Europäischer Universalismus und der Aufstieg neuer Mächte - Christian Ersche - E-Book

Europäischer Universalismus und der Aufstieg neuer Mächte E-Book

Christian Ersche

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Beschreibung

Dieses Buch hat den Anspruch, von europäischen und nordamerikanischen Modellen abweichende Entwicklungspfade und damit zusammenhängende Strukturen internationaler Kooperation aufzuzeigen und das diesen alternativen Modellen inhärente antihegemoniale Potenzial zu ergründen. Die zentrale Frage dabei lautet, inwiefern mit den zunehmenden Kooperationen innerhalb des Südens auch eine Abkehr von westlichen Denkmustern verbunden ist. Der ökonomische und politische Aufstieg von Schwellenländern im globalen Süden hat tiefgreifende Veränderungen globaler Strukturen mit sich gebracht. Angesichts ihres wachsenden Einflusses bemühen sich die Vertreter der neuen Mächte um eine selbstbestimmte Entwicklung und fordern ein gleichwertiges Mitspracherecht in internationalen Angelegenheiten. Es stellt sich jedoch die Frage, ob es zur Überwindung der eurozentrischen Weltordnung genügt, dass die westlichen Industriestaaten in bestimmten ökonomisch relevanten Bereichen ihre Führungsposition verloren haben. Was bedeutet es für die Globalisierung des 21. Jahrhunderts, dass sich die nationalen Wirtschaftsmodelle im Süden mitunter von denen im Norden unterscheiden? Welche Auswirkungen hat der Aufstieg des Südens auf die geopolitische Hegemonie des Nordens und welche auf seine epistemische Hegemonie? Diesen Fragen widmet sich dieses Buch, wobei China und Brasilien – die beiden ökonomisch stärksten Schwellenländer – als Fallbeispiele für eine nähere Analyse dienen. Im Mittelpunkt steht dabei die Verbindung von ökonomischer Macht, politischer Macht und wissenschaftlicher Deutungsmacht.

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Als Dissertation 2014 an der Philosophischen Fakultät der Universität Freiburg angenommen.

Mit freundlicher Unterstützung des Bundesministeriums für Bildung und Forschung

Dank

Diese Arbeit entstand im Rahmen des Forschungsprojekts „Universalität und Akzeptanzpotential von Gesellschaftswissen – Zur Zirkulation von Wissensbeständen zwischen Europa und dem globalen Süden“, das vom Bundesministerium für Bildung und Forschung gefördert wird. Für die Möglichkeit, die Arbeit mit dieser Förderung anfertigen zu können, möchte ich mich an dieser Stelle sehr bedanken. Ich danke besonders den Mitgliedern dieses Projekts, die mein Manuskript in unterschiedlichen Stadien mit mir diskutierten, zahlreiche neue Anregungen lieferten und das Vorankommen meiner Arbeit auf unterschiedlichste Weise unterstützen. Vor allem möchte ich mich hier bedanken bei Dr. Wiebke Keim, Dr. Ercüment Çelik, Dr. Veronika Wöhrer, Dr. Barbara Riedel, José Jimenez, Sebastian Volkmann und Max Vogelmann. Mein Dank gilt auch Maren Eichmeier und Jasma Dare, die alle mit der Forschung verbundenen verwaltungstechnischen Probleme aus dem Weg räumten. Weiterhin bin ich Prof. Dr. Hermann Schwengel, der diese Arbeit betreute und mir stets mit hilfreichen Ratschlägen zur Seite stand, zu großem Dank verpflichtet. Auch Prof. Dr. Gisela Riescher gab mir wichtige Hinweise zu meinem Manuskript und ermöglichte mir, dieses in ihrem Kolloquium zu diskutieren. Prof. Dr. Boike Rehbein, der Teile des Manuskript in einem frühen Stadium las und kommentierte, half mir dadurch sehr, meine Gedanken weiterzuentwickeln. Ich danke den Teilnehmern der Konferenz „Circulating Social Science Knowledge“ für ihre konstruktiven Beiträge zu meiner Forschung – insbesondere Dr. Paruedee Nguitragool und Prof. Dr. Reinhart Kößler. Auch bei den Fellows und Assoziierten des „Gesellschaftswissen“-Projekts, mit denen ich mich zu unterschiedlichen Zeiten über unterschiedliche Teile des Manuskripts austauschte, möchte ich mich bedanken. Zur Vorbereitung meiner Feldforschung gaben mir insbesondere Dr. Dominique Schirmer und Prof. Dr. Björn Alpermann wichtige Hinweise. Großer Dank gebührt selbstverständlich auch allen, die mich während meiner Forschung in China und Brasilien unterstützten – zuvorderst all denen, die sich bereiterklärten, in langen Gesprächen ihr Wissen mit mir zu teilen. Schließlich möchte ich auch meinen Eltern Friedhilde und Hansjörg Ersche danken, die mich immer wieder ermutigten und bestärkten. Und zu guter Letzt danke ich Leonie Lawrence, die mir in allen Phasen dieser Arbeit beistand.

Freiburg, 09.02.2014Christian Ersche

Inhalt

1. Einleitung

2. Forschungsansatz

2.1 Verortung der Arbeit in aktuellen Forschungsdebatten

2.2 Verwendete Begrifflichkeit und theoretische Schlüsselkonzepte

2.3 Methodisches Vorgehen

2.3.1 Literatur-, Medien-, Dokumenten- und Datenanalyse

2.3.2 Explorative Interviews

2.4 China und Brasilien – Zum Problem des „methodologischen Nationalismus“

3. Der Europäische Universalismus als Macht- und Handlungslegitimation

3.1 Kolonialismus, Freihandel und die Konstruktion der Moderne

3.2 Westliche Weltdeutungsmuster als Grundlage postkolonialer Entwicklung

3.3 Auf dem Weg zur globalen Marktgesellschaft

3.4 Die asymmetrischen Grenzen von Freihandel und Marktgesellschaft

4. China als Emerging Market Society

4.1 Die chinesische Moderne

4.2 Der souveräne Nationalstaat – Eine fremde Idee setzt sich durch

4.3 Der Ausbau von Bildung und Wissenschaft zur Steigerung der nationalen Konkurrenzfähigkeit

4.4 Öffnung und Reform der chinesischen Wirtschaftsordnung

4.5 Die soziale Ungleichheit nimmt zu

4.6 Das Konzept der „Harmonischen Gesellschaft“

5. China als Emerging Global Power

5.1 International Studies in China – Auf der Suche nach eigenen Erklärungsmustern

5.2 Auf dem Weg zum Multipolarismus

5.3 Der Aufstieg der Wirtschaftsmacht China zur größten Welthandelsnation

5.4 Modernisierung der Sicherheitspolitik und militärische Machtprojektion

5.5 Multilaterale Kooperation als Element der neuen chinesischen Außenpolitik

5.5.1 Kooperation im Rahmen der UNO

5.5.2 Internationale Wirtschafts- und Finanzkooperation

5.5.3 Regionale Kooperation

5.6 China und der globale Norden

5.7 China und der globale Süden

5.8 Von der „Harmonischen Gesellschaft“ zur „Harmonischen Welt“ – Zur Diskussion über einen „Beijing Consensus“

6. Brasilien als Emerging Market Society

6.1 Die brasilianische Moderne

6.2 „Nationale Identität“ im Spannungsfeld zwischen Europaorientierung und ethnischer Vielfalt

6.3 Der Ausbau von Bildung und Wissenschaft als Teil nationaler Modernisierung

6.4 Die Öffnung der innenorientierten Wirtschaftsordnung für den Weltmarkt

6.5 Soziale Ungleichheit als anhaltendes Problem

6.6 Eine soziale Wende?

7. Brasilien als Emerging Global Power

7.1 International Studies in Brasilien – Autonomistas und Liberale, Dependenztheoretiker und Realisten

7.2 Zwischen Abhängigkeit und Weltmachtbestrebungen

7.3 Die Wirtschaftsmacht Brasilien stellt sich dem globalen Wettbewerb

7.4 Modernisierung der Sicherheitspolitik und militärische Machtprojektion

7.5 Multilaterale Kooperationsmuster im Wandel

7.5.1 Regionale Kooperation

7.5.2 Kooperation im Rahmen der UNO

7.5.3 Internationale Wirtschafts- und Finanzkooperation

7.6 Brasilien und der globale Norden

7.7 Brasilien und der globale Süden

7.8 Brasiliens Suche nach einer neuen internationalen Rolle

8. Die chinesisch-brasilianischen Beziehungen: Ein Fallbeispiel der Süd-Süd-Kooperation

8.1 Wirtschaftsbeziehungen als Basis einer „Strategischen Partnerschaft“

8.2 Die Asymmetrie des ökonomischen Austauschs

8.3 Technologischer Wissenstransfer im Gefolge der Wirtschaftsbeziehungen

8.4 Sozialwissenschaftliche Süd-Süd-Kooperation mit dem Norden als Angelpunkt

8.5 Langsame kulturelle Annäherung

8.6 Jenseits der „Mutual Benefit“ vs. „Neo-Dependenz“-Debatte

9. Multilaterale Süd-Süd-Kooperation: BRICS

9.1 Institutionalisierung der BRICS

9.2 Kooperation nach innen

9.3 Kooperation nach außen

9.4 Global Governance: Die BRICS in der G20

10. Analyse: Dimensionen der Hegemonie

10.1 Nationale Aspekte geopolitischer Hegemonie

10.2 Nationale Aspekte epistemischer Hegemonie

10.3 Globale Aspekte geopolitischer Hegemonie

10.4 Globale Aspekte epistemischer Hegemonie

11. Schlussbetrachtung

Literatur

Anhang

1. Einleitung

„The issues at the core of our concerns – the financial crisis, new global governance and climate change – have a strong common denominator. It is the need to build a new international order that is sustainable, multilateral and less asymmetric, free of hegemonies and ruled by democratic institutions. This new world is a political and moral imperative. We cannot just shovel away the rubble of failure; we must be midwives to the future! This is the way to make repairs for so much injustice and to prevent new collective tragedies.“

Luiz Inácio Lula da Silva

(Zitiert nach Carrasco/Williams 2012:1)

„We will never seek hegemony, nor behave in a hegemonic manner. By peaceful development, we mean to develop ourselves by upholding world peace and to uphold world peace through our own development.“

Xi Jinping

Rede bei der Eröffnung des 9. China-ASEAN Forums 20121

In der Einleitung zu ihrer Einführung über Theorien der Globalisierung merken Boike Rehbein und Hermann Schwengel (2008: 9) an, „dass mit dem Aufstieg und der Differenzierung des globalen Südens die globalen Interaktionsverhältnisse sich fundamental zu verändern begonnen haben.“ Weltwirtschaftliche Weichenstellungen werden seit Ausbruch der globalen Finanz- und Wirtschaftskrise 2008/09 nicht mehr von den G8-Staaten vorgegeben, sondern in der um zahlreiche aufstrebende Staaten erweiterten G20 beschlossen. Die in Washington sitzenden internationalen Finanzinstitutionen haben heute in den sich entwickelnden Ländern nicht mehr den Einfluss, den sie noch am Ende des 20. Jahrhunderts hatten, und die reichen Industriestaaten im globalen Norden werden zunehmend mit neuen Konkurrenten konfrontiert. Entwicklungs- und Schwellenländer in Asien und Lateinamerika haben in den vergangenen Jahren enorm an Einfluss gewonnen. Gleichzeitig hat auch die Kooperation zwischen diesen aufstrebenden Staaten unter Ausschluss Europas und Nordamerikas rasant an Bedeutung zugenommen. Dabei prägen gemischte Wirtschaftsordnungen mit unterschiedlichen kulturellen und sozialen Voraussetzungen, mit unterschiedlicher Gewichtung von Markt und Staat und mit verschiedenen institutionellen Ordnungssystemen die neueste Phase der Globalisierung (Candeias 2011: 12f; Harris 2009).

