Eutopia - Die Trilogie - Ingrid Manogg - E-Book

Eutopia - Die Trilogie E-Book

Ingrid Manogg

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Beschreibung

Auf Eutopia gibt es Wohlstand, Freiraum und individuelle Entfaltungsmöglichkeiten für alle. Eutopia ist jedoch nicht das Paradies, denn ein Paradies ist für Tote, Eutopia hingegen für Lebende. Wir begleiten liebenswerte Charaktere, die die neue Ordnung gleichzeitig bewahren und dynamisch anpassen wollen. Zahlreiche Abenteuer und Herausforderungen erwarten sie. Die erste echte Utopie! Fantasy / Science-Fiction für alle, die sich nicht nur über Unterhaltung, sondern auch über Denkanregungen freuen

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Seitenzahl: 626

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Zu diesem Buch

Auf Eutopia gibt es Wohlstand, Freiraum und individuelle Entfaltungsmöglichkeiten. Eutopia ist jedoch nicht das Paradies, denn ein Paradies ist für Tote, Eutopia hingegen für Lebende. Wir begleiten liebenswerte Charaktere, die die neue Ordnung gleichzeitig bewahren und dynamisch anpassen wollen. Zahlreiche Abenteuer und Herausforderungen erwarten sie.

Die erste echte Utopie! Fantasy / Science-Fiction für alle, die sich nicht nur über Unterhaltung, sondern auch über Denkanregungen freuen.

Auch als Einzelbände erhältlich

Bereits erschienen: Die Reihe Der Weg nach Eutopia

INHALT

Einführung

Teil I Beschleunigung

Teil II Entscheidung

Teil III Beglückung

INHALTSVERZEICHNIS

Einführung

Beschleunigung

Rainos Reise

Wiedersehen

Erfüllt?

Verwandlung

Das Konzert

Die Transferenz der Hüter

Allarmia

Von oben

Danach

Zurück

Ri-Mem-Ba-Mi

Kleine-Hüten

Die MISAP

Bewerbung

Goldwasching

Eine neue Aufgabe

Träume

Lussi

Nötigung

Zaruno

Lussinda erzählt von Örf

Drei Verantworter

Wie es weiterging

Okapi

Entscheidung

Die Legende von Phoenix und Roch

Der Auftrag

Itzmieh, hai!

Unizar

Es brennt

Das Spiel

Das Hier-Hops-Programm

Unter Schock

Im Seisonen-Gebiet

In Liebe vereint

Ungebetene Gäste

Lektüre

Wataboding, Schocken, Moppen

Allgottrhythmus

Spiegeln

Der Compulsion Blow Autsch

Wunschfilme

Linearität

Lemno schöpft Verdacht

Lunovo

Sortieren

Alles richtig

Flucht

Zaradiva darf gehen

Die Schneekuppel

Neumondleer

Begegnung?

Die drei Hüter

Albinatus

Das Hohlogramm

Düstopien

Ributis Zusammenfassung

Der Einsiedler

Flora, Foira, Feder

Hoffnung

Ributi

Die Feuerkuppel

Bruder im Geiste

Etwas fügt sich zusammen

Rückblick – Zwei Wochen zuvor

Beglückung

Echte Sonne

Neuanfang

Im nächsten Käfig

Ein Solitär

Balance

Loiras Bedenken

Auffälligkeiten

Maximale Geschwindigkeit

Keine Überraschungen!

Vorhänge

Oktavius‘ Erklärung

Tief hinab

Am Ufer

Omai Gosch

Loira stört

Keinen Namen

Fai red

Katter-Technik

Notlandung

Radix lebt

Warnungen

Der Ausweg

Verschoben

Gestört

Zu spät

Besprechung

Hungerstreik

Entwischt

Augenbewegungen

Komm zu mir

Loichting

Zweirad

Noktus‘ Komkatt

Im Labyrinth

Gefangen

Loira erwacht

Der höchste Berg

Sei ein Held

Entscheidung

Auf dem Gipfel von Simajor

Wir haben da was

Unverhofft

Unter einer Birke

Er ist weg

Wo ist Hopia?

Pause

Retour

Gefunden

Das wahre Zuhause

Frei

Falsche Koordinaten

Ortung

Auf dem Pareli-Schiff

Entführung

Sternenstaub

Aus

Tschüs, Simajor

Ohne anzuklopfen

Abschied

Verschlossen

In der dunklen Kammer

Lami und Loichting

Im Lesungssaal

Beglückung

Die nicht Gehörten

Bumm

Kein Solitär

Einführung

Eutopia ist entstanden aus der Vereinigung der Planeten Formicula, Ludofluid, Lunaflor, Mosaika, Radix, Lignum, O-Ton, Lemniskate und Solaria (siehe Der Weg nach Eutopia). Eine künstliche Sonne liefert Energie, Licht und die gewünschten Temperaturen. Die Sonne sorgt auch für den Antrieb – Eutopia kann seinen Kurs durch das Allversum selbst bestimmen. Atmosfoira, der Wohnort der Zeronier, folgt und unterstützt Eutopia.

Eutopia ist geformt wie ein Ei und umgeben von mehreren Schutzschichten. Es besteht aus neun Gebieten, den ursprünglichen Planeten entsprechend, und aus den sie umgebenden Allgebieten. Jeder Eutopianer kann sich am Ort seiner Wahl niederlassen, auf Zeit oder für immer. Es gibt mehr als genug Platz. Eutopia ist frei von Land- und Forstwirtschaft, Bergbau und Straßen.

Betrachten wir die Karte, liegt Immersommer, das Gebiet der Novanis, oben unter der Sonne. Darunter befinden sich die Gebiete der Okter und Katter. Unterhalb der Okter- und Katter-Gebiete liegt das Gebiet der Septemer, noch weiter unten das Wassa-Gebiet der Twajis. Septemer- und Twaji-Gebiete ziehen sich ringförmig um die breite Mitte Eutopias. Mondwärts von ihnen finden sich die Gebiete der Faiwer und Seisonen. Wie die Gebiete der Katter und Okter liegen sie einander auf gleicher Höhe gegenüber und ähneln sich in Größe und Form. Faiwer- und Seisonen-Gebiete grenzen unten an das Gebiet der Unis. An der Spitze des Eis, mehr als 10.000 km vom Kerngebiet der Novanis entfernt, leuchtet der Mond. Hier leben die Trejaner. Das Schneegebirge, das neben ihrem Gebiet liegt, ist Allgebiet.

Alle Gebiete sind voneinander getrennt durch sie umgebende Allgebiets-Flächen. In diesen leben zumeist Misch-Wesen, sogenannte Mis. Auch in den Gebieten wohnen Mis, doch siedeln hier vorwiegend Original-Wesen, die Os. Die kleinen Kerngebiete in den Gebieten sind nur für die jeweiligen Os betretbar, Mis vertragen deren extreme Bedingungen nur mit speziellem Schutz.

Eutopia ist spiegelbildlich angeordnet. ‚Vorne‘ und ‚hinten‘ durchzieht jeweils ein Allgebietskorridor die Gebiete. Vom Novani-Gebiet aus könnte man zum Schneegebirge laufen oder fliegen, ohne ein einziges Gebiet zu queren. Man könnte auch den Wassa-Weg nehmen. Durch die Allgebiets-Korridore fließen zwei große Ströme direkt nebeneinander, der eine mondwärts, der andere sonnwärts, wie auf einer Autobahn. Diese großen Ströme biegen jeweils vor dem Novani- und dem Trejaner-Gebiet ab, umrunden Eutopia und verbinden sich mit den ihnen gegenüberliegenden Strömen. Sonnen- und Mondverzweigung sind jeweils erkennbar an einer künstlich geformten dreieckigen Insel. Über alle Ströme führen zahlreiche Brücken.

Die klimatischen Bedingungen sind je nach Gebiet unterschiedlich und entsprechen wie die Landschaft den Bedürfnissen und Wünschen der Bewohner. Über kleine künstliche Sonnen und Reflektoren, die Licht, Wärme und Energie der Hauptsonne weiterleiten, und mithilfe verschiedener Techniken werden die Jahreszeiten fest eingestellt. Das Tageswetter hingegen bleibt zumeist dem Zufallsprinzip überlassen.

Im Gebiet der Novanis scheint die Sonne Tag und Nacht, es herrscht immer Sommer. Im Schnee-Allgebiet, welches wie das Trejaner-Gebiet einzig durch den Mond erhellt wird, ist immer Winter. Im Okter- und Katter-Gebiet ist es sonnwärts heiß, mondwärts sehr warm. Im Okter-Gebiet regnet es von Zeit zu Zeit, im Katter-Gebiet nie. Twaji- und Septemer-Gebiete liegen auf der Achse der Übergangsjahreszeiten. Diese ziehen gemächlich rund um die Mitte Eutopias, als Früh-, Mitt- und Vollfrühling und Früh-, Mitt- und Vollherbst. In den anderen Gebieten bleiben die klimatischen Bedingungen konstant. Sonnwärts ist es heißer und heller, mondwärts kühler und dunkler.

Ein eutopianisches Jahr ist unterteilt in zwölf Ka-I-Ros-Mon (vereinfacht Ka-Mon oder Monat). Jeder Ka-Mon besteht aus 28-tägigen Ka-Takten (korrekt: Ka-I-Ros-Tak), vereinfacht auch Tage genannt, und dauert 336 Ka-Takte.

Wie ihre versanischen Vorfahren ähneln die Eutopianer Menschen. Sie sind jedoch keine Säugetiere, ihr Nachwuchs wächst außerhalb des Leibes heran. Ihre Sinnessysteme sind teils spezialisierter, teils ‚gesamtleiblicher‘ und ihre körperliche Substanz ist für andere Elementarteilchen durchlässig. Daher können sie auf verschiedene Weise Energie gewinnen. Es gibt Mis, ‚gemischte‘ Eutopianer‘, und ‚Originalstämmige‘ mit typischen Merkmalen.

O-Novanis sind meist dünn, dunkel und langhaarig. Eine Feder wächst aus ihrem Kopf. Sie nähren sich von Sonnenlicht, lieben Pferde und Bücher. Die meisten verehren immer noch Solaria. Sie erwünschen ihren Nachwuchs, indem sie sich an den Händen halten und in die Sonne blicken. Sie sind temperaturunempfindlich, können im Dunkeln sehen und kennen wie Katter und Zeronier keinen Unterschied zwischen männlich und weiblich.

