Eutopia - Ingrid Manogg - E-Book

Eutopia E-Book

Ingrid Manogg

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Beschreibung

Alles schlägt über Rimembert zusammen. Er vermisst Noktus, gleichzeitig scheint seine Beziehung mit Zaradiva am Ende. Und dann soll er auch noch Lussindas langweiligen Nachlass durchlesen. Bald ist er auf der Flucht - die Katter jagen ihn. Erst als er Albinatus kennenlernt, beginnt er zu verstehen. Inzwischen versteckt sich Lunovo bei den Trejanern und findet dort gerade rechtzeitig seine neue Bestimmung. Denn jemand schmiedet gefährliche Pläne...

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Zu diesem Buch

Alles schlägt über Rimembert zusammen. Er vermisst Noktus, gleichzeitig scheint seine Beziehung mit Zaradiva am Ende. Und dann soll er auch noch Lussindas langweiligen Nachlass durchlesen. Bald ist er auf der Flucht – die Katter jagen ihn. Erst als er Albinatus kennenlernt, beginnt er zu verstehen. Inzwischen versteckt sich Lunovo bei den Trejanern und findet dort gerade rechtzeitig seine neue Bestimmung. Denn jemand schmiedet gefährliche Pläne …

Hinweis für den Leser: Wer wie Rimembert kein Interesse an Lussindas Nachlass hat, kann die entsprechenden (kursiven) Passagen problemlos überspringen. Die Handlung der Geschichte ist auch ohne diese nachvollziehbar.

Bereits erschienen:

Aus der Reihe Eutopia: Band 1 Beschleunigung

Die Reihe Der Weg nach Eutopia

Inhalt

Einführung

Die Legende von Phoenix und Roch

Der Auftrag

Itzmieh, hai!

Unizar

Es brennt

Das Spiel

Das Hier-Hops-Programm

Unter Schock

Rimembert wird gesucht

In Liebe vereint

Ungebetene Gäste

Lektüre

Wataboding, Schocken, Moppen

Allgottrhythmus

Spiegeln

Der Compulsion Blow Autsch

Wunschfilme

Linearität

Lemno schöpft Verdacht

Lunovo

Sortieren

Alles richtig

Flucht

Zaradiva darf gehen

Die Schneekuppel

Neumondleer

Begegnung?

Die drei Hüter

Albinatus

Das Hohlogramm

Düstopien

Der Einsiedler

Flora, Foira, Feder

Hoffnung

Ributi

Die Feuerkuppel

Ein Teil von uns

Etwas fügt sich zusammen

Rückblick – Zwei Wochen zuvor

Einführung

Eutopia ist entstanden aus der Vereinigung der neun Planeten Formicula, Ludofluid, Lunaflor, Mosaika, Radix, Lignum, O-Ton, Lemniskate und Solaria. Zwei künstlichen Sonnen liefern Energie, Licht und die gewünschten Temperaturen. Die Sonnen sorgen auch für den Antrieb – Eutopia kann seinen Kurs durch das All-versum selbst bestimmen. Atmosfoira, der Wohnort der Zeronier, folgt und unterstützt Eutopia.

Eutopia ist geformt wie ein Ei und umgeben von mehreren Schutzschichten. Es besteht aus neun Gebieten, den ursprünglichen Planeten entsprechend, und aus den sie umgebenden Allgebieten. Jeder Eutopianer kann sich niederlassen, wo er will, auf Zeit oder für immer. Es gibt mehr als genug Platz. In den Gebieten entsprechen die klimatischen und landschaftlichen Bedingungen den Bedürfnissen der dort ansässigen Originalstämmigen. In den Allgebieten herrschen moderatere Lebensbedingungen.

Wie ihre versanischen Vorfahren ähneln die Eutopianer Menschen. Ihre Sinnessysteme sind jedoch teils spezialisierter, teils ‚gesamtleiblicher‘ und ihre körperliche Substanz ist für andere Elementarteilchen durchlässig. Daher können sie auf verschiedene Weise Energie gewinnen und Nachwuchs erzeugen. Es gibt immer mehr ‚gemischte‘ Eutopianer‘, sogenannte Mis, aber nach wie vor auch ‚Originalstämmige‘, sogenannte Os, mit typischen Merkmalen.

O-Novanis sind dünn, dunkel und meist langhaarig. Eine Feder wächst aus ihrem runden Kopf. Sie nähren sich von Sonnenlicht, lieben Pferde und Bücher. Die meisten verehren immer noch Solaria, jedoch mehr das Prinzip, nicht eine materielle Sonne. Sie erwünschen ihren Nachwuchs, indem sie sich an den Händen halten und in die Sonne blicken. Sie kennen keinen Unterschied zwischen männlich und weiblich.

