Europäische Identitäten - Dennis Lichtenstein - E-Book

Europäische Identitäten E-Book

Dennis Lichtenstein

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Beschreibung

Dennis Lichtenstein untersucht mittels einer quantitativen Inhaltsanalyse die Konstruktionen europäischer Identität in den nationalen Medienöffentlichkeiten von sechs EU-Ländern (D, F, I, GB, PL, LV). Neben den Identitätsinhalten, mit denen die EU z. B. als ein gemeinsamer Markt oder als eine politische Wertegemeinschaft gedeutet wird, und den darauf bezogenen Identifikationen und Ablehnungen wird erhoben, über welche Deutungen Abgrenzungen zwischen der EU und anderen Ländern konstruiert werden. Es wird angenommen, dass Abgrenzungen zu einer länderübergreifenden Schärfung europäischer Identität beitragen. Vor dem Hintergrund der EU-Osterweiterungen 2004 und 2007 wird auch danach gefragt, inwieweit zwischen ost- und westeuropäischen EU-Ländern unterschiedliche Identitätsdeutungen bestehen und ob zwischen ihnen gegenseitige Abgrenzungen vorliegen. Die Untersuchung bezieht sich auf zwei ost- und vier westeuropäische EU-Länder. Als Untersuchungsobjekte werden politische Wochenzeitschriften herangezogen, die als Meinungsführer in den Ländern gelten können. Die Befunde zeigen, dass die Länder jeweils eigene nationale Konstruktionen europäischer Identität vornehmen und auf dieser Basis auch jeweils eigene Abgrenzungen vor allem zu anderen EU-Ländern vollziehen. Der Gegensatz zwischen Ost- und Westeuropa ist hierbei in den einzelnen Ländern unterschiedlich stark. Er ist aber insgesamt nur Teil eines Geflechts interner Differenzwahrnehmungen, in denen die jeweils eigene Nation der zentrale Referenzpunkt ist.

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Forschungsfeld Kommunikation

Herausgegeben von

Hannes Haas, Christoph Neuberger und Gabriele Siegert

Seit mehr als zwei Jahrzehnten erscheinen in der Buchreihe »Forschungsfeld Kommunikation« wichtige Monografien der deutschsprachigen Kommunikationswissenschaft. Als thematisch offenes Forum gibt die renommierte Reihe Impulse für die Weiterentwicklung des Faches und Anregungen für die Diskussion zentraler Fragen. Viele der über 30 Bände sind Standardwerke geworden, die nicht nur im engen Kreis der Spezialisten auf reges Interesse gestoßen sind, sondern ein breites Publikum in Wissenschaft und Gesellschaft gefunden haben.

Auch in Zukunft will die Reihe diesem Anspruch gerecht werden: Der gegenwärtige Wandel von Kommunikation, Medien und Öffentlichkeit verändert auch die Kommunikationswissenschaft. Diesen Wandel wird die Reihe mit fundierten Analysen begleiten. Sie ist der Publikationsort für Ergebnisse empirischer Forschungsprojekte und theoretischer Entwürfe, ebenso wie für herausragende Dissertationen und Habilitationsschriften. Mit ihr verbindet sich ein Bekenntnis zur Monografie – jenseits der auf Schnelligkeit des Schreibens und Lesens getrimmten Kurzformen des wissenschaftlichen Publizierens. Sie will Wegmarken setzen, die von Bestand sind.

Die 1992 von Walter Hömberg (Eichstätt), Heinz Pürer (München), Ulrich Saxer (Zürich) und Roger Blum (Bern) begründete Reihe wird seit 2013 von Hannes Haas (Wien), Christoph Neuberger (München) und Gabriele Siegert (Zürich) herausgegeben.

www.uvk.de/fk

Inhalt

1 Einleitung

2 Europäische Identität als politisches Konzept

2.1 Identität als Zielgröße der Politik

2.2 Identitätsfindung in der erweiterten EU

3 Der Identitätsbegriff und seine Anwendung als „europäische Identität“

3.1 Vielfalt des sozialwissenschaftlichen Identitätsbegriffs

3.2 Facetten des Konzepts „Gruppenidentität“

3.2.1 Konstruktion sozialer und kollektiver Identität

3.2.2 Inhalte und Intensität von Gruppenidentität

3.2.3 Deutungswettbewerbe um kollektive Identität

3.2.4 Kollektive Identität durch Abgrenzung

3.2.5 Doppelte Rolle der Medien in der Identitätskonstruktion

3.3 Europäische Gruppenidentität

4 Diskursive Konstruktion kollektiver europäischer Identität

4.1 Kommunikationsforum Öffentlichkeit

4.1.1 Öffentlichkeitsmodelle

4.1.2 Ebenenunterscheidung von Öffentlichkeit

4.2 Charakteristika der Medienöffentlichkeit

4.2.1 Inklusion von Themen und Meinungen

4.2.2 Verarbeitung von Themen und Meinungen

4.2.3 Kommunikationsverdichtungen durch Konflikte

4.3 Europäische Öffentlichkeit

4.3.1 Supranationales Modell europäischer Öffentlichkeit

4.3.2 Europäisierung nationaler Öffentlichkeiten

4.4 Befunde der Öffentlichkeitsforschung

4.4.1 Vertikale Europäisierung von Öffentlichkeit

4.4.2 Horizontale Europäisierung von Öffentlichkeit

4.4.3 Zusammenfassung zur Europäisierung von Öffentlichkeit

4.5 Europäische Identitätskonstruktionen in den Medien

4.5.1 Intensität kollektiver europäischer Identität

4.5.2 Soziale Repräsentationen der EU

4.5.3 Kollektive europäische Identität durch Abgrenzung

4.5.4 Zusammenfassung und Kritik des Forschungsstandes

5 EU-Osterweiterung und offene Fragen

6 Methodologie und Operationalisierung

6.1 Auswahl der Untersuchungsländer

6.2 Auswahl der untersuchten Medien

6.3 Erläuterungen zum Untersuchungszeitraum

6.4 Herleitung der Hypothesen

6.4.1 Nationale Segmentierung des Identitätsdiskurses

6.4.2 Konstruktion der Zugehörigkeit zur EU

6.4.3 Konstruktion der Zusammengehörigkeit

6.5 Instrumentenerstellung und Codierung

6.5.1 Kategoriensystem und Operationalisierungen

6.5.2 Codiererschulung und Intercoder-Reliabilität

7 Darstellung der Befunde

7.1 Nationale Segmentierung des Identitätsdiskurses

7.1.1 Themenstruktur der Artikel

7.1.2 Sprecherkonstellationen in den nationalen Öffentlichkeiten

7.1.3 Zusammenfassung zur nationalen Segmentierung

7.2 Konstruktion kollektiver Zugehörigkeit zur EU

7.2.1 Identitätsintensität zur EU

7.2.2 Identitätsframes zur EU

7.2.3 Identitätsintensität bezogen auf Identitätsframes

7.2.4 Zusammenfassung zum Zugehörigkeitsdiskurs

7.3 Konstruktion von Zusammengehörigkeit und Abgrenzung

7.3.1 Beziehungsframes im Zusammengehörigkeitsdiskurs

7.3.2 Bezugsobjekte zur EU

7.3.3 Konstruktion der Beziehungsintensität

7.3.4 Beziehungsintensität bezogen auf die Beziehungsframes

7.3.5 Nähe und Abgrenzungen innerhalb der Untersuchungsländer

7.3.6 Zusammenfassung zum Zusammengehörigkeitsdiskurs

8 Zusammenfassung und Ausblick

Literatur

Danksagung

Bei der vorliegenden Publikation handelt es sich um eine gekürzte und überarbeitete Fassung meiner Dissertation, die ich im April 2013 an der philosophischen Fakultät der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf im Fach Kommunikations- und Medienwissenschaft vorgelegt habe. Entstanden ist die Arbeit im Rahmen des DFG-geförderten Projekts „Nationale Konstruktionen europäischer Identität“, an dem ich an den Universitäten in Augsburg und Düsseldorf mitarbeiten durfte und das es mir erst ermöglicht hat, eine international vergleichende Analyse dieses Umfangs durchzuführen. An dieser Stelle möchte ich mich daher nicht nur bei all denjenigen bedanken, die mich auf vielfältige Weise in der Promotion unterstützt haben, sondern auch bei jenen, die darüber hinaus in der Projektarbeit ihre Spuren hinterlassen haben und Teil eines großartigen Teams gewesen sind.

Mein größter Dank gilt zuallererst meiner Doktormutter Christiane Eilders, die mich bereits in der Antragsphase intensiv in die Projektarbeit eingebunden hat und bei Problemen in der Schreib- und Denkarbeit jederzeit ansprechbar gewesen ist. Ihr verdanke ich nicht nur wertvolle Erfahrungen in der Planung und Umsetzung eines Forschungsprojekts, sondern auch jede Menge konstruktive Hinweise zur Ausarbeitung des eigenen Themas. Ihre Ideen und die offenen inhaltlichen Diskussionen mit ihr haben mich jedes Mal deutlich weitergebracht und dabei doch genügend Freiräume zur thematischen Entfaltung der Arbeit gelassen. Besonders möchte ich auch Hannes Haas danken. Mit ihm durfte ich in Wien erste sehr anregende Gespräche zur Dissertation führen, von denen auch in der heutigen Endfassung der Arbeit noch deutliche Spuren erkennbar sind. Er hat sich als Zweitgutachter zur Verfügung gestellt. Für ihre Bereitschaft, prüfend am Promotionsverfahren teilzunehmen, bedanke ich mich außerdem bei Ralph Weiß, Simone Dietz und Ulrich von Alemann.

Inhaltlich wurde die Arbeit auch durch meine Teilnahmen an den Doktorandentagen in Leipzig, dem Napoko-Kolloquium in Dresden und dem Doktorandenkolloquium unseres Fachbereichs in Düsseldorf vorangetrieben. Wertvolle Kommentare und methodische Hinweise haben bei diesen Gelegenheiten Gerhard Vowe, Lutz Hagen, Oliver Quiring, Carsten Wünsch, Olaf Jandura und Susanne Keuneke beigesteuert. Für kurzfristige Hilfestellungen verschiedener Art bedanke ich mich außerdem bei den Düsseldorfer Kollegen von der 1. Etage Pablo Porten-Cheé, Uli Bernhard und Philipp Henn. Für ihre Unterstützung sowohl in Düsseldorf als auch schon in Augsburg und für den einen oder anderen Gedankenaustausch nach Feierabend danke ich besonders Cordula Nitsch.

