wort als geistiger Begriff genommen, zu existieren aufgehört habe.13

Der Aufsatz ist geprägt von einem eher resignativen Ton und erneuert die Hypothese von Antike und Christentum als Basis Europas, „das alte, auf der Synthese von abendländischem Christentum und einer ins Blut aufgenommenen Antike ruhende Europa“.14 Der Glaube an eine mögliche europäische Einheit geht im Text mit der Furcht vor dem Untergang Europas Hand in Hand: „Goethes letztes Wort aber von seinen heute noch festgeschlossenen Lippen abzulesen, wird erst einer späteren Generation, von uns abstammenden, uns unanalysierbaren Menschen gegeben sein: diese werden sich vielleicht ‚die letzten Europäer‘ nennen. Für uns wäre der Name verfrüht.“15

Lässt sich aus all dem die Schlussfolgerung ableiten, Hofmannsthal fungiere als einer der Vordenker des gegenwärtigen respektive gar eines zukünftigen Europas? Mit dem Ansatz, Europa nicht über ethnische Aspekte oder lediglich das Geographische zu bestimmen und das Bestreben, das Nationale zu überwinden, mag dies zunächst so erscheinen. Gleichwohl scheint Hofmannsthals Ansatz, Europa nicht mit politischen Mitteln verändern zu wollen, nicht ohne Weiteres unhinterfragt anwendbar zu sein. Dass der Autor das Augenmerk auf Europa als Kulturraum legt, mag hingegen angesichts der fortgesetzten und im Grunde nie abgeschlossenen Suche nach einer europäischen Identität von erneuter Relevanz sein. Als Vertreter eines europäischen Bundesstaats wird man Hofmannsthal gleichwohl nicht werten können. Sein Glaube an das Erneuerungspotential Europas, an eine über das Nationale hinausgehende Verbindung sowie die an Herder und Heine erinnernde Wertschätzung der Einheit in Vielfalt, das sich bei Hofmannsthal aus der Wertschätzung des sogenannten Vielvölkerstaats Österreich-​Ungarn ableitet, machen seine Idee von Europa zwar anschlussfähig für die Gegenwart. Insgesamt aber sind Hofmannsthals Gedanken Europa betreffend im historischen Kontext seiner Zeit zu sehen, etwa der restaurative Bezug auf den Reichsgedanken. So ist seine Idee von Europa weder liberal noch gar demokratisch, sondern basiert vielmehr auf einem durchaus als elitär zu bezeichnenden Geistesbegriff, darin paradigmatisch für den Europa-​Diskurs der Zwischenkriegszeit, an dem Hofmannsthal Anteil hatte. In der Europa-​Essayistik ist er als konservative Stimme zu werten. Dies macht Hofmannsthals Europa-Überlegungen nicht ohne Weiteres anschlussfähig für die Gegenwart, was sich allerdings weniger auf einen grundsätzlich konservativ ausgerichteten Tenor seiner Äußerungen bezieht als auf Überlegungen wie die von einer Vormachtstellung Österreichs und/oder Deutschlands innerhalb Europas. Darüber hinaus ist bei Hofmannsthal von einer politischen Einheit Europas oder einer staatsrechtlichen Weiterentwicklung keine Rede. Seine Reflexionen zur Idee Europa bleiben auf einer weitgehend abstrakten Ebene ohne konkreten Bezug zu realpolitischen Zusammenhängen, sie beziehen sich vor allem auf die Kultur. Dabei erweist sich die Bestimmung des Europäischen über das Geistige, mithin ein Elitenprojekt, als nicht unproblematisch hinsichtlich des Potentials der Identifikation mit einer europäischen Identität für alle, von etwaigen eurozentrischen Untertönen ganz zu schweigen. Wenngleich die Frage nach der Herstellung europäischer Einheit über Kultur erneut an Relevanz gewonnen hat, lassen deren unspezifischer Gehalt sowie der mitunter transzendental-überhöhte Ton seiner Aussagen keinen Spielraum, sie als vorbildhaft für staatsrechtliche Überlegungen oder gar für den Ansatz zu einer europäischen Verfassung heranzuziehen. Hofmannsthals Überlegungen zu Europa, dies lässt sich nicht anders bezeichnen, sind stark verankert im Umfeld der Erfahrungen des Ersten Weltkriegs, sie davon losgelöst zu betrachten wäre ahistorisch.