O-Okter sind hellbraun, rundlich und meist kurzhaarig. Sie gewinnen Energie, indem sie ihre innere Lemniskate in Schwingung versetzen. Wenn zwei Okter sich synchronisieren, können sie Kleine erwünschen. Okter sind naturwissenschaffend aktiv und mögen Katzenhunde.

O-Septemer sind vorwiegend hell und schlank, ihre Haare sind voll. An jeder Hand wachsen sieben Finger. Ihr Leib ist ein Klangkörper. Sie nähren sich durch Töne und Klänge und ertönen ihren Nachwuchs in einer goldenen Klangschale. Der Glaube an einen wahren O-Ton ist geschwunden.

O-Seisonen sind groß, untersetzt und kräftig. Ihre Haare sind dicht, die Farbe variiert wie bei ihren Augen. Sie verehren das Wesen des Waldes, nähren sich von Honigduft und vermischen ihren Eigenduft, um Kleine zu erzeugen. Sie sind vertraut mit Wölfen, Binen und Vögeln.

O-Faiwer sind eher hell. Ihre langen Haare sind wirr, Finger und Zehen gewunden. Sie laufen und denken selten geradeaus. Sie verehren das Prinzip des inneren Wachstums und des Verwurzelt-Seins, das sie Radix nennen, und nähren sich von Beeren. Sie mögen Schafe. Ihre Kleinen wachsen in einem Wurzelnest auf.

O-Katter bevorzugen für sich die Bezeichnung Elite-Katter. Sie sind haarlos, stabil gebaut und kantig. Mund und Gliedmaßen sind dünn. Sie können aus fast allem Energie gewinnen. Sie lieben Technik und Techniken und sind als einziger Stamm noch hierarchisch organisiert. Sie optimieren und klonen sich.

O-Trejaner sind klein und bleich. Ihre rundlichen Konturen wirken unscharf, ihr Äußeres und ihr Energielevel wechselt mit den Mondphasen. Die Haare sind staubfein, die Augen groß und rund, ohne Weiß. Sie verehren ihren Mond, trinken sein Licht und den Duft der Blumen. Sie leben in Dreier-Einheiten und erwünschen ihre Kleinen in Vollmondblüten. Sie mögen Katzen.

O-Twajis sind schlank, lockig, meist hell und überaus beweglich. Jeder von ihnen trägt einen Luden (eine Schlange) mit sich herum. Sie preisen das Prinzip Ludofluid – flüssiges Spiel – sind gesellig und ziehen ihre Energie aus dem Wassa. Ihren Nachwuchs ertanzen sie, bis er sich in einer Wassa-Blase manifestiert.

O-Unis sind groß, schlank und zäh. Augen und Haare sind tiefschwarz. Zwei feine Fühler ragen aus ihrem Kopf. Sie verehren die große Formicula in jedem Uni und nähren sich von Emsensaft. Energie gewinnen sie, indem sie dienen oder sich als Einheit zusammenschließen. Sie legen Eier, jeder kann dabei König oder Königin sein.

Zeronier sind kompakt und kräftig, Haare und Leib wechseln zwischen dunkel- und flammenfarbig. Sie leben auf Atmosfoira, nähren sich von Feuer und langweilen sich schnell. Jeder Zeronier ist mit dem Drachen verbunden, der gemeinsam mit ihm im Mutterdrachen herangewachsen und geschlüpft ist. Zeronier halten nichts von Technik, sie gestalten durch ihre Willenskraft.

Alle Eutopianer sind verschieden. Sie müssen weder glücklich sein noch einander mögen. Sie regeln ihr Zusammenleben durch Mediation und über unhierarchische Abstimmungsprozesse, in denen das sachliche Argument zählt und die Erkenntnisse der Psychologik berücksichtigt werden. Sie wählen ihre Tätigkeiten und Aufgaben selbst und können diese jederzeit wechseln. Schulen und Multiversitäten sind frei für alle. Hilfe bei Problemen oder organisatorischen Fragen gibt es u.a. im Eu-Net, bei Mediatoren, Hütern, fachlich Kompetenten und Räten. Statt Macht gilt das Prinzip der Verantwortung. Statt Gesetzen gibt es Regeln auf Zeit, statt Gefängnissen ‚Entfaltungsschutzräume‘.

Es gibt keine Einschränkung, über wieviel Besitz jemand verfügen darf. Gebiete, Ideen, Tire, Partner und Kleine können jedoch nicht besessen werden, nur verantwortet. Niemand muss teilen oder abgeben, es ist von allem genug da. Produziert wird nach Wunsch und Bedarf, vorwiegend von ‚Künstlichen‘ und ‚Vier-Dimensionen-Drucker‘ (Vier-Dims). Es gibt keinerlei äußerliche Belohnungssysteme, kein Geld, keine Währungen oder Bonuspunkte irgendwelcher Art.

Grundprinzipien auf Eutopia sind Vielfalt, Freiraum und Transparenz. Kommuniziert wird persönlich, über das Eu-Net mithilfe von Komkatts (Kommunikationsgeräte) oder über den geistigen Raum.

Unerlässliche Basis für das Funktionieren von Eutopia sind Ausdrucksmöglichkeiten für die verschiedensten Eigenheiten und Fähigkeiten, sich ständig verbessernde und anpassende Technik, Logistik und Wissen um Psychologik.

Lernen, mit Veränderungen umgehen, Ausdrucks- und Gestaltungsmöglichkeiten finden und das selbstwirksame, individuelle Sich-Entfalten gelten als die wahren Herausforderungen des Lebens.

Unsere Geschichte beginnt im Jahre 59 a. Eu. (Anno Eutopii).

BESCHLEUNIGUNG

Mit Raino, dem verschrobenen Gründer der Psychologik, und seinem gutmütigen Freund Noktus lernen wir nach und nach die Grundsätze, das Leben und die Herausforderungen auf Eutopia kennen und verstehen.

Doch Raino versteht sich selbst nicht mehr, seltsame Dinge geschehen. Endlich wird die große Gefahr erkannt und Allarmia ausgerufen.

Rainos Reise

Im Novani-Allgebiet, am Fuße eines grünen Hügels, stand ein kleiner Wohnkasten aus künstlichem Birkenholz. An den Fenstern waren Rollos heruntergelassen, um die auch nachts strahlende Sonne auszusperren. Die knorrigen, silbrigblättrigen Bäume, die hangaufwärts wuchsen, warfen nur kurze Schatten.

Unruhig wälzte Raino sich auf seinem Schlafteppich herum. Immer wieder fuhr er auf und raufte sich die grauen Haare. Aufregung über die bevorstehende Reise und Vorfreude quälten ihn. Bald würde er seinen Freund Noktus wiedersehen. Die letzten Jahre hatten sie nur schriftlich kommuniziert, das zählte nicht wirklich. Aber nun hatte Noktus die meisten seiner füssikalischen Tätigkeiten abgegeben und ihn eingeladen. Wie zu Beginn ihrer Freundschaft wollten sie gemeinsam durch Eutopia tuhren.

Obwohl er kaum geschlafen hatte, erwachte er früh. Ausgiebig streckte er seine langen, dünnen Glieder, verließ seinen Wohnkasten und wanderte den sanft ansteigenden Hügel hoch. Oben auf der breiten, baumlosen Kuppe klarte sein Blick auf und schweifte prüfend umher.

Auf dem gegenüberliegenden Hügel rannte sein schwarzer Katzenhund durch eine Gruppe kupferfarbener Pferde. Sein aufgeregtes Miaulen schallte bis zu ihm hin. Doch die Tire grasten unbeeindruckt weiter, sie kannten Kahu seit Jahren.

Sonst war alles ruhig. Flugkästen zogen lautlos über den tiefblauen Himmel. Die Sonne gleißte, ausladende Hügel erstreckten sich in alle Richtungen. Überall nur grüne Wiesen, hier und da Bäume oder ein klares Bächlein. Niemand hatte sich in seinem Umkreis niedergelassen.

Erleichtert trabte Raino seinen Wohnhügel wieder hinunter, durchquerte ein Birkenwäldchen und erstieg die nächste Anhöhe. Es war nicht weit zum nächsten Vier-Dimensionen-Gestalten-Former, den alle nur Vier-Dim nannten.

Er tippte Wunschfarben, Form und Materialien für einen Kapuzenumhang ein, drehte und dehnte sich vor dem großen Display für den Körperscan und studierte anschließend die Veranschaulichung. Er hätte auch ‚Frühere Bestellungen‘ aufrufen und ‚Umhang identisch wie Vorgänger‘ anklicken können. Jeder hatte die Wahl, Daten anonym oder personifiziert abspeichern zu lassen, auf dem eigenen Komkatt und / oder im Eu-Net, und hatte dadurch Zugriff auf alle seine Eingaben. Doch Raino benutzte den Vier-Dim so selten, dass er die Funktion vergessen hatte.

Während er wartete, stellte er sich plastisch vor, wie seine Daten in den allgemeinen Datenspeicher flossen und zur perfekten Logistik und Versorgung beitrugen. Seine Arme ruderten in weiten Kreisen in der Luft.

Es blinkte, weich plumpste der neue Umhang ins Ausgabefach. Raino tastete den blaugrün schimmernden Stoff ab. Zufrieden registrierte er, dass er die Selbstreinigungszellen nicht erfühlen konnte. Endlich waren sie optimiert worden. Aber die aufgedruckte Sonne entsprach nicht dem gewünschten Farbton. Raino meldete die Abweichung im dafür vorgesehenen Menu. Innerhalb eines Tages würde ein Katter oder ein Uni das Gerät onlain checken, es justieren oder Material auffüllen lassen.

Ach ja, er brauchte auch Stiefel. Normalerweise trug er keine Fußumhüllungen. Das Gras in den Novani-Gebieten war zart und höchstens kniehoch, es gab keinerlei Dornen, Tirchen oder Steine, die pieksen könnten. Raino wählte Artikel, Funktion, Form und Beschaffenheit und scannte seine Beine im Stand und in Bewegung. Anschließend warf er den ausgedienten Umhang in den Behälter für Wiederaufbereitung. Er trennte sich nur ungern von seiner gewohnten Kleidung, doch so zerschlissen wollte er vor Noktus nicht erscheinen. Erst gestern hatte ihn ein Katter, einer seiner neuen Schüler an der MISAP, der Multiversität Immersommer, Abteilung Psychologik, auf mehrere Risse hingewiesen.