In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhundert dagegen wurden internationale Politik und Wirtschaft, Globalisierung und Entwicklung dominiert von Akteuren aus dem Norden. Dies gipfelte in den 1990er Jahren, nach dem Untergang des Sowjet-Kommunismus, in der Vorstellung von einem „Ende der Geschichte“ (Fukuyama 1992), verstanden als politische Ideengeschichte, das mit der weltweiten Erkenntnis von der Überlegenheit demokratischer Regierungsformen in Verbindung mit einer „freien“ Marktwirtschaft erreicht sei. Dabei hatten insbesondere in den letzten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts in den wichtigsten Regierungen im Norden und den von ihnen dominierten internationalen Wirtschafts- und Finanzinstitutionen die Vertreter neoliberaler Gesellschaftsutopien die Oberhand gewonnen. Den Grundwerten der neoliberalen Ideologie, im Kern bestehend aus dem Glauben an die Notwendigkeit ökonomischer Liberalisierung, Deregulierung und Privatisierung bei gleichzeitiger Einhaltung strikter Haushaltsdisziplin, wurden von ihren Vertretern universelle Gültigkeit zugeschrieben, neoliberale Lösungen für die Krisen der Zeit entsprechend als alternativlos dargestellt. Die Entwicklungspolitik des Nordens bestand daher in der Forderung nach entsprechender „Strukturanpassung“, die in großen Teilen des Südens durch finanziellen Druck durchgesetzt wurde (Schmalz/Ebenau 2011: 27; Harvey 2007).

Die vorhergesagten positiven Effekte derartiger Strukturanpassung traten jedoch in vielen Fällen nicht ein. Während das Wirtschaftswachstum hinter den Erwartungen zurück blieb, nahm stattdessen insbesondere die soziale Ungleichheit in vielen Gesellschaften enorm zu. Der Norden sah sich dabei zunehmend mit dem Vorwurf konfrontiert, durch seine neoliberale Wirtschafts- und Entwicklungsagenda lediglich die eigene hegemoniale Stellung in der Weltwirtschaft festschreiben zu wollen (Müller 2002: 86ff, 103ff). Mit dem Aufstieg des Südens in der neuesten Phase der Globalisierung bestünde nun für viele der aufstrebenden Staaten und Gesellschaften die Chance, der Hegemonie des Nordens tatsächlich etwas entgegenzusetzen. Allerdings, so schreibt Schwengel (2006: 6; 2008: 770f), gleicht das tatsächliche Verhältnis der Schwellenländer aus dem Süden zu den Staaten im Norden im 21. Jahrhundert weniger einer Dialektik von Hegemonie und Widerstand als vielmehr einer Dialektik von Aufstieg und Gleichgewicht – vergleichbar mit der internationalen Konstellation des späten 19. Jahrhunderts. Zu jener Zeit, so argumentiert er, sei es keiner der aufsteigenden Mächte gelungen, imperiale Strukturen und damit die Welt des 19. Jahrhunderts hinter sich zu lassen, bis schließlich im 20. Jahrhundert die USA – auf der Basis ihrer Innovationskraft – eine neue globale Vorherrschaft unter veränderten Kooperationsprinzipien etablierten.

Vertreter der Staaten im Süden, die gegenwärtig ihren Aufstieg erleben, bestehen nun zunehmend auf dem Recht auf eine eigenständige und selbstbestimmte Entwicklung innerhalb ihrer nationalstaatlichen Grenzen sowie auf einem gleichwertigen Mitspracherecht in internationalen Angelegenheiten. Die zunehmende Eigenständigkeit sowie der wachsende Einfluss des Südens konstituieren sich dabei allerdings innerhalb eines bestehenden internationalen Rahmens, dessen zugrunde liegende Normen bisher nur zaghaft in Frage gestellt werden. Jan Nederveen Pieterse (2008: 718) spricht in diesem Zusammenhang von einem „Wissensregime“ in der internationalen Wirtschafts- und Finanzwelt, das nach wie vor weitgehend intakt erscheint, auch wenn die in Washington ansässigen Finanzinstitutionen im Süden an Einfluss verloren haben. Zwar wird derzeit angesichts aktueller Krisenerscheinungen viel über Regeln für Investmentbanken, Ratingagenturen oder Hedgefonds diskutiert, ein „kohärenter Regulierungszusammenhang zur Durchsetzung einer veränderten Kapitalismusformation“ ist dabei jedoch nicht abzusehen (Schmalz/Ebenau 2011: 21; vgl. hierzu auch Küblböck/Jäger/Novy 2010). Bei aller Kritik, die von Vertretern der Schwellenländer am hegemonialen Verhalten des Nordens geübt wird, stellt sich daher die Frage, ob ihr Aufstieg und ihre Vernetzung tatsächlich für eine qualitativ andere Globalisierung stehen, wie die vielgenutzte Rhetorik der „Süd-Süd-Beziehungen“ impliziert, oder ob diese Entwicklungen lediglich für eine Machtverschiebung innerhalb der bestehenden globalen Ordnung stehen. Welche Auswirkungen also hat der Aufstieg des Südens auf die geopolitische Hegemonie des Nordens und welche auf seine epistemische Hegemonie? Diesen Fragen soll in der vorliegenden Arbeit anhand der Fallbeispiele China und Brasilien – der beiden ökonomisch stärksten der Schwellenländer – nachgegangen werden. Welche Alternativen haben die neuen Mächte zu bieten, welchen Beitrag können sie durch ihren Aufstieg und ihre Vernetzung untereinander zu einer Veränderung weltweiter Kooperationsmuster leisten?

Am Beginn der Arbeit (Kapitel 2) steht ein Überblick über das weite Forschungsfeld, an das diese Arbeit mit ihrer Fragestellung anschließt. Angesichts der Vielzahl an sozialwissenschaftlichen Disziplinen und Denkschulen, deren Debatten den Aufstieg des Südens begleiten, ist dabei zunächst eine genauere Verortung in der Forschungslandschaft unumgänglich. Ebenso unumgänglich ist eine Klärung von in dieser Arbeit verwendeten zentralen Begriffen – etwa dem des Südens –, die in politischen Auseinandersetzungen geprägt wurden, mitunter eine lange Tradition haben und daher nicht nur analytische, sondern auch normative Bedeutung tragen. Im Umgang mit dem Thema empfiehlt es sich unterdessen, den Wissensschatz verschiedener Disziplinen zu nutzen, um verschiedene Aspekte des Aufstiegs und der zunehmenden Vernetzung des Südens zu erklären und diese aktuellen Prozesse2 zugleich auch in ihrer historischen Dimension zu erfassen.

Zunächst erfolgt hierzu in Kapitel 3 ein Abriss über die globale Ordnung und ihren inhärenten Eurozentrismus. Dabei soll gezeigt werden, wie europäische Weltdeutungsmodelle – der europäische Universalismus – sowie eine darauf basierende Normsetzung in Entwicklung und internationaler Kooperation zu ihrer hegemonialen Position gelangten. Mit Kolonialismus und Freihandel, Nationalstaatsbildung, zweckrationaler Modernisierung und Neoliberalismus nahm dieser Prozess unterschiedlichste Formen an. Er erfasste verschiedene Gesellschaften zu verschiedenen Zeiten und auf unterschiedliche Weise. Letztlich jedoch haben universalistisches Denken sowie auf wirtschaftliche und militärische Überlegenheit bauende Machtpolitik zu einer Globalisierung nach Maßgabe der reichen Staaten des Nordens – zunächst Europas, dann der USA – geführt (Hauck 2003: 14; Wallerstein 2007: 7f). Diese Konstellation stellt somit den Hintergrund dar, vor dem sich nun der Aufstieg des Südens vollzieht.

Anhand der Fallbeispiele China und Brasilien, deren Regierungsvertreter sich vielfach gegen die Hegemonie des Nordens ausgesprochen haben, soll anschließend gezeigt werden, wodurch sich Entwicklungs- und Modernisierungspfade in gegenwärtig aufstrebenden Gesellschaften sowohl voneinander als auch vom Ideal des Nordens unterscheiden. In den Kapiteln 4 (China) und 6 (Brasilen) stehen daher insbesondere die historische Herausbildung der jeweiligen Ordnungssysteme sowie deren konkrete institutionelle Spezifika im Mittelpunkt.3 Dabei werden jeweils Prozesse im Inneren – ihre Entwicklung zu Emerging Market Societies – genauer in den Blick genommen. Während insbesondere aufgrund ökonomischer Indikatoren weitgehende Einigkeit darüber besteht, dass sich die in dieser Arbeit untersuchten Staaten derzeit in einer Phase des Aufstiegs befinden (Schmalz/Ebenau 2011; Nederveen Pieterse/Rehbein 2008), bleibt zu analysieren, unter welchen Bedingungen dieser Aufstieg jeweils stattfindet und was er auf verschiedenen gesellschaftlichen Feldern für die betroffenen Gesellschaften bedeutet. Dazu gehört auch die Frage, welche Rolle die Staaten des Nordens mit den von ihnen geprägten internationalen Institutionen und Organisationen, aber auch mit ihren Normen und ihrer wissenschaftlichen Vorherrschaft in den Entwicklungsbestrebungen Chinas und Brasiliens spielen und welche davon abweichenden Perspektiven diese beiden neuen Mächte liefern.