O-Okter sind hellbraun, rundlich und meist kurzhaarig. Sie gewinnen Energie, indem sie ihre innere Lemniskate in Schwingung versetzen. Wenn zwei Okter sich synchronisieren, können sie Kleine erwünschen. Okter sind naturwissenschaffend aktiv und mögen Katzenhunde.

O-Septemer sind vorwiegend hell und schlank, ihre Haare sind voll. An jeder Hand wachsen sieben Finger. Ihr Leib ist ein Klangkörper. Sie nähren sich durch Töne und Klänge und ertönen ihren Nachwuchs in einer Klangschale. Der Glaube an einen wahren O-Ton ist geschwunden.

O-Seisonen sind sehr groß, untersetzt und kräftig. Ihre Haare sind dicht, die Farbe variiert wie bei ihren Augen. Sie verehren das Wesen des Waldes, nähren sich von Honigduft und vermischen ihren Eigenduft, um Kleine zu erzeugen. Sie sind vertraut mit Wölfen, Binen und Vögeln.

O-Faiwer sind eher hell. Ihre langen Haare sind wirr, Finger und Zehen gewunden. Sie laufen und denken selten geradeaus. Sie verehren das Prinzip des inneren Wachstums und des Verwurzelt-Seins, das sie Radix nennen, und nähren sich von Beeren. Sie mögen Schafe. Ihre Kleinen wachsen in einem Wurzelnest auf.

O-Katter bevorzugen für sich die Bezeichnung Elite-Katter. Sie sind haarlos, stabil gebaut und kantig. Mund und Gliedmaßen sind dünn. Sie können aus fast allem Energie gewinnen. Sie lieben Technik und Techniken und sind als einziger Stamm noch hierarchisch organisiert. Sie optimieren und klonen sich.

O-Trejaner sind klein und bleich. Ihre rundlichen Konturen wirken unscharf, ihr Äußeres wechselt mit den Mondphasen. Die Haare sind staubfein, die Augen groß und rund, ohne Weiß. Sie verehren ihren Mond, trinken sein Licht und den Duft der Blumen. Sie leben in Dreier-Einheiten und erwünschen ihre Kleinen in Vollmondblüten. Sie mögen Katzen.

O-Twajis sind schlank, lockig, meist hell und überaus beweglich. Jeder von ihnen trägt einen Luden (eine Schlange) mit sich herum. Sie preisen das Prinzip Ludofluid – flüssiges Spiel – sind gesellig und ziehen ihre Energie aus dem Wassa. Ihren Nachwuchs ertanzen sie, bis er sich in einer Wassa-Blase manifestiert.

O-Unis sind groß, schlank und zäh, Augen und Haare sind tiefschwarz. Zwei feine Fühler ragen aus ihrem Kopf. Sie verehren die große Formicula in jedem Uni und nähren sich von Emsensaft. Energie gewinnen sie, indem sie dienen oder sich als Einheit zusammenschließen. Sie legen Eier, jeder kann dabei König oder Königin sein.

Zeronier sind kompakt und kräftig, Haare und Leib wechseln zwischen dunkel- und flammenfarbig. Sie nähren sich von Feuer und langweilen sich schnell. Jeder Zeronier ist mit dem Drachen verbunden, der gemeinsam mit ihm im Mutterdrachen herangewachsen und geschlüpft ist.

Alle Eutopianer sind untereinander sehr verschieden. Doch sie müssen weder glücklich sein noch einander mögen. Sie regeln ihr Zusammenleben durch Mediation und über unhierarchische Abstimmungsprozesse, in denen das sachliche Argument zählt und die Erkenntnisse der Psychologik berücksichtigt werden. Sie wählen ihre meist wechselnden Tätigkeiten und Aufgaben selbst; Schulen, Praktika und Multiversitäten sind frei für alle. Hilfe bei Problemen oder organisatorischen Fragen gibt es im Eu-Net, bei Mediatoren, Hütern, fachlich Kompetenten und Räten. Statt Macht gilt das Prinzip der Verantwortung, statt Gesetzen gibt es Regeln auf Zeit, statt Gefängnissen ‚Entfaltungsschutzräume‘.

Jeder Eutopianer darf über seinen ‚Besitz‘ verfügen nach den Kriterien der Verantwortlichkeit. Es gibt keinerlei Einschränkungen, über wieviel ‚Besitz‘ jemand verfügen darf. Nur Grundbesitz gibt es nicht, Gebiete werden gemeinsam verwaltet. Niemand muss teilen oder abgeben, es ist von allem genug da. Grundprinzipien auf Eutopia sind Vielfalt, Spielraum und Transparenz. Kommuniziert wird persönlich, über das Eu-Net mithilfe von Komkatts (Kommunikationsgeräte) oder über den geistigen Raum.