Vor allem die Datenerhebung in verschiedenen Sprachen wäre ohne die Unterstützung durch eine Reihe von Hilfskräften nicht zu realisieren gewesen. Für ihre immer engagierte und zuverlässige Arbeit möchte ich mich ganz herzlich bei unseren Augsburger Hilfskräften Anna Goralewicz, Wiebke Henke, Christine Lorenz, Anna Manconi, Julija Perlova, Dana Polec, Oana Radulescu und – nicht zuletzt – Simone Wydra bedanken. Ihr Interesse am Thema und ihr Einsatz waren eine fortwährende Motivation und konnten selbst eine intensive Codiererschulung in eine angenehme Erfahrung verwandeln. So schwer es war, sich nach dem Projektumzug nach Düsseldorf von einem so gewinnbringenden Team zu verabschieden, so erfreulich war es, an der Heinrich-Heine-Universität neue und nicht minder engagierte Mitstreiter für die Projektarbeit zu finden. Ich bedanke mich bei Alexandra Polownikow für zahlreiche reflexive Gespräche, die wir nun bezogen auf ihr eigenes Dissertationsprojekt fortsetzen können. In der Projektarbeit hat sie ebenso tatkräftig mitgewirkt wie Thomas Ehrler, Adrián Carrasco-Heiermann, Anna Michalski und Lena Bayer-Eynck. Ihnen allen verdanke ich wichtige Anregungen und Motivation. Selina Marx hat nach der inhaltlichen Arbeit Aufgaben in der Formatierung des Manuskripts übernommen; von Seiten des Verlages danke ich Rüdiger Steiner für seine Hilfestellungen.

Für ihre fortwährende Unterstützung möchte ich mich nicht zuletzt bei meiner Mutter, Hella Kohl, bedanken. Sie hat sich sogar zum Korrekturlesen der Arbeit bereit erklärt. Diese Aufgabe konnte Charlotte leider noch nicht erfüllen. Sie bevorzugt Bücher über Pu den Bären oder den Glücklichen Löwen und wurde auch erst fünf Wochen nach Abgabe geboren. Damit aber hat sie – selbst wenn ihr das gar nicht bewusst sein mag – für einen gehörigen Antrieb im Endspurt gesorgt. Auch dafür möchte ich danken.

Dennis LichtensteinDüsseldorf im Januar 2014

1 Einleitung

Das europäische Projekt, das im Jahr 1957 in Rom mit Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) unter Beteiligung von sechs Staaten auf den Weg gebracht worden ist, verbindet heute innerhalb der Europäischen Union 28 Mitgliedsländer in intensiver wirtschaftlicher und politischer Zusammenarbeit. Der dazwischen liegende Integrationsprozess besteht in der Gemeinschaftsbildung zwischen den Staaten und der damit einhergehenden Ausweitung von Vertrauens- und Solidaritätsgrenzen (Eriksen 2007: 294). Dabei werden die teilnehmenden Länder in eine Gruppe mit gemeinsamen Aufgaben und Zielen verwandelt, zu deren Erreichung die Institutionen der EU Interessensunterschiede regulieren und Ressourcen zuweisen (ebd.). Neben den Vertiefungsprozessen bis hin zur Einführung einer gemeinsamen Währung stellt insbesondere die in den Jahren 2004 und 2007 durchgeführte Osterweiterung der EU einen Meilenstein dar. Dadurch wurde das bis dahin rein westeuropäische Projekt um zehn Staaten des ehemaligen Ostblocks ausgeweitet und die Gestalt der EU wesentlich transformiert. Der Erfolg der europäischen Integration wurde im Dezember 2012 mit dem Friedensnobelpreis gewürdigt, gleichzeitig ist er durch die Fliehkräfte der Euro-Schuldenkrise derzeit im Kern in Frage gestellt.

Nicht erst ihre Krise, sondern bereits das stetige Wachstum und der Kompetenzgewinn der EU, die bislang maßgeblich von den politischen und wirtschaftlichen Eliten der Länder getragen wird, machen Fragen nach der Herausbildung einer europäischen Identität virulent (Kielmansegg 1996: 54; Scharpf 1997: 66). Diese wird als notwendig angesehen, um die an der EU teilhabenden Bürger der Nationalstaaten stärker mit der EU und miteinander zu verbinden. Anders als bei Gruppen im engeren Sinne wie Familien, Vereine und Unternehmen, in denen die einzelnen Mitglieder einander persönlich bekannt und durch tägliche Interaktionen miteinander verbunden sind, handelt es sich bei der EU um eine „vorgestellte Gemeinschaft“ (Anderson 2005: 15). Die inhaltliche Fundierung der Zugehörigkeit und der Zusammengehörigkeit muss sozial konstruiert werden. Dabei widerspricht die Idee von Identität als eine soziale Konstruktion den Assoziationen von Stabilität und zeitlich konstant bleibenden Gemeinsamkeiten zwischen den europäischen Staaten, die im Alltagsverständnis mit dem Begriff verbunden werden. Sie eröffnet den Blick darauf, dass sich sowohl die Inhalte als auch die Intensität von Identität dynamisch verändern. Damit ist jeder Versuch, Identität als etwas faktisch Vorhandenes zu fassen, das nur entdeckt werden muss, unweigerlich zum Scheitern verurteilt. Vielmehr muss Identität als sich im Fluss befindend verstanden werden, als ein fortwährender Versuch oder ein nicht lösbares Problem (Bauman 2004: 20). Weil sie nicht endgültig definiert werden kann, bleibt die Frage nach Identität immer in der Schwebe. Sie begleitet jede Kommunikation latent – und wird vor allem in Krisen- oder Konfliktmomenten, in denen die Loyalität zur EU und Solidaritäten zwischen den Bevölkerungen besonders beansprucht werden, auch explizit gestellt.

Europäische Identität unterliegt einem sich wandelnden Sinn sowohl für die Zugehörigkeit zur EU als auch für die Zusammengehörigkeit der sehr heterogenen europäischen Länder. Damit geht zugleich ein Gefühl der gemeinsamen Verschiedenheit von anderen Kollektiven einher. Gerade letzteres – die Abgrenzung zu anderen Kollektiven bzw. einem „konstitutiven Außen“ (Staten 1985: 16 in Anlehnung an Derrida 1995; vgl. auch Laclau 1990: 17; Mouffe 2007: 23; 2008: 28) – ist dazu geeignet, die Bedeutsamkeit der europäischen Gruppe stärker zu gewichten und interne Unterschiede zu vernachlässigen. Abgrenzungen können also dazu dienen, europäische Identität zu stärken und ihre Inhalte zu schärfen. Worin für die EU ihr konstitutives Außen besteht, ist derzeit eine offene Frage. Abgrenzungen werden sporadisch in Bezug auf die USA, die Türkei und Russland diskutiert (z. B. Sedmak 2010: 13f.). Ihr lange Zeit vorrangiges Abgrenzungsobjekt, die Gesamtheit der autoritär regierten und kommunistisch verfassten Staaten des Ostblocks, ist der EU jedoch mit dem Zerfall der Sowjetunion abhandengekommen (Galpin 2012: 4; Kraus 2008: 5; Schlesinger 1993: 6). Durch die große Osterweiterung 2004 und den Beitritt Rumäniens und Bulgariens 2007 wurde eine Reihe der Länder, die früher als Kontrastfolien für die westliche politische und wirtschaftliche Freiheit gedient haben, Teil der Gemeinschaft. Damit muss sich die EU nach außen wie nach innen neu verorten. Die Osterweiterung bedeutet auch einen psychologischen Wandel, der das Selbstverständnis der Individuen und ihrer Mitmenschen in einem weiteren Zwischengruppenkontext z. B. zwischen West- und Osteuropa betrifft (Subasic/Reynolds /Turner 2008: 331).

Diese Arbeit hat das Ziel, in einer international vergleichenden Analyse den Selbstverständigungsdiskurs der EU in ost- und westeuropäischen Ländern zu analysieren. Es wird danach gefragt, inwieweit sich zwischen den Ländergruppen gemeinsame oder voneinander abweichende Identitätsvorstellungen herausbilden und von welchen Abgrenzungen sie gestützt werden: Welche Vorstellungen über die EU kursieren in den Diskursen der Länder, wie stark sind sie mit Zugehörigkeits- und Zusammengehörigkeitsbekundungen verbunden und vor welchen Kontrastfolien etablieren sie sich? Ein besonderes Augenmerk wird weiterhin auf die Frage gerichtet, inwieweit sich der frühere Gegensatz zwischen Ost- und Westeuropa in den Identitätskonstruktionen zur EU widerspiegelt. Es wird betrachtet, inwieweit ein Gruppengegensatz erhalten geblieben ist und die jeweils andere Ländergruppe als ein „internes Andere“ (Derrida 1992: 56; vgl. auch Sedmak 2010: 14) herangezogen wird, um eigene Vorstellungen europäischer Identität zu schärfen und zu stabilisieren. Damit richtet sich der Blick auf die Deutungen der jeweils anderen EU-Länder als europäische Gruppenmitglieder. Nehmen sich ost- und westeuropäische Länder gegenseitig als legitime Teilnehmer am europäischen Projekt wahr oder dominieren Dissonanzwahrnehmungen zwischen der jeweils anderen Ländergruppe und der EU?

Der Untersuchungszeitraum bezieht sich auf die große Osterweiterung im Jahr 2004 sowie die kleine Osterweiterung im Jahr 2007, als mit Rumänien und Bulgarien zwei weitere Länder des ehemaligen Ostblocks EU-Mitglieder wurden. Obwohl auch zu Momenten der Vertiefung der EU wie etwa bei der Euroeinführung oder den Referenden zum europäischen Verfassungsvertrag und zum Vertrag von Lissabon in den EU-Ländern Selbstverständigungsdiskurse stattgefunden haben, stehen damit Phasen der Erweiterung im Zentrum der Analyse. Es liegt nahe, dass zu diesen Zeitpunkten gerade die hier interessierende gegenseitige Auseinandersetzung zwischen West- und Osteuropa deutlicher zutage tritt. Methodisch wird der Selbstverständigungsdiskurs der Länder mittels einer quantitativen Medieninhaltsanalyse untersucht, die sich auf die politische Wochenpresse richtet.

Aufbau der Arbeit

Im folgenden Kapitel (2.) wird zunächst die politische Relevanz der Ausbildung einer europäischen Identität für die EU verdeutlicht. Eine auf die EU bezogene europäische Identität ist dabei zur Demokratisierung der EU sowie zur Herausbildung einer europäischen Öffentlichkeit in Beziehung zu setzen. Es wird aufgezeigt, dass europäische Identität als Zielgröße der Politik zwar lange vernachlässigt wurde, jedoch mit der Intensivierung der politischen Integration in den 1990er Jahren stärker Beachtung findet (2.1). Dennoch wird die Entwicklung europäischer Identität als defizitär und bislang schwach ausgeprägt gekennzeichnet. Insbesondere nach der 2004 und 2007 vollzogenen EU-Osterweiterung verläuft die Identitätsfindung in der EU unter erschwerten Bedingungen (2.2). Das liegt nicht nur an der wachsenden Heterogenität innerhalb der Gemeinschaft, sondern vor allem auch daran, dass mit den ehemaligen Ostblockstaaten Länder einbezogen werden, die zuvor als das politisch und wirtschaftlich Andere zu bestimmten Vorstellung über eine (west-)europäische Identität beigetragen haben. Dies legt die Vermutung nahe, dass der Ost-West-Gegensatz, der Europa bis 2004 gespalten hat, auch innerhalb der EU noch fortwirkt.