Da sowohl China als auch Brasilien inzwischen selbst eine zunehmend wichtigere und einflussreichere internationale Rolle spielen, soll anschließend in den Kapiteln 5 (China) und 7 (Brasilien) gezeigt werden, welche Bedeutung die Entwicklungsmodelle mit ihren jeweils eigenen inneren Brüchen und Konflikten für ihre außenpolitischen Konzeptionen haben. Damit rückt das Agieren der Staaten als Emerging Global Powers in den Fokus. Die Wirtschaftsordnungen beider Länder sind inzwischen durch Handels- und Investitionsströme in die Weltwirtschaft integriert, und die beiden Regierungen treten in ihren Außenbeziehungen immer selbstbewusster auf. Doch welche Ideale und Interessen werden an eine Weiterentwicklung der internationalen Ordnung geknüpft? Welche Bedeutung wird Partnern aus dem Norden und aus dem Süden beigemessen? Wo liegen jeweils die Grundlagen für Kooperation oder Zurückweisung?

An die Frage nach der Verschiedenheit von Wirtschafts- und Gesellschaftsordnungen schließt sich die Frage an, ob und inwiefern diese verschiedenen Gesellschaften durch ihre internationale Verbundenheit auch unterschiedliche Formen der Globalisierung herbeiführen (vgl. Nederveen Pieterse 2009: 34). In Kapitel 8 werden daher die chinesisch-brasilianischen Beziehungen als Fallbeispiel einer Süd-Süd-Beziehung analysiert. Dabei stellt sich insbesondere die Frage, ob sich diese Süd-Süd-Allianz prinzipiell von Beziehungen zwischen Süden und Norden unterscheidet. Ist diese Verbindung tatsächlich geprägt von anderen Grundlagen, etwa der geteilten Erfahrung des Imperialismus und der Hegemonie des Nordens, die eine natürliche Affinität zwischen den davon betroffenen Gesellschaften nahelegt? Stellen sie tatsächlich einen Gegensatz zu den als autoritär empfundenen Nord-Süd-Beziehungen dar, oder geht es dabei lediglich um globale strategische Alternativen, die es den Staaten erlauben, zur Diversifizierung ihrer Kooperationsmuster beizutragen?

Daran schließt sich in Kapitel 9 die Frage nach den Chancen und Hindernissen für eine multilaterale Koalitionsbildung im Süden an. Exemplarisch wird hierfür die Gruppe der BRICS-Staaten (Brasilien, Russland, Indien, China, Südafrika) in den Blick genommen, die zugleich als besonders einflussreich, jedoch auch als gehemmt durch Interessengegensätze gilt (Hooijmaaijers 2011: 9). Von Interesse ist dabei nicht nur die Frage nach den spezifischen Besonderheiten der Kooperation innerhalb dieses Zusammenschlusses, sondern auch inwiefern Süd-Süd-Beziehungen über die direkt daran beteiligten Staaten hinauswirken und Einfluss haben auf derzeitige Global Governance-Strukturen. Dabei stellt sich zum einen die Frage, welche Kapazitäten und Einflussmöglichkeiten die Länder des Südens durch ihre intensivierte Kooperation gewinnen. Es stellt sich zum anderen jedoch auch die Frage, welchen Willen sie zeigen, bei der Gestaltung der Welt eigene neue Akzente zu setzen.

Die Befunde aus den vorhergehenden Kapiteln werden schließlich in Kapitel 10 in einem Analyserahmen gebündelt, der einen differenzierten Blick auf gegenwärtige Entwicklungen erlaubt. Damit soll aufgezeigt werden, inwiefern verschiedene Entwicklungsmodelle von Globalisierungsprozessen geprägt werden und diese selbst prägen. Zunächst muss dabei unterschieden werden, zwischen der Bedeutung des Aufstiegs der in dieser Arbeit untersuchten Länder für diese selbst und der Bedeutung dieses Aufstiegs für die globale Ordnung. Auf beiden Ebenen muss darüber hinaus unterschieden werden zwischen einer Dimension des Aufstieges in den Kategorien der derzeitigen epistemischen Ordnung und einer Dimension des Aufstieges, die mit der Etablierung eigener Kategorien der Weltdeutung einhergeht. Aus diesen Unterscheidungen ergeben sich verschiedene Felder, auf denen sich jeweils verschiedene Formen des Umgangs mit der Hegemonie des Nordens ausmachen lassen.

Mit dieser Arbeit soll somit ein Beitrag zum Verständnis von sich wandelnden Strukturen im globalen Machtgefüge geleistet werden. Im Mittelpunkt steht dabei die Verbindung von ökonomischer Macht, politischer Macht und wissenschaftlicher Deutungsmacht. Diese Arbeit hat den Anspruch, von europäischen und nordamerikanischen Modellen abweichende Entwicklungspfade und damit zusammenhängende Strukturen internationaler Kooperation aufzuzeigen und das diesen alternativen Modellen inhärente antihegemoniale Potential zu ergründen. Dies impliziert die Frage nach dem Verhältnis von Ideologie und Pragmatismus neuer internationaler Konstellationen. Vor allem soll dabei jedoch eine Antwort auf die Frage gefunden werden, inwiefern mit der Aufnahme neuer Kooperationen auch eine Abkehr von westlichen Denkmustern verbunden ist. Spätestens seit der Wirtschafts- und Finanzkrise von 2008/09 ist klar, dass die USA und die EU die Weltordnung nicht mehr allein bestimmen können. Neue Mächte aus dem Süden holen wirtschaftlich auf und drängen ins Zentrum. Es stellt sich jedoch die Frage, ob es zur Überwindung des eurozentrischen Weltsystems genügt, dass die westlichen Industriestaaten in bestimmten ökonomisch relevanten Bereichen ihre Führungsposition verloren haben. Was bedeutet es für die Globalisierung des 21. Jahrhunderts, dass die nationalen Wirtschaftsmodelle im Süden sich mitunter von denen im Norden unterscheiden? Getragen von einer schnell wachsenden Wirtschaft in Schwellenländern wie China oder Brasilien wird sich die Eurozentrismuskritik aus diesen Ländern letztlich daran messen lassen müssen, ob sie tatsächlich zu einer globalen Entwicklung beitragen kann, von der auch die bisher Benachteiligten profitieren können.

1       Die komplette Rede in englischer Übersetzung findet sich auf: www.fmprc.gov.cn/eng/wjdt/zyjh/t977453.htm (Seite des chinesischen Außenministeriums, zuletzt besucht am 28.01.2014). Internetreferenzen werden in dieser Arbeit aus Gründen der Übersichtlichkeit generell in Fußnoten angegeben.

2       Berücksichtigung finden in dieser Arbeit Ereignisse und Entwicklungen bis Dezember 2013.

3       Sicherlich prägen gerade auch kulturelle Voraussetzungen den Rahmen wirtschaftlicher sowie wirtschaftspolitischer Entscheidungen. Ob allerdings bestimmte Kulturen per se bestimmte ökonomische Handlungsweisen hervorbringen, ist zumindest zweifelhaft und in den Sozialwissenschaften entsprechend umstritten. Vertreter der These eines direkten Zusammenhangs von Kultur und Wirtschaftsweise wie etwa Francis Fukuyama (1995; 2000), David Landes (1999; 2000) u.a. berufen sich dabei zumeist auf Max Weber. Der hatte allerdings gerade nicht in dieser Allgemeinheit behauptet, dass eine bestimmte Kultur auch eine bestimmte Form der Ökonomie bedinge. Stattdessen geht er in seiner „Protestantismus-These“ davon aus, dass die protestantische Ethik in Europa dem rationalistischen Kapitalismus unter ganz spezifischen historischen Bedingungen als Antrieb diente (Pohlmann 2004: 374f).

2. Forschungsansatz

2.1 Verortung der Arbeit in aktuellen Forschungsdebatten

Der sich insbesondere in ökonomischen Kategorien abzeichnende Aufstieg mehrerer Länder außerhalb Europas und Nordamerikas erfuhr in den vergangenen Jahren viel Aufmerksamkeit. Begriffe wie Emerging Powers, Emerging Economies, Emerging Market Countries sowie – nicht ganz so häufig anzutreffen – Emerging Societies, bei denen die Betonung jeweils auf etwas anderen Aspekten liegt, sind in aller Munde (vgl. Mittelman 2013: 26; Schwengel 2009; Harris 2005). Verschiedene Disziplinen und Forschungsrichtungen befassen sich mit dieser Thematik und diskutieren sie aus unterschiedlicher Perspektive. Die vorliegende Arbeit schließt an mehrere dieser Diskussionsstränge an und positioniert sich an der Schnittstelle zwischen International Relations-Forschung, globaler Wissens- und Wissenschaftssoziologie sowie Entwicklungs- und Globalisierungssoziologie. Eine detaillierte Aufarbeitung der jeweiligen Forschungsstände in sämtlichen dieser – trotz ihrer thematischen Nähe nur lose miteinander verbundenen – Forschungsrichtungen kann an dieser Stelle nicht geleistet werden. Zumindest jedoch sollen hier die für diese Arbeit relevanten Forschungsdebatten angerissen und aktuelle Forschungstendenzen aufgezeigt werden.

Die Wirtschafts- und Finanzkrise, die 2008/09 von den USA ausgehend weltweit um sich griff, beschleunigte eine sich längst abzeichnende globale Machtverschiebung und ließ diese zugleich deutlicher zu Tage treten. Sie wurde somit zur „Krise des Übergangs“ (Boris/Schmalz 2009; Nuscheler/Messner 2010). Nach Robert Cox (in: Shouten 2009: 2) handelt es sich beim relativen Niedergang der USA im Verhältnis zum Rest der Welt sowie bei der Frage, wie die USA sich in einer Welt zurechtfinden, in der ihre Führungsrolle nicht mehr vorausgesetzt werden kann, um die derzeit größten Herausforderungen für die Forschung auf dem Feld der International Relations (IR). Wissenschaftler dieser Disziplin versuchen die aktuelle Weltlage in den Begriffen einer „multipolaren Weltordnung“4 (Renard 2009) oder einer „global bricolage“ (Mittelman 2013) zu erfassen und diskutieren die Wahrscheinlichkeit einer „hegemonic succession“ (Clarc 2011), wobei insbesondere China als ökonomisch und politisch stärkste der neuen Mächte in der Rolle eines potentiellen neuen Hegemon gesehen wird. Aus einer Weltsystem-Perspektive ließe sich darüber streiten, ob nun das Zentrum der globalen Wirtschaft nach etwa zweihundertjähriger Unterbrechung nach Asien zurückkehrt, wie André Gunder Frank (2005) argumentiert, oder ob stattdessen Immanuel Wallersteins (2006) Erwartung einer multipolaren Anarchie mit wilden ökonomischen Fluktuationen das wahrscheinlichere Szenario darstellt.