Die maßgefertigten Stiefel saßen perfekt. Auch der Umhang passte. Er war weit, von fester Konsistenz und gleichzeitig federleicht. Beschwingt machte Raino sich auf den Rückweg zu seinem Wohnkasten. Gleich ging es los, gleich würde er einen AFK, einen allgemeinen Flugkasten bestellen. Noktus hatte ihm einen Bus-AFK empfohlen, der die Strecke zum Schneegebirge in wenig mehr als zwei Tagen schaffte. Er startete im Novani-Gebiet und holte Reisende individuell ab, sofern es zur Route passte.

Doch kaum hielt Raino sein Komkatt in der Hand, krampfte alles in ihm zusammen. Es gelang ihm nicht einmal, das Gerät einzuschalten. Dann fliege ich eben doch mit meinem eigenen Kasten, dachte er.

Alle Wohnkästen waren flugfähig, selbst die größten und originell Geformten. Viele Eutopianer genossen es mobil zu sein, und lebten mal hier, mal da. Dadurch schwankten Lage und Größe der Ansiedlungen zum Teil beträchtlich. Ständig wurde die Logistik angepasst. Transportflugkästen brachten All-Komkatts, Vier-Dims, Wiederverwertungs- und Materialkästen an die jeweils gewünschten Orte oder nahmen nicht mehr Benötigtes mit.

Zusätzlich zu ihren flugfähigen Wohnkästen verfügten die meisten Eutopianer über mindestens einen privaten Flugkasten. Die schnellsten flogen an die 1000 km/h. Rainos schlichter Kasten hingegen gehörte zu den ältesten und langsamsten Flugobjekten. Er besaß keinen automatischen Modus; Flughöhe, Geschwindigkeit und Richtung waren nur für einen begrenzten Zeitraum manuell fixierbar.

Akribisch traf Raino seine Vorbereitungen. Er rollte einen der blauen Teppiche zur Seite, um das Fenster im Boden freizulegen, schob Bücherregale zu, stopfte umherrollende Bälle in Truhen, ließ Tisch und Stuhl einrasten und klappte einen Teil des flachen Solardaches auf. Schließlich setzte er sich vor das Flugfenster, richtete die Seitenspiegel aus und ergriff die Steuerungshebel.

Schwerfällig und laut brummend stieg der Kasten auf, erst vorwärtsfliegend gingen die Geräusche in ein leises Summen über.

Raino flog Richtung Südosten. Er blickte nicht zurück. Aber es zog an ihm, er spürte, wie sein Stammplatz kleiner und kleiner wurde. Jetzt konnte er ihn innerlich nicht mehr verorten. Das unsichtbare Band zerriss, alles verschwamm in durchsichtiger Leere.

Entschlossen richtete er seine Konzentration auf die Landschaft, die dicht unter ihm dahinglitt.

Die grünen Hügel flachten ab, es gab kaum noch Bäume. Unweit des Verbindungsstroms war ein riesiges Areal abgesteckt. Spezialflugkästen schwebten auf und ab, brachten Material und errichteten vollautomatisch eine große Bühne. Vermutlich für einen Markt mit Konzert, überlegte Raino.

Wenig später überquerte er den westlichsten Zipfel der dreieckigen Insel, die die Sonnenverzweigung ‚SV1‘ markierte, und hielt auf das Okter-Allgebiet zu. Zurzeit war es karg, alle Gewächse waren weggeschrumpft. Erst wenn es regnete, würden Gräser und Kakteen aufschießen. Doch das geschah selten.

Weder Okter noch Katter interessierten sich für lebendige Bäume oder Pflanzen. Deren genetische Codes und schemische Zusammensetzungen hatten sie längst analysiert; sie konnten jede beliebige Holz- und Fasernkombinationen künstlich herstellen.

Umso mehr Wert legten sie auf die Architektur ihrer Gebäude. Ihr größter Stolz waren die Haupt-Multiversitäten für Naturwissenschaffen & Architektur und für Technik: die MUNA I und die MUT I. Ein großes, wie eine Acht gewundenes Gebäude und eine hochaufragende Pyramide standen mitten auf einer kilometerlangen, sanft geschwungenen Brücke, die über Strom I führte. Gläserne, weiße, hellblaue, kubische, eckige und runde Kästen gruppierten sich um sie herum, auf den sie umgebenden AFK-Parkplätzen glänzten die schnittigsten Flugkästen.

Raino gähnte. Ungewohnte Dunkelheit zog auf, je weiter er flog. Am Himmel funkelten Sterne, am Boden warme Lichter.

Am nächsten Morgen erreichte er das Septemer-Allgebiet. Die aufgehende Sonne färbte den Himmel rosig. In der Ferne schimmerte die Silhouette der MUM, der musikalischen Multiversität. Schlank und golden ragten ihre sieben unterschiedlich hohen Türme empor, an den Spitzen drehten sich silberne Notenschlüssel. Fast vermeinte Raino, ein sanftes, mehrstimmiges Klingeln zu vernehmen. Seine Augenlider flatterten vor Müdigkeit.

Irgendwann fuhr ein frischer Wind durch das halboffene Flachdach. Raino schreckte auf. Eine gewaltige Wolkenfront trieb heran, bald würde sie die Sonne verdecken.

Wie um Solarias Willen sollte er hier Energie auftanken? Und weiter mondwärts würde es noch schlimmer werden …

Flieg zurück, sagte er sich. Nachhause.

Doch seine Gedanken setzten sich in keinerlei Aktion um.

Der Weg vom Kopf zur Hand ist mal wieder zu weit, stellte er resigniert fest. Oder schaffe ich es nicht, weil ich Noktus versprochen habe zu kommen?

Egal. Lenk dich ab. Tauche die Augen ins Grün.

Im Septemergebiet herrschte gerade Mittfrühling. Üppige Baumkronen wogten, in denen kleine Vögel zwitscherten, Blumen sprenkelten das feine Gras. Kristallklare Bäche schlängelten sich zwischen sanften Hügeln, oval geformte Kästen standen in kleinen Ansiedlungen beieinander. Richtung Westen konnte er flache Bergketten erkennen. Dahinter verbarg sich eine Sandwüste, die sich bis zu dem hohen Gebirge erstreckte, das sich östlich des großen Stroms erhob.

Der Übergang zum Twaji-Gebiet verlief unmerklich. Mehr und mehr Bäche und Flüsse vereinigten sich zu riesigen Wassa-Flä-chen. Weiße Schwäne zogen ihre Bahnen, Delphine spielten in den Wellen, von bunten Kästen wehten Partygeräusche hoch. Zierliche Bäume bedeckten kleine Inseln, sie blühten wie Wölkchen in Rosarot. Ab und an löste sich von ihnen ein Schwarm Aufund-Zu-Falter. Raino verfolgte fasziniert das Flattern ihrer vielfarbigen, fast durchsichtigen Flügel.

Wie die meisten Novanis hielt er die Twajis für oberflächlich und unzuverlässig. Dennoch hatte er seine selbstgewählte Pflicht gewissenhaft erfüllt, als er einmal als Mediator angefragt wurde.

Damals hatten die Bewohner der Faiwer-Allgebiete sich über die Überflutung einiger Wiesen beschwert. Raino war nicht hingereist, sondern hatte alles über sein Komkatt koordiniert.

»Die Flutungen waren eine spontane Eingebung. Wir haben uns signifikant vermehrt«, hatten die Twajis sich gerechtfertigt. »Wir brauchen mehr Platz für uns, mehr Wassa.«

Erst nach vielen Drei-D-Visualisierungen, Beratungen mit Fachkundigen und mehreren Abstimmungen hatten sie sich schließlich bereit erklärt, die Flutungen rückgängig zu machen und die Erweiterung ihres Gebietes in Richtung Seisonen-Allgebiet vorzunehmen, wo weniger Eutopianer lebten.

Alle paar Jahre vergrößerten oder verkleinerten sich die Allgebiete und Gebiete, alles war ständig im Fluss. Ratskästen, Produktionsstätten, Multiversitäten und einige Marktplätze waren hingegen fest verortet. So wie mein Zuhause, dachte Raino zufrieden.

Oje, ein Fluggerät raste auf ihn zu. Sollten schnelle Kästen nicht in größerer Höhe fliegen? Panisch stieß er den linken Hebel nach vorne und stieg steil auf. Er nahm nicht wahr, wie das Fluggerät in einem eleganten Bogen auswich. Mit Macht hatte seine Höhenangst ihn angesprungen, gleißende Leere fläschte um ihn herum, durchzuckte ihn. Sein Kasten stieg und stieg. Rainos Sinne froren ein, zogen sich nach innen und schalteten sich aus.

Als er wieder zu sich kam, schwebte er über hohen, herbstlich belaubten Baumwipfeln. Endloser Wald, wohin er auch blickte.

Wie war er hierhergekommen? Raino konnte sich nicht erinnern. Ein leichter Regen fiel, das sanfte Rauschen vermischte sich mit Wolfsheulen, vereinzeltem Krächzen und Binen-Gesumm. Offensichtlich befand er sich mitten im Seisonen-Gebiet.

Das war nicht gut. Er hatte die Große Kreuzung verpasst, den Bereich, in dem der große Strom das Twaji-Gebiet passierte. Die Kreuzung war Allgebiet und markierte wie die gegenüberliegende Kreuzung die Mitte Eutopias. Etliche stationäre Märkte hatten sich dort auf den größeren Inseln angesiedelt, es waren die am dichtesten bewohnten Gegenden. Raino hatte geplant, mondwärts der Kreuzung auf dem Wassa-Weg weiterzureisen, seinen Kasten auf einer Fähre zu parken und sich für den Rest der Reise bücherlesend zu entspannen. Alle Fähren fuhren Tag und Nacht und es gab immer Platz, nur die Hälfte von ihnen war für den Warentransport reserviert. Doch er schien weit abgedriftet zu sein, nirgends ein Fluss oder Strom, nur Regenschleier.

Noktus hatte ihm einmal von der MUW erzählt, der Multiversität für Wesen des Waldes und Waldwesen, und von spannenden Abenteuern, die er im Wald erlebt hätte.