III.Gedanken des ‚Parade-Europäers‘ Stefan Zweig

Dies gilt grundsätzlich auch für die Europa-​Vision Stefan Zweigs,1 der sich mit Hofmannsthal darin einig ist, dass das griechisch-​römische Erbe die Basis für Europa sei. Nichtsdestotrotz firmiert Zweig, der „schon zu Lebzeiten als großer Europäer“2 galt, auch heute noch als Parade-​Europäer, der „die Ideale des Pazifismus, der Humanität und des Europäertums, die für ihn gern gebrauchte tönende Worthülsen“,3 vertreten habe, wie es Ulrich Weinzierl formuliert. Zweig habe, so Weinzierl weiter, mit seiner Autobiographie „das literarische Gründungsdokument der Idee Europa in deutscher Sprache“4 verfasst, bei Die Welt von Gestern handele es sich um „die Memoiren des ersten Europäers“.5

Zweigs Idee von Europa, die eine vor allem kulturgeschichtliche ist, beginnt sich in den 1920er Jahren zu formieren.6 Sie mündet in der durchaus als fortschrittsoptimistisch zu bezeichnenden Überzeugung, dass es gelte, die Nationalismen zu überwinden, um dauerhaften Frieden in einem vereinten Europa zu garantieren. Zweigs Idealvorstellung für Europa besteht in dessen Einheit – so war er etwa der Pan-​Europa-​Bewegung Richard Coudenhove-​Kalergis gegenüber deutlich aufgeschlossen. Gleichwohl gilt es, den Autor für seine europäische Haltung nicht zu idealisieren, denn auch Zweig kennt die Begeisterung zu Beginn des Ersten Weltkriegs und eine nationale Gesinnung bei zugleich kritisch-​pazifistischen Äußerungen, wodurch seine Haltung in dieser Zeit als eine zumindest ambivalente zu charakterisieren ist.7 Zu den Erfahrungen des Ersten Weltkriegs kommt bei Zweig noch die Zeitgenossenschaft zum Zweiten Weltkrieg hinzu, die ihn von den nationalen Tönen der Jahrhundertwende abrücken lässt und zu einer Hinwendung zu Pazifismus und der Idee Europa als Einheit führen.

Dies äußert sich beispielsweise in der 1932 in Florenz gehaltenen Rede Zweigs mit dem Titel Der europäische Gedanke in seiner historischen Entwicklung. Angesichts der Krise Europas fokussiert sich Zweig, darin Hofmannsthal nicht unähnlich, auf europäischen Geist und Kultur: „Ich will in dieser Stunde versuchen, in einem Blick auf die geistige Entwicklung Europas eine kurze Geschichte jener ewigen Sehnsucht nach Einheit des Gefühls, Wollens, Denkens und Lebens zu geben, die in zweitausend Jahren jenes wunderbare Gemeinschaftsgebilde geschaffen hat, das wir stolz europäische Kultur nennen.“8 Den Ursprung des Europäischen macht Zweig in der Antike aus, wertet das Imperium Romanum als Vorbild und betont die ordnungsstiftende Funktion Roms sowie das römische Reich als Ansatz zu einer geistigen Einheit Europas:

Die wahre politische und geistige Einheit Europas, die Universalgeschichte beginnt erst mit Rom, mit dem römischen Imperium. Hier geht zum erstenmal von einer Stadt, einer Sprache einem Gesetz der entschlossene Wille aus, alle Völker, alle Nationen der damaligen Welt nach einem einzigen, genial durchsonnenen Schema zu beherrschen und zu verwalten – Herrschaft nicht nur wie bisher einzig durch militärische Macht, sondern auf Grund eines geistigen Prinzips, Herrschaft nicht als bloßer Selbstzweck, sondern als sinnvolle Gliederung der Welt. Mit Rom hat zum erstenmal Europa ein ganz einheitliches Format, und fast möchte man sagen, zum letztenmal, denn nie war die Welt einheitlicher geordnet als in jenen Tagen. Ein einziger geistiger Plan überspann wie ein kunstvolles Netzwerk vom Nebelreich Britanniens bis zu den glühenden Sandwüsten der Parther, von den Säulen des Herkules bis zum euxinischen Meer und den skythischen Steppen die noch ungeformten und geistig dumpfen Nationen Europas. Eine einzige Art der Verwaltung, des Geldwesens, der Kriegskunst, der Rechtspflege, der Sitte, der Wissenschaft beherrscht damals die Welt, eine einzige Sprache, die lateinische, beherrscht alle Sprachen. Über die nach römischer Technik gebauten Straßen marschiert hinter den römischen Legionen die römische Kultur, der ordnende Geist folgt aufbauend der zerstörenden Gewalt. Wo das Schwert die Lichtung geschlagen, sät die Sprache, das Gesetz und die Sitte neuen Samen. Zum erstenmal wird das Chaos Europas zur einheitlichen Ordnung, ein neuer Begriff ist erstanden, die Idee der Zivilisation, der gesitteten, nach moralischem Maß verwalteten Menschheit. Hätte dieses Gebäude noch zweihundert, noch dreihundert Jahre länger gedauert, so wären die Wurzeln der Völker schon damals ineinander verwachsen, die Einheit Europas, die heute noch Traum ist, sie wäre längst schon dauernde Wirklichkeit geworden, und auch alle später entdeckten Kontinente wären untertan der zentralen Idee.9

Zielführend wirkt dabei vor allem Zweigs Ansatz, Europa nicht allein als Finanz-, Politik- oder Wirtschaftsraum zu bestimmen, ein Umstand, der der heutigen EU mitunter zum Verhängnis wird, sondern die Idee Europa selbst als das verbindende Element zu bestimmen. Wie bei Hofmannsthal, so spielt auch bei Zweig die Kultur die entscheidende Rolle bei der Stiftung einer europäischen Einheit. Konkret legt Zweig hierbei den Fokus auf Sprache.10 Auch Zweigs Europa-​Gedanken sind noch 1932 vor dem zeitgeschichtlichen Hintergrund der Angst vor einer amerikanischen oder sowjetischen Übermacht nicht gänzlich frei von Elementen geistig-​ideeller europäischer Überlegenheit und damit von Eurozentrismus:

Mit einem Ruck sinkt die europäische Kultur tief unter den Wasserspiegel der orientalischen und chinesischen. Erinnern wir uns an diesen Augenblick europäischer Schmach: die Werke der Literatur verbrennen oder vermodern in Bibliotheken. Von den Arabern müssen sich Italien und Spanien die Ärzte, die Gelehrten borgen, bei den Byzantinern noch einmal mühsam und ungelenk von Anfang an Kunst und Gewerbe erlernen; unser großes Europa, Lehrmeister in der Zivilisation, muß bei seinen eigenen Schülern in die Schule gehen!11

Über allem steht für Zweig, der Europa nicht rein mittels geographischer Überlegungen definiert,12 das Einheitsplädoyer: „Aber vergessen wir nicht: selbst in diesem äußersten Augenblick der Anarchie hat Europa nicht völlig den Gedanken der Einheit verloren. Denn die Idee unserer menschlichen Einheit ist unzerstörbar.“13 Das Lateinisch, so Zweigs Überlegung zur Einheitsstiftung via Sprache, wäre das geeignete Mittel zur Realisierung derselben: „Das Latein, die Einheitssprache, die Muttersprache aller europäischen Kulturen, ist uns auch in dieser apokalyptischen Stunde erhalten geblieben.“14 Die im 20. Jahrhundert vielfach thematisierte Formierung der europäischen Identität über das Geistige kommt auch bei Zweig zum Tragen:

Diese erste Form geistigen Europäertums – rühmen wir sie neidvoll, denn sie bedeutet nach einer langen Epoche der Kriege, also der Brutalität und Entfremdung, endlich wieder einen der Höhepunkte europäischer Humanität. Obwohl räumlich durch Tausende Meilen, durch Wochen und Monate getrennt, leben die Dichter, die Denker, die Künstler Europas damals inniger verbunden als heute in der Zeit der Flugzeuge, Eisenbahnen und Automobile.15

Zur Stiftung eben jener Einheit, gelte es, die Nation zu überwinden, damit „etwas wie eine gemeinsame europäische Psyche im Werden ist und über der nationalen Literatur und dem nationalen Denken eine Weltliteratur, ein europäisches Denken, ein Menschheitsdenken beginnt.“16 Gleichwohl versteht Zweig die Herstellung der europäischen Einheit als Zukunftsprojekt, wenn er schreibt: „[D]ie Vernunft wird siegen und baldigst die Oberhand behalten, morgen, übermorgen werden wir ein vereintes Europa sehen, in dem es keinen Krieg mehr gibt, keine Binnenpolitik und keinen zerstörenden Völkerhaß“.17