Nach der Erörterung der Relevanz des Konzepts „europäische Identität“ für die EU, stellt sich das folgende Kapitel (3.) der Herausforderung, den in vielfältigen Kontexten und stark variierenden Definitionen gebräuchlichen Begriff „Identität“ theoretisch zu bestimmen. Da europäische Identität als Gruppenidentität behandelt werden muss, liegt der Schwerpunkt in der Begriffsarbeit auf sozialwissenschaftlichen Ansätzen. Es wird verdeutlicht, welche Forschungsstränge in den Sozialwissenschaften und angrenzenden Disziplinen sich mit Gruppenidentitäten befassen und damit Ressourcen für eine Identitätstheorie bereitstellen (3.1). Eine konzeptionelle Klärung des Identitätsbegriffs wird in Abschnitt 3.2 geleistet und stellt die für diese Arbeit grundlegende theoretische Zielsetzung dar. In einer konstruktivistischen Sichtweise wird eine aus verschiedenen Forschungstraditionen informierte differenzierte Definition des Begriffs erarbeitet. Dabei wird die soziale Konstruktion von Gruppenidentität auf zwei Ebenen angesiedelt: der Mikroebene der Individuen, die sich als der Gruppe zugehörig und mit anderen Gruppenmitgliedern zusammengehörig wahrnehmen, und der Makroebene gesellschaftlicher Diskurse, in denen Identitätsentwürfe für die Gruppe EU kollektiv geteilt und weiterentwickeln werden. Auf beiden Ebenen spielen die Massenmedien eine tragende Rolle, da sie nicht nur die Identitätskonstruktionen der Individuen als Europäer beeinflussen können, sondern vor allem als Foren für gesellschaftliche Diskurse fungieren. Eine theoretische Fundierung für den Prozess der diskursiven Identitätskonstruktion lässt sich aus der Öffentlichkeitstheorie, dem Framing-Ansatz und der Forschung zu sozialen Bewegungen sowie aus der poststrukturalistische Theorie gewinnen. Letztere gibt zudem Hinweise darauf, dass eine vorübergehende Stabilisierung der Identität der Gruppe EU durch Abgrenzungen ermöglicht wird, die sich auf Elemente außerhalb aber auch innerhalb der Gruppe beziehen können. Diesem Gedanken wird im Fortgang der Arbeit besondere Aufmerksamkeit gewidmet. Eine zusammenfassende Darstellung der für das Konzept „Gruppenidentität“ herausgearbeiteten Aspekte findet sich in Abschnitt 3.3, in dem sie zugleich auf den besonderen Fall europäischer Identität übertragen werden.

Die Konstruktion kollektiver europäischer Identität erfolgt auf der Makroebene öffentlicher Diskursen. Daher steht im vierten Kapitel zunächst das Konzept „Öffentlichkeit“ als Forum der Konstruktion im Fokus (4.1). Mit dem systemtheoretischen Spiegelmodell, dem Diskursmodell in der Tradition nach Habermas und der Synthese dieser Modelle von Neidhardt und Gerhards werden verschiedene Öffentlichkeitstheorien mit unterschiedlich hohem normativen Anspruch vorgestellt. Als dominantes Forum der Identitätskonstruktion erfährt die Medienöffentlichkeit eine gesonderte Betrachtung (4.2), bevor im nächsten Schritt der Spezialfall einer europäischen Medienöffentlichkeit, in der europäische Identitätsdiskurse stattfinden können, reflektiert und anhand vorliegender Modelle diskutiert wird (4.3). In diesem Zusammenhang sind im nächsten Abschnitt (4.4) die inzwischen zahlreichen Befunde der Forschung zur europäischen Öffentlichkeit zu systematisieren und zu reflektieren. Nachdem die strukturellen Bedingungen der Konstruktion europäischer Identität in nationalen Medienöffentlichkeiten auf diese Weise offenbar geworden sind, rückt der Forschungsstand zur diskursiven Konstruktion europäischer Identität in den Fokus (4.5). Aus bestehenden qualitativen und quantitativen Medieninhaltsanalysen gehen erste Erkenntnisse zu den europäischen Identitätskonstruktionen in den Diskursen einiger Länder hervor, wobei auch der Aspekt der Identitätsschärfung durch Abgrenzung Berücksichtigung findet. Dabei wird offenbar, dass gerade der Ost-West-Gegensatz nach der Osterweiterung bislang nicht tiefergehend auf mögliche fortdauernde Abgrenzungen hin untersucht worden ist. Der theoretische Teil der Arbeit schließt mit einer Übersicht zu den wesentlichen Konfliktlinien im politischen Diskurs zur EU-Osterweiterung und mit Hinweisen auf offene Fragen, die aus den theoretischen Überlegungen und dem empirischen Forschungsstand für eine Untersuchung europäischer Identitätskonstruktionen vor dem Hintergrund der EU-Osterweiterung resultieren (5.).

Der empirische Teil der Arbeit beginnt mit dem sechsten Kapitel, das methodische Erläuterungen zum Vorgehen in der Analyse enthält. Dabei wird die Auswahl der zu untersuchenden Länder (6.1) und Medien (6.2) sowie des Untersuchungszeitraums (6.3) offengelegt und begründet. Aufbauend auf den formulierten Forschungsfragen werden im nächsten Schritt Hypothesen aufgestellt, die in der Analyse zu prüfen sind (6.4). Weiterhin werden die Erstellung des Analyseinstruments sowie die Operationalisierung der basalen Konstrukte und das Vorgehen in der Datenerhebung erläutert (6.5). Im siebten Kapitel werden die Ergebnisse der Untersuchung präsentiert und in Hinblick auf die Hypothesen interpretiert. Vorgestellt weden Befunde zur Stuktur des Identitätsdiskurses (7.1), zur Konstruktion von Zugehörigkeit zur EU (7.2) sowie zur Konstruktion von Zusammengehörigkeit in der EU und Abgrenzungen europäischer Identität (7.3). Das achte und letzte Kapitel enthält eine Zusammenfassung und Einordnung der Befunde sowie einen Ausblick auf Anschlussfragen.

2 Europäische Identität als politisches Konzept

Zur europäischen Zusammengehörigkeit liegen zahlreiche und stark voneinander abweichende Thesen vor. Ihre Formulierung stellt auch keineswegs ein neues Phänomen dar. Europa ist ein „historical concept, emerging from the crucible of the past 15 centuries“ (Battaglia 1957: 2). Entsprechend reichen auch die Annahmen über eine europäische Identität bis in die Antike zurück (Delanty 1995: 16; Smith 1992: 55; vgl. ausführlich Jordan 1996; Schmale 2008). Über die Zeit erweist sich das Konzept „Europa“ als äußerst vieldeutig und wird in jedem Zeitalter aufs Neue erfunden bzw. mit Inhalt ausgestattet (Delanty 1995: 1). Es basiert zunächst auf geografischen und klimatischen Vorstellungen, später auf der Idee gemeinsamer kultureller Wurzeln, aber auch auf einer Verbundenheit durch wirtschaftliche und politische Beziehungen (Jordan 1996: 2ff.). Bezogen auf das 19. und 20. Jahrhundert unterscheidet Kaelble (2001; 2002a) fünf Phasen, in denen eine europäische Identität je eigene Wertigkeiten und Inhalte auf sich bezogen hat: Nachdem der Kolonialismus von einem hohen zivilisatorischen Überlegenheitsgefühl der Europäer gegenüber den Kulturen in Übersee geprägt war und dies eine europäische Zusammengehörigkeit begründet hatte, folgte eine lange Krise des europäischen Selbstwertgefühls. Diese wurde zunächst durch den ökonomischen Aufstieg der USA und Japans eingeleitet und schließlich durch die „Abstiegserfahrung“ (Habermas 2004: 51) der einstigen europäischen Imperien im Zuge der Weltkriege verschärft. In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts konsolidierten sich die Wirtschaften der westeuropäischen Staaten und die Diskussion über die Gestalt einer europäischen Zivilisation erlebte eine Renaissance. Mit der Integration der Länder in der EWG bzw. später in der EG und schließlich in der EU gewinnt die Frage nach einer europäischen Identität eine starke politische Dimension (vgl. auch Lepsius 1997: 949).

Die EU als ein demokratisches System ist der Anknüpfungspunkt für den Großteil der wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit europäischer Identität. Eine Reihe von Autoren sehen in ihr eine essentielle Bedingung für die Legitimität politischen Regierens auf Ebene der EU (z. B. Fuchs/Guinaudeau/Schubert 2009: 91; Gerhards 2000: 288; Isensee 1993; Habermas 2004: 76; Kielmansegg 1996: 51f.; Kraus 2008: 38; Scharpf 1997: 66; Walkenhorst 1999: 52ff.), die immer mehr Hoheitsrechte für sich beansprucht und die nationale Politik nachhaltig beeinflusst (Cerutti 2005: 141ff.). Zwar besteht zwischen Legitimität und Identität kein zwingendes Kausalverhältnis (Schmidt 2011: 17), europäische Identität wird aber zu der Möglichkeit, die demokratischen Verfahren in der EU auszubauen, und zur Formierung einer europäischen Öffentlichkeit in Beziehung gesetzt. Eine weitere Demokratisierung der EU wird dabei abgelehnt, solange nicht eine europäische Identität ein Mindestmaß an Solidarität gewährleiste und damit zum einen die Akzeptanz von Mehrheitsentscheidungen und zum anderen eine gegenseitige Rücksichtnahme der Bürger in der Verfolgung ihrer Interessen ermögliche (Grimm 1995: 46f.; Isensee 1993: 123; Scharpf 1997: 66). Darüber hinaus wird europäische Identität von einigen Autoren als notwendige Bedingung dafür angesehen, dass die Bürger in einer europäischen Öffentlichkeit an gemeinsamen Entscheidungsprozessen teilnehmen und dabei eine europäische anstatt eine eher auf nationale Interessen ausgerichtete Perspektive einnehmen (Gerhards 2000: 295; Grimm 1995: 47; Kielmansegg 1996: 57). Dem stehen Autoren gegenüber, die umgekehrt die Herausbildung einer europäischen Öffentlichkeit als Katalysator für die Entstehung europäischer Identität betrachten. Zum einen müssten Identitätsressourcen wie Wissen, Mythen und Symbole der Gemeinschaft öffentlich zugänglich sein (Lucht/Tréfás 2006: 4), zum anderen sei Öffentlichkeit ein kollektiver Lernprozess, in dem sich auch Identitätsverständnisse entwickelten (Eder 2004: 62f.; Habermas 2004: 77f.; Risse 2010: 107). Europäische Identität einerseits und europäische Öffentlichkeit sowie die Demokratisierung der EU andererseits beeinflussen sich also gegenseitig (vgl. auch Eilders/Lichtenstein 2010: 191). Dies bedeutet außerdem, dass europäische Identität nicht nur als Bedingung für die Legitimität europäischen Regierens fungiert, sondern auch Folge eines funktionierenden und inklusiven politischen System ist (Walkenhorst 1999: 69).