Aus soziologischer Perspektive sind unterdessen zwei weitere Debatten, die ebenfalls in dieser globalen Phase des Übergangs angestoßen wurden, von mindestens ebenso großer Bedeutung. Eine dieser Debatten befasst sich mit der vermeintlichen Universalität westlicher Weltdeutungskategorien. Der Aufstieg des globalen Südens hat die Vorstellung von einem unilinearen, für alle Länder gleichen Modernisierungspfad delegitimiert und den Blick auf verschiedene Kulturen, verschiedene Wertordnungen und verschiedene Entwicklungsmodelle gelenkt (u.a. Therborn 2010; Eisenstadt 2000). Die Anerkennung von Verschiedenheit hat dabei auch ein zunehmendes Interesse an der Wissensproduktion jenseits der wissenschaftlichen Zentren in den USA und Europa geweckt (u.a. Keim 2008; Connell 2007; Alatas 2006).5 Verschiedene Wissenskulturen und Wissenschaftstraditionen haben zwar historisch betrachtet stets in Kontakt gestanden, sich gegenseitig beeinflusst und sich somit keineswegs isoliert voneinander entwickelt.6 Nach zweihundert Jahren europäisch-amerikanischer Vorherrschaft jedoch, sind diese Kontakte in erheblichem Maße ungleich, und weltweite Wissenschaftstraditionen sind tief durchdrungen von westlichem Denken. Somit hat die Suche nach alternativen Epistemologien immer auch etwas Normatives, in einer Welt, in der Nordamerika, wie Michael Burawoy (2010: X) sagt, in den Sozialwissenschaften und darüber hinaus immer präsent ist.

Die andere durch den Aufstieg des globalen Südens angestoßene soziologische Debatte befasst sich mit der Gestalt einer globalen Sozialstruktur. Was damit gemeint ist, haben Jan Nederveen Pieterse und Boike Rehbein prägnant auf den Punkt gebracht:

„The simple question is do these changes mean better lives and emancipation for the world's poor majority, or something more mundane – middle classes seeking western life styles and consumption patterns, while offering vast new markets for western products and services and a gargantuan expansion of contemporary capitalism? Are emerging countries being annexed into the orbit of international capitalism, thus further extending the existing global inequality?“ (Nederveen Pieterse/Rehbein 2008: 703)

Der Aufstieg neuer Mächte ist zweifellos verbunden mit einer Verschiebung globaler Produktionsketten und damit auch mit einer Veränderung jeweils lokaler Arbeitsmärkte (Dicken 2004). Der Prozess der Urbanisierung ist weltweit vorangeschritten und die Migration hat zugenommen. Zugleich hat sich die Lebenserwartung in den vergangenen Jahren in weiten Teilen der Welt erhöht, wenn auch mit großen regionalen Unterschieden und einigen Ausnahmen (Debiel/Roth/Ulbert 2010: 15ff). Insgesamt sind sich Beobachter weitgehend einig darin, dass die absolute Armut in den vergangenen Jahren global gesunken, die Ungleichheit dagegen gewachsen ist (Rehbein/Schwengel 2008: 218). Über die tatsächlichen Lebensbedingungen der Menschen in verschiedenen Weltregionen, in verschiedenen Kulturen und politischen Systemen, in Städten und auf dem Land sagt dies freilich wenig aus.

Miteinander verbunden sind diese soziologischen Debatten in ihrer Auseinandersetzung mit einer Globalisierung nach Maßgabe des Westens, die im einen Fall zuvorderst verstanden wird als Vorherrschaft von Denkmustern und Wertmaßstäben, die ihren Ursprung in der europäischen Geschichte haben, im anderen Fall als konkrete Weltwirtschaftsordnung, die zu erheblicher sozialer Ungleichheit führt. In diesem Zusammenhang hat der Aufstieg staatlich gelenkter Wirtschaften im Süden, die sich nicht an die vermeintlich universellen Erfolgsrezepte des Westens hielten, zunächst eine gewisse Verwirrung hervorgerufen, insbesondere unter westlichen Wirtschaftseliten, die zum Ende des 20. Jahrhundert von einem anhaltenden Siegeszug von Privatkapital und Marktwirtschaft ausgingen (Harris 2009: 6). Als nach 2008 deutlich wurde, dass gerade diese Staatsökonomien vergleichsweise gut mit der Krise umzugehen wussten, wurde daher bisweilen von „Varieties of Postneoliberalism“ (Candeias 2011) gesprochen. Jerry Harris (2005; 2009) argumentiert dagegen, dass auch die staatlich gelenkten Ökonomien der Schwellenländer zuvorderst an globalen Produktionsketten und transnationalen Kapitalströmen ausgerichtet seien. Somit folgten sie der Entwicklungsstrategie einer neuen politischen und ökonomischen Elite, die er als Teil einer transnationalen Kapitalistenklasse betrachtet. Ähnlich argumentiert auch Colin Crouch (2011), der als entscheidende Akteure des Neoliberalismus die großen Konzerne sieht, die oftmals gerade nicht durch ihre Staatsferne, sondern durch ihre Staatsnähe gekennzeichnet seien. Dieser Verbindung sei es auch zuzuschreiben, dass die Krise die politischen Vertreter des globalen Neoliberalismus nicht geschwächt, sondern letztlich sogar gestärkt habe.

Diese Debatten bilden den Rahmen, in den auch die in ihrem Umfang schnell wachsende Forschungsliteratur zu einzelnen Ländern des Südens eingebunden ist. Beide in dieser Arbeit untersuchten Länder – China allerdings mehr als Brasilien – erregten in den vergangenen Jahren ein enormes Forschungsinteresse. Insbesondere die Charakterisierung der jeweiligen Wirtschafts- und Sozialordnungen und – gerade im Falle Chinas – deren Verortung in der globalen Wirtschaft nehmen dabei großen Raum ein. Die Historikerin Sabine Dabringhaus (2009) beschreibt die neueste Phase der chinesischen Entwicklung seit den 1990er Jahren als Übergang zum Kapitalismus, verweist jedoch zugleich auch auf zahlreiche Kontinuitäten, die sich als lange Linien durch Chinas Geschichte im 20. Jahrhundert ziehen. Die Spezifika der Verbindungen von Staat, Markt und Kultur, die das chinesische Entwicklungsmodell seit der Öffnung für den Weltmarkt ausmachen, wurden vielfach und aus unterschiedlichen disziplinären Perspektiven analysiert (u.a. Song/Golley 2011; Fewsmith 2010; Naughton 2010; 2007: 391; Cho 2005). Optimistischen Einschätzungen, die die Innovationskraft Chinas hervorheben (u.a. Seitz 2006), stehen dabei Studien gegenüber, die die negativen Folgen des Booms und das Elend der unteren Schichten betonen (u.a. He 2006). Darüber hinaus fand auch die chinesische Außenpolitik in den vergangenen Jahren große Beachtung. Zahlreiche neue Studien untersuchten zuvorderst das Verhältnis des Landes zu den USA, Europa und den Nachbarstaaten in Ost- und Südostasien und erörterten die generellen außenpolitischen Erwägungen der chinesischen Führung (Schmidt/Heilmann 2012; 2009; Cooney/Sato 2009; Wang/Zheng 2008; Lantaigne 2008; Johnston/Ross 2006; Zhao 2004). Zudem widmeten sich in den vergangenen Jahren vermehrt Wissenschaftler speziell Süd-Süd-Beziehungen. Insbesondere die chinesisch-afrikanischen Beziehungen erregten ein großes mediales Aufsehen und ein dementsprechend großes Forschungsinteresse (Brautigam 2009; Li 2007; He 2007). Die Beziehungen Chinas zu Lateinamerika und speziell zu Brasilien fanden demgegenüber zunächst vergleichsweise wenig Beachtung.

Im Falle Brasiliens rückte in den vergangenen Jahren insbesondere die Frage nach Kontinuität und Wandel in der Abfolge verschiedener Regierungen in den Vordergrund. Das Wirtschaftsmodell des Landes war bis in die 1980er Jahre hinein geprägt von einer Politik staatlich forcierter Entwicklung und importsubstituierender Industrialisierung, bevor es schließlich in der Phase neoliberaler Hegemonie für die Welt- und Finanzmärkte geöffnet wurde. Bei der Betrachtung der Politik der seit 2002 regierenden Arbeiterpartei wird nun von verschiedenen Wissenschaftlern je nach Perspektive eine Rückkehr zum Entwicklungsstaat betont (Schmalz 2012; 2008a; 2008b; Diniz/Bresser-Pereira 2012; De Almeida 2010), oder eine wirtschaftsliberale Kontinuität hervorgehoben, die sich insbesondere in der Beibehaltung einer orthodoxen Finanzpolitik äußere (Carrasco/Williams 2012; Rocha 2010; Roett 2011; Abreu/Werneck 2008). Ein die verschiedenen Phasen überdauerndes Phänomen ist dabei eine soziale Ungleichheit, die zu den höchsten weltweit zählt. In diesem Zusammenhang machen zahlreiche Analysen auf die gesellschaftlichen Verwerfungen aufmerksam, die als Erbe von Jahrhunderten des Kolonialismus sowie des transatlantischen Sklavenhandels nachwirken und die brasilianische Gesellschaft noch immer prägen (u.a. Burity 2008; Do Valle Silva 2008; Costa 2007; Souza 2006). In den nicht ganz so zahlreichen Untersuchungen zu den Außenbeziehungen Brasiliens dagegen kommt unterdessen neben den USA insbesondere auch China als inzwischen wichtigstem ökonomischem Partner eine bedeutende Rolle zu (De la Fontaine 2012; Schmalz 2008a; Valls Pereira 2011).

Erst jüngst, mit der zunehmenden bilateralen Kooperation sowie der politischen Kooperation in multilateralen Zusammenschlüssen wie dem der BRICS, hat sich auch die Aufmerksamkeit für die chinesisch-brasilianischen Beziehungen etwas erhöht. Viele der bisher erschienenen Forschungen konzentrieren sich dabei auf den Aspekt der ungleichen Wirtschaftsbeziehungen (Ferchen 2011; Ellis 2009) oder die geostrategische Konkurrenz zwischen China und den USA in Lateinamerika (Roett/Paz 2008). Darüber hinaus wurden zuletzt insbesondere von Think Tanks wie etwa dem BRICS Policy Center in Rio de Janeiro (BPC 2013), dem BRICS Information Center in Toronto (Kirton/Bracht/Kulik 2013) oder dem South African Institute of International Affairs in Johannesburg (Singh/Dube 2013; Stuenkel 2012a) vermehrt Studien zum gemeinsamen Agieren der neuen Mächte auf globaler Ebene vorgelegt. Die von IR-Forschern vorgenommenen Analysen bilateraler wie multilateraler Süd-Süd-Kooperation gehen dabei in der Regel von den Interessen der Emerging Powers aus und betrachten diese als gegeben. Dagegen ist es das Ziel der vorliegenden Arbeit, gerade die Zusammenhänge von konfliktreichen innerstaatlichen Entwicklungen, globalem Wissens- und Gedankenaustausch und der Positionierung von Staaten auf internationaler Ebene miteinander in Verbindung zu bringen, um eine neue Perspektive auf ein zentrales Thema unserer Zeit zu entwickeln: der Umgestaltung der Welt durch den Aufstieg neuer Mächte im Süden.