Raino zuckte die Achseln. Er fand Begegnungen mit Gedanken viel aufregender als die Begegnung mit Bäumen, Tiren oder urwüchsigen Seisonen. Immerhin nährten diese sich jetzt nicht mehr von Honig, indem sie ihn sich einverleibten, sondern indem sie seinen Duft einatmeten. Passend dazu hatten sie ihre Methode der Nachwuchs-Erwünschung von Spucke- auf Atemvermischung umgestellt.

Wassa schwappte um ihn herum. Er lag in einer Pfütze, sein Umhang war völlig durchnässt. Raino schwankte, als er sich erhob. Er musste lange geschlafen haben. Doch eine bleierne Müdigkeit hielt ihn weiterhin gefangen. Sie zog an ihm, sie sog ihn tief in eine wirbelnde Schwärze, in der er sich langsam auflöste.

Unsinn, beruhigte Raino sich. Es dunkelt bloß. Die rund um Eutopia schwebenden Sonnenreflektoren sind hier stark heruntergedimmt. Mein Kasten hat das Uni-Gebiet bereits überflogen. Ich nähere mich dem Trejaner-Gebiet.

Er hüpfte auf und ab und ließ seine Arme kreisen, bis er sich ein wenig wacher fühlte.

Ah, jetzt konnte er in der Ferne das Schneegebirge und den darüber hängenden, selbstleuchtenden Mond erkennen. Bald würde er mit Noktus über dem höchsten Gipfel schweben, in der schwerkraftlosen Zone. Aber zuerst wollten sie sich ganz oben auf ‚ihrem‘ Schneehügel treffen. Er lag auf einem langen, schmalen Ausläufer des Gebirges, auf Höhe der Mondverzweigung 1, und war kaum zu verfehlen.

Raino durchwühlte seine Taschen, zog sein Komkatt heraus und schaltete es ein.

Bei Solaria! Seit seinem Aufbruch waren über acht Tage vergangen und er hatte sich immer noch nicht bei Noktus gemeldet!

Hastig tippte er eine Nachricht: ‚Ankomme in zwei Stunden.‘

Dann schaltete er sein Gerät wieder aus.

Wiedersehen

Dunkle Wolken verdeckten den Mond, das Schneetreiben verdichtete sich. Noktus blickte auf seinen Zeitmesser. Unglaublich, es waren schon über drei Stunden verstrichen.

Es war Rainos Idee gewesen, sich hier zu verabreden, und normalerweise war er pünktlich und zuverlässig. Was war nur los mit ihm? Seit Tagen hatte Noktus vergeblich versucht, ihn zu erreichen und sich gesorgt. Und nun war auch noch die angegebene Ankunftszeit falsch.

Fünf Minuten gebe ich ihm noch, dachte Noktus zum zwanzigsten Mal. Um der alten Zeiten willen.

Missmutig stampfte er auf der Stelle. Sein hellblauer dichtanliegender Umhang passte gut zu seinem mittelbraunen Hautton und betonte seine rundliche Körperform, auf die er sehr stolz war. Doch der Stoff wärmte nur begrenzt und Noktus war als Mi-Okter-Mi-Novani erheblich temperaturempfindlicher als ein O-Novani. Er zog die Kapuze enger und rückte die Stirnlampe zurecht. Seine eisengrauen Haare und seine kurze Feder pressten sich eng an den Kopf.

Jetzt vernahm er ein leises Summen, ein heller Kasten bahnte sich durch die wirbelnden Flocken. Er flog ohne Scheinwerfer, Noktus konnte ihn kaum erkennen. Als das Geräusch lauter wurde, sprang er zurück. Jetzt stäubte eine Schneewolke auf. Raino war gelandet.

Nicht anfassen, nicht umarmen, ermahnte Noktus sich, als die Tür des Kastens aufglitt. Rainos dunkles Gesicht lächelte ihn an, seine lange Feder neigte sich ihm zu.

»Hallo, alter Freund«, begrüßte Noktus ihn mit freundlicher Stimme. Dann brach es aus ihm heraus. »Du hast mich ewig warten lassen! Wieso bist du nicht mit einem AFK gekommen oder hast wenigstens dein Komkatt eingeschaltet? Und mach das Licht an! Im Unterschied zu dir kann ich im Dunkeln nicht sehen. Und schließ das Verdeck, ja? Es schneit. Wo sind deine Gleiter?«

»Gleiter? Habe ich vergessen.«

»Aha«, machte Noktus. Er schüttelte den Kopf über Rainos Umhang, der sich im auffrischenden Wind breit aufblähte. »Hast du keinen Gürtel? Segeln wollten wir doch erst später. Und du solltest deine Haare zusammenbinden.«

»Eigentlich will ich mich nur mit dir unterhalten«, gestand Raino. »Und später ein bisschen fliegen und schweben.«

»Dann gleite ich den Hügel eben alleine herunter. Wir treffen uns unten.«

Noktus packte zwei ausziehbare Gleiter aus seinem Rucksack, schnallte sie an die Stiefel und verschwand in den Flocken. Er erreichte den Fuß des Hügels schneller als Raino mit seinem Kasten und musste ihn eine ganze Weile suchen. Dann saßen sie sich endlich in Rainos Zuhause gegenüber. Raino hatte trockene Teppiche aus einer Truhe geholt und über die nassen gelegt. Er wirkte unruhig und wechselte mehrfach von der Hocke in den Schneidersitz. Noktus hingegen hüllte sich eine Decke und streckte die Beine aus. Die lange Abfahrt hatte ihn ein wenig besänftigt.

»Die letzten Entfaltungsschutzräume wurden kürzlich aufgelöst. Niemand muss mehr sozialisiert oder resozialisiert werden. Alle haben jetzt Zugang zu ihren Potentialen«, begann Raino.

Noktus nickte. »Ich weiß.« Er war es gewohnt, dass sein Freund ohne Umschweife auf die Themen zu sprechen kam, die ihn gerade beschäftigten. »Die Lernangebote und Mediationsprogramme sind ein voller Erfolg«, bestätigte er. »Sogar die Kleinen können mittlerweile ihre Probleme selbst, miteinander oder mit Hilfe von anderen lösen. Und es gibt zahlreiche Beispiele im Eu-Net, jeden Tag kommen neue dazu.

Raino, erinnerst du dich an deine erste Mediation, als du die Spaltung der Zeronier verhindert hast, vielleicht sogar einen Krieg? Die einen Zeronier wollten ihren Planeten Atmos nennen, die anderen Foira. Wie zufrieden sie waren, als sie sich dank deiner Vermittlung auf Atmosfoira geeinigt hatten. Es war das erste Mal, dass Zeronier sich auf ein ‚Sowohl-Als-Auch‘ einlassen konnten. Und, wie läuft es mit deiner Psychologik?«

»Meine Abteilung wächst. Neue Mitarbeiter und Schüler sind dazugekommen. Zu meiner letzten Lesung sind immerhin neun Interessierte erschienen.«

»Was war das Thema?«

»Die scheinbare Konstanz individueller Muster. Was prägt uns, was bleibt in einem Wesen das ganze Leben über erhalten? Was für verschiedenartige Entfaltungsmöglichkeiten ergeben sich daraus und wie wirken diese auf die Muster zurück?«

Noktus beobachtete ihn aufmerksam. »Und über was hast du noch gesprochen?«

Raino wich seinem Blick aus. »Über den richtigen Zeitpunkt zu gehen«, sagte er schließlich. »Wann ist eine Entfaltung abgeschlossen, wann ist es gut? Wann falten wir uns wieder zusammen wie schlafende Auf-und-zu-Falter, um im nächsten Kreislauf neu aufzufliegen? Wie lange können oder sollen wir in unserem aktuellen Leib entfaltet gleiten?«

»Ein schwieriges Thema«, sinnierte Noktus. »Kleine entstehen, Große müssen gehen. Sonst bleibt die Population nicht konstant. Die Katter schlagen vor, weniger Kleine zu produzieren, damit die Großen ewig leben können. Gibt es aber zu wenig Kleine, wachsen sie in einer Welt auf, die ihre Bedürfnisse zu wenig oder zu viel beachtet. Vielleicht halten sie sich dann für etwas allzu Besonderes. Oder sie rebellieren, um eine Gegenwelt zu erschaffen. Sie brauchen genug Gleichaltrige, um zu gedeihen. Meinst du, Große sollten ab einem bestimmten Alter gehen, um Platz für Jüngere zu schaffen?«

Raino schüttelte den Kopf. »Keine Vorgaben, kein Opferbringen, kein Platzschaffen. Es wäre grausam für die Älteren und würde zu einem unbarmherzigen Bewertungssystem führen. Das passt nicht zu Eutopia. Man würde uns ab einem bestimmten Alter nicht mehr als lebendige Individuen wahrnehmen, sondern als Schmarotzer. Als würden Ältere Jüngeren etwas wegnehmen, wenn sie länger blieben. Niemand könnte sich mehr frei weiterentfalten. Die Hemmung, die die Älteren befiele, würde bald auch auf die Jüngeren abfärben, Zeitdruck entstünde.«

»Wir werden ja alle wiedergeboren«, meinte Noktus beruhigend. »Niemand verschwindet für immer. Die Summe aller Wesen und Elemente bleibt über alle Versen hinweg konstant.«

»Würdest du gehen, wenn irgendwelche Beschlüsse oder Berechnungen vorgäben, es sei Zeit für dich?«

»Nein.«

»Und woran würdest du merken, dass es soweit ist?«

»Ach Raino. Wir wollten doch Spaß haben.«

Noktus starrte sehnsüchtig aus dem Fenster. Es hatte aufgehört zu schneien. Helles Vollmondlicht flutete den Hügel, den er nur ein einziges Mal heruntergeglitten war.