Wohlstand, Wahlmöglichkeit, Kreativität, Ausdrucksmöglichkeiten für die verschiedensten Fähigkeiten, Wissen um Psychologik, Technik und funktionierende Logistik sind ebenfalls unerlässliche Basis von Eutopia. Es wird nach Wunsch und Bedarf produziert, vorwiegend von ‚Künstlichen‘ und ‚Vier-Dimensionen-Drucker‘. Und es gibt keinerlei äußerliche Belohnungssysteme, also keine Währungen oder Bonuspunkte irgendwelcher Art. Lernen, Wachsen, Freunde, Partner und/oder Ausdrucksmöglichkeiten finden und das selbstwirksame, individuelle Sich-Entfalten gelten als die wahren Herausforderungen des Lebens.

Diese Geschichte schließt zeitlich an den Band Beschleunigung an.

Die Legende von Phoenix und Roch

Einst schlüpften zwei Vögel aus ihren Eiern. Der eine schlüpfte auf einem Berg, der andere in einer Ebene. Der eine Vogel war schwarz und hieß Roch, der andere Vogel war golden und hieß Phoenix.

Vogel Phoenix liebte es, seine goldenen Federn auszubreiten, dann konnte er sich in tausend spiegelnden Facetten erblicken. Manchmal kullerte eine kristallene Träne aus einem seiner Augen und heilte das, worauf sie tropfte.

Auch Vogel Roch spreizte gern seine Federn. Er genoss es, sich unter ihrem Schwarz zu verbergen. Wenn er flog oder mit den Flügeln flatterte, warf er tiefe Schatten. Manchmal fühlte er sich alleine, dann schrie er markerschütternd.

Eines Tages entdeckte Roch den Phoenix. Freudig rief er: »Endlich ein Vogel, so groß wie ich! Willst du mein Freund sein? Willst du mit mir spielen?« Er flatterte mit den Flügeln, bis ihre Schwärze den Phoenix vollständig bedeckte und dessen goldenen Spiegelungen erloschen.

Entsetzt hüpfte Phoenix aus dem Dunkel und flog auf. Während er wieder ergoldete, ließ er zwei Tränen auf die Federn von Roch tropfen. Doch nichts geschah. »Was ist mit dir?«, fragte Phoenix fassungslos. »Kannst du etwa nicht geheilt werden?«

Roch verstand nicht, was Phoenix meinte. Er zog sich zurück. Nun aber fühlte er sich nicht mehr nur allein, sondern einsam. Und er schrie noch lauter und rauer als zuvor.

Als sie erwachsen waren, legte jeder der Vögel ein Ei. Roch sang seinem Ei den Schrei vor und löste sich danach in Schwärze auf. Phoenix stieg kurz vor dem Schlüpfen seines Kükens in den Himmel, verbrannte lichterloh und ließ seine glühende Asche in das sich eben öffnende Ei regnen. Daraufhin vergoss der neue Phoenix erste Tränen und heilte damit seine Verbrennungen.

Auch der neue junge Roch suchte die Freundschaft mit dem neuen jungen Phoenix, wollte mit ihm spielen und wurde abgewiesen. Ebenso der nächste Roch und der übernächste … So wurde der Schrei der Rochs mit jeder Generation lauter und durchdringender, und jeder Roch wurde noch größer als sein Vorgänger. Und es wurden auch die Tränen der Phoenixe zahlreicher, die sie vergeblich auf die Rochs tropfen ließen.

Nach einigen weiteren Generationen suchten die Rochs nicht mehr die Freundschaft der Phoenixe. Sie hatten die Ablehnung verinnerlicht. Und zur gleichen Zeit verstanden die Phoenixe, dass sie nur heilen sollten, was geheilt werden wollte.

Fortan umkreisten über viele Zeiteinheiten hinweg zwei mächtige Vögel den Planeten. Der eine, mittlerweile riesengroß, warf Schatten und schrie. Verzweiflung, Einsamkeit und Angst erfasste alle Geschöpfe, die ihn hörten oder sahen. Der andere Vogel spiegelte goldene Bilder und tropfte kristallene Tränen, und wo sie hinfielen, geschah Heilung. Je öfter der schwarze Vogel kreiste und schrie, desto mehr Geschöpfe verlangten nach Heilung und goldenem Licht.