2.2 Verwendete Begrifflichkeit und theoretische Schlüsselkonzepte

Den Ausgangspunkt der Untersuchung bildet der Eurozentrismus bzw. europäische Universalismus. Dieser ist als Denkform losgelöst von einem geographischen oder politischen Europa zu betrachten. Es handelt sich dabei gewissermaßen um ein Gesellschaftsbild, das auf Werten aufbaut, die gleichsam als charakteristisch für westliche Gesellschaften und als universell gültig betrachtet werden. Gerhard Hauck charakterisiert den spezifischen Eurozentrismus der Gegenwart in Abgrenzung zu anderen, in nichtwestlichen Gesellschaften vorkommenden Ethnozentrismen insbesondere dadurch,

„dass er zum einen die Überlegenheit der eigenen Lebensform inhaltlich begründet sieht in einer – instrumentalistisch verstandenen – wissenschaftlichen Vernunft und dass er zum anderen sowohl den Willen als auch die Machtmittel entwickelt hat, die ganze Welt nicht nur zu unterwerfen sondern nach seinem Bilde zu formen.“ (Hauck 2003: 14)

Abweichungen vom westlichen Modell werden in diesem Denkmuster entsprechend als zu behebende Defizite erachtet. Immanuel Wallerstein hat dies genauer ausgeführt und unterscheidet drei „Spielarten“ europäischer Berufung auf den Universalismus:

„Die erste besteht in dem Argument, die Führer der pan-europäischen Welt verteidigten in ihrem politischen Handeln die ‘Menschenrechte’ und förderten die Ausbreitung der so genannten ‘Demokratie’. Die zweite spricht vom ‘Kampf der Kulturen’, wobei man stets annimmt, die ‘westliche’ Zivilisation sei den ‘anderen’ Zivilisationen überlegen, da sie die einzige sei, die sich auf die genannten universellen Werte und Wahrheiten stütze. Die dritte Spielart schließlich ist die Annahme einer wissenschaftlich erwiesenen Überlegenheit des Marktes, das Konzept, Regierungen hätten ‘keine andere Alternative’ als die Gesetze der neoliberalen Wirtschaft zu akzeptieren und dementsprechend zu handeln.“ (Wallerstein 2007: 7f)

Dieser europäische Universalismus ist verwurzelt im klassischen westlichen Modernisierungsdenken, das jedoch in den vergangenen Jahren auch im westlichen sozialwissenschaftlichen Mainstream zunehmend auf Kritik stieß (van der Loo /van Reijen 1996: 19). Theoretiker der Multiplen Moderne (Eisenstadt 2000) versuchten zu zeigen, dass eine Ausbreitung von Moderne nicht zwangsweise eine Anpassung an die westliche Gesellschaftsordnung verlangt, sondern in verschiedenen Kulturen unterschiedliche Ausprägungen annehmen kann. Kritiker des Orientalismus (Said 1994) bemühten sich dagegen, ebenso wie die auf diese aufbauenden Theoretiker der Verwobenen Moderne (Therborn 2010; Randeria 2004), den Gegensatz zwischen westlichen „modernen Gesellschaften“ und nichtwestlichen „traditionellen Gesellschaften“ zu dekonstruieren und die Moderne als Produkt gemeinsamer Entwicklungen herauszustellen. Theoretiker der Pluralen Kapitalismen (Hefner 1998; Nederveen Pieterse 2008) schließlich versuchten zu zeigen, dass es entgegen der neoliberalen Wirtschaftslehre nicht nur einen „echten“ Kapitalismus gibt, der durch einen kompletten Rückzug des Staates aus der Ökonomie gekennzeichnet ist, sondern dass auf globaler Ebene unterschiedlichste kapitalistische Ordnungssysteme erfolgreich miteinander konkurrieren.

Ein erheblicher Anteil der sozialwissenschaftlichen Kritik an europäischuniversalistischen Denkweisen wurde durch den nur schwer mit eurozentrischen Erklärungsmustern zu fassenden Aufstieg von Schwellenländern des globalen Südens angestoßen (Schwengel 2009: 220). Die Begriffe Norden und Süden werden allerdings mitunter unterschiedlich verwendet und sind daher erklärungsbedürftig. In dieser Arbeit bezeichnet der Begriff des Nordens die Staaten im materiell wohlhabenden Nordatlantikraum. In der Literatur wird der Begriff in der Regel im entwicklungspolitischen Kontext verwendet. Der Begriff des Westens, der für dieselbe geographische Region steht, wird dagegen in der Regel im geopolitischen oder im kulturellen Kontext verwendet (Garton Ash 2004: 201). Bezüglich der dieser Arbeit zugrunde liegenden Fragestellung lassen sich diese Bereiche jedoch kaum voneinander trennen, weshalb die Begriffe Westen und Norden weitgehend synonym verwendet werden. 7

Vor dem Hintergrund der Ost-West-Polarisierung des Kalten Krieges wurde schließlich auch der Begriff des Südens geprägt. Die Länder der Blockfreien-Bewegung, die 1955 auf der Bandung-Konferenz ins Leben gerufen wurde, bezeichneten sich selbst als „Dritte Welt“ und verstanden diesen Begriff zunächst im geopolitischen Kontext dieser Zeit.8 Es war Frantz Fanon, der die Dritte Welt 1961 in seiner Schrift Die Verdammten dieser Erde mit der kolonisierten und unterentwickelten Welt gleichsetzte und dem Begriff damit seine doppelte Bedeutung gab. Da die so verstandene Dritte Welt mit wenigen Ausnahmen südlich der reichen Industriestaaten lag, verstanden sich ihre Vertreter insbesondere seit den 1970er Jahren auch als Vertreter des Südens. Der Begriff wurde von seinen Schöpfern somit von Anfang an nicht wörtlich in einem rein geographischen Sinne, sondern vor allem in einem politischen Sinne verstanden. Norden und Süden sind daher im entwicklungssoziologischen Kontext hoch ideologisch aufgeladene Begriffe, beschreiben sie doch eine Aufteilung der Erde nach den Kriterien von Reichtum und Armut. Die 1964 als Interessenvertretung des Südens gegründete G77 schuf schließlich mit ihrer Forderung nach einer umfassenden „Neuen Weltwirtschaftsordnung“9 den zentralen Kampfbegriff der Nord-Süd-Beziehungen (Dirlik 2007: 12f; Nuscheler 2006:123).

Bereits damals wurde von Entwicklungstheoretikern, etwa im Rahmen der Dependenztheorie, auch eine Intensivierung der Entwicklungszusammenarbeit innerhalb des Südens gefordert.

„Development scholars [...] began to place greater value on familiarity with the local context (‘indigenous knowledge’) and political affinity (kinship with the former colonized as opposed to the former colonizers). As developing countries incorporated this new perspective into their international cooperation activities, they began to actively construct an alternative political space where affinity supplemented authority as a source of legitimacy for development knowledge.“ (Abdenur 2002: 65)

Die Vorstellung eines globalen Südens als politisches Projekt verdeckte dabei jedoch den Blick darauf, dass der Süden als geographische Region schon damals äußerst heterogen war (Nuscheler 2006: 21). Die Spaltung der Entwicklungsländer vertiefte sich in den 1980er Jahren weiter. In internationalen Verhandlungen wie etwa in den Verhandlungsrunden zum Allgemeinen Zoll- und Handelsabkommen (GATT) schlossen sich ihre Vertreter je nach Interessenlage unterschiedlichen Bündnissen mit Partnern aus Süden und Norden an, während viele Regierungen zugleich aufgrund hoher Verschuldung und ökonomischer Abhängigkeit anfällig für politische Vorgaben aus dem Norden wurden (Schmalz 2008a: 142). Die grundsätzliche Brauchbarkeit einer Nord-Süd-Unterscheidung wurde dann in den 1990er Jahren durch das Aufkommen des Globalisierungsdiskurses zunehmend in Frage gestellt.10 Dabei rückten die gegenseitige Durchdringung von Norden und Süden sowie die Durchbrechung der Abgrenzungen durch Netzwerke verschiedenster Art ins Zentrum der Aufmerksamkeit (Dirlik 2007: 15).

Dennoch wird eine Zugehörigkeit zum Süden in entsprechenden Staaten bisweilen nach wie vor als Teil der jeweiligen Identität verstanden. So erklärt ein Wissenschaftler am Institut of World Economics and Politics an der Chinese Academy of Social Sciences:

„We usually think those South countries, including China, share the common experience, such as colony, imperialism, and we were being governed, not governors in the world affairs. So we share the common experience and some common ideology.“ (Int.Ch8: 1)11

Gerade die politischen Vertreter Chinas und Brasiliens präsentieren sich als Vertreter des Südens und machen ausgiebig von einer entsprechenden Rhetorik der Gleichheit Gebrauch, wie eine Forscherin am BRICS Policy Center in Rio de Janeiro, ausführt:

„I think what’s interesting about them [the categories ‘North’ and ‘South’] is how they get co-opted by these actors, including China. So, for instance, if we look at the relationship between China and Africa, or even between China and Brazil, we see that especially over the last 15 years, there is a huge asymmetry, right? It’s not horizontal by any means. Just like Brazil and Africa, it’s also not horizontal, despite the discourse. But one of the things that China and Brazil they both do – you see an interesting parallel in the discourse of South-South cooperation – is that they insist on their identity as developing countries. It used to be more ‘Third World’, now it is ‘Southern partners’. And this is necessary not only for bilateral relations but it also helps in some multilateral settings, especially the informal coalitions such as the BRICS where Russia doesn’t like to call itself developing country, but China uses this rhetoric very explicitly as a basis for solidarity. That’s the discourse.“ (Int.Br5: 2)

In den Sozialwissenschaften wird der Begriff des Südens unterdessen häufig in einer von konkreter praktischer Politik abstrahierenden Bedeutung verwendet. Von Theoretikern des Postkolonialismus etwa wird er mitunter genutzt als „a metaphor for the global periphery and for an alternative epistemology of counterglobalization“ (Boatcă et al 2010: 9), „a metaphor of human suffering caused by capitalism“ (Sousa Santos 2010: 227) oder auch als „another way of looking at the world that is not obsessed with progress and competition“ (Cassano 2010: 214). Der Süden wird dabei zum Antagonisten des neoliberalen europäischen Universalismus. Das Problem an einer derartigen Konzeption ist jedoch, dass die Verbindung dieser alternativen Epistemologie zu den tatsächlichen Gesellschaften im geographischen Süden, zu ihren Wirtschafts- und Sozialordnungen, ihren inneren Verschiedenheiten und Konflikten und der von ihren Vertretern betriebenen konkreten Politik völlig unbestimmt bleibt. Die in dieser Arbeit verwendete Konzeption von Norden und Süden stützt sich daher stattdessen auf eine analytische Trennung verschiedener globaler Konfliktlinien, wie sie auch von Immanuel Wallerstein (2003/2004a/2004b/2005) verwendet wird.