Im Folgenden werden die Schwierigkeiten in der Entwicklung einer europäischen Identität in der EU erläutert. Dabei werden zunächst das seit Gründung der EWG zu verzeichnende europäische Identitätsdefizit sowie dessen politische Problematik dargelegt, wobei aber auch auf die politischen Bemühungen hingewiesen wird, die Identifikationen mit der EU zu stärken (2.1). Daran anschließend werden die veränderten Bedingungen der Identitätsfindung nach den Osterweiterungen aufgezeigt (2.2).

2.1 Identität als Zielgröße der Politik

Trotz des allmählichen Zusammenwachsens Europas in der Nachkriegszeit fand der Gegenstand europäische Identität in den Anfängen der europäischen Integrationspolitik nur geringfügig Beachtung. Die Integration vollzog sich lange als eine kooperative Zusammenarbeit zwischen den (west-)europäischen Mitgliedsländern, deren gemeinsames Interesse im wirtschaftlichen Wiederaufbau und in der Rückgewinnung ihres verlorenen internationalen Einflusses bestand. Identitätsstiftende Momente wie die Behauptung europäischer Werte standen zunächst weit hinter den wirtschaftlichen und politischen Motiven der Zusammenarbeit zurück (Sedmak 2010: 11). Gleichwohl haben die Offiziellen der EU verschiedene Versuche unternommen, Identitätsressourcen bereitzustellen und Zugehörigkeitsofferten zu unterbreiten, um damit ein Zugehörigkeitsgefühl der Bürger zu stimulieren (Garcia 1993: 2; Kraus 2008: 43ff.; Morley/Robins 2002: 76ff.). Neben zaghaften Demokratisierungsbemühungen wie der Einführung der Direktwahl des europäischen Parlaments im Jahr 1979 wurden politische Symbole etabliert, mit denen die europäische Kategorie den Bürgern bewusst gemacht werden sollte (Bruter 2005: 58ff.; Kraus 2008: 48f.). Dazu gehören die europäische Flagge, die europäische Hymne, der EU-Pass, die Einführung des Europatages, Veranstaltungen wie die Kür einer europäischen Kulturhauptstadt, EU-Nummernschilder und EU-Führerscheine, Programme wie das Erasmus-Studium und der Euro als gemeinsame Währung (Bruter 2005: 85ff; 2008: 43ff.; Walkenhorst 1999: 204f.). Der Erfolg dieser sporadischen Bemühungen war jedoch begrenzt (Hoffmann 1994: 2; Majone 2009: 3). Paradoxerweise ist das Interesse der Bürger in Deutschland nach der Einführung der Direktwahl zum europäischen Parlament sogar gesunken (Noelle-Neumann 1980: 58). Auch heute besteht noch immer ein „closeness deficit“ (Krzyżanowski/Triandafyllidou/Wodak 2009b: 2), eine mangelnde Bindung der Bürger an das europäische Projekt.

Auch von Seiten der Wissenschaft wurde die Frage nach einer europäischen Identität über Jahrzehnte selten gestellt. Die ersten Integrationstheorien (v. a. Deutsch et al. 1957; Haas 1958) bauen auf der technokratischen Sichtweise des Funktionalismus nach Mitrany (1965) auf, der unter Betonung eines supranationalen Körpers als Neo-Funktionalismus auf das Projekt Europa angepasst wurde, und informieren sich zusätzlich aus einer breiten Literatur zur Nationenforschung. In der Theorie des Neo-Funktionalismus (Haas 1958; 1970; Inglehart 1971) basiert die Integration auf funktionalen Imperativen und Nutzenerwägungen (Haas 1958: xxxiv). Es seien weniger Politiker, Schriftsteller oder Lehrer, die den Prozess vorantreiben, sondern vor allem die ökonomischen Eliten. Diese nutzten die bestehenden Beziehungen und Verflechtungen insbesondere zwischen den Wirtschaftssystemen der Länder aktiv und intensivierten die Zusammenarbeit damit weiter (Haas 1958: xiv; 1970: 627). Die politischen Eliten hingegen passten sich den ökonomischen Interessen an und seien von den funktionellen Dynamiken der Integration angetrieben.

Identität spielt im Neo-Funktionalismus eine untergeordnete Rolle (Checkel/ Katzenstein 2009: 5). Nach den neo-funktionalistischen Prämissen bemisst sich die Legitimität der europäischen Integration vor allem nach dem Output, dem Nutzen, den sie für die Staaten mit sich bringt (Lindberg/Scheingold 1970: 24ff.). Auch die Loyalität der Bürger entwickelt sich nach diesem Ansatz in erster Linie aus Nutzenerwägungen. Sie akzeptierten das Projekt Europa als eine Zweckgemeinschaft zu gegenseitigen Vorteilen, ohne dass affektive Bindungen an die Gemeinschaft eine wesentliche Rolle spielten. Diese könnten sich zwar auch über Sozialisationseffekte ausbilden und so bestehe eine Chance, dass sich im Verlauf der instrumentellen Zusammenarbeit auch Identifikationen der Mitglieder mit der Gruppe enwickelten (Easton 1979: 188), die Identifikationen seien jedoch nicht als Voraussetzung für die Kooperationen zwischen den Staaten anzusehen (ebd.: 186). Tatsächlich wurde die Integration, die auch in den Medien kaum reflektiert wurde, in der Bevölkerung lange nicht als Konfliktthema wahrgenommen (Noelle-Neumann 1980: 72). Anstelle von Enthusiasmus oder überzeugter Ablehnung wurde sie von einem „permissiven Konsens“ (Lindberg/Scheingold 1970: 41) begleitet, einer Mischung aus Befürwortung und Gleichgültigkeit, die mit wenig Sachkenntnis über die europäische Gemeinschaft einherging. Diese Einstellung der Bürger kam in der Konsequenz einem unterstützenden Verhalten gleich, denn sie eröffnete der Politik in den Ländern einen breiten Handlungsspielraum in ihrer Integrationspolitik (Hix 2005: 149; Inglehart 1970: 773; McLaren 2006: 8).

Die untergeordnete Rolle von Identitätsfragen änderte sich erst mit den Maastrichter Verträgen und dem Übergang von der EG zur stärker politisch ausgerichteten EU. In dieser Phase kam es in den Europastudien zu einer „normativen Wende“ (Bellamy/Castiglione 2003), in der Fragen der Legitimität europäischen Regierens stärker in den Vordergrund rückten. Dabei wurde auch dem Thema europäische Identität eine stärkere Aufmerksamkeit zuteil, die sich bis heute intensiviert hat (vgl. z. B. die Beiträge in Checkel/Katzenstein 2009; Herrmann/Risse/Brewer 2004; Karolewski/Kaina 2006). Durch die Arbeiten der quantitativen Soziologie, der experimentellen Psychologie, der hermeneutischen Diskursanalyse und der Politikwissenschaft entstand ein Konsens über die Relevanz des Faktors Identität (Risse 2005: 295). Zwar ist es auch aus heutiger Sicht weitgehend unstrittig, dass die Wahrnehmung wechselseitiger Vorteile eine Gemeinschaft zusammenhalten kann (Nissen 2003: 758), eine tiefergehende identitäre Verbundenheit mit einer politischen Gruppe wird jedoch in Phasen benötigt, in denen die Gemeinschaft unter Stress steht (Easton 1979: 187).

Stressfaktoren können unbefriedigte oder zu zahlreiche Bedürfnisse der Mitglieder einer Gemeinschaft darstellen (ebd.: 57f.). Aus ihnen resultieren Zweifel am reibungslosen Funktionieren der Märkte und der Institutionen; die Integration wird von den Gesellschaftsmitgliedern dann nicht mehr unhinterfragt als vorteilhaft empfunden. Nach Kaina (2009: 37) speist sich Stress bezogen auf die EU im Wesentlichen aus drei Quellen: Aus der geringen demokratischen Rückbindung europäischer Entscheidungen an die Bürger resultiert erstens ein permanenter Legitimitätsmangel.1 Zweitens beeinträchtigen drohende Effektivitätsdefizite das Vertrauen in die Gemeinschaft. Diese betreffen nicht nur die Wahrnehmung der Brüsseler Bürokratie sowie der aus der Vielfalt an Sprachen und Kulturen resultierenden Verhandlungsschwierigkeiten, sondern auch die Einschätzung der wirtschaftlichen Vorteile, die das jeweils eigene Land aus der Mitgliedschaft zieht. Hier spielen auch abverlangte Solidarleistungen eine Rolle: Zwar sind noch immer die Nationalstaaten die tragenden Akteure der EU, aber Umverteilungen finden nicht nur in Ausnahmesituationen wie der Euro-Schuldenkrise, sondern auch regulär z. B. über Subventionspolitiken statt. Ein wesentlicher Stressfaktor ist also bereits die „fortdauernde elementare Heterogenität der segmentär integrierten Gesellschaften“ (Saxer 2006: 73), in denen sich zum Beispiel große und kleine Mitgliedsstaaten mit je eigener Wirtschaftsleistung gegenüberstehen. Auswirkungen haben drittens auch die anhaltenden Unsicherheiten über die Grenzen der EU, die kontinuierlich neue Mitglieder aufnimmt und in der unter anderem auch eine Mitgliedschaft der Türkei in Erwägung gezogen wird. Abgesehen von der erhöhten kulturellen Komplexität, die der Einbezug immer neuer Mitglieder mit sich bringt, lässt sich der EU auf diese Weise auch kein klarer Referenzraum zuordnen. Dieser wäre aber notwendig, um die zur Identitätsbildung erforderlichen Inklusions- und Exklusionsmechanismen in Gang zu setzen (Hettlage/Deger 2007: 11f.).

Aus diesen Faktoren resultiert insgesamt eine zunehmend skeptische Haltung der Bürger zum europäischen Projekt: Wesentlich stärker als noch in den ersten Jahrzehnten der Integration sehen diese ihre Lebenswelt heute von der Europapolitik berührt und bringen die EU zunehmend auch mit negativen Folgen und Benachteiligungen für sich und ihr Land in Zusammenhang (Kohler-Koch/Conzelmann/Knodt 2004: 207; van Kersbergen 2000: 12). Die EU-Skepsis manifestiert sich nicht nur in den regelmäßig stattfindenden Umfragen des Eurobarometers, sondern auch in der immer wieder niedrig ausfallenden Beteiligung bei den Europawahlen2 sowie in den Negativvoten bei den Referenden zum europäischen Verfassungsvertrag 2005 in Frankreich und den Niederlanden sowie zum Lissabon-Vertrag 2008 in Irland (Brüggemann 2008: 25; Haller 2009: 23). Nachdem der permissive Konsens nunmehr aufgekündigt zu sein scheint, muss die Politik in ihren Integrationsbemühungen stärker Rücksicht auf die Einstellungen der Bürger nehmen und ist dabei in vielen Ländern einem „constraining dissensus“ (Hooghe/Marks 2008: 5) in der Bevölkerung ausgesetzt. Die Erosion der wohlmeinenden Haltung der Bürger zur EU, die sich phasenweise lähmend auf den Fortgang der Integration auswirkt, setzte ironischerweise direkt nach einem großen erfolgreichen Schritt im europäischen Einigungsprozess ein, nämlich nach der Unterzeichnung der Maastrichter Verträge (Hoffmann 1994: 1). Sie wird in der Forschung treffend als „Post-Maastricht Blues“ (Eichenberg/Dalton 2007) bezeichnet.