»Spaß haben«, sagte Raino angewidert. »Ich habe eine Umfrage durchführen lassen. Die Twajis sagen, sie gehen nur, wenn sie währenddessen eine Party feiern und gleich auf der nächsten Feier als Twajis wiedergeboren werden. Wenn das stimmte, gäbe es irgendwann nur noch Twajis. Wer übernimmt dann die Organisation auf Eutopia, wer kümmert sich um Datenerfassung, Koordination, Technik, Forschung, Lehre, Produktion, Logistik und Mediation?«

»Beruhige dich, Raino. Nicht alle Twajis interessieren sich nur für Partys, schon gar nicht die Mis. Auch die Zeronier glauben, nur als Zeronier wiedergeboren zu werden, aber ihre Population nimmt weder zu noch ab. Wenn sie gehen, bilden sie eine Feuerblase um sich herum und lösen sich in ihr auf. Sie glauben, ihre Blase dehne sich unendlich aus und sie gingen in Verbindung mit allem. Was auch immer ‚Alles‘ in ihrer Vorstellung bedeutet.«

»Woher weißt du das, hast du dich auch schon mit dem Thema beschäftigt?« Ihre Augen trafen sich kurz, Raino nickte zufrieden. »Mein neuer Katter-Schüler plant eine professionelle Geh-Begleitung«, fuhr er fort. »Ich lehne das ab. Diejenigen, die alleine gehen wollen, werden durch solche Angebote verunsichert. Und diejenigen, die beim Gehen Begleitung wünschen, ziehen ihre Freunde vor. Der Katter meinte zwar, Freunde wären damit überfordert. Und es sei viel besser, wenn ein Profi als die wahrhaft gewünschte Gestalt erscheine – als einer der ursprünglichen Verantworter. Aber wer will sich schon betrügen lassen? Außerdem besteht das Ziel der Professionellen darin, dass jemand verschwindet, sie würden bewusst oder unbewusst eine Umentscheidung sabotieren. Und warum sollte man in seinen letzten Tagen jemanden Fremden kennenlernen wollen, wenn man doch von allem genug hat? Ein Profi an deiner Seite würde den Wunsch zu gehen beschleunigen. Nur damit der seine Pflicht erfüllen kann und der Gehende seine Ruhe vor ihm hat. Am Ende manipulieren die Profis noch deine Vorstellung davon, wer du im nächsten Leben sein willst.«

»Jetzt übertreibst du aber. Diese Zeiten sind doch vorbei«, beschwichtigte Noktus. »Aber es stimmt, manche wollen gehen, weil sie ein bestimmtes Ziel haben. Sie sind satt davon, ein bestimmtes Wesen zu sein und wünschen sich eine andere Daseinsform für neues Erleben und neue Aufgaben.«

»Oder sie wollen jemanden wiedertreffen, der schon gegangen ist. Oder sie wollen jemandem, der gegangen ist, auf neue Weise begegnen«, stimmte Raino zu. »Wie ist es bei dir, Noktus?«

»Wenn ich gehe, möchte ich meine Freunde um mich haben und wissen, wie ich sie im nächsten Dasein wiederfinde.«

Erneut trafen sich ihre Blicke. Raino öffnete den Mund, um etwas zu sagen, aber Noktus winkte ab und erhob sich. »Brechen wir auf, lass uns endlich schweben«, meinte er. »Ich sehne mich nach Leichtigkeit, ohne die Schwere der Gravitation.«

Prüfend ergriff er die zwei Steuerungshebel. Mit dem linken konnte er hoch- und runterfliegen, mit dem anderen steuern und die Geschwindigkeit einstellen. Nach rechts bewegen, um nach rechts zu steuern, nach vorne drücken um zu beschleunigen, heranziehen um zu bremsen …

Noktus seufzte. Raino hatte seinen alten Kasten immer noch nicht aufrüsten lassen.

Das Panorama war fantastisch. Sie glitten über schwach leuchtende, bizarr geformte schneebedeckte Berggipfel dahin, immer weiter mondwärts. Der Eingang zur schwerkraftlosen Zone befand sich fast an der Spitze von Eutopia. Vor den unsichtbaren Druckregulierungsschleusen reihten sie sich in eine lange Warteschlange ein. Auch auf dem Parkplatz herrschte Hochbetrieb, sie fanden nur mit Mühe einen Landeplatz.

Obwohl das Schneegebirge zum Allgebiet gehörte, waren Flugzone und Abhebefläche trejanisch gestaltet. Der Mond schien direkt über ihnen zu hängen. Orangegolden leuchtete er im Dämmerlicht, am Boden schimmerten bunte Blumen. Der Parkplatz war gleichzeitig die Abhebefläche. Unzählige schattengleiche Silhouetten schwebten hoch und runter, flogen auf und ab. Manche tanzten für sich allein, andere in Formationen.

»Schlechtes Timing«, bemerkte Noktus, als er das Dach des Kastens wieder öffnete. »Warten wir ein Weilchen, bis der größte Ansturm sich legt. Sollen wir währenddessen Ball spielen, magst du das immer noch so gerne?«

Rainos Antwort ging in einem lauten Summen unter. Dicht neben ihnen landete ein glitzernder, schmal geformter Flugkasten. Die Tür glitt auf. »Es gibt doch nichts Schöneres als selbst zu fliegen, mit Leib und Geist«, tönte eine überaus melodische Stimme.

»Simiradiva! Und Fluaktiva!« Noktus sprang aus dem Kasten, schwebte zwei Schritte in der Luft und senkte sich wieder, um die beiden zu umarmen. »Welche Freude, euch zu sehen und eure Stimmen zu hören!«

»Noktus! Und das ist dein Freund Raino, nicht wahr?«

»Kommt doch kurz zu uns rein!«

Fluaktiva lehnte freundlich ab, schwebte auf und tanzte sogleich in einer Gruppe mit. An ihrem buntglitzernden Gewand war sie leicht zu erkennen.

Simiradiva nahm hingegen Noktus’ Einladung an. Lange Haare wellten golden um ihr zartes Gesicht, das sah sehr hübsch aus. Aber auch ihr Gewand glitzerte, glänzte und blendete, ausgebreitet bedeckte es den halben Boden. Es störte seine Ordnung. Raino wandte irritiert den Blick ab. Sie war doch eine Septema! Warum führte sie sich wie eine Twaja auf? Und ihr Name wies auf eine Faiwa hin! Hatte sie ihn etwa wegen der Endung gewählt?

»Ihr wirkt so melancholisch«, bemerkte Simiradiva. »Liegt es an dem Okapi? Ich habe gehört, es wäre eines gesichtet worden. Manche halten es für ein Zeichen, dass bald jemand geht.«

»Ich habe tatsächlich eines gesehen«, gab Raino widerwillig zu und blickte Noktus vorwurfsvoll an. Er musste seine Beobachtung weitererzählt haben.

»Bist du dir sicher, Raino? Gibt es diese komischen Tire wirklich?«, hakte Simiradiva nach. »Und wenn, was ist ihr Sinn für uns? Hunde begleiten uns, Katzen umschnurren uns, auf Pferden können wir reiten, Schafe halten das Gras kurz …«

Jetzt schmunzelte Raino. Noktus hatte recht, niemand konnte in ihrer Gesellschaft lange betrübt sein.

»Das genau ist der Sinn der Okapis«, erklärte er. »Sie haben keine Bedeutung für uns, das ist ihre Bedeutung. Es ist nicht alles für uns gemacht, was existiert oder existieren könnte.«

»O Kapi, O Kapi, Kapi Blu, O Kapi Blu«, sang Simiradiva in verschiedenen Tonlagen vor sich hin. »Danke Raino, du hast mich zu einem neuen Lied inspiriert. Kürzlich, auf meinem letzten Konzert, habe ich zu Ehren der Zeronier ein ziemlich wildes Stück improvisiert: Wiilsonfair. Das heißt in der Zeronierprache Feuerring.«

»Hat es ihnen gefallen?«

»Ja, sehr. Langweile ich euch?«

»Aber nein«, widersprach Noktus. »Ich könnte dir ewig zuhören, so melodisch klingt es.«

»Dabei bist du so unmusikalisch.« Simiradiva pustete auf einen ihrer vierzehn Fingern, bis ein zartes Summen ertönte. »Wisst ihr, dass Hävviwaldas, der letzte Insasse im Entfaltungsschutzraum, durch meinen Gesang seine Bestimmung entdeckt hat? Er war vollkommen frustriert. Er ist im Seisonen-Gebiet aufgewachsen und sieht auch aus wie ein O-Seisone. Sein ganzes Leben hatte er geglaubt, seine Aufgaben lägen im Wald und hätten mit Binen, Honig oder Bäumen zu tun. Nichts davon hat für ihn funktioniert. So ging er zu den Wölfen. Als die ihn auch ablehnten, hat er sie vor Wut gegen die Schafe der Faiwer aufgehetzt. Er ließ nicht mehr mit sich reden, daher kam er in den Schutzraum. Zehn Unis mussten ihn begleiten, zwei Hüter ihn beruhigen, so stark ist er. Im Schutzraum hat er dann zwar alle Angebote genutzt, aber nichts gefunden, was ihm entsprach. Außer ihm gab es noch zwei andere Insassen. Sie entfalteten sich schnell, nur er blieb übrig. Aber seit er seine Septemer-Fähigkeiten entdeckt hat, ist er glücklich. Sein Gesang und seine Kompositionen sind wunderschön. Sie kommen aus einem sehr tiefen Resonanzschwerpunkt.«

»Wo lebt er jetzt?«, fragte Noktus.

»Im Gebirge der Septemer. Dort lernt er Schall und Echo verstehen. Wir treffen uns häufig und singen zusammen.«

»Es gibt zu viele, die sich durch das Äußere täuschen lassen«, sagte Raino. »Wir sollten mehr spüren, denken und lernen.«

»Es ist nicht leicht, jemanden einzuschätzen«, wandte Noktus ein. »Nicht einmal sich selbst. Die meisten Eutopianer sind vielfältig begabt, ihr Weg ist breit und abwechslungsreich. Es gibt viel zu entdecken, bis die Hauptausrichtung des individuellen Potentials klar wird.