Wallerstein betrachtet den Nord-Süd-Konflikt als einen Verteilungskonflikt zwischen den reichen Staaten des Nordens auf der einen und den Entwicklungsund Schwellenländern auf der anderen Seite.12 Gleichzeitig sieht er einen zweiten für die Zukunft der Weltordnung bedeutsamen Konflikt zwischen einem „Geist von Davos“ und einem „Geist von Porto Alegre“. Der „Geist von Davos“, benannt nach dem Tagungsort des Weltwirtschaftsforums, entspricht dabei als neoliberales Hegemonialprojekt der neuesten Spielart des europäischen Universalismus. Es ist die Überzeugung von der wissenschaftlich erwiesenen Überlegenheit des Marktes gegenüber anderen gesellschaftlichen Organisationsprinzipien.13 Verschiedene kulturelle Wertvorstellungen sind damit prinzipiell vereinbar, solange sich diese mit den Prinzipien einer Marktgesellschaft, mit Wettbewerb, Effizienzsteigerung und materiellem Wachstum, in Einklang bringen lassen. So handelt es sich dabei laut Wallerstein (2007: 89) um die subtilste Form der Rechtfertigung des europäischen Universalismus, da er dabei als kulturell neutral dargestellt wird, indem eine Einbettung der Wissenschaft in kulturelle Zusammenhänge geleugnet wird.

„Das Konzept einer Wissenschaft außerhalb der ‘Kultur’, die in gewissem Sinn wichtiger als Kultur sei, wurde zur letzten Domäne, in der die Machtverteilung in der modernen Welt als legitim gerechtfertigt wurde.“ (Ebd. 2007: 89)

Die Anerkennung kultureller Verschiedenheit und ein angeblich differenzierter Umgang damit bedeuten demzufolge noch nicht das Ende des europäischen Universalismus, solange die Epistemologie der „Instrumentellen Vernunft“ und in ihrer Folge eine Marktlogik als gesellschaftliches Ordnungs- und Organisationsprinzip trotz Einbettung in kulturelle Zusammenhänge im Kern weiterhin als alternativlos gilt.

Der „Geist von Porto Alegre“, benannt nach dem ursprünglichen Veranstaltungsort des Weltsozialforums, steht entsprechend für den Widerstand gegen diese Ideologie. Der von Wallerstein beschriebene Konflikt zwischen einem „Geist von Davos“ und einem „Geist von Porto Alegre“, der sowohl global als auch lokal ausgefochten wird, wurde dementsprechend vielfach als ein Konflikt zwischen Kapitalismus und Sozialismus interpretiert. Nederveen Pieterse (2009) weist zwar zu Recht darauf hin, dass die Vorstellung von einem dichotomen globalen Konflikt zwischen Kapitalismus und Sozialismus überholt sei. Die von ihm stattdessen vorgenommene Unterscheidung zwischen verschiedenen Varianten des Kapitalismus, d.h. zwischen einer neoliberalen und verschiedenen potentiell nachhaltigeren und sozial ausgewogeneren Varianten, greift dabei jedoch insofern zu kurz, als dabei nicht weiter unterschieden wird zwischen Alternativen zu einem neoliberalen Kapitalismus, in denen die neoliberale Marktutopie lediglich kulturell eingebettet bzw. sozialpolitisch entschärft wird und weitergehenden Alternativen, die auf anderen epistemologischen Grundlagen beruhen.14 Im Anschluss an David Harvey (2007: 246) stellt sich dabei die Frage, ob mit dem Aufstieg des Südens in der neuesten Phase der Globalisierung ein politischer Prozess in Gang gekommen ist, „der uns an den Punkt führen kann, an dem wir machbare Alternativen, also reale Möglichkeiten überhaupt erst identifizieren können.“

Die analytische Unterscheidung zwischen einem Nord-Süd-Antagonismus, verstanden in der Begrifflichkeit eines globalen Macht- und Wohlstandsungleichgewichts zwischen Staaten, und einem epistemischen Antagonismus, verstanden als Gegenüberstellung eines europäischen Universalismus und alternativen politökonomischen Ordnungsvorstellungen, geht einher mit der Unterscheidung zweier verschiedener Konzeptionen des Begriffs der Hegemonie. Wenn also von Vertretern des Südens die Hegemonie des Nordens kritisiert wird, muss daher auch das dieser Kritik zugrunde liegenden Konzept von Hegemonie hinterfragt werden. Der im wallersteinschen Sinne verstandene Nord-Süd-Antagonismus beruht auf einem geopolitischen Hegemonie-Begriff, wie er in der IR-Forschung auch in den Theorien des Realismus und Neorealismus verwendet wird. Hegemonie bedeutet hier die Dominanz eines Staates, gemessen insbesondere in den Kategorien militärischer und – in diesem Falle entscheidender – ökonomischer Macht (Jacobitz 1991).15 Dem Konflikt zwischen dem „Geist von Davos“ und dem „Geist von Porto Alegre“ liegt dagegen ein auf Antonio Gramsci zurückgehender epistemischer Hegemonie-Begriff zugrunde. Die Hegemonie neoliberalen Denkens geht demnach einher mit der „Fähigkeit der herrschenden Klasse, eine konsensuale Basis in der Gesellschaft für das ökonomische und politische System herzustellen und aufrechtzuerhalten“ (Jacobitz 1991:12) und dadurch ihre „partikularen Interessen zu ‘universalisieren’“ (Scherrer 2003: 91).

Die Einführung des Hegemonie-Begriffs nach Gramsci in die Theoriebildung zu Internationalen Beziehungen geht zurück auf Robert Cox. Wissenschaftliche Theorien, so argumentiert Cox, sind nicht neutral:

„Theory is always for someone and for some purpose. […] There is, accordingly, no such thing as theory in itself, divorced from a standpoint in time and space. When any theory so represents itself, it is the more important to examine it as ideology, and to lay bare its concealed perspective.“ (Cox 1981: 128)

Dementsprechend, so führen Amitav Acharya und Barry Buzan (2010) aus, sprächen aus einer coxschen Perspektive die Theorien des wirtschaftlichen Liberalismus für die Interessen des Kapitals, die Theorien des Realismus dagegen für den Statuserhalt großer Mächte. Beide Theoriestränge, so folgern sie, dienten unter diesem Blickwinkel betrachtet insbesondere der Wahrung von Wohlstand und Macht des Westens. Schließlich hat Stanley Hoffmann bereits 1977 festgestellt, dass es sich bei der wissenschaftlichen Disziplin der International Relations, der Disziplin also, die sich zuvorderst mit globalen Machtkonstellationen auseinandersetzt, um eine durch und durch amerikanische Sozialwissenschaft handle.16

Cox (1983) beschreibt nun Welthegemonie gewissermaßen als eine Kombination aus einer gegebenen Ordnung zwischen den Staaten – dies entspricht nach Wallerstein der Dominanz des Nordens über den Süden – und einem damit zusammenhängenden politökonomischen Konsens – entsprechend der Dominanz des „Geist von Davos“ über den „Geist von Porto-Alegre.“17 Dass beide Konfliktlinien in einem – zunächst nicht näher erklärten – Zusammenhang stehen, merkt auch Wallerstein an. Die Frage nach der Bedeutung des Aufstiegs und der Kooperation von Staaten des globalen Südens für die globale Ordnung erfordert jedoch zunächst eine klare analytische Trennung. Während die zunehmende Kooperation der Emerging Powers den Wandel der globalen Machtstruktur immer offensichtlicher erscheinen lässt, bleibt die Frage nach der Bedeutung dieses Wandels in den Begriffen einer Auseinandersetzung zwischen dem „Geist von Davos“ und dem „Geist von Porto Alegre“. Da jedoch die Weltwirtschaft nicht global homogen ist, sondern vielmehr als Netzwerk die auf unterschiedlichen nationalen Konfigurationen und Soziokulturen beruhenden nationalen Kapitalismen überlagert (Rehbein 2012: 181f), muss diese Frage darüber hinaus differenziert gestellt werden. So ist nicht nur zwischen geopolitischer und epistemischer Hegemonie zu unterscheiden, sondern jeweils auch zwischen innergesellschaftlichen und globalen Aspekten dieser Hegemonie.

2.3 Methodisches Vorgehen

Ziel dieser Studie ist die Erarbeitung und Anwendung eines Analyserahmens, der eine neue Perspektive auf Ereignisse von globaler Bedeutung ermöglicht. Es handelt sich dabei also um einen makrosoziologischen Ansatz, der sich als solcher auf eine umfangreiche Basis aus Datenmaterial und Sekundärliteratur stützen kann. Die Herausbildung gesellschaftlicher, politischer und ökonomischer Strukturen in der Auseinandersetzung mit der Hegemonie europäischer Denkmuster wird dabei auf verschiedenen gesellschaftlichen Feldern jeweils soweit in die Vergangenheit zurückverfolgt, wie es für die Argumentation als notwendig erscheint. Es geht dabei jedoch gerade nicht darum, alle Prozesse in den betrachteten Ländern durch ein einziges Prinzip – die Durchsetzung des europäischen Universalismus – zu erklären, sondern vielmehr umgekehrt darum, zu ergründen, inwiefern sich tatsächlich Auswirkungen dieses einen Prinzips auf unterschiedlichen gesellschaftlichen Feldern in den untersuchten Ländern zeigen lassen. Es handelt sich dabei um einen aus der historisch-vergleichenden Soziologie entlehnten Ansatz, den Charles Tilly (1984: 81ff) als „variation-finding“ bezeichnete, wobei die parallele Analyse zweier Gesellschaften hier durch eine Beziehungsgeschichte ergänzt wird. Diese Arbeit ist dabei in zweierlei Sinne historisch: Zum einen im Sinne Foucaults (1994: 43) als „Geschichte der Gegenwart“. Im Zentrum der Arbeit stehen sich gegenwärtig vollziehende Prozesse. Der derzeitige Aufstieg des Südens soll dabei jedoch in seiner historischen Konstitution erklärt werden. Zum anderen ist diese Arbeit historisch im Sinne von Cox, der unter einem historischen Zugang zur Gegenwart zuvorderst eine holistische Betrachtungsweise versteht.