1942, posthum, erscheint Zweigs Autobiographie Die Welt von Gestern. Erinnerungen eines Europäers.18 Bei Zweigs Memoiren handelt es sich um einen literarisch geformten Text, nicht um eine faktuale Schrift, der Autor konstruiert darin „für sich selbst das Ethos des brückenbauenden Europäers“.19 So ist die Schrift Die Welt von Gestern auch die Selbststilisierung Zweigs als Europäer und Pazifist, der er von Anfang an gewesen sei.20

Auch dieser Text hebt mit dem Topos von der Krise Europas an: „Jeder von uns, auch der Kleinste und Geringste, ist in seiner innersten Existenz aufgewühlt worden von den fast pausenlosen vulkanischen Erschütterungen unserer europäischen Erde“.21 Seiner Haltung der Ablehnung von Nationalismen aller Art und der Betonung des Kulturbegriffs bleibt Zweig weiterhin treu: „[I]ch habe die großen Massenideologien unter meinen Augen wachsen und sich ausbreiten sehen, den Faschismus in Italien, den Nationalsozialismus in Deutschland, den Bolschewismus in Rußland und vor allem jene Erzpest, den Nationalismus, der die Blüte unserer europäischen Kultur vergiftet hat.“22 Dies gilt auch für das Plädoyer Vielfalt und Einheit gleichermaßen.23

Bei aller Wertschätzung für „ein europäisches Gemeinschaftsgefühl, ein europäisches Nationalbewußtsein“,24 denen Zweig einen hohen Stellenwert zuweist, artikuliert sich in Die Welt von Gestern zugleich eine gewisse Distanzierung von einer eurozentrischen Haltung, zu deren Revision Zweig infolge vielfältiger Reisen gekommen ist, unter anderem nach Indien: „Veränderte Distanz von der Heimat verändert das innere Maß. Manches Kleinliche, das mich früher über Gebühr beschäftigt hatte, begann ich nach meiner Rückkehr als kleinlich anzusehen und unser Europa längst nicht mehr als die ewige Achse unseres Weltalls zu betrachten.“25 Zweigs Glaube an die europäische Identität, an ein „kommende[s] Europäertu[m]“26 bleibt weiterhin bestehen, ebenso der Antrieb zum „Aufbau einer europäischen Kultur“.27 Zeitlebens, so Zweig, habe er den Traum von einem „gemeinsame[n] Europa“,28 einem „geeinte[n] Europa“29 gehegt, und zwar bei gleichzeitiger Absage an das Nationale, „für mich, dessen Gedanken von Anbeginn einzig auf das Europäische, auf das Übernationale gerichtet gewesen“.30 Immer wieder betont Zweig in seinen Memoiren die Fokussierung auf die eine Idee, „die seit Jahren die eigentliche meines Lebens geworden: für die geistige Einigung Europas“.31 Dieses permanente Bekenntnis zu Europa mit Formulierungen wie „Wie weit ich mich auch entfernte von Europa, sein Schicksal ging mit mir.“32 in der Autobiographie ist mitverantwortlich für Zweigs Ruf als Parade-​Europäer. Als Pazifist gilt sein fortwährendes Plädoyer dem „Frieden Europas“.33