Über das Medium Zusammengehörigkeitsgefühl (Münch 2000: 207) lässt sich jene politische Stabilität herstellen, die von den wirtschaftlichen und politischen Rahmenbedingungen nicht mehr uneingeschränkt garantieren werden kann. Daher fungiert europäische Identität wie ein „sozialintegrativer Kitt“ (Lichtenstein 2012a: 3), der eine Gesellschaft zusammenhält. Akteure, die sich als Mitglieder einer politischen Gemeinschaft betrachten, erkennen sich gegenseitig gleiche Handlungsrechte zu, bewältigen Konflikte nach festgelegten Verfahren und sanktionieren Regelabweichungen. Wohlstand wird geteilt und die Interessen des Kollektivs sind individuellen Präferenzen und denen anderer Kollektive vorzuziehen (Münch 2000: 206f.). Zwischen den Angehörigen derselben politischen Gruppe werden Opfer in Form von Hilfestellungen und Umverteilungen akzeptiert (Giesen 1999: 116f.; Habermas 1998a: 100).

Die stabilisierende Wirkung europäischer Identität wird umso relevanter, je mehr den Mitgliedern der EU abverlangt wird. Der routinemäßige Stress verschärft sich in Ausnahmesituationen wie der Euro-Schuldenkrise, die im Jahr 2010 begann. Gerade in Krisen müssen sich die Mitglieder einer Gemeinschaft darüber einig werden, wer sie sind und wie sie leben wollen (Kaina/Karolewski 2009: 5; Krzyżanowski/Triandafyllidou/Wodak 2009b: 6). Identität dient hier als wichtige Quelle für die notwendige moralische Orientierung und Kraft, auf die es in der Krisenbewältigung ankommt (Sedmak 2010: 9). Eine intensive Suche nach Identität kann auch immer als ein Krisensymptom begriffen werden, das vor allem in Phasen wirtschaftlicher Probleme sowie kultureller und sozialer Umbrüche sichtbar wird (Eder 2000: 39; Jungwirth 2007: 224; Kraus 2008: 38). So verwundert es nicht, dass auch die erste Erwähnung des Konzepts „europäische Identität“ von Seiten der Europäischen Kommission unter dem Zeichen einer Krise stattfand. Thematisiert wurde es bei einem Gipfeltreffen in Kopenhagen, das unter dem Eindruck der Ölkrise im Jahr 1973 abgehalten wurde. Wie Stråth (2002: 388f.) herausgearbeitet hat, sollte die abstrakte Idee einer europäischen Identität helfen, die europäischen Gesellschaften in einer krisenbedrohten internationalen Weltordnung zu konsolidieren. Noch deutlicher wird der enge Zusammenhang zwischen Krisen und Identitätsbedarf im Kontext der Schuldenkrise im Euroraum. Er zeigt sich an den vehementen Appellen sowohl von Akteuren aus der Politik (z. B. Merkel 2011b; Schmidt 2011) als auch von Journalisten (z. B. Prantl 2011) an die Bürger zum Festhalten an der EU und dem Euro unter Berufung auf eine europäische Zusammengehörigkeit und eine gemeinsame Verantwortung:

„Wir haben in diesem Jahr erfahren, was den Kern der Wirtschafts- und Währungsunion und damit der Europäischen Union insgesamt ausmacht; wir haben erfahren, dass Europa eine Verantwortungsgemeinschaft ist. Nach dem Zweiten Weltkrieg haben unsere politischen Vorgänger Verantwortung übernommen, für Europa und für seine Gemeinschaft. Dies hat zu der längsten Friedensperiode geführt, die es je in Europa gegeben hat. Deutschland profitiert von dieser Gemeinschaft, von der Währung und dem Binnenmarkt. Ich darf auch sagen: Deutschland profitiert in ganz besonderer Weise. Umso ernster nehmen wir heute unsere Verantwortung für eine gute Zukunft der Europäischen Union“ (Merkel 2011a).

Die Appelle, in denen die Krise als gemeinsames und gemeinsam zu lösendes europäisches Problem beschrieben wird, stehen in Konkurrenz zu Darstellungen vor allem von Seiten der Boulevardpresse, denen eine nationale Perspektive zugrunde liegt (Lichtenstein 2012b: 34ff.). So verweist z. B. die deutsche BILD in ihren Artikeln regelmäßig auf die Kosten der Euro-Rettung sowie die Schuld der Krisenländer, die etwa als „Pleite-Griechen“ tituliert werden, und argumentiert gegen die Leistung von Solidarmaßnahmen (Artl/Storz 2011: 16f.). Gleichzeitig sind auch von Seiten der Bürger der EU-Länder Widerstände gegen die EU, den Euro und einige Mitgliedsländer wahrnehmbar. Besonders starke Eskalationen sind in Griechenland, Italien und Spanien zu beobachten, wo es zu gewaltsamen Protesten gegen die von der EU verordneten Sparpolitiken gekommen ist.

2.2 Identitätsfindung in der erweiterten EU

Identitätsdefizite funktionieren wie eine Zeitbombe im Integrationsprozess (Hix 2008: 51). Sie machen das politische System in Stress- bzw. Krisenmomenten verwundbar (Easton 1979: 187) und erhöhen die Wahrscheinlichkeit, dass sich die Bürger von der EU abwenden. Vor der Euro-Schuldenkrise scheint es nicht gelungen zu sein, die Bombe zu entschärfen.

Bei einer Analyse des Diskurses zur europäischen Identität verdienen die Erweiterungsrunden der EU besondere Beachtung. In diesen Momenten intensiviert sich die Aufmerksamkeit für mögliche Nachteile durch die Teilhabe an der Gemeinschaft, sodass zwangsläufig Fragen nach den Gründen für die Zugehörigkeit zur EU und für die Zusammengehörigkeit der Länder in der EU aufgeworfen werden. Dies gilt insbesondere für die Osterweiterung der EU (Strohmeier 2007: 24), die sich in den Jahren 2004 und 2007 vollzogen hat. Diese bislang größte Transformationsphase der Gemeinschaft stellte eine außergewöhnliche Belastungsprobe für den Integrationsprozess dar. Dabei sind insgesamt zehn Transformationsstaaten aus Osteuropa zu den damals 15 alten EU-Mitgliedern gestoßen. Ziel war es, das früher durch die europäische Integration und den Warschauer Pakt gespaltene, ungleichzeitige und zweigleisige Europa (Sedmak 2010: 12) zu überwinden. Für die EU bedeutete dies mehr als bloß eine Neuauflage der früheren Nord- und Süderweiterungen: Lange Zeit hat sich das ehemals westeuropäische Projekt EU über die demokratische Verfasstheit seiner Mitgliedsstaaten und die freie Marktwirtschaft definiert und dabei zugleich von den autoritären Regimen und Planwirtschaften nicht nur in Russland, sondern auch in den osteuropäischen Staaten, die Teil der Sowjetunion waren, abgegrenzt (Kraus 2008: 4f.).3 Für eine europäische Identitätsbildung war dies konstitutiv, denn eine Vorstellung davon, was die EU nicht ist, trägt wesentlich zur Identitätsfindung bei. Der Kontrast zu dem „konstitutiven Außen“ verdeckte die Unterschiede zwischen den westeuropäischen Staaten. Es handelte sich dabei um mehr als den Unterschied zwischen verschiedenen Formen der Marktwirtschaft oder demokratischen Systemen, sondern um einen Antagonismus zu einem radikal anderen Gesellschaftsmodell, das die eigene Identität in Frage stellt und Identifikationen mit einem westeuropäischen „Wir“ erlaubt (Stäheli 2000: 36).

Für die Identität der EU waren der Zusammenbruch der Sowjetunion und die Osterweiterung deshalb mit erheblichen Irritationen verbunden (Hoffmann 1994: 7ff.; vgl. auch Schimmelfennig 2003). Sie besiegelten die Beseitigung des fundamentalen Gruppengegensatzes zwischen Markwirtschaft und Kommunismus sowie zwischen Demokratien und autoritären Regimen. Dies eröffnet Raum und schafft Notwendigkeiten für neue Selbstverständigungsdiskurse, die eng mit neuen Differenzziehungen verbunden sind. Die USA, Russland, die Türkei oder China sind mögliche gemeinsame Gegenbilder für die EU-Staaten, die helfen können, europäische Identität inhaltlich zu schärfen und Identifikationen zu stärken. Von diesen außereuropäischen Abgrenzungen lassen sich Fragen nach innereuropäischen Abgrenzungen differenzieren (Sedmak 2010: 13f.), bei denen europäische Identität in Abgrenzung zu einem oder mehreren Mitgliedsländern konstruiert wird. Durch die Osterweiterung der EU kann europäische Identität also einerseits an Schärfe verlieren, andererseits ist es möglich, dass der OstWest-Gegensatz trotz der formellen Integration in der gemeinsamen Gruppe EU für die Identitätsbildung erhalten bleibt.

Zugleich waren mit der Osterweiterung die bisher stärksten politischen Anstrengungen verbunden, Identitätsressourcen bereitzustellen: In seiner viel beachteten Rede vor der Berliner Humboldt-Universität erklärte der damalige deutsche Außenminister Joschka Fischer am 12. Mai 2000 die Osterweiterung zur historischen Aufgabe Westeuropas (Fischer 2000). Die EU habe nach den Weltkriegen ihre Verdienste als Garant für Demokratie und Frieden auf dem Kontinent erzielt und trage nun auch Verantwortung für die Stabilisierung der ehemaligen Sowjetstaaten, die nach jahrzehntelanger Fremdherrschaft nach Europa zurückkehren sollten. Diese Erweiterung mache aber eine Reform der EU notwendig, deren Institutionen nicht für 25 oder mehr Staaten ausgelegt seien. Vor diesem Hintergrund stieß Fischer die Idee einer europäischen Verfassung an, die mit der Reform der EU einhergehen und das oft als bürokratisch und elitär wahrgenommene europäische Projekt stärker an die Bürger binden sollte (Dietzsch 2009: 11ff.). Im Zusammenhang mit dem europäischen Verfassungsvertrag und dessen vorläufigem Scheitern, das zu neuen Reflexionen über die Kohärenz Europas Anlass bot (Csáky 2007: 9), sowie schließlich seiner Wiederaufnahme unter bescheideneren Zielsetzungen, wurden die Inhalte einer europäischen Identität ein explizites Konfliktthema. Vor allem die ursprünglich mit einer Reihe identitärer Bezüge angereicherte Präambel des Verfassungsvertrages bot dabei Diskussionsstoff. Sie geriet hinsichtlich des Gottesbezugs und der Anlehnungen an die griechischrömische Antike solange zum Zankapfel der Regierungen, bis sie auf den kleinsten gemeinsamen Nenner zurechtgeschliffen war (Heit 2005: 11).