Bald erkannte der Phoenix, dass seine Tränen niemals ausreichen würden, alles Lebendige und Leidende zu erlösen. Da er sich nicht vergrößern konnte wie Roch, beschloss er, es solle mehr von seiner Sorte geben. Er verwandelte sich in eine Phoenisse und legte ein Phoenissen-Ei nach dem anderen. Jede der neuen Phoenissen legte noch mehr Eier. So stieg die Zahl der Phoenissen exponentiell an, bis es rund um den Planeten Milliarden von Phoenissen gab mit gigantischem Heiltränenpotential. Das war der Tag des Lichts.

An diesem Tag flogen alle Phoenissen gleichzeitig auf und breiteten weit ihre Flügel aus. Der Glanz ihrer Federn bedeckte den Himmel wie eine unendliche Wolkenschicht aus goldenem Licht.

Die Hjumän gerieten in Verzückung. Sie rannten auf die Straßen, tanzten in Ekstase und zeigten auf den goldenen Vorhang, aus dem die Tränen der Phoenissen zu tropfen begannen. »Die Erlösung ist gekommen!«, schrien sie.

Während die kristallenen Tropfen auf sie fielen, traten sie in die goldene Spiegelung ein und wurden geheilt. Alle Wunden, alle Schmerzen, alles Leid verwandelte sich, wie wenn der sanfteste Regen alle Blumen der Welt gleichzeitig zum Blühen bringt und alle Harmonien auf einmal erklingen. Die Hjumän heilten, die Tire heilten, ebenso die Pflanzen, die Autos, die Steine, die Flüsse, die Meere, die Erde – alles heilte.

Und es regnete weiter. Hjumän umarmten sich, Tire hielten andächtig inne, Fische vergaßen zu atmen …

Und es regnete weiter. Straßen wurden überflutet, Flüsse und Seen traten über die Ufer, die Meere schwollen an. Das Wassa stieg und stieg, alles ging heilend und geheilt in der Tränensintflut unter. Das Wassa durchtränkte die Erdschichten, löschte alle Lavaglut, durchfeuchtete die Erdkerne. Und es regnete weiter, bis Örf vollgesogen war wie ein Schwamm und aus dem Gleichgewicht geriet.

Die Phoenissen stiegen noch höher in den Himmel und verbrannten in einem gigantischen Feuerball, in goldener Erfüllung, in einem Fest geheißen Samadhi. Es war, als wären sie ein einziger riesiger Phoenissen-Phoenix. Die Flammen loderten so hoch, dass ein goldener Abglanz davon in das Weltall hineinleuchtete. Die glühende Asche hingegen fiel in das Tränenmeer und erlosch für immer.

Nur der Gipfel des allerhöchsten Berges ragte noch aus dem Wassa. Hier saß Vogel Roch, der einzige Zeuge des goldenen Feuerwerks und des Ascheregens. Er blickte einer kristallenen Träne nach, die sich aus dem Meer löste und vom Sog des Weltalls erfasst wurde. Dann flog er auf und umrundete den überfluteten Planeten. Alles war wüst und leer, nichts und niemand lebte mehr. Es war, als hätten alle Rochs vor ihm den Schrei nur deshalb weitergegeben, um diesem hier den größten Ausdruck zu geben. Vogel Roch schrie und schrie, bis ihn der Schrei zerriss.

Später fanden auf einem anderen, fernen Planeten Schrei, Träne und Spiegelglanz wieder zusammen und alles begann von vorne.

Der Auftrag

Schon wieder eine dieser unverständlichen Lussinda-Geschichten! Entmutigt ließ Rimembert die letztgelesene Seite sinken. Am liebsten hätte er sie zerknüllt und auf den Boden geworfen.

Wenn er wenigstens sein Komkatt nutzen dürfte … Diese Papierversion war ja nicht einmal ein Buch, nur eine einseitig bedruckte Lose-Blatt-Sammlung.

Unvermittelt stieg Wut in ihm auf. Warum sollte ausgerechnet er sich damit abgeben? Hätte nicht Raino sich um Lussindas Nachlass kümmern müssen? Bei dem Gedanken durchzuckten ihn Schuldgefühle, die in ein Schmerzgefühl umschlugen.

Raino und Noktus sind gegangen, hatte ihm Lunovo gestern Abend geschrieben. Bitte komm schnellstmöglich zur MISAP.

Nun saß er hier, allein in einem gekühlten Gästezimmer der Multiversität Immersommer, Abteilung Psychologik, und fühlte sich hintergangen. Er hatte alles stehen und liegen lassen, um rechtzeitig zu den Trauerfeiern da zu sein – nur um bei seiner Ankunft zu erfahren, dass sie erst in zwei Wochen stattfinden würden. Er solle die Zeit nutzen, Lussindas gesamte Schriften durchzugehen, hatte ihm Lunovo ohne ein Wort der Entschuldigung zugeflüstert. Es sei wichtig.