Simiradiva, dein Umhang sieht überaus prächtig aus. Der ist bestimmt nicht aus einem Vier-Dim.«

»Du hast ein gutes Auge, Noktus. Tatsächlich ist er auf einem Markt entstanden. Ein Mi-Novani hat mir die Entwürfe gezeichnet, Twajis und Faiwer haben alles handgefertigt. Währenddessen habe ich für sie gesungen. Es war ein großer Spaß.«

»Märkte sind wichtig«, bemerkte Raino abwesend. »Viele brauchen es, sich mit anderen an demselben Platz, einem sogenannten Mittelpunkt, zu treffen und auf eine Fülle von Dingen zu starren. Im Gewimmel fühlen sie sich einerseits zugehörig und sicher, andererseits belebt. Und sie glauben, nichts zu verpassen.«

»Ich liebe Märkte.« Fluaktiva schwebte durch das offene Verdeck und nahm neben Simiradiva Platz. »Man kann die verschiedensten Eutopianer treffen und großartige neue Sachen oder Ideen kennenlernen. Ich habe mich auf kleine und spontane Märkte spezialisiert, durchstreife sie und stelle alles Originelle ins Eu-Net. Oftmals entstehen dadurch Trends. Die Katter greifen diese dann auf und aktualisieren entsprechend die Vier-Dims. Mein Kanal heißt ‚Mit Flu aktiv auf dem Markt‘, kennt ihr ihn? Aber du, Noktus, interessierst dich wohl mehr für Füssikalisches. Und für dich, Raino, gibt es sowieso nur Psychologik.«

Sie stupste ihn neckisch in die Seite. Raino zuckte gequält zusammen. Fluaktiva hatte eindeutig zu viele Twaji-Anteile.

»Ich muss los«, sagte er. »Es ist schon spät und ich gebe morgen eine Lesung.«

Eine Lesung? Morgen? Noktus starrte Raino ungläubig an.

»Ich muss ebenfalls los«, sagte er rasch. »Nimmst du mich mit oder soll ich mir einen AFK bestellen?«

»Du kannst mit mir kommen.«

»Wollt ihr nicht wenigstens eine klitzekleine Runde mit uns tanzen?«, fragte Simiradiva. »Nein? Dann bis zu meinem nächsten Konzert. Es findet im Novani-Allgebiet statt, neben einem riesigen Markt. Es wird sensationell. Ich trete gleich am ersten Tag auf, ihr müsst kommen!«

»Versprochen!«, rief Noktus, und Raino wiederholte mechanisch: »Versprochen!«

Simiradiva und Fluaktiva erhoben sich und stiegen winkend auf. Sie wurden kleiner und kleiner, jetzt glitzerten sie am Nachthimmel wie ferne Sterne.

Raino atmete tief durch. So belebend er die beiden fand, so froh war er, dass wieder Ruhe einkehrte. Er ließ den Kasten abheben und flog in niedriger Höhe die Berghänge herunter. Schneeflocken begannen zu fallen, weich und dicht, der Kasten summte gleichförmig. Ihm fielen die Augen zu, langsam sank er zu Boden.

Betroffen sprang Noktus auf, schob Raino vorsichtig zur Seite und übernahm die Steuerung.

Raino schlief tief und fest. Er bemerkte nicht, wie der Himmel über dem eintönigen Uni-Gebiet sich aufhellte, flach und grau hing er über der Ebene. Nur als sie über das Faiwer-Gebiet zogen, regte er sich kurz. Hier bedeckten Schleierwolken einen hellblauen Himmel, während unten am Boden Schafe zwischen Sträuchern weideten oder Wanderer auf einer Achtsamkeitstour begleiteten. Langweilig, dachte Noktus. Nur Faiwer empfinden ihr Gebiet als abwechslungsreich. Er gähnte. Konnte der Kasten nicht schneller fliegen?

Er änderte den Kurs und flog auf das Faiwer-Seisonen-Allgebiet zu. Von dort aus würden sie einen Fähre Richtung Sonne nehmen und in Ruhe über alles sprechen.

Es war gar nicht so einfach, den Kasten auf einer der schnell dahinziehenden Fähren zu landen. Noktus brauchte mehrere Versuche. Mit einem modernen Flugkasten wäre alles kein Problem gewesen. Und natürlich hätte er auch eine langsam fahrende Fähre wählen können. Der Strom war breit genug, dass mehrere Fähren in verschiedenen Spuren nebeneinander fahren konnten. Aber Noktus hatte der Ehrgeiz gepackt und die manuelle Steuerung begann ihm Spaß zu machen.

Endlich hatte er es geschafft. Das Wassa rauschte laut, zügig glitten sie auf der Fähre dahin. Immer wieder durchfuhren sie lange Tunnel. Noktus stellte sich vor, wie unbekümmerte Eutopianer über die Brücken wanderten, nichtwissend, was sich unter ihren Füßen tat.

Die Decken der Tunnel waren dunkel und nur durch künstliche Sterne erhellt. Ab und zu formten sie sich zu Pfeilen oder Anzeigen, wie beispielweise: ‚Nächste Abzweigung MUW, noch zwei Kilometer, bitte in die rechte Spur einbiegen …‘ oder ‚Hinausflug-Luke in drei Kilometern, links halten, Größenangabe für Flugkästen beachten …‘

Projektionen der draußen vorbeiziehenden Landschaft leuchteten an den Seitenwänden. Sie waren mosaikartig durchbrochen, niemand sollte die virtuellen Bilder mit der Realität verwechseln.

Noktus Gedanken wanderten zu seinem Lieblingsprojekt: Magnetschwebebahnen, die durch unterirdische Röhren sausten und verschiedene Allgebiete in höchstmöglicher Geschwindigkeit erreichen könnten – sogenannte Haiper-Luups. Es würde noch eine Weile dauern bis zu deren Realisierung, die Feinabstimmung mit dem Bewässerungssystem stand erst am Anfang. Leider interessierte Raino sich nicht für füssikalische Themen. Nur einmal hatte Noktus versucht, ihm den inneren Aufbau von Eutopia zu erklären. »Das Novani-Gebiet liegt direkt über dem größten Wassa-Speicher Eutopias«, hatte er begonnen, »deshalb ist das Gras immer grün. Und der Wassa-Speicher dient nicht nur als Rückhaltebecken, sondern auch zur Beschwerung und Stabilisierung unserer fliegenden Heimat.« Doch Raino war ihm vehement ins Wort gefallen. »Du verstehst nichts von Immersommer, gar nichts. Das Gras ist grün, weil es wie die Pferde kaum Wassa benötigt. So wie früher auf Solaria.«

Hinter dem nächsten Tunnel wölbte sich der Himmel klar und blau auf. Die Landschaft wurde hügeliger und abwechslungsreicher. Blüten schmückten die Bäume, schmale Flüsse schlängelten sich neben dem Hauptstrom. Immer mehr Seen schimmerten auf. Bald vereinigten sie sich zu einer riesigen Fläche, in die der Strom in das Twaji-Allgebiet hineinfloss – sie hatten die Große Kreuzung erreicht. Inseln ragten aus dem kabbeligen Wassa, die größten waren durch sanft geschwungene Brücken miteinander verbunden. Das Tempo der Fähren verlangsamte sich.

»Schau mal!«, rief Noktus aus. »Was fährt denn da für ein buntgeschmückter Wassa-Kasten?«

Raino fuhr hoch und rieb sich die Augen. »Musst du mich so erschrecken? Das ist ein Kasten der MUST, der Twaji-Multiversität für Spiel, Tanz und Theater. Nein, doch nicht, es ist das Pareli-Schiff. Ein schwimmender Marktplatz für kontaktfreudige Partnersuchende. Der Erfinder heißt Pare-Lite.«

Noktus schüttelte den Kopf. »Nie davon gehört.«

»Na ja, das Schiff wird halt vorwiegend von Twajis besucht. Sie spielen, tanzen, machen Party. Langfristige Beziehungen entwickeln sich jedoch selten. Pare-Lite hat daher zusammen mit einigen Katter und Oktern ein Partner-Zuordnungsprogramm entwickelt. Es analysiert verschiedene Stammesanteile und errechnet mögliche Passungen.«

Noktus runzelte die Stirn. »Ich dachte, der Glaube an solche Berechnungen sei längst überwunden. Sie haben ja nicht einmal im Schutzraum für Entfaltungsangebote funktioniert. Die Analyse von Hävviwaldas’ Grundausstattung hat lange verhindert, dass ihm Musik angeboten wurde, bloß weil in ihm nichts Septemer-Artiges nachzuweisen war.«

»Mach dir keine Sorgen, Noktus. Niemand nimmt so etwas noch ernst. Und fast alle Eutopianer machen, meist wenn sie zu Größeren heranwachsen, eine Grand-Tuhr und besuchen die verschiedensten Gebiete, zum Spaß oder als Praktikanten. So erweitern sie ihre Vorstellungen.«

Noktus war erleichtert. Endlich schien sein Freund wieder wach und bei Sinnen. »Ja, du hast recht, Raino. Das ist beste Art, herauszufinden, was einen wirklich antreibt oder erfüllt, wenn man es noch nicht spürt. Auch die Schulen und Multiversitäten werden immer besser. Wer will, kann bei den Septemern Musik lernen, bei den Katter Technik, bei den Unis Logistik und so weiter. Und viele Lehrende besuchen turnusmäßig alle stationären Schulen und Marktplätze. Jeder hat mittlerweile verstanden, dass Lernen nur über Komkatts nicht reicht. Deswegen ist es so schade, Raino, dass du nie deine MISAP verlässt.«

»Ich bin eben ein O-Novani«, entgegnete Raino, »und froh, einen festen Ort zu haben.«

»Hast du dich mal analysieren lassen?«

»Ja. Vor vielen Jahren, aus Neugier«, gab Raino zu. »Aber ich habe mir das Ergebnis nicht angeschaut. Ich weiß, wer ich bin. Noktus, wohin fahren wir eigentlich? Zu dir?«

»Wenn du willst«, antwortete Noktus resigniert und warf seine liebevoll geplante Reiseroute endgültig über Bord.

Raino war schon wieder eingeschlafen. Er war zwar nicht einmal in seinen jüngeren Jahren ein Draufgänger gewesen, aber er hatte sich von Noktus’ Unternehmungslust immer gerne mitziehen lassen. War er überarbeitet? Er schrieb in seinen Komkatt-Nachrichten fast nur über seine psychologischen Erkenntnisse.

Ich hätte ihn von Zeit zu Zeit besuchen sollen, warf Noktus sich vor. Ich bin doch sein einziger Freund …

Erfüllt?

Vereinzelte Kakteen ragten auf, die Sonne strahlte warm und hell. Sie näherten sich dem Okter-Allgebiet. Noktus ließ Rainos Kasten von der Fähre abheben und nahm Kurs auf seinen eigenen Wohnkasten. Schon von weitem erkannte er, dass dieser allein auf weiter Flur stand.