1 Das Demokratie- und Legitimationsdefizit der EU wird nur von wenigen Autoren (z. B. Majone 1998; Moravscik 2002) bestritten. Sie argumentieren, der Output der EU für die Mitgliedsländer legitimiere die EU genügend und eine weitere Demokratisierung stehe eher ihrer Effektivität im Wege. Die EU ist in dieser Perspektive vor allem eine Bürokratie zur Organisation des gemeinsamen Marktes; ein Ausbau der politischen Union und stärkere Umverteilungen zwischen den Ländern werden von den Vertretern dieser Perspektive hingegen zurückgewiesen.

2 Trotz eines Kompetenzzuwachses des europäischen Parlaments haben an den Europawahlen 2009 nur 43 Prozent der EU-Bürger teilgenommen. Damit lag die Beteiligung niedriger als je zuvor.

3 Hank (2013) zeigt, dass Konstruktionen europäischer Einheit im Kontrast zum „bolschewistischen Machtstaat“ bereits während dem Zweiten Weltkrieg und sogar im nationalsozialistischen Deutschland relevant waren.

3 Der Identitätsbegriff und seine Anwendung als „europäische Identität“

Der Begriff „Identität“ leitet sich ursprünglich vom lateinischen Wort „idem“ ab. In diesem Sinne handelt es sich um einen relationalen Begriff, der zwischen zwei oder mehr Bezugsobjekten eine „Selbigkeit, Nämlichkeit, Gleichheit behauptet“ (Wodak et al. 1998: 48) und dem zunächst eine rein technische Verwendung in Algebra und Logik zukommt (Gleason 1983: 911). Jenseits abstrakter formalwissenschaftlicher Diskurse wie der Mathematik verliert dieses Verständnis jedoch schnell an Zweckmäßigkeit. Insbesondere bezogen auf Personen oder Kollektive wie eine Nation oder die EU bezeichnet der Begriff „nie etwas Statisches, Unveränderliches, Substantielles, sondern immer schon etwas im Fluß der Zeit Befindliches, Veränderliches, Prozeßhaftes“ (Wodak et al. 1998: 48).

Angewendet wird der Identitätsbegriff in einer Vielzahl wissenschaftlicher Diskurse und nicht zuletzt im alltäglichen Sprachgebrauch.4 Seine Bedeutung variiert zwischen und innerhalb der Disziplinen und dies häufig in Abhängigkeit davon, welcher Gegenstand jeweils betrachtet wird (de Levita 1971: 9). Schmitt-Egner (1999: 129f.) differenziert ohne Anspruch auf Vollständigkeit zwischen philosophischen, psychologischen, soziologischen, kulturwissenschaftlichen, historischen und geografischen Zugängen zur Identität. Diese Klassifizierung lässt sich aber problemlos weiter aufschlüsseln: Beispielsweise unterscheiden sich innerhalb des psychologischen Zugangs Ansätze aus der Psychoanalyse, bei denen Persönlichkeitsstrukturen im Mittelpunkt stehen, aus der Sozialpsychologie, die Identität in Bezug auf die soziale Umwelt des Individuums betrachten, und aus der klinischen Psychologie, die eher auf interne und statistisch messbare Vorgänge im Individuum fokussieren. Seinen Ruf als „Inflationsbegriff Nr. 1“5 (Brunner 1987: 63) verdient „Identität“ zudem durch seine Verwendung im Bereich der Public Relation, wenn etwa eine Corporate Identity oder einer Imagekampagne erarbeitet wird, sowie in der Medizin und den Naturwissenschaften unter anderem bei der Entschlüsselung der individuellen DNA (Niethammer 2000: 28ff.).

Da sich die vorliegende Arbeit mit dem Thema europäische Identität befasst, stehen Fragen zu gesellschaftlichen Gruppenidentitäten im Mittelpunkt. Damit wird eine sozialwissenschaftliche Perspektive verfolgt. Das Konzept „Gruppenidentität“ ist jedoch vielschichtig, da es sich sowohl auf die Identität der Individuen als Gruppenmitglieder als auch auf die Identität einer Gruppe als eine abstrakte Einheit anwenden lässt. Es wird daher vorgeschlagen, innerhalb des Konzepts „Gruppenidentität“ zwischen der sozialen Identität der Individuen – verstanden als individuelle Bezugnahmen auf die Gruppe – und der kollektiven Identität der Gruppe – verstanden als gemeinsamer Konstruktionsprozess einer geteilten Identität – zu unterscheiden. Im folgenden Abschnitt wird zunächst die ausufernde Verwendung des Identitätsbegriffs in knapper Form problematisiert, um damit die Notwendigkeit einer präzisen Definition des Begriffs zu verdeutlichen (3.1). Es folgt eine detaillierte Begriffsarbeit (3.2), in der unter anderem die grundlegende Unterscheidung zwischen sozialer und kollektiver Identität hergeleitet wird. Auf diese Weise wird ein Konzept erarbeitet, das schließlich eine tragfähige Definition des Begriffs „europäische Identität“ ermöglicht 3.3.

3.1 Vielfalt des sozialwissenschaftlichen Identitätsbegriffs

Der Begriff „Identität“ ist seit Mitte des 20. Jahrhunderts fester Bestandteil des sozialwissenschaftlichen Diskurses (Jungwirth 2007: 16). Bei seiner Implementierung in dieser Disziplin gilt der Psychoanalytiker Erikson als Schlüsselfigur (de Levita 1971: 241; Gleason 1983: 914). Anders als Identitätstheorien der klassischen Philosophie oder neuere Ansätze der Postmoderne abstrahiert die sozialwissenschaftliche Identitätsforschung nicht vom gesellschaftlichen Rahmen, sondern folgt der grundlegenden Annahme, dass soziale Faktoren wie interpersonelle Beziehungen, soziale Erfahrungen und gesellschaftliche Strukturen eine prägende Rolle für Identität spielen (Rosenberg 1990: 593).6

Wesentliche Impulse bezieht der sozialwissenschaftliche Diskurs aus der Psychologie, aus geisteswissenschaftlich orientierten Disziplinen wie der Kritischen Theorie und der darauf aufbauenden Kulturtheorien bzw. dem Poststrukturalismus sowie insbesondere aus der Sozialpsychologie, die sich an der Schnittstelle zwischen Psychologie und den Sozialwissenschaften befindet. Die Fragestellungen, unter denen Gruppenidentität behandelt wird, beziehen sich unter anderem auf die Entstehung von Nationen (z. B. Anderson 2005; Armstrong 1982; Breuilly 1993; Gellner 1991; Hobsbawm 2005; Schulze 2004) und auf ortsungebundene „Diasporaidentitäten“ (z. B. Georgiou 2006; Hall 1994; Hein 2006; Hepp et al. 2011), auf Rassismus und Stereotype (z. B. Allport 1954; Hall 1994; Mead 1961; Snyder 1968), das Verhältnis von Jugend und Gesellschaft (z. B. Allport 1954; Erikson 1973) sowie auf Gender-Identitäten (z. B. Butler 1991) und die Artikulation von Homosexualität (Haunss 2004; Kraß 2003; Schein/Strasser 1997). Darüber hinaus fragt die Forschung zu sozialen Bewegungen in Hinblick auf die Mobilisierung von Individuen nach der Entstehung gemeinsamer Identität (Haunss 2004; Melucci 1988; Snow/Benford 1988; Taylor/Whittier 1995; Touraine 1981). Auf Individualebene nutzen der symbolische Interaktionismus (z. B. Goffman 1980; 1986; 2006; Mead 1973) sowie die eng damit verwandte Identity Theory (z. B. Burke 1980; Burke/Stets 2009; McCall/Simmons 1978; Stryker 1968) den Identitätsbegriff, um das Rollenverhalten von Individuen in sozialen Interaktionen zu untersuchen. Mit einem stärkeren Fokus auf kognitive, evaluative und emotionale Prozesse im Individuum erforscht schließlich die Sozialpsychologie (Tajfel 1978; Tajfel/Turner 1979; Turner 1991; 1999; Turner et al. 1987) Identität als individuelle Gruppenbindung und als Gruppenverhalten.

Aufgrund der stark voneinander abweichenden Forschungsinteressen verwundert es nicht, dass die Sozialwissenschaften über keine konsistente Definition von Identität verfügen. Vielmehr hat sich der Begriff zu einem catch-all-word entwickelt, das andere mit seinem Bedeutungsgehalt weitgehend korrespondierende Termini und Konzepte wie „Rolle“ und „Interesse“, „soziale Strukturen“ und „Systeme“ teilweise verdrängt hat (Wagner 1998: 48). Bezogen auf die EU hat der Identitätsbegriff als das neue „buzz-word“ (Stråth 2000: 14; vgl. Kraus 2008: 37) der Europaforschung die Rede von „Integration“ abgelöst. Dies geschieht wiederum unter Beteiligung einer Reihe verschiedener Forschungsperspektiven. Vorliegende Arbeiten bauen unter anderem auf Ideen des symbolischen Interaktionismus (Soric 1996) und der sozialpsychologischen Identitätsforschung (z. B. Castano/Yzerbyt/Bourguignon 2003; Cram 2009; die Beiträge in Breakwell/Lyons 1996) auf. Von besonderer Relevanz sind jedoch die Arbeiten zur nationalen Identität, die als der „besterforschte, am intensivsten und kritischsten durchreflektierte Teilbereich“ (Reese-Schäfer 1999: 20) der sozialwissenschaftlichen Identitätsforschung gilt.

Die Vielfalt der Begriffsverwendungen aber auch eine Vermischung von Fach- und Alltagssprache bedeuten nicht nur eine Ausweitung des Identitätsbegriffs, sie führen zudem im Verständnis zu Konfusionen – die Vielzahl definitorischer Ansätze gleicht einem „zuckerwatteartigen, unförmigen Gemenge“ (Kaufmann 2005: 41f.). Letztlich scheint es für den Begriff „Identität“ so viele Bedeutungen zu geben, „wie es Theorien gibt, die ihn verwenden“ (de Levita 1971: 9). Für die sozialwissenschaftliche Forschung stellen Brubaker und Cooper (2000: 6ff.) fünf Kernbedeutungen des Begriffs „Identität“ heraus, die zwar zum Teil miteinander kompatibel sind, insgesamt aber in ganz verschiedene Richtungen deuten: Identität kann sich 1. auf die Gleichheit von Gruppenmitgliedern beziehen oder 2. auf die Besonderheit von Individuen oder Gruppen, sie kann 3. Interessen fundieren und damit als Basis für soziale und politische Handlungen betrachtet werden, sie kann aber auch 4. das Produkt sozialer und politischer Handlungen sein oder sich 5. auf die instabile, multiple, fluktuierende und fragmentierte Natur des Selbst beziehen. Dabei divergieren die Vorstellungen nicht zuletzt darin, ob Identität etwas ist, das Individuen und Kollektive besitzen, etwas, das sie essentiell sind, oder etwas, das sie wie eine Ressource nutzen und somit tun (Kaina/Karolewski 2009: 12). Seine „epidemische Ausbreitung“ (Assmann/Friese 1998: 11; vgl. Keupp 1989: 48) und seine unüberschaubare Bedeutungsfülle machen „Identität“ dabei zu einem „Plastikwort“ (Niethammer 2000: 33) oder einem „leeren Wesensbegriff“ (Narr 1999: 101), der ebenso schwer fassbar ist wie das Gefühl für die eigene personale Identität (Strauss 1968: 7). Die Nutzbarkeit des Identitätsbegriffs als eine analytische Kategorie wird daher von vielen Autoren in Frage gestellt (Brubaker/Cooper 2000; Narr 1999; Niethammer 2000). Brubaker und Cooper (2000: 14ff.) plädieren dafür, sich je nach Kontext für die Verwendung alternativer und weniger diffuser Begriffe zu entscheiden wie „Identification“ und „Categorization“, „Selfunderstanding“ und „Sociallocation“ sowie „Commonality“, „Connectedness“ und „Groupness“.