Rimembert war zu müde gewesen, um sich zu wehren, er hatte in der Reisenacht kaum geschlafen. Aber jetzt reichte es. Entschlossen stapfte er den Flur entlang zur kleinen Bibliothek, Rainos früherem Lieblingszimmer.

Die Tür stand offen. Lunovo, wie immer in seinen altmodischen schwarzen Kapuzenumhang gekleidet, saß am Tisch und blätterte in einem Buch.

»Ich fliege wieder nach Hause«, sagte Rimembert, ohne einzutreten. »Jetzt gleich. Ich möchte zu Zaradiva. Und ich will auch nicht mehr zu den Trauerfeiern.«

Lunovo blickte ihn nachsichtig an. »Raino und dein Freund Noktus hätten sich sicher gewünscht, dass du mich unterstützt. Ich durchsuche gerade Rainos Bücher nach Hinweisen. Ich muss wissen, warum die Katter sich plötzlich so sehr für Lussindas Schriften interessieren. Rimembert, du bist der einzige Katter, dem ich vertraue. Nur du kannst mir erklären, wie deine Stammesgenossen Wesen und Logik von Hjumän interpretieren.«

»Ich habe nichts mehr mit den Katter zu tun«, wehrte Rimembert ab. »Sie haben meine psychologische Anleitung zum Umgang mit ihren Kleinen abgelehnt«. Demonstrativ strich er über seinen hellbraunen Umhang. »Ich bin schon lange halb Uni, halb Faiwer und lebe in deren Allgebiet, wie du weißt.«

Lunovo lächelte. »Du bist kein Faiwer und noch weniger ein Uni. Kennst du überhaupt die Geschichte von Unizar?«

»Geschichten, immer nur Geschichten. Wir Katter kennen nur Narrative.«

»Du bist durcheinander, deine Trauer um Noktus ist noch frisch. Also gut, nimm die Unterlagen mit und lies sie in deinem Zuhause. Gib Bescheid, sobald du fertig bist. Vielleicht magst du ja doch noch zu den Trauerfeiern kommen. Und wenn du einen Heiler brauchst – ich bin für dich da.«

Wortlos verließ Rimembert die MISAP. Er deponierte Lussindas Schriften in der Mitte seines Flugkastens und lachte grimmig, als sie bei der ersten Turbulenz durcheinanderwirbelten.

Itzmieh, hai!

Die Gegend hier ist ja richtig öde, fiel Rimembert auf, als er am frühen Abend zur Landung ansetzte. Alles flach und grau, nur einige dürre Sträucher, mickrige Bäume und im Kreis angeordnete graue oder erdfarbene, hügelartig aufgetürmte Kästen.

Sein eigener Wohnkasten hob sich wohltuend von dem Einerlei ab. Er stand allein, war zweistöckig und großzügig gebaut. Die Form war teils oval, teils eckig und strahlte in makellosem Weiß.

Routiniert parkte er seinen schnittigen, turboschnellen Flugkasten direkt neben dem torähnlichen Eingang. Einige Meter entfernt stand Zaradivas Haus-Emse vor der offenen Tür, die in ihren separaten Anbau führte, und fuchtelte unorganisiert mit den Antennen. Rimembert ignorierte sie. Seit seinem Praktikum bei Zaruno hatte er nie wieder eine Emse angefasst.

»Zaradiva!«, rief er und klopfte ungeduldig an die große Fensterfront. Er sehnte sich danach, sich bei dem ihm vertrautesten Wesen fallenzulassen. Noktus’ Weggang schien irgendeine Art Lücke in ihm gerissen zu haben.

Auch auf sein erneutes Klopfen und Rufen antwortete niemand. Rimembert beschlich ein seltsames Gefühl. Mit seinem Codewort öffnete er die Haustüre und blickte sich um. Bis auf die edlen Möbel war alles leer, Zaradiva war nicht da. Er suchte nach einer kleinen liebevollen Notiz – nichts. Auch keine Nachricht auf seinem Komkatt. Dabei hatte er ihr doch geschrieben, dass er zur MISAP gereist war, wenngleich nicht warum, und dass er heute Abend zurückkommen würde. Müde sank er auf das Sofa. Als die Dunkelheit aufzog, fielen ihm die Augen zu.

»Itzmieh, hai!«

Zaradivas Stimme riss Rimembert abrupt aus dem Schlaf. Noch benommen murmelte er: »Wo warst du denn solange? Noktus und Raino sind gegangen. Und ich soll Lussindas gesamten Nachlass durchlesen.«

Zaradiva schaltete die Lichter ein und setzte sich ihm gegenüber. Im ersten Moment erfasste Rimembert sie nur als Schatten. Er wartete darauf, dass sie etwas sagte, schließlich hatte sie Raino und Noktus ebenfalls wertgeschätzt, und dass sie ihn tröstend mit ihren Fühlern umspielte. Doch sie tat es nicht.