Auch wenn sich in Zweigs Europa-​Reden sowie in seiner Autobiographie etliche Momente der politischen Auseinandersetzung mit Europa finden, so dominiert doch auch bei ihm die Bestimmung des Europäischen über das Kulturelle. Die kulturelle Vielfalt in Einheit trage insgesamt zur europäischen bei. Dies schließt bei Zweig allerdings ein Engagement „in den frühen und mittleren dreißiger Jahren im eigentlichen Wortsinn für die politische Einigung Europas“ nicht aus, „[w]ährend Hofmannsthal in den zwanziger Jahren für ein geistesaristokratisches Europa der Nationalstaaten eintrat“.34 Gerade die antinationalistischen Europa-​Reden der 1930er Jahre zählen zu den eher seltenen direkten politischen Äußerungen des Schriftstellers. Konkrete Vorschläge Zweigs betreffen dabei beispielsweise die Erziehung der Jugend zu Europäer:innen, etwa über den akademischen Austausch oder das Unterrichten europäischer Kulturgeschichte in den Schulen, wie der Autor dies in der in Rom gehaltenen Rede Die moralische Entgiftung Europas aus dem Jahr 1932 formuliert.35 Im Gegensatz zu Hofmannsthal sind Zweigs Ideen für Europa konkreterer Natur, etwa was die Rolle von Bildung, Erziehung, Kunst und Sprache bei der Herstellung der europäischen Einheit angeht. Und auch wenn Zweigs Ton nach Hitlers Machtübernahme insgesamt resignativer wird, was die Idee eines in Frieden geeinten Europas betrifft, hält er doch nichtsdestotrotz an diesem als Zukunftsprojekt fest, wenngleich die geistige Führungsposition des alten Europas nunmehr in Zweifel gezogen wird, was die mitunter eurozentrische Haltung in seinen Äußerungen abmildert.

Gerade indem Zweig betont, dass die Einheit Europas nicht nur über Politik und/oder Wirtschaft herzustellen sei,36 verweist er, gleichsam prospektiv, auf einen Aspekt, an dem der Krisenzustand der gegenwärtigen EU immer wieder festgemacht wird. Zwar mag man ihm ein insgesamt teleologisches Geschichtsbild und eine stark idealistische Haltung attestieren, was seine Europavision angeht. Auch vor einem gewissen Eurozentrismus37 und einem elitären Ansatz, bedingt durch die Fokussierung auf das geistige Europa, das sich als Elitenprojekt interpretieren ließe, ist Zweig, wie bereits Hofmannsthal und andere mit ihm, nicht gefeit. Zudem wirkt es, als würde Zweig mit seinem Hang zum ‚extremen‘ Pazifismus38 die wehrhafte Demokratie geradezu negieren. Wo sein Europa-​Ansatz weitgehend unpolitisch sein will, wird man festhalten müssen, dass Europa so ganz ohne Politik nicht zu haben sein wird. Und zuletzt wird man fragen müssen, ob die Bindung an die sogenannten europäischen Werte für die Einheit Europas sinnvoller ist als ein vor allem auf das Rationale ausgerichteter Ansatz. Gleichwohl erweisen sich einige von Zweigs Ideen als durchaus anschlussfähig für gegenwärtige wie zukünftige Überlegungen für das Konstrukt Europa, verbindet sich bei ihm doch der dialogisch-​kulturelle mit dem politischen Europa-​Begriff.39 Zweigs Pazifismus, sein Humanismus sowie sein Europäertum bleiben zeitlose Ansätze. Gleiches gilt für seine Betonung der innereuropäischen Verständigung wie seine Ablehnung aggressiver, geopolitisch agierender Nationalismen. Zweigs Glaube an die Zukunft eines geeinten Europas besitzt nach wie vor Gültigkeit, ebenso seine Prämisse des gesamtgesellschaftlichen Engagements für eben dieses Europa sowie dessen Ringen um die Frage einer europäischen Identität. All dies hat gegenwärtig nichts von seiner Relevanz eingebüßt und wird Europa und die EU gleichermaßen auch in der Zukunft beschäftigen.

Grenzüberschreitende literarische Aushandlungsversuche in Kontroversen um das erinnerungskulturelle Erbe Europas

Christiane Hoffmanns Alles, was wir nicht erinnern (2022)