Die Grundsatzkritik am Identitätsbegriff wird jedoch längst nicht von allen Autoren geteilt. Hingegen argumentieren viele Wissenschaftler (z. B. Abdelal et al. 2009b; Hall 2004; Keupp 1989; Kohli 2002; Kraus 2008; Reese-Schäfer 1999) zugunsten einer Beibehaltung des Identitätsbegriffs als analytische Kategorie: Der Begriff sei durch den konventionellen Sprachgebrauch gestützt und in den Sozialwissenschaften mit der Bearbeitung einer Vielzahl von Sachproblemen fest verbunden. Die Radikallösung, eine gänzliche Zurückweisung des Identitätsbegriffs zugunsten mehrerer differenzierterer Konzepte, würde also den Verzicht auf ein sozialwissenschaftliches Schlüsselkonzept bedeuteten (Abdelal et al. 2009a: 18), das soziale Strukturen mit individuellen Handlungen verbindet (Hogg/Terry/White 1995: 257). Es wird aber deutlich, dass „Identität“ als wissenschaftlicher Begriff einer klaren Definition bedarf.

3.2 Facetten des Konzepts „Gruppenidentität“

Im Folgenden werden die wesentlichen Aspekte der in dieser Arbeit angewandten Definition von Gruppenidentität entwickelt. „Gruppenidentität“ ist als ein übergeordneter Begriff für die Identität von Individuen als Gruppenmitglieder (soziale Identität) und für die gemeinsam hergestellte Identität einer gemeinsamen Gruppe als eine abstrakte Einheit (kollektive Identität) angelegt. Vertiefende Differenzierungen werden in den folgenden Abschnitten herausgearbeitet.

Grundlegend für die Begriffsarbeit ist zunächst die von den meisten Autoren (z. B. Goffman 1979; Straub 1998; Tajfel 1981) getroffene Unterscheidung zwischen der personalen und der sozialen Identität einer Person. Die personale Identität gilt als eine subjektive und reflexive Angelegenheit, die vom Individuum notwendigerweise empfunden werden muss, um sich als unverwechselbare Einzelperson zu erleben (Goffman 1979: 72ff., 132). Sie verweist auf qualitative Eigenschaften, die es ihm erlauben, selbstreferentiell als „Ich“ auf sich Bezug zu nehmen (Belgrad 1992: 34). In seiner personalen Identität erlebt sich das Individuum zum einen als über die Zeit konsistent, indem es einzelne Ereignisse in seine Lebensgeschichte integriert (Habermas 1976: 93ff., 1981: 206; Ricoeur 1996: 173ff.; Somers 1994), und zum anderen als über verschiedene soziale Situationen hinweg beständig, indem es widersprüchliche gesellschaftliche Ansprüche balanciert und mit seinen persönlichen Ansprüchen in Einklang bringt (Döbert/Habermas/Nummer-Winkler 1977: 10; Krappman 1997: 81; 2000: 210). Die soziale Identität des Individuums hingegen bezieht sich auf die Zugehörigkeit der Person zu einer oder mehreren gesellschaftlichen Gruppen und auf die Übernahme sozialer Rollen sowie der damit verbundenen Eigenschaften (Goffman 1979: 9ff.; Tajfel 1981: 255). Sie drückt eine Beziehung zwischen der Person und ihrer sozialen Umwelt aus. Während also die personale Identität auf die Konstruktion von individueller Einzigartigkeit verweist, zielt die soziale Identität auf die Gleichheit von Individuen mit Anderen in einer sozialen Rolle bzw. in einer Gruppe ab (Wagner 1998: 45).7 Entsprechend der Vielzahl an Beziehungen, mit denen das Individuum als Mitglied in mehr oder weniger abstrakten Gruppen wie Vereinen, Parteien und Nationen oder Rollen etwa als Polizist, Elternteil oder Schuldner in gesellschaftliche Interaktionen tritt, bezieht jedes Individuum auch eine ganze Reihe an sozialen Identitäten auf sich (Hogg/Abrams 1988: 19; Mead 1973: 225; vgl. James 2001: 294).

Mit der sozialen Identität steht die Identität der Individuen in ihrer Rolle als Gruppenmitglieder im Vordergrund. Diese ist nicht gleichbedeutend mit der Identität der Gruppe als eine abstrakte Einheit, die als kollektive Identität definiert wird (Delanty/Rumford 1995: 52; Gamson 1995: 58; Haunss 2004: 72; Klandermans/de Weerd 2000: 74). Diese Differenzierung wird im nächsten Abschnitt (3.2.1) unter Hervorhebung der konstruktivistischen Theorietradition tiefergehend herausgearbeitet. Auf beiden Ebenen, der Mikroebene der Individuen in Bezug auf die soziale Identität und der Makroebene gesellschaftlicher Strukturen und Prozesse in Bezug auf die kollektive Identität, lässt sich das Konzept „Gruppenidentität“ weiterhin in zwei Dimensionen ausdifferenzieren. Wie in Abschnitt 3.2.2 erläutert wird, bezieht sich die erste Dimension auf die Identitätsinhalte oder sozialen Repräsentationen der Gruppe und die zweite auf die Intensität von Identität. Letztere kann entweder eine affektive oder eine instrumentelle, von einem Nutzendenken geprägte Grundlage haben. Nach dieser Ausdifferenzierung des Konzepts „Gruppenidentität“ werden die Ebenen kollektiver und sozialer Identität im folgenden Abschnitt (3.2.3) theoretisch zusammengeführt. Unter Rückgriff auf die Theorien des Poststrukturalismus und auf die Forschung zu sozialen Bewegungen wird vorgeschlagen, kollektive Identität als eine Leerstelle zu begreifen, die in kontinuierlichen Deutungswettbewerben zwischen konkurrierenden sozialen Identitäten stets auf Zeit mit Inhalt gefüllt wird (3.2.3). Daran anschließend wird ebenfalls mit Bezug zum Poststrukturalismus auf den Aspekt der Identitätsbildung durch Abgrenzung von anderen Gruppen eingegangen (3.2.4). Abgrenzungen werden dabei als Notwendigkeit für eine vorübergehende Stabilisierung der Deutungswettbewerbe um kollektive Identität gekennzeichnet. Sie sind die Kehrseite der Zusammengehörigkeit in einer Gruppe und werden über inhaltliche Codes bestimmt. Schließlich wird auch die Rolle der Medien in der Konstruktion von Gruppenidentität reflektiert (3.2.5). Hierbei ist zwischen der Konstruktion kollektiver Identität in der Medienöffentlichkeit und dem Einfluss der Medien auf die soziale Identität der Individuen als Gruppenmitglieder zu unterscheiden.

3.2.1 Konstruktion sozialer und kollektiver Identität

Nach Gleason (1983: 919; vgl. auch Straub 1998) lassen sich primordiale und optionalistische bzw. konstruktivistische Identitätstheorien unterscheiden. Primordiale Theorien kennzeichnen ethnische, nationale und andere soziale Identitäten als weitgehend resistent und unterstellen zumindest implizit eine Kollektivpersönlichkeit oder Kollektivseele einer Gruppe wie die Nation. Sie fokussieren damit zwar auf die kollektive Identität von Gruppen, behandelt diese aber als statisch und blenden Zusammenhänge mit der sozialen Identität von Individuen weitgehend aus. Konstruktivistische Theorien beschreiben Identität hingegen als elastisch, abhängig von sozialen Kontexten und sozial konstruiert. Sie setzen dabei häufig bei der sozialen Identität der Individuen an und abstrahieren von der Idee einer den Individuen übergeordneten Gruppenidentität. Die Gegenüberstellung beider Ansätze verweist auf eine theoretische Kluft zwischen der Mikroebene der Individuen und der Makroebene von Gesellschaft; es ist unklar, ob man bei der Frage nach Gruppenidentitäten bei den handelnden Individuen oder aber bei dauerhaften gesellschaftlichen Strukturen ansetzen muss (Bar-Tal 2006: 343; David/Bar-Tal 2009: 357; Haunss 2004: 58). Dies spiegelt sich auch im wissenschaftlichen Diskurs zur europäischen Identität wider (Schildberg 2008: 67): Während einige Autoren (z. B. Heller 2006; Kaelble 2001; Schmale 2008) in einer Top-Down-Perspektive8 nach europäischen Gemeinsamkeiten suchen und sich damit um eine primordiale oder a priori-Definition europäischer Identität bemühen, fragen andere (z. B. Gabel 1998a; 1998b; Lepsius 2004; Nissen 2006) in einer Bottom-Up-Perspektive, ob und wie sich die Individuen mit Europa identifizieren, und folgen damit einem konstruktivistisches Identitätsverständnis.

Im Folgenden werden die primordialen Identitätstheorien zusammenfassend dargestellt und kritisiert. Daran anschließend wird die konstruktivistische Sichtweise auf Identität vorgestellt. Damit wird zunächst eine Entscheidung für die Mikroperspektive der Individuen getroffen. Weil die gesellschaftliche Makroebene aber auch unter einem konstruktivistischen Paradigma nicht außer Acht zu lassen ist, wird gezeigt, wie das Konzept „Gruppenidentität“ in zwei Ebenen zu unterteilen ist, die in einer Identitätstheorie beide berücksichtigt werden müssen: die Mikroebene der sozialen Identität der Individuen als Gruppenmitglieder und die Makroebene gesellschaftlicher Diskurse, auf der die Individuen die kollektive Identität der Gruppe gemeinsam konstruieren.