Zorn kochte in ihm hoch. »Warum hast du mir nie die Geschichte von Unizar erzählt? Bei den Novanis kennt sie jeder!«

»Ich dachte, Uni-Geschichten interessieren dich nicht«, erwiderte Zaradiva knapp. »Im Übrigen kannst du sie jederzeit im Eu-Net nachlesen.«

Sie erhob sich, ging in ihr privates Zimmer und schloss ab. Rimembert starrte ihr fassungslos hinterher. Zum ersten Mal in ihrem langen Zusammensein wies sie ihn ab, zum ersten Mal verbrachten sie die Nacht in getrennten Räumen. Was war los mit ihr, und was war mit ihm los? Er hatte doch in all den Jahren gelernt, Gefühle in sich wahrzunehmen, sie einzuordnen und mit ihnen umzugehen. ›Sie kommen und gehen, wie Wellen‹, hatte ihm Raino vor langer Zeit erklärt. ›Du kannst auf ihnen schaukeln, auf ihnen surfen, ihre Energien nutzen, sie als Hinweise beachten. Oder über ihrem Fluss schweben. Gefühle verändern sich von alleine, wenn du sie lässt. Wenn du in ihnen schwimmst, bleibe mit dem Kopf über Wassa und atme. Tauchst du unter, mach es wie ein schlafender Delfin: lass eine Gehirnhälfte wach …‹

Und jetzt? Fühlte er überhaupt etwas? Leere war doch kein Gefühl. Sie wellte nicht, sie floss nicht, sie blieb einfach. Und woher kam dieser Zorn? Wieso war Zaradiva so kalt, warum half sie ihm nicht? Und was war eigentlich eine Trauerfeier, was feierten sie da bloß? Für Katter gab es so etwas wie Trauer nicht. Er würde Noktus danach fragen. Nein, Noktus war doch gegangen.

Er war so durcheinander. Könnte Lunovo ihm helfen? Er war ein sehr untypischer Novani, klein, schmal und bleich, und schien ganz in Ordnung zu sein. Aber er war nicht sein Freund. Lunovo stand nicht auf Freundschaft.

Unizar

Auch am nächsten Morgen sprach Zaradiva nicht mit ihm. Sie trug einen dunklen Umhang, den er noch nie an ihr gesehen hatte. Ohne ihn eines Blickes zu würdigen verließ sie den Kasten, schwang sich in einer eleganten Bewegung auf ihre Emse und ritt davon. Als sie beschleunigte, wehte ihr die Kapuze vom Kopf. Ihre Antennen waren flach angelegt, aber die dünnen dunkelgrauen Haare bildeten störende Linien in der Luft.

Rimembert strich sich über seinen kahlen Schädel und blickte ihr nach, als wäre sie eine Fremde. Er schüttelte die seltsame Empfindung ab und beschloss sich abzulenken. Vielleicht würde es Zaradiva freuen, wenn er sich für diese Unizar-Geschichte interessierte? Bisher war er allen Erzählungen über Unis ausgewichen und sie schien es akzeptiert zu haben. Alles wird wieder gut, sagte er sich. Er griff zu seinem Komkatt, fand die Geschichte von Unizar und wählte die Vorlesefunktion auf Kattarisch. Der strenge Vierertakt und die angenehm tiefe Stimme beruhigten ihn. Erleichtert schloss er die Augen.

»In den alten Zeiten waren alle Unis gleich. Jeder Uni nannte sich ‚Itzmieh‘ und begrüßte andere Unis mit ‚Itzmieh, Hai!‘ Die Unis waren alle gleich, weil sie Ungleiche sofort nach dem Schlüpfen eliminierten. So fühlten sie sich stets als Einheit. Sie konnten ihre Energie untereinander fließen lassen und sie dadurch verstärken.

Dann aber kam das große Fest, welches das Verum einläutete, die Herrschaftszeit der Katter. Alle Unis waren eingespannt in die Vorbereitungen, in die Durchführung und in die Nachbereitung. Nur die Königin und zweimal zehn Brutpfleger blieben auf Formicula, ihrem Planeten. Die Königin schlief tief in ihrem Separee, erschöpft vom Eierlegen. Die Brutpfleger hüteten die Eier und bereiteten alles vor, denn bald würde die nächste Generation schlüpfen. Fleißig molken sie die kleinen Saft-Emsen, die in engen Käfigen standen und sich wie immer erfolglos wehrten, und füllten nährende Saftvorräte ab. Die Zurückgebliebenen waren jedoch unkonzentriert. Sie haderten, weil sie nicht mit auf das Fest durften. Plötzlich erfüllte alle derselbe Gedanke. Ohne sich abzusprechen bestiegen sie ihre Flügel-Emsen und flogen zum Gemeinschaftsplaneten. Heimlich und aus sicherer Distanz beobachteten sie das Geschehen. Nach erfolgter Hüpnose der Zeronier sausten sie sofort wieder zurück.