»Als ich los bin, standen noch mindestens zehn Kästen in meiner Nachbarschaft«, sprach Noktus vor sich hin. »Sie sind wohl schon zum Markt aufgebrochen oder zum Konzert von Simiradiva. Ah, schau, da steht tatsächlich ein neuer Materialkasten und auch ein neuer Vier-Dim. Beides habe ich erst gestern onlain beantragt – und schon ist alles da. Die Logistik funktioniert einwandfrei, immer wieder ein Vergnügen. Den Unis, selbst den Mi-Unis, wird ihre Tätigkeit nie langweilig, und sie wissen, wie wichtig sie sind. Sie brauchen nicht einmal ein Dudel-Programm, um sich untereinander abzustimmen.«

Punktgenau parkte Noktus vor seinem hellblauen Domizil und öffnete die Schiebetüren beider Kästen. Sie wirkten nun fast wie zwei Zimmer desselben Gebäudes.

»Jetzt sind wir beide ein bisschen zuhause«, meinte er zufrieden.

»Bedauerst du manchmal, keine Kleinen erwünscht zu haben?«, fragte Raino unvermittelt und richtete sich auf.

»Nein«, erwiderte Noktus überrascht. Seine kurze Feder zuckte. »Darüber haben wir doch oft genug gesprochen. Wir haben unsere Verantworter nie kennengelernt und keinen echten Bezug zur Vorstellung von eigenen Kleinen entwickelt. Was ist, bedauerst du es neuerdings?«

»Ich weiß nicht. Eigentlich bin ich froh, nur für mich Verantwortung zu tragen, und natürlich noch ein bisschen für meine Lehre und meine Schüler. Und für Kahu. Wo ist er überhaupt?«

Raino suchte den Kasten ab. Er bestand nur aus einem einzigen Raum und war sehr übersichtlich. Der Katzenhund war definitiv nicht da, auch nicht in einer der Schränke oder Truhen. »Wahrscheinlich hat er sich einen neuen Verantworter gesucht. Ich glaube, er war nicht glücklich mit mir.«

»Sei nicht traurig, Raino. Unsere Tire wissen, wo der beste Platz für sie ist. Wo auch immer sie hingehen, wird jemand sich um sie kümmern. Die Zeit der Heimatlosen ist lange vorbei.«

»Und Solaria sei Dank verwechselt niemand mehr Heimatlose mit freiwilligen Einzelgängern«, sagte Raino. Er fuhr mehrfach über seine gesträubte Feder, doch sie ließ sich nicht glätten. »Jedenfalls haben sich die Vorstellungen der Katter nicht durchgesetzt. Endlich haben sie die große Bandbreite an unterschiedlichen Verbindungsmöglichkeiten und Vorlieben akzeptiert. Es muss auch nicht mehr jeder mit jedem kommunizieren oder ständig zur Verfügung stehen. Es gibt keinerlei Zwang. Freiheit und Gleichheit sind verschiedene Dinge, sie schließen sich sogar gegenseitig aus.«

»Nur auf solch Erkenntnisboden gedeihen echte Einsatzbereitschaft und Freundschaft«, bestätigte ihn Noktus. »Jedenfalls die Art Freundschaft, wie Novanis und Mi-Novanis sie pflegen.«

»Lebe ich schon zu lange auf Eutopia und habe mich erfüllt?« Raino blickte Noktus fragend an.

»Woher soll ich das wissen?«, erwiderte Noktus befremdet. »Jedes Wesen definiert Erfüllung auf seine eigene Weise, hast du mal geschrieben. Nach deiner Theorie braucht es Ausdrucksmöglichkeiten für das, was sich in einem Wesen entfalten will. Und es ist wichtig, jemanden oder auch mehrere zu kennen, denen man sich mitteilen und mit denen man sich austauschen kann. Das können, müssen aber nicht unbedingt Freunde sein. Und sich um jemanden oder um etwas zu kümmern ist für dich wichtig. Das Kümmern ist nicht auf Kleine beschränkt, es kann alles sein. Auch ein Projekt, ein Partner oder Katzenhunde oder ein Ziel. Und unter Vollendung verstehst du, gemeinsam mit jemandem auf etwas Drittes zu schauen und dieses Dritte, was auch immer es sei, zu fördern und beim Gedeihen zu unterstützen. Und das Unterstützen des Gedeihens besteht für dich manchmal nur aus dem Lassen, dem Gedeihen-Lassen, und dafür die passende Umgebung zu gestalten, damit es stimmige Anregungen gibt.«

Rainos Feder senkte sich. Fast unhörbar flüsterte er: »Willst du mit mir gehen und ein Okapi werden?«

»Es ist noch nicht Zeit für uns zu gehen«, wies Noktus ihn streng zurück. »Dich beschäftigt in Wahrheit etwas anderes. Du wirkst überhaupt nicht erfüllt, eher bedrückt. Willst du mir nicht endlich erzählen, was wirklich los ist?«

»Beantworte erst meine Frage.« Raino sprach jetzt wieder in normaler Lautstärke.

Noktus seufzte. »Nein«, sagte er. »Ich will kein Okapi sein. Ich werde in meinem nächsten Dasein zu einem O-Novani, der dich als Okapi sehen kann. Reicht das?«

»Ich denke darüber nach«, sagte Raino höflich. Es war nicht zu erkennen, ob ihn die Antwort enttäuschte.

Noktus ließ nicht locker. »Fühlst du dich nutzlos oder warum willst du ein Wesen werden, dessen Funktion nur darin besteht, keine zu haben?«

»Du redest wie ein Katter!«, rief Raino vorwurfsvoll. »Kein Wesen hat wirklich eine Funktion für andere. Niemand darf instrumentalisiert werden!«

»Ok. Keine Funktion erforderlich«, beschwichtigte Noktus ihn. »Aber ich möchte nicht, dass du zu einem Okapi wirst. Niemand weiß, ob es sie überhaupt gibt. Soll ich dich im nächsten Leben fantasieren? Oder ein Pferd mit Streifen bemalen, es Raino nennen und lieb streicheln?«

»Du hast es nicht verstanden. Ich möchte jetzt sofort nach Hause.«

»Sei doch nicht so empfindlich!«

»Du bist nicht mehr mein Freund! Verschwinde, raus hier!«

Kopfschüttelnd stand Noktus auf, stapfte in seinen eigenen Kasten und schloss die Tür hinter sich.

Raino blickte ihm nicht nach. Er setzte sich an die Steuerung und hob ab. Doch egal, wie er die Hebel betätigte, sein Kasten flog seltsame Kurven und Windungen. Erst nach vielen Stunden schwebte er endlich über seinem vertrauten Wohnhügel.

Ungläubig starrte er hinunter. Sein Platz war besetzt! Dabei hatte er doch eine Markierung angebracht und rundherum war alles frei! Wo sollte er denn jetzt bloß landen?

Völlig aufgelöst ließ er die Steuerung einrasten und blieb in der Luft stehen, direkt über dem dunklen fremden Kasten. Er fühlte sich überaus unwohl in der Höhe und regte sich immer mehr auf. Dieser unverschämte Typ gehörte in den Schutzraum! Noch nie hatte er von solch einem respektlosen Verhalten gehört! Er würde den Vorfall sofort melden. Grimmig griff er zu seinem Komkatt. Wo war bloß die entsprechende Seite? Er scrollte wild herum und stieß auf den Zugehörigkeitstest, zu dem er sich vor Jahren hatte überreden lassen.

Zögernd öffnete er die Datei und studierte das Ergebnis. 65% Novani, 25% Okter, 5% Faiwer, 4% Seisone, 1% Septemer.

Was für ein Unsinn! Die Twajis hatten recht, es als Gattakack zu bezeichnen. Er war 100% Novani, das war doch jedem klar!

Seine Aufregung schlug unvermittelt um, seine Energie sackte ab. Sogleich sank er in einen tiefen Erschöpfungsschlaf. Im Traum irrte er auf dem Pareli-Schiff umher, allein inmitten von glücklichen Paaren. Das Schiff begann zu schwanken, eine schwarze Wolke zog auf, sog ihn ein …

Als er erwachte, bemerkte er, dass er sich in einen Teppich verkrallt hatte. Verschämt ließ er ihn los, sprang auf, öffnete die Tür – und zog im letzten Moment seinen Fuß aus der Leere zurück.

Ein tiefes Entsetzen stieg in ihm hoch. Etwas stimmte nicht mit ihm und seiner Wahrnehmung. Warum war er nicht gelandet? Unter ihm lag sein Platz. Ganz frei, genau wie alle umliegenden Hügel. Hatte er auch das Okapi nur fantasiert?

Ein jämmerliches Miaulen drang von unten an sein Ohr. Kahu, sein Katzenhund!

Rasch landete er und ließ ihn herein. Während er ihn schuldbewusst streichelte, dachte er fieberhaft nach. Es war das erste Mal, dass er erwog, für sich selbst Hilfe zu suchen. Unzählige Male hatte er selbst Mediationen durchgeführt, zugehört und Entfaltungen begleitet. Immer hatte er sich stabil und ausgefüllt gefühlt, immer hatte er sich auf seinen Spür- und Denksinn verlassen können. Und jetzt das!

Aber Noktus hatte gemeint, es sei noch nicht Zeit, zu gehen. Was war es dann, was war mit ihm los?

Verwandlung

Diesmal flog sein Kasten geradeaus. Raino parkte ihn auf einem AFK-Sammelplatz am Rande des Novani-Kerngebiets und eilte durch tiefgrüne Wiesen in einen silbrigen Wald. Ihm schwindelte, Hitze drückte ihn nieder. Seine Feder sank herab.

Solaria sei Dank kam ihm schon auf der ersten Lichtung jemand entgegen. Die Gestalt kam ihm seltsam vertraut vor. Sie war klein und sah sehr jung aus, hatte ein schmales, bleiches Gesicht und trug einen altmodischen schwarzen Umhang mit Kapuze. Doch sie wies ihn ab. »Du bist hier nicht richtig«, sagte sie. »Geh zum Hüter der Faiwer.«

»Ich bin ein O-Novani!«, widersprach Raino. »Warum lehnst du mich ab!? Bist du gar kein Hüter? Oder bin ich dir zu alt?«

»Ich bin ein Hüter, und ich lehne dich nicht ab. Aber ich kann dir nicht helfen. Ein Faiwer-Hüter wird es können.«

Raino blickte ihn ungläubig an. Er wartete, ob der Schwarzgekleidete weitersprechen würde. Doch er hörte nichts. Vielleicht träumte er ihn nur?