„History for me is not a sequence of events but a holistic way of thinking about the world. The current academic fashion breaks the world down into politics, economics, anthropology and so forth. A historical outlook means taking things occurring within a historical context all together. Yet this is very demanding, because one person can hardly accomplish such a view. But one person can at least have an approach that says that everything must be understood.“ (Zitiert in Schouten 2009: 5)

Der äußerst umfangreiche Untersuchungsgegenstand legt hier ein Anknüpfen an Perspektiven, Konzepte und Ansätze unterschiedlicher Forschungsrichtungen und Theorietraditionen nahe. Verschiedene Theorien sind dabei nicht als „Gesamttheorien“ von Interesse, sondern vielmehr als „Werkzeugkästen“ im Sinne Foucaults (1976: 53), die Mittel bereitstellen, die im Einzelnen angewandt werden können, um bestimmte Sachverhalte zu analysieren. So erfordert beispielsweise ein Rückgriff auf Wallersteins Analyse des europäischen Universalismus nicht notwendigerweise, dass seine komplette Weltsystemtheorie mit all ihren Implikationen akzeptiert, oder dass seine Suche nach einem „universellen Universalismus“ (2007: 8) geteilt wird. Die Versatzstücke unterschiedlicher Theorien dienen letztlich dazu, sich dem untersuchten Gegenstand von verschiedenen Seiten zu nähern. Das Datenmaterial, auf das sich diese Arbeit stützt, besteht dabei einerseits aus schriftlichen Daten – Forschungsliteratur zu einzelnen Aspekten des Forschungsthemas, aktuelle Medienberichte zu gegenwärtigen Geschehnissen in den untersuchten Ländern, öffentlich zugängliche statistische Daten zu sozialen und ökonomischen Entwicklungen sowie politische Erklärungen und Dokumente – und andererseits aus Interviewmaterial, das in China und Brasilien erhoben wurde.

2.3.1 Literatur-, Medien-, Dokumenten- und Datenanalyse

Forschungsliteratur zu China und Brasilien im Allgemeinen sowie zu unterschiedlichen Aspekten und Teilbereichen der Entwicklung in beiden Ländern ist jeweils in großem Umfang vorhanden. Die Grundlage dieser Arbeit bildet daher eine Analyse der Befunde entwicklungs- und wissenschaftssoziologischer, historischer, politologischer und ökonomischer Forschungsliteratur zu beiden Ländern im Hinblick auf die in dieser Arbeit verfolgte Fragestellung. Bei der Analyse derartiger Literatur gilt es jedoch zu jeder Zeit zu bedenken, dass man hier als Forscher „nicht auf Rohmaterial zur komparativen Verwendung, sondern zuallererst auf bereits gedeutete Geschichte, auf Geschichtsschreibung“ trifft (Conrad/Conrad 2002: 11). Die parallele Analyse zweier sehr unterschiedlicher Fälle machte dabei im Verlauf der Forschung immer wieder die „Blindflecken der jeweiligen Fachliteraturen“ (Welskopp 2010) deutlich und dadurch zugleich aufwendige Recherchearbeit notwendig.

Um neuere – insbesondere politische – Entwicklungen abzubilden, wurden zusätzlich Medienberichte im Zusammenhang mit dem Forschungsthema herangezogen. Diese dienten zuvorderst zur Informationsbeschaffung, wobei dieselben blinden Flecke zu beachten waren, wie auch bei der Forschungsliteratur. Zeitungskommentare dagegen, etwa im Falle der chinesischen Parteizeitungen, dienten darüber hinaus als Quellenmaterial zur Verdeutlichung von Weltanschauungen. Unter diesem Hinblick wurden auch offizielle politische Dokumente und Erklärungen analysiert. Von besonderer Relevanz für das Forschungsthema waren dabei etwa die Abschlusskommuniqués der BRICS- und der G20-Gipfeltreffen. Diese wurden mit Blick auf den darin jeweils vertretenen Umgang mit den in dieser Arbeit verwendeten Konzeptionen der Hegemonie des Nordens – der geopolitischen und der epistemischen Hegemonie – ausgewertet. Quantitativ messbare Indikatoren einer sich verändernden Globalisierung, die gewissermaßen den Hintergrund für die Analyse all dieser Daten darstellen, lieferten schließlich öffentlich zugängliche statistische Sammlungen. Diese stehen zuhauf zur Verfügung, etwa in den jährlich erscheinenden World Development Reports der Weltbank, den ebenfalls jährlich erscheinenden Trade and Development Reports der UNCTAD und vergleichbaren Publikationen anderer internationaler Organisationen.

2.3.2 Explorative Interviews

Neben schriftlichen Daten unterschiedlicher Art stützt sich diese Arbeit auch auf Experteninterviews mit Wissenschaftlern und Politikberatern verschiedener Institutionen und Fachrichtungen, die im November/Dezember 2011 in China sowie im November/Dezember 2012 in Brasilien durchgeführt wurden18. Die Interviews in China wurden an der School of International Studies an der Universität Peking, am Institute of Latin American Studies an der Chinese Academy of Social Sciences (CASS), am ebenfalls der CASS angehörenden Institute of World Economics and Politics und am Chinese Institute of International Studies durchgeführt. Die Interviews in Brasilien wurden am Instituto de Filosofia e Ciências Humanas an der Universität des Staats Rio de Janeiro, am Departmento de Ciência Política an der Universität des Bundes in Rio de Janeiro, am Brazilian Institute of Economics der Getúlio Vargas Foundation und am BRICS Policy Center durchgeführt. Es handelte sich bei den interviewten Personen um IR-Forscher, Ökonomen und Historiker. Einzelne der Personen wünschten, nicht namentlich zitiert zu werden. Da die Relevanz der interviewten Personen für die vorliegende Arbeit in ihrer Funktion und Expertise und nicht in ihrer Biographie begründet liegt, stellt eine Anonymisierung keinen Verlust relevanter Information dar. Interviewaussagen werden daher in dieser Arbeit generell anonymisiert widergegeben.

Die Interviews waren nur gering vorstrukturiert und richteten sich dabei in erster Linie nach der jeweiligen Position und Expertise der Gesprächspartner. Als „explorative Interviews“ nach Bogner/Menz (2009: 64) dienten sie insbesondere zur Strukturierung des Untersuchungsgebiets sowie des Forschungsmaterials. So gaben die interviewten Personen Einblicke in die zentralen derzeitigen Forschungsdebatten ihrer jeweiligen Disziplinen in ihren Ländern. Diese wurden insbesondere zur Verortung der Forschungsliteratur und Debattenbeiträge aus diesen Ländern genutzt. Weiterhin diente eine Analyse der Aussagen von Personen unterschiedlicher Fachrichtungen und Länder anhand der auch für die Dokumentenanalyse verwendeten Unterscheidungen dazu, erste Hypothesen zu prüfen und weiterzuentwickeln. Die Interviews ermöglichten darüber hinaus – ebenso wie zahlreiche informelle Gespräche mit chinesischen und brasilianischen Wissenschaftlern während dieser Zeit – wertvolle Eindrücke vom Forschungsalltag an den besuchten Universitäten und Think Tanks.

Der Austausch mit Wissenschaftlern in China und Brasilien verhalf nicht nur zu einem besseren Blick auf jeweilige nationale Diskurse in den verschiedenen Forschungsdisziplinen, sondern bereicherte damit auch die eigene Perspektive auf den Untersuchungsgegenstand. Dennoch bleibt diese Arbeit als eine europäische Arbeit letztlich notwendigerweise in der europäischen Wissenschaftstradition verhaftet. Globale wie lokale Ereignisse werden aus einem europäischen Blickwinkel betrachtet. Dies hindert jedoch nicht daran, von Perspektiven des Südens zu lernen – nicht um diese Perspektiven selbst zu übernehmen, sondern um sie zu verstehen. So schreibt Rehbein (2012: 161): „Ein springender Punkt beim Verstehen ist gerade, dass man etwas Neues lernt, möglicherweise etwas, dem man nicht zustimmen kann. Verständigung bedeutet Anpassung, Verstehen bedeutet Lernen.“

2.4 China und Brasilien – Zum Problem des „methodologischen Nationalismus“

Es ist nicht das Ziel dieser Arbeit, Entwicklungen in China und Brasilien als repräsentativ für Entwicklungen im globalen Süden oder die Beziehungen zwischen beiden Staaten als repräsentativ für Süd-Süd-Beziehungen im Allgemeinen darzustellen. Vielmehr handelt es sich um spezifische Fallbeispiele. Die Frage, warum hierfür von den zahlreichen Staaten des Südens gerade die Emerging Powers China und Brasilien ausgewählt wurden, ist dabei schnell beantwortet. Erstens erlebten beide Länder in den vergangenen Jahren einen rasanten Aufstieg, entwickelten sich zu den größten Wirtschaftsmächten des Südens und zählen damit inzwischen auch zum Kreis der bedeutendsten Wirtschaftsmächte weltweit.19 Zweitens ist dieser Aufstieg in beiden Ländern mit Problemen, Konflikten und Diskussionen verbunden, die zwar einige Parallelen aufweisen, gleichzeitig aber in völlig verschiedene kulturelle und politische Rahmen eingebunden sind, was sowohl die Gegenüberstellung beider Länder als auch die Betrachtung ihrer bilateralen Beziehungen besonders reizvoll macht. Und drittens handelt es sich bei China und Brasilien um Staaten, deren Regierungen selbst vielfach auf die historische Rhetorik von „Norden“ und „Süden“ zurückgreifen und ihr internationales Agieren damit legitimieren.

Größerer Erklärungsbedarf besteht dagegen in der Frage, warum überhaupt Nationalstaaten im Zentrum dieser Arbeit stehen. Denn unter dem Begriff Emerging Power kann heutzutage, wie Schwengel ausführt, sehr vieles verstanden werden:

„Firstly, there are nation-states and societies as extended as continents and civilizations like India and China, associations of regional states as in Europe, South East Asia and South America, and all the varieties of reflexive territorialism between them. Secondly, there are networks of global firms and technology hubs, the nodes of capital markets and knowledge systems, constituting a new economic archaeology of power. There are thirdly those widespread media-, techno-, ideo-, religious, and cultural scapes Arjun Appadurai writes about, including the old and new ecumenical spheres, diasporic locations, and islands of meaning with their flows of images, text, sound, and artifacts. Last but not least, there are global cities no longer defined only by financial headquarters, historical functions, and home for the creative classes, but by their participation in the permanent struggle for centrality […] in the global landscape of power.“ (Schwengel 2008: 768)

Schwengels Einwand schärft das Bewusstsein dafür, dass Staaten längst nicht mehr die einzigen einflussreichen Akteure auf globaler Ebene sind. Ein Festhalten an Nationalstaaten als Analyseobjekte bedeutet folglich, einen spezifischen Ausschnitt aus einem Geflecht von Akteuren und Beziehungen in den Mittelpunkt der Untersuchung zu stellen. Dabei muss im Blick behalten werden, dass die untersuchten Staaten zum einen nicht nur mit anderen Staaten sondern auf unterschiedlichste Weise auch mit all den anderen Akteuren in Beziehung stehen und zum anderen, dass sie selbst auch im Inneren keineswegs homogen sind, sondern ebenfalls aus einem Geflecht verschiedener Akteure mit unterschiedlichen Interessen bestehen.