Doch sie waren zu lange fortgeblieben – die frischgeschlüpften Kleinen lagen verhungert auf dem Boden. Völlig verstört rannten die Brutpfleger durch den Bau, bis sie ein Überlebendes fanden. Eben streckte es seine Fühler durch die weiche Eischale und strampelte sich frei.

›Ein Spätschlüpfer‹, wisperte Itzmieh. ›Wir müssen ihn vernichten. Spätschlüpfer sind schwach und ungleich.‹

›Aber es ist der einzige Kleine, den wir haben‹, wandte Itzmieh ein. ›Er mag zart sein, aber er ist ein Uni. Er ist präsent, er ist ein Präsent.‹

›Wir meinen, er ist ein Geschenk?‹

Itzmieh nickte. Der Brutpflegeinstinkt begann ihn zu durchströmen und wallte auf die anderen Pfleger über. ›Wir müssen füttern, wir müssen pflegen!‹

Itzmieh fuhr mit einem Fühler über seinen Mund. ›Schsch …‹

Alle Itzmiehs nickten einvernehmlich, zusammen versteckten sie den Kleinen in einem stillgelegten Seitengang. Den Unis, die von dem Fest zurückkehrten, erzählten sie etwas von einer Fehlbrut. Die Hektik, hervorgerufen durch die aufregenden Festvorbereitungen, habe sich negativ auf den Schlupf ausgewirkt.

Um die Nachwuchs-Lücke zu schließen wurde beschlossen, die nächste Paarungssaison vorzuverlegen. Die Soldaten weckten die Königin, bald reiften neue Eier. Die daraus Geschlüpften wurden synchron gefüttert und entwickelten sich gleich schnell. Wer nicht wie die anderen mitwuchs, bekam keine Nahrung mehr und ging innerhalb weniger Stunden. So krabbelten nach einiger Zeit neue, robuste Itzmiehs durch den Bau und wurden nach Bedarf und Fähigkeit zur Arbeit eingeteilt.

Auch der zarte Uni verließ nun ab und zu sein Versteck. Durch exzellente Fütterung und Pflege hatte er fast die Größe seiner jüngeren Geschwister erreicht. Doch er fand sich im Gewimmel nicht zurecht, kannte nichts und niemanden und stand allen im Weg.

›Wer oder was ist das?‹, fragte ein Itzmieh der führenden Klasse, als er eines Tages über ihn stolperte. › Wozu dient er? Seine Antennen sind zu dünn, seine Beine zu schwach. Gehört er zu den Lastenträgern? Aber was für Lasten soll er tragen, wenn er kaum seinen Kopf halten kann? Gehört er zu den Soldaten? Wie will er kämpfen? Selbst für einen Späher oder Reiter ist er zu empfindlich. Und wie soll er Emsen melken, wenn sie stärker sind als er? Das soll ein Itzmieh sein?‹

Da richtete sich der Kleine auf und verkündete stolz: ›Ich bin ein Uni, ein Unikat, ein zarter Uni. Ich heiße Unizar, denn ich bin so zart, dass sogar das T zu hart klingt. Ich bin präsent, bin ein Geschenk. Ich diene der Sache an sich.‹

›Hoho‹, lachte der große Itzmieh. Dann stach er mit seinen Antennen dem kleinen Unizar in den Kopf, um an dessen tiefste Bilder und Gerüche zu gelangen. Drohend fragte er: ›Wer hat gegen die Regeln verstoßen, wer hat dich gefüttert und gepflegt? Wer hat aus dir eine Ausnahme gemacht? Ausnahmen beleidigen Formicula, die große Emsen-Königin. Ihr Zorn wird fürchterlich sein!‹

Unizar wimmerte: ›Es war Itzmieh und Itzmieh und Itzmieh und es waren noch mehr Itzmiehs!‹

So etwas war noch nie vorgekommen. Der große Itzmieh löste Alarm aus.