Jetzt sagte der Hüter doch noch etwas. »Ich bin wirklich da.« Sanft, aber nachdrücklich berührte er Raino an der Hand.

Zwei Pferde trotteten heran. Der Hüter schwang sich auf den Braunen, der Schecke stupste Raino auffordernd an.

Raino wehrte ab. »Ich kann nicht reiten.«

»Dann gehen wir eben zu Fuß«, sagte der Hüter ruhig. Er saß wieder ab und führte Raino aus dem Kerngebiet heraus zu dem AFK-Sammelplatz, auf dem auch Rainos Kasten stand. Dort wählte er einen schnellen Zweisitzer. »Steig ein.«

Es war mitten in der Nacht, als der Hüter ihn weckte. »Wir sind da. Morgen früh wirst du einem Faiwer-Hüter begegnen.«

Benommen wankte Raino aus dem Flugkasten. Seine novanische Dunkelwahrnehmung funktionierte nicht, er torkelte gegen einen Strauch. Es raschelte und knackte, seine Beine gaben nach. Noch im Fallen schlief er wieder ein. Ein leichter Regen fiel. Erst mit der Dämmerung zogen die Wolken weiter, blass stieg die Morgensonne auf.

Ein Schatten fiel über ihn. Raino fuhr hoch. Eine große weißhaarige Gestalt hatte sich neben ihn gesetzt und blickte ihn mit violetten Augen freundlich an. Sie trug ein weites schafswollenes Gewand, ihre Finger sahen aus wie Wurzeln.

»Ich bin Loira«, sagte die Gestalt mit tiefer Stimme. »Eine Hüterin der Faiwer. Du bist hier richtig. Erzähl mir von dir.«

Sie sprach nicht Novanisch, doch ihre Worte erreichten Raino in der ihm vertrauten Sprache.

Erzählen. Ich muss erzählen. Raino rieb sich die Augen, hinter denen dunkle, nicht fassbare Traumgespinste weiterwirbelten. Er sehnte sich nach seinem Zuhause, nach dem Anblick von sanften grünen Hügeln, er wollte sich strecken und dehnen. Warum war er hier, was sollte er erzählen?

Unvermittelt strömte es aus ihm heraus, all seine Erlebnisse und Wirrnisse der letzten Zeit. Er hörte sich zu wie einem Fremden, der ungefragt und teilnahmslos seine Erinnerungen herunterlas. »Ich glaube, ich muss gehen«, schloss er. »Ich will nur noch schlafen. Ich bin schon alt und glaube nicht mehr daran, dass ich mich in diesem Dasein weiter erfüllen kann.«

Loira lächelte, Goldfunken blitzten in ihren Augen auf. »Bleib noch ein Weilchen. Du bist gerade dabei, deine neue Bestimmung zu finden. Jedes Wesen verändert sich im Laufe seines Lebens, im Einklang mit den jeweiligen Entwicklungsaufgaben. Du wirst alt, das ist richtig, und das Alter ist für dich noch unbekanntes Terrain. Wir gehören zur ersten Generation auf Eutopia, es gibt noch nicht viel Wissen dazu. Wir können uns darauf auch nicht vorbereiten. Bei dir hat sich eine Tür zu neuen Wahrnehmungen geöffnet. Ich werde dir helfen, damit umzugehen.«

»Ich bin ein Novani«, murmelte Raino. »Und du bist eine Faiwa. Wie soll das funktionieren?«

»Du warst ein Novani. Ich sehe, wie deine Gedanken sich in neuen Netzwerken ausbreiten. Du achtest nur auf Zweig und Frucht, achte auch auf die Wurzeln. Viel Neues scheint durch sie geflossen zu sein. Du hast dich verändert. Fühl mal deine Feder.«

Raino griff sich an den Kopf. Die Feder war geschrumpft und zerfaserte wie Wolle.

»Vielleicht hat dein neuer Schüler deinen Wandlungsprozess beschleunigt. Manche Katter greifen immer noch in die Gedanken anderer ein, ohne dazu eingeladen zu sein.«

»Machst du das auch?«, fragte Raino. Er war völlig verstört. Seine Feder, seine Antenne, sein Spürsinn!

»Ich lese Gedankentexte und schaue geistige Bilder. Das tun viele. Doch wir wollen weder verändern noch manipulieren.

Gedankentexte lesen und Bilderschauen ist nichts Schlimmes. Es geht oft schneller als Zuhören oder dient der Überprüfung, ob etwas richtig verstanden wurde. Wir Hüter haben dafür gesorgt, dass es in Schulen und an der MUG, der Faiwer-Multiversität für Ganzheitlichkeit, gelehrt wird. Das Wichtigste dabei ist zu wissen, dass wir alles interpretieren und unsere Interpretationen falsch sein können. Das Bild einer Blume in einem Katter-Kopf bedeutet etwas anderes als das gleiche Bild in einem Trejaner-Kopf. Das ist leicht zu verstehen. Aber nicht einmal in zwei Trejaner-Köpfen meint der Begriff ‚Blume‘ oder das Bild einer Blume dasselbe.«

»Ich dachte, so etwas dürfe es auf Eutopia nicht geben.«

»Im Gegenteil, es muss es geben. Der andere Wahrnehmungsraum ist nicht nur wichtig, sondern sogar unentbehrlich. Unter anderem basiert unsere geistige Universalsprache darauf. Natürlich gibt es viele Missverständnisse. Entscheidend ist immer der Umgang damit und die Berücksichtigung des Kontextes.«

Raino machte eine abwehrende Geste und verfolgte dabei sein geistiges Bewegungsmuster. Die Schnörkel irritierten ihn.

Loira nickte ihm beruhigend zu. »Der andere Wahrnehmungsraum birgt ungeheures Potential«, fuhr sie fort. »Die Zeronier leben am tiefsten darin, daher haben sie die Fähigkeit, Feuerringe zu erzeugen. Du weißt, ohne ihre atmosferischen Schutzringe könnten wir nicht lange existieren. Bei den Septemern gibt es Wettermacher, auch sie brauchen Zugriff auf den Raum. Und die Twajis unterstützen mit ihrer Wahrnehmung des Raums einen geregelten Wassa-Kreislauf, er ist nicht nur technisch organisiert. Verstehst du, Eutopia funktioniert nur im Zusammenspiel von Technik mit der anderen Wahrnehmung. Alles was sich manifestiert an Landschaft, Flora und Fauna, auch Energieaufnahme, Vermehrung und Wachstum, wird darüber zumindest mitgestaltet.

Wir Hüter haben viele Aufgaben. Unter anderem sorgen wir dafür, dass niemand den Raum missbraucht. Und bedenke, Raino, der du bald anders heißen wirst, wir bewegen uns durch fremde Galaxien. Wir brauchen alle Wahrnehmungsfähigkeiten, die es gibt.«

»Das also hütet ihr in Wahrheit. Den Raum.«

»Und alle Fähigkeiten. Hast du das nicht gewusst? Es ist doch kein Geheimnis, du kannst es sogar gugeln. Wir hüten alle Wahrnehmungsmöglichkeiten, alle Fähigkeiten, alle Elemente und alle Geschichten. Jeder Eutopianer vermag die andere Wahrnehmung zu lernen, wenngleich es nicht nötig ist, dass alle es tun. Für uns Hüter ist es allerdings unerlässlich.«

»Ich hatte keine Ahnung davon«, gestand Raino kleinlaut. »Ich bleibe fast immer zuhause oder halte mich in der MISAP auf.«

Loira meinte sanft: »Du warst ein Hüter des Denksinns, sehr spezialisiert. Solche Hüter verlassen selten ihr Königsbergen.

Dennoch erscheint mir etwas an deiner Verwirrheit seltsam. Träumst du häufig von deinen Verantwortern oder begibst du dich gerne in die Zeit, in der du ein Kleiner warst?«

»Nein. Ich habe keinerlei Erinnerungen an mein Dasein bis zum Alter von ungefähr 30 Jahren.«

»Wirklich?«, fragte Loira überrascht. »Wie kann das sein? Was ist deine erste Erinnerung?«

»Ich sitze neben Noktus auf einem Hügel im Novani-Allgebiet. Es fühlt sich an, als wären wir Freunde. Es ist auch Noktus’ erste Erinnerung. Wir beide brauchten Jahre, um uns auf Eutopia zurechtzufinden. Gemeinsam haben wir viele Gebiete bereist. Danach widmete Noktus sich der Füssik, ich hingegen entwickelte die Psychologik.«

»Suchst du nach deinen Wurzeln und willst deswegen ein Faiwer werden?«, fragte Loira.

»Ich will keine Wurzeln. Kannst du mir meine Verwirrung nicht einfach wegmachen?«, bat Raino. Er konnte es nicht lassen, an den Überresten seiner Feder herumzuzupfen. Es war ihm, als würde er innerlich und äußerlich zerbröseln. »Oder wenigstens mein Unglücklichsein?«

»Du kennst die Antwort. Fürs Wegmachen sind die Katter zuständig. Sie haben erfolgreiche Methoden und viel Erfahrung damit. Nur hat eben alles Risiken und Nebenwirkungen. Du würdest auf deine Weiterentwicklung und auf deine neue Entfaltung verzichten müssen. In den Geschichten, die vom Verum handeln, durfte niemand unglücklich sein. Nimm es als Privileg, dass du es sein darfst. Es hat dich zu mir geführt. Akzeptiere dein Durcheinander-Sein. Es ist nur vorgehend, alles sortiert sich gerade auf eine dir noch unbekannte Weise. Spürst du keine Neugier?«

Raino schüttelte den Kopf. Er fühlte sich sehr schwach. Die Sonne stand hoch am blassblauen Himmel, doch er konnte ihre Energie nicht spüren. Sein Blick fiel auf eine dunkelrote Beere. Sie gefiel ihm außerordentlich gut.

Entschlossen riss er seine Augen von ihr los. »Loira, was bedeutet es, wenn ich ein Okapi fantasiere oder eine Lussinda? Sind das verborgene Wünsche?«