Caren Bea Henze, Freiburg im Breisgau

I.Literatur im Spannungsfeld östlicher und westlicher Erinnerungstraditionen

Im Rahmen des gegenwärtig proklamierten Geschichtskriegs zwischen Ost und West lassen sich literarische Auseinandersetzungen mit dem erinnerungskulturellen Erbe Europas als gezielte Interventionen in aktuelle Gedenkkontroversen lesen.1 Angesichts des hohen Konfliktpotenzials, welches konkurrierende erinnerungspolitische Ansprüche auch innerhalb der EU noch 75 Jahre nach Ende des Zweiten Weltkriegs bergen, kommt der neueren transnationalen Erinnerungsliteratur als metakulturellem Reflexionsmedium besondere Verantwortung im Vermittlungsprozess zwischen den historisch unterschiedlich gewachsenen Erinnerungskulturen zu. Die beiden prominenten Vertreterinnen der literaturwissenschaftlichen Erinnerungsforschung im deutschsprachigen Raum, Aleida Assmann und Astrid Erll, konstatieren, dass das europäische Gedächtnis bis heute durch die Gewalterfahrungen des Holocausts und des Gulags geteilt sei bzw. Europa sich grob skizziert in zwei Erinnerungsregionen einteilen lasse: Westeuropa mit dem Holocaust als negativem Gründungsmythos und Osteuropa mit dem Fokus auf die Erinnerung an stalinistische Verbrechen.2 Beide Erinnerungsräume sind nicht als homogen und abgeschlossen zu denken, sondern beziehen sich auf unterschiedlich geprägte Erinnerungstraditionen, wobei der ungleiche Umgang mit der kommunistischen Vergangenheit innerhalb des östlichen Europas eine weitere Aufsplitterung dieses Raumes in disparate Erinnerungsareale bedinge.3 Insbesondere Zentraleuropa, dessen Geschichte von den Verbrechen beider totalitärer Regime, des Nationalsozialismus und des Stalinismus, geprägt ist, erscheint als Schauplatz konfligierender, jedoch auch produktiv interagierender Erinnerungsnarrative und -praktiken, welche die in der Forschung wiederholt diagnostizierte, reduktionistische Ost-​West-​Dichotomie in der europäischen Erinnerungslandschaft unterlaufen.

Da sie zugleich als Komplement und Korrektiv zu hegemonialen, national gerahmten Erinnerungsnarrativen fungieren können, wirken transnationale Erinnerungsliteraturen im besten Fall revanchistischen und geschichtsrevisionistischen Tendenzen entgegen und bieten somit eine Grundlage für grenzüberschreitende erinnerungskulturelle Aushandlungsprozesse. Indem Autor:innen die in erinnerungspolitischen Debatten wirksamen diskursiven Strategien, wie die der Dekulpabilisierung, Heroisierung und Viktimisierung, sichtbar machen, setzen sie sich kritisch mit den ideologischen Unvereinbarkeiten verschiedener nationaler Narrative auseinander und hinterfragen die politischen Motivationen problematischer Geschichtsdeutungen. So erscheint Anfang des Jahres 2022, kurz vor Ausbruch des russischen Angriffskriegs auf die Ukraine, mit Christiane Hoffmanns Alles, was wir nicht erinnern. Zu Fuß auf dem Fluchtweg meines Vaters ein literarisches Zeitzeugnis, das sich als unmittelbare Reaktion auf die sich anbahnende kriegerische Eskalation und zugleich als Reflexion des gravierenden vorangegangenen erinnerungspolitischen Konflikts lesen lässt:

Im Osten Europas tobt ein Geschichtskrieg, ein Krieg des Gedenkens, Russen, Polen und Ukrainer beschuldigen sich gegenseitig, ihn entfesselt zu haben. […] Wir Deutschen glauben, dass uns der Geschichtskrieg nichts angeht, […] dass wir mit der Vergangenheit fertig sind, weil wir alles benannt und bereut haben.4

Anders als der Buchtitel suggeriert, reagiert die deutsche Journalistin und stellvertretende Regierungssprecherin Hoffmann nicht nur auf anhaltende Defizite in der Aufarbeitung von Flucht und Vertreibung der Schlesiendeutschen im Jahr 1945. Vielmehr begreift sie die mit der Eröffnung des Berliner Dokumentationszentrums Flucht, Vertreibung, Versöhnung vermeintlich abgeschlossene Erinnerungsarbeit als Symptom einer zunächst vorbildlich, jedoch zusehends selbstgerecht erscheinenden deutschen Erinnerungspolitik und setzt diese durch differenzierte Aktualitätsbezüge und eine genaue, journalistisch geschulte Beobachtung des politischen Zeitgeschehens mit dem aktuellen Geschichtskrieg in Beziehung. Das spezifische Potenzial des Textes, der bisher kaum literaturwissenschaftliche Aufmerksamkeit erfahren hat,5 liegt, so meine These, insbesondere in der vergleichenden Reflexion offizieller und inoffizieller Erinnerungspraktiken in Polen, Tschechien und Deutschland sowie in stichprobenartigen Einblicken in aktuelle, kontrovers geführte Diskussionen über eine gemeinsame Wertebasis der EU.