Die Itzmiehs, die den kleinen Unizar aufgezogen hatten, warteten nicht ab, bis der Anführer-Uni ihre Geruchsmuster weitergeben konnte und die große Identifizierung begann. Sie packten Unizar, schwangen sich auf die nächstbesten Flug-Emsen und trieben eine Herde Saft-Emsen vor sich her. Nur weg, schnell weg, bevor sie erkannt wurden und das Auslöschungskommando auf den Plan trat! Sie wussten, es bestand keinerlei Hoffnung auf Entkommen. Sie konnten nur auf ein Wunder hoffen.

Und es geschah, das Wunder. Kurz bevor das Auslöschungskommando die Flüchtigen erreichte, meldeten sich die Katter. ›Unis, wir brauchen eure Dienste. Sofort.‹

›Erst müssen wir eine interne Angelegenheit regeln‹, versuchten die anführenden Itzmiehs die Katter hinzuhalten. Dann schwenkten sie um. ›Immer zu Diensten, große Katter, die ihr größer seid als Formicula. Was dürfen wir für euch tun?‹

Die fliehenden Itzmiehs jubelten, als ihre Verfolger abbogen. ›Die große Formicula will, dass es dich gibt, kleiner Unizar. Wir werden eine neue Kolonie gründen. Du wirst unser Anführer sein und unsere Stammeskönigin. Und wir geben uns individuelle Namen.‹

Sie flohen weiter und weiter, bis ihr Heimatbau vollständig aus ihrem Sichtfeld verschwunden war. ›Wir sind im Nichts gelandet‹, wisperten sie. ›Wir schaffen uns einen Platz im Nichts, dann wird etwas sein.‹

Gemeinsam errichteten sie einen provisorischen Bau und spürten dabei tief in sich hinein. Sie suchten nach ihren Grundfähigkeiten, die unter den vorgegebenen Spezialisierungen vergraben lagen. Schließlich teilten sie sich auf: in Unas und Unos, in Pfleger, Kämpfer, Späher, Boten und Denker. Sie beschlossen, ab und zu ihre Aufgaben zu wechseln, denn alle sollten alles lernen und in allen Bereichen dienen können. Und sie züchteten weitere Saft-, Reit- und Flugemsen.

Unizar wandelte sich inzwischen zu ihrer Königin und blieb es für drei Schlupfe. Seine Brut geriet uneinheitlich. Zarte und robuste Unis entstanden, feinfühlerige und grobfühlerige. Aber alle wurden individuell gefüttert und gepflegt. Manche der Kleinen hatte feine Löcher im Kopf, Unizar freute sich darüber. ›Durch die Löcher weht Wind, der Weg wird klar. Der Weg ist das Ziel. Wir sind präsente Geschenke und leben im Hier und Jetzt.‹

Die Kolonie der Unizare wuchs und wuchs. Sie blieb unentdeckt, bis gegen Ende des Verum die Turbulenzen zunahmen, der Planet der Unis im schwarzen Ring landete und der Kontakt zu den Katter abbrach. Die Itzmiehs verloren jegliche Orientierung, ihre Einheit zerfiel. Verstört wanderten sie umher, ohne Aufgabe und Ziel. Eines Tages begegneten sie den Unizaren und waren dankbar für deren einfühlsames Verhalten. Sie passten sich und ihre Namen an und übernahmen die Konzepte des stolzen Dienens und absichtslosen Überbringens von Geschenken. Von da an galt jeder als Uni, ob zart oder robust, jeder galt als Präsent und als Unikat. Nur wenn die Unis ihre Einheit beschworen, nannten sie sich weiterhin Itzmiehs.«

Das also ist die Geschichte von Unizar. Eine einzige Ausnahme – und schon sind alle Unis degeneriert. Sie haben die Idee der Selektion und des ständigen Besserwerdens verraten.

Rimembert fühlte sich unbehaglich. Er hatte schon lange nicht mehr in der Katter-Logik gedacht. Und was bedeutete es, dass Zaradiva ihn mit ‚Itzmieh-Hai‘ begrüßt hatte? Damit hatte sie ihn doch ausgeschlossen aus ihrer Verbindung, oder? Identifizierte sie sich nun mit der Einheit der Unis, wollte sie kein Unikat mehr sein? Aber sie war doch eine Mi, nur über ihre Faiwer-Anteile hatten sie beide ihre Beziehung und Harmonie verstärken und Kleine erwünschen können. Und natürlich über Zaradivas feine Fühler. Wenn es ihm nicht gut ging oder wenn er längere Zeit von ihr getrennt war, entfremdete er sich von ihr und von sich selbst. Erst wenn sie ihn achtsam abtastete, fand er wieder zu sich und zu seinen Gefühlen. Gestern hatte sie ihn zum ersten Mal ignoriert und in seiner Leere allein gelassen.

Etwas verhärtete sich in ihm. Er beschloss, sich nie wieder befühlen zu lassen.

Es brennt