Primordiale Identitätstheorien

Primordiale Konzepte gehen von einer starken Prägung der Individuen durch die Gesellschaft aus und beziehen sich damit auf die kollektive Identität von Gruppen als eine Einheit. Eine solche Überordnung der Gesellschaftsstrukturen gegenüber den Individualidentitäten findet sich in einer Reihe von Gesellschaftstheorien beginnend bei Durkheim und Parsons über die Thesen der Kritischen Theorie bis hin zu den Ansätzen poststrukturalistischer Autoren. Sie wird gestützt von frühen Vertretern der noch nicht experimentell arbeitenden Psychologie wie Le Bon und McDougall. Diese argumentieren, das Gruppenverhalten habe eine andere Qualität als das individuelle Verhalten und sei mehr als die bloße Summe der interpersonalen Interaktionen involvierter Akteure. Die Masse beschreibt Le Bon (1896: 26) anders als das einzelne Individuum als instinktgeleitet und anfällig für primitives, barbarisches Verhalten. In der Menge handele das Individuum anonym, passe sich dem Gruppenverhalten an und verliere dabei seine eigene Urteilsfähigkeit. Die Gruppe erscheint hier als eine vom Individuum unabhängige Kraft. In etwas abgeschwächter Form geht auch McDougall davon aus, dass sich Individuen in der Gruppe assimilieren und ihre mentalen Prozesse auf die Gruppe abstimmen. Gerade in organisierten Gruppen könne sich ein „Group Mind“ (McDougall 1927: 21ff.) entwickeln: Zwar konstituiere sich die Gruppe erst über die einzelnen an ihr teilhabenden Individuen, sie sei diesen aber mental präsent und beeinflusse deshalb ihr Verhalten. Die Mitglieder einer Gruppe zeigten die gleichen mentalen Aktivitäten und Reaktionen und verstärkten über die Wahrnehmung ihrer Gleichheit die psychologische Gruppenbildung. Aus diesen Prämissen leitet sich die Idee ab, Gruppen wie Nationen, Zivilisationen oder sogar Rassen besäßen eine geteilte Mentalität oder einen Nationalcharakter (ebd.: 106ff.). Diese auch von Le Bon vertretene Annahme wurde später zur Basishypothese in den National-Character-Studies, die danach fragen, ob, wie und zu welchem Ausmaß die Persönlichkeit bzw. der Charakter des Individuums durch die Gesellschaft und Kultur, in der es lebt, geprägt wird (z. B. Mead 1946; 1961; Peabody 1985). Sie findet sich aber auch in späteren Arbeiten der Nationenforschung, in denen ethnische bzw. nationale Identität als gegebener und unveränderlicher Bestandteil der Identität einer Person begriffen und eine vorab existierende kulturelle Grundlage für die Entstehung von Staaten als notwendig beschrieben wird (z. B. Connor 1994; Geertz 1963; Smith 1991).

Die für das Individuum prägende Kraft der Gesellschaft lässt sich positiv als Integration verstehen. So argumentieren die Gesellschaftstheorien nach Durkheim und Parsons, dass eine arbeitsteilig organisierte Gesellschaft nur dann zusammengehalten werden kann, wenn ihre Mitglieder über gemeinsame Werte integriert werden (vgl. hierzu Nunner-Winkler 2008). Eine ähnliche Perspektive verfolgt Erikson (1973), der sich auf das Heranwachsen von Jugendlichen innerhalb eines gesellschaftlichen Kontextes bezieht. In seinem Konzept ist die Gesellschaft jene Instanz, die den Individuen Orientierung vermittelt: Die Jugendlichen strebten im Heranwachsen danach, gesellschaftlich vordeterminierte Entwicklungsziele zu erreichen und ihren Platz in der gesellschaftlichen Ordnung zu finden. Aufbauend auf der psychoanalytischen Tradition nach Freud, betrachtet Erikson Identität als dem Individuum innerlich, als etwas Stabiles und tief in den psychologischen Strukturen Angelegtes. In seinem Modell durchlaufen die Individuen acht Identitätskrisen, um gesellschaftlich vorgegebene Entwicklungsziele und damit jeweils Kompetenzen wie Willens- und Entschlusskraft, Treue und Fürsorge zu erreichen, die Einfluss auf ihre Selbstachtung haben (ebd.: 62ff.). Der Einzelne leite „ein belebendes Realitätsgefühl“ (ebd.: 17) daraus ab, dass sich seine Identität im Gruppenkontext auf einen definierten Platz innerhalb der sozialen Realität hin entwickele. Eine gelingende Identitätsentwicklung befinde sich „im Einklang mit der Raum-Zeit und dem Lebensplan der Gruppe“ (ebd.) und sei damit nichts anderes als eine „erfolgreiche Variante einer Gruppenidentität“ (ebd.). Für das Individuum ist Identität bei Erikson etwas, das man erreicht und behält (Baier 1985: 9). Gruppenidentität beinhaltet hier eine normierende Kraft, indem sie dem Individuum Orientierung vermittelt.

Geht man jedoch nicht von einer Eintracht zwischen Gesellschaft und Individuum aus, kann die prägende Kraft der Gesellschaft weitaus skeptischer als Manipulation, Unterdrückung und Entfremdung des Individuums von seinen persönlichen Interessen verstanden werden (Zima 2007: 158ff.; vgl. auch Habermas 1981: 489ff.). Diese Perspektive verfolgen die Analysen von Marx und darauf aufbauend die Schule der Kritischen Theorie nach Adorno, Horkheimer und Marcuse sowie die Autoren der kulturwissenschaftlichen und poststrukturalistischen Theorietradition wie Foucault, Lacan, Bourdieu, Butler, Laclau und Mouffe. Foucault (2005: 275) argumentiert, das Subjekt sei nicht nur durch Bewusstsein und Selbsterkenntnis an seine eigene Identität gebunden, sondern unterliege vor allem Herrschafts- und Abhängigkeitsverhältnissen. Kulturelle Kontexte wie Wissensordnungen und Machttechnologien leiteten den Einzelnen an, sich und seine Existenz auf eine bestimmte Weise zu „verstehen“. Aus den Gesellschaftsressourcen beziehe das Individuum Praktiken für sein Alltagshandeln, mit denen es sich selbst gemäß der gesellschaftlichen Ordnung forme (Foucault 1993: 27). In diesem kritischen Verständnis gerät der Begriff „kollektive Identität“ unter Ideologieverdacht und seine wissenschaftliche Nutzbarkeit wird in Zweifel gezogen, da einige seiner qualitativen Elemente „zur herrschaftlichen Identifikation von Menschen und deren Steuerung benutzt werden“ (Narr 1999: 105) können. Auf diese Problematik richtet sich auch die Kritik von Wehler (1987: 143):

Man kann „unter Identitätsbildung die Übernahme stabilisierender Traditionen, die Verinnerlichung geglaubter Normen, die Aneignung überlieferter Werte verstehen, ohne daß diese inhaltlichen Elemente von Identität durch den Filter prüfender Reflexion geleitet würden. Erwünscht ist offenbar die möglichst vorbehaltlose Identifikation mit dem Vorgegebenen, die zustimmende Gewöhnung an die Umwelt, die Einübung von ‚entlastenden Selbstverständlichkeiten‘.“

Konstruktivistische Identitätstheorien

Gegenüber den primordialen Ansätzen haben sich die konstruktivistischen Identitätstheorien in der Literatur mittlerweile weitgehend durchgesetzt. Identität wird darin als eine soziale Konstruktion (Delanty/Rumford 2005: 51; Eisenstadt/Giesen 1995: 74; Giesen 1993: 28; Straub 1998: 93) begriffen und „weder als essentiell noch als substantiell“ (Reese-Schäfer 1999: 7) beschrieben. Sie wird in prozessual ablaufenden Interaktionen konstruiert und ist „ein immer nur vorläufiges Resultat kreativer, konstruktiver Akte“ (Straub 1998: 93). Ethnische, nationale oder auch Gender-Identitäten würden erst durch die Leistungen der Individuen selbst hervorgebracht, zumal auch scheinbar stabile Merkmale wie die Hautfarbe erst in Interaktionen bedeutsam würden. Sie könnten nicht als Determinanten der Person begriffen werden, weil ihre Betonung und Sinngebung von der jeweiligen sozialen Situation abhängig sei (Barth 1969: 31; Hall 2004: 169). So etabliert zum Beispiel die Diskussion des Themas Migration unter Aspekten von Religionskonflikten einen veränderten Kontext, in dem Gastarbeiter aus Anatolien nicht mehr vorrangig als Türken, sondern als Muslime wahrgenommen werden (Grimm 2013: 863). Mit diesen Argumenten behandeln die konstruktivistischen Theorien die Person als Ausgangspunkt der Analyse und fassen Gruppenidentität damit als soziale Identität der Individuen. In Anlehnung an Lepsius (1997: 949; vgl. auch Lepsius 2004: 3) beschreibt beispielsweise Quenzel (2005: 28) die Identitätssuche als aktive Bewegung eines Individuums hin zu einem Identifikationsobjekt. Wenn sich mehrere Individuen mit dem gleichen Objekt identifizieren und sich dieser gemeinsamen Identifikation bewusst sind, entständen Gruppenidentitäten (Lepsius 2004: 3; Schumacher 2007: 5). Diese erhielten und reproduzierten sich über fortlaufende gegenseitige soziale Bestätigungen der Zugehörigkeit und Selbst-Identifizierungen auf Individualebene (Kaufmann 2005: 144f.). Am prägnantesten wurde diese Sichtweise bereits 1882 von Ernest Renan (1996: 35) auf den Punkt gebracht, der die Nation als ein „tägliches Plebiszit“ der Bürger definiert und damit allein von ihrem Zugehörigkeitswillen abhängig macht.

Indem die Perspektive auf die Leistung der Individuen verlagert wird, lösen Vorstellungen von Dynamik, Diskontinuität, Fragmentierung, Pluralität, Kontext- und Situationsgebundenheit die klassischen Merkmale Stabilität und Einheitlichkeit als Charakteristika von Identität ab (Abels 2010: 246; Brubaker/Cooper 2000: 11; Zirfas 2010a: 13). Insbesondere in der Sichtweise postmoderner Theoretiker konstruieren Individuen ihre Identität bewusst und gehen Gruppenbindungen in einem kreativen Prozess der Selbstorganisation selektiv und auf Zeit ein. Es entständen „Bastelexistenzen“ (Hitzler/Honer 1994; vgl. ähnlich Gross 1985) oder „Patchwork-Identitäten“ (Keupp 1989), in denen die Individuen aus Lebensmustern und Sinnangeboten auswählten und sich je eigene Lebens-Collagen zusammenstellten. Allerdings passt die konstruktivistische Auffassung, dass Identitäten nichts Gegebenes sind, sondern kontextuell abhängig, in sich widersprüchlich und in Interaktionen entwickelt, bestätigt oder verändert werden, nicht zu der gängigen Vorstellung, eine Identität zu besitzen (Zehfuss 2001: 317). Weil der Identitätsbegriff auf nichts mehr verweist, das einem Individuum oder Kollektiv immanent und gleichbleibend ist, zieht das konstruktivistische bzw. weiche Paradigma die Rede von Identität in Zweifel: Zwar wird ersichtlich, „why weak understandings of identity are weak; but it is not clear why they are conceptions of identity“ (Brubaker/Cooper 2000: 19).

Dennoch ist es berechtigt, auch unter einem konstruktivistischen Paradigma von Identität zu sprechen. Trotz ihres konstruierten Charakters sind Identitäten mit Konsequenzen verbunden. Sie sind daher soziale Tatsachen (Reese-Schäfer 1999: 7f.) und stehen zu Recht nicht nur im Fokus der Metaphysik, sondern auch der empirischen Forschung. In den Untersuchungen wird entsprechend der konstruktivistischen Perspektive in der Regel nicht mehr die Frage nach einem materiellen Substrat der Identität gestellt, sondern nach Bedingungen, Logiken und Folgen der Identitätsproduktion (ebd.: 15).

Kollektive Konstrukionen von Identität