Wie wichtig die Rolle von Staaten dabei relativ zu den Rollen anderer Akteure ist, ist umstritten. Michael Mann (1997) argumentiert jedoch überzeugend, dass keinesfalls pauschal von einem Ende des Siegeszuges des Nationalstaats durch die Globalisierung gesprochen werden kann. Stattdessen, so seine Beobachtung, wirken sich verschiedene Aspekte der Globalisierung nicht nur unterschiedlich auf verschiedene Funktionen des Staates aus, sie erfassen darüber hinaus auch verschiedene Staaten im Norden und im Süden auf sehr unterschiedliche Weise. So sind die „Phänomene […] zu unterschiedlich und widersprüchlich, die Zukunft zu unabwägbar, als daß es uns möglich wäre zu behaupten, der Nationalstaat und das System der Nationalstaaten würde entweder gestärkt oder geschwächt“ (ebd.: 140).

Anders als beim Blick auf Nationalstaaten stellt sich beim Blick auf Nationalgesellschaften dagegen nicht nur die Frage nach deren Bedeutung. Viel grundlegender stellt sich zunächst die Frage nach deren bloßer Existenz. Diese Frage wird längst nicht mehr zuvorderst zwischen Konstruktivisten und Primordialisten diskutiert. Spätestens seit Benedict Andersons (1998 [1983]) berühmtem Werk Die Erfindung der Nation hat sich die konstruktivistische Perspektive und somit die Erkenntnis, dass es sich bei Nationalgesellschaften um „vorgestellte Gemeinschaften“ handelt, durchgesetzt. Angesichts globaler Migrationsströme, transnational operierender Wirtschaftsunternehmen und einer sich beschleunigenden kulturellen Globalisierung stellt sich inzwischen vielmehr die Frage, ob diese Vorstellung der Nation heute noch wirkmächtig genug ist, um sinnvollerweise von Nationalgesellschaften zu sprechen. Niklas Luhmann (1975) und Rudolf Stichweh (2000) machten bereits die Weltgesellschaft zur Analyseeinheit. Ulrich Beck (2005) schließlich kritisiert einen in den Sozialwissenschaften nach wie vor vorherrschenden „methodologischen Nationalismus“, der dringend überwunden werden müsse, um zu einem angemessenen Verständnis gegenwärtiger sozialer Entwicklungen zu gelangen.

Gegen die Vorstellung einer Weltgesellschaft lässt sich mit Mann (1997: 140) einwenden, dass es sich bei menschlichen Gesellschaften immer um „multiple, sich überlappende und überkreuzende Interaktionsnetzwerke“ handelt, deren Verbindungen auch in der gegenwärtigen Phase der Globalisierung keinem singulären Prinzip unterliegen, sondern die Welt auf unterschiedliche Weise durchdringen.20 Ferner, so Franz Nuscheler und Veronika Wittmann, handelt es sich beim Diskurs über eine Weltgesellschaft um einen Diskurs des Nordens, der im Süden in Verdacht steht

„einem neuen imperialen Projekt und hegemonialen Diskurs Schützenhilfe zu leisten und das zu gefährden, was Unabhängigkeitsbewegungen erkämpft haben: die Souveränität von Nationalstaaten und die kulturelle Autonomie von nationalen Gesellschaften.“ (Nuscheler/Wittman 2010: 132)

Die Idee der Nation hat ihre identitätsstiftende Wirkung offenbar noch nicht ganz verloren, so unbestimmbar und durchlässig ihre Abgrenzungen heute auch sein mögen und so sehr sie auch mit anderen Quellen von Identität konkurriert. Die Kritik an einem „methodologischen Nationalismus“ ist damit allerdings keineswegs entkräftet. Tatsächlich ist Beck insofern zuzustimmen, dass eine Forschungsperspektive, die sich darauf beschränkt, soziale Gegebenheiten und Entwicklungen ausschließlich innerhalb eines nationalen Rahmens zu untersuchen, zentrale Probleme der Gegenwart nicht erfassen kann. Beck (2005) hat bei seiner Argumentation insbesondere die Sozialstruktur im Blick. Auf gleiche Weise lässt sich jedoch auch mit Blick auf die Produktion von Wissen argumentieren. So kritisiert etwa Nicolas Guilhot (2014), dass Produktion und Zirkulation von Wissen üblicherweise als zwei voneinander getrennte Schritte gedacht werden, von denen der erste notwendigerweise in einem nationalen Rahmen erfolge. Dass diese Vorstellung irreführend ist, zeigt er anhand einer Entstehungsgeschichte der sozialwissenschaftlichen Disziplin der International Relations, deren Protagonisten von unterschiedlicher Nationalität waren, dabei jedoch ähnliche Positionen innerhalb ihrer jeweiligen nationalen Forschungslandschaften innehatten und darüber hinaus gewisse ideologische Einschätzungen teilten. Guilhots Beispiel ist dabei eines, in dem vornehmlich US-amerikanische und französische Wissenschaftler gemeinsam eine Forschungsrichtung etablierten, die zu großen Teilen darauf beruhte, aus europäischen historischen Erfahrungen und Sichtweisen abstrakte Konzepte und Theorien herzuleiten (Guilhot 2014). Somit verdeutlicht das Bespiel auch, dass eine vom nationalen Rahmen losgelöste Wissensproduktion als solche keinesfalls notwendigerweise eine globale Wissensproduktion ist.

Gerade in der Annäherung an das Verhältnis von Nationalstaaten als Akteuren – China und Brasilien – zu transnationalen Strömungen – wissenschaftliche Theorien und gelebte Praxis – liegt das Forschungsinteresse dieser Arbeit. Nationalstaaten stellen dabei nicht nur nach wie vor einen großen Teil der materiellen Vorbedingungen der Wissensproduktion bereit. Sie sind auch, vertreten durch die jeweiligen Regierungen, Handelnde, die mit ihrer Politik das Geschehen in Wirtschaft und Gesellschaft lenken können und die sich auf internationaler Ebene positionieren. Entscheidend ist dabei jedoch die Frage, auf welchen Erkenntnissen, Erfahrungen und Wahrnehmungen, auf von wem mit welchem Interesse produziertem Wissen dieses Handeln und diese Positionierung beruhen.

4       Gerade der Begriff der „multipolaren Weltordnung“ findet sich inzwischen auch zunehmend in offiziellen Dokumenten (u.a. Saryusz-Wolski 2012).

5       Zur IR-Forschung außerhalb des Nordens sind insbesondere die von Tickner und Wæver (2009) sowie von Acharya und Buzan (2010) herausgegebenen Sammelbände maßgeblich. Zur Sozialwissenschaftlichen Tradition in Lateinamerika vgl. u.a. den von Beigel (2013) herausgegebenen Sammelband, zu Brasilien im Speziellen vgl. u.a. Schwartzmann und Balbachevsky (2010a; 2010b). Zu chinesischen Soziologie vgl. u.a. Schirmer (2004; 2006) sowie zur chinesischen Politikwissenschaft den von Guo (2013) herausgegebenen Sammelband.

6       Eine besonders interessante historische Arbeit, die die politischen Auseinandersetzungen zwischen Europa und Asien um 1900 mit einer asiatischen Ideengeschichte verbindet, lieferte der indische Historiker Pankaj Mishra (2013).

7       Die Staaten des Nordens bzw. Westens sind allerdings keineswegs homogen. Verschiedene Studien unterscheiden etwa bezüglich der nationalen Wirtschaftsordnungen zwischen einem angelsächsischen und einem rheinischen oder einem skandinavischen Kapitalismus (Hall/Gingerich 2004; 2009; Crouch 2009). Insbesondere nach dem Beginn des Irak-Krieges 2003 sprachen darüber hinaus vermehrt namhafte Intellektuelle wie Jaques Derrida und Jürgen Habermas (2004) von einem in die USA einerseits und Europa andererseits gespaltenen Westen. Zu den Merkmalen, die Europa von den USA unterscheiden, zählten sie u.a ein größeres Vertrauen in die Gestaltungskraft der Politik und damit einhergehend eine kritischere Betrachtung der Kräfte des „freien Marktes“; eine höhere Sensibilität für die Paradoxien und negativen Folgen des Fortschritts; ein aus der Tradition der Arbeiterbewegung stammendes Gefühl für soziale Gerechtigkeit, das die ideologische Grundlage für den Wohlfahrtsstaat europäischen Typs liefert; und schließlich die Überzeugung von der Notwendigkeit, die Möglichkeiten staatlicher Gewaltausübung durch globale Instanzen zu begrenzen. Eine entschiedene Gegenposition hierzu vertreten etwa die Soziologen Stefan Immerfall und Hermann Kurthen (2008: 7). Sie betrachten den Glauben an ein europäisches „Wertefundament der Harmonie und der sozialen Verträglichkeit im Kontrast zum amerikanischen Hegemonialkapitalismus“ als reine europäische Selbstgefälligkeit, die jeder Grundlage entbehrt.

8       Alfred Sauvy, der als einer der Ersten den Begriff verwendete, knüpfte damit auch an die Terminologie der Französischen Revolution an. Wie einst der Dritte Stand verkörpere nun die Dritte Welt die Masse der Bevölkerung, die sich jedoch ihren politischen Einfluss erst noch erkämpfen müsse (Lacouture 2005).

9       Zentral war dabei die Forderung nach mehr internationaler Gerechtigkeit. Es herrschte allerdings keine Einigkeit darüber, worin diese genau bestehen sollte. Je nach spezifischer Interessenlage konnte dies die Forderung nach mehr Entwicklungshilfe, nach besseren Rohstoffpreisen oder verbessertem Zugang zu den Märkten im Norden sein (Nuscheler 2006: 123). In zahlreichen Entwicklungsländern war die Innenpolitik zu dieser Zeit allerdings von Menschenrechtsverletzungen und ökonomischer Unterdrückung gekennzeichnet, was Forderungen nach einer gerechteren und menschlicheren neuen Weltwirtschaftsordnung oftmals heuchlerisch erscheinen ließ (Carrasco/Williams 2012: 41).

10     In diesem Zusammenhang ist auch das Ende des Ost-West-Konflikts bedeutsam. Ulrich Menzel (1992: 8f) verweist darauf, dass der Nord-Süd-Konflikt ohne seine Ost-West-Dimension, d.h. ohne durch Systemkonkurrenz motivierte Entwicklungshilfe sowie im Süden ausgetragene Stellvertreterkriege, nicht seine große Bedeutung hätte erlangen können.

12     Die Zuschreibung von Ländern zum globalen Süden beruht in dieser Arbeit allerdings anders als bei Wallerstein nicht auf einer weltsystemtheoretischen Herleitung, sondern vielmehr auf der jeweiligen politischen Selbstbeschreibung. Insofern ist auch die von Wallerstein (2003: 103) vorgenommene – deutlich unterkomplexe – weitere Unterscheidung innerhalb des Südens zwischen „Klientelregimen des Nordens“ und Anderen für diese Arbeit nicht relevant.

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