Eutopia - Ingrid Manogg - E-Book

Eutopia E-Book

Ingrid Manogg

0,0

Beschreibung

Alles schlägt über Rimembert zusammen. Er vermisst Noktus, gleichzeitig scheint seine Beziehung mit Zaradiva am Ende. Und dann soll er auch noch Lussindas langweiligen Nachlass durchlesen. Bald ist er auf der Flucht - die Katter jagen ihn. Erst als er Albinatus kennenlernt, beginnt er zu verstehen. Inzwischen versteckt sich Lunovo bei den Trejanern und findet dort gerade rechtzeitig seine neue Bestimmung. Denn jemand schmiedet gefährliche Pläne...

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 224

Veröffentlichungsjahr: 2024

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Zu diesem Buch

Alles schlägt über Rimembert zusammen. Er vermisst Noktus, gleichzeitig scheint seine Beziehung mit Zaradiva am Ende. Und dann soll er auch noch Lussindas langweilige Schriften durchlesen. Bald ist er auf der Flucht – die Katter jagen ihn. Erst als er Albinatus kennenlernt, beginnt er zu verstehen. Inzwischen versteckt sich Lunovo bei den Trejanern und findet dort gerade rechtzeitig seine neue Bestimmung. Denn jemand schmiedet gefährliche Pläne …

Hinweis für den Leser: Wer wie Rimembert kein Interesse an Lussindas Ausführungen hat, kann die entsprechenden (kursiven) Passagen problemlos überspringen. Die Handlung der Geschichte ist auch ohne diese nachvollziehbar.

Bereits erschienen:

Die Reihe ‚Der Weg nach Eutopia‘

Aus der Reihe ‚Eutopia‘:

Band 1 ‚Beschleunigung‘ und Band 3 ‚Beglückung‘

Inhalt

Einführung

Die Legende von Phoenix und Roch

Der Auftrag

Itzmieh, hai!

Unizar

Es brennt

Das Spiel

Das Hier-Hops-Programm

Unter Schock

Im Seisonen-Gebiet

In Liebe vereint

Ungebetene Gäste

Lektüre

Wataboding, Schocken, Moppen

Allgottrhythmus

Spiegeln

Der Compulsion Blow Autsch

Wunschfilme

Linearität

Lemno schöpft Verdacht

Lunovo

Sortieren

Alles richtig

Flucht

Zaradiva darf gehen

Die Schneekuppel

Neumondleer

Begegnung?

Die drei Hüter

Albinatus

Das Hohlogramm

Düstopien

Ributis Zusammenfassung

Der Einsiedler

Flora, Foira, Feder

Hoffnung

Ributi

Die Feuerkuppel

Bruder im Geiste

Etwas fügt sich zusammen

Rückblick – Zwei Wochen zuvor

Einführung

Eutopia ist entstanden aus der Vereinigung der neun Planeten Formicula, Ludofluid, Lunaflor, Mosaika, Radix, Lignum, O-Ton, Lemniskate und Solaria. Zwei künstlichen Sonnen liefern Energie, Licht und die gewünschten Temperaturen. Die Sonnen sorgen auch für den Antrieb – Eutopia kann seinen Kurs durch das Allversum selbst bestimmen. Atmosfoira, der Wohnort der Zeronier, folgt und unterstützt Eutopia.

Eutopia ist geformt wie ein Ei und umgeben von mehreren Schutzschichten. Es besteht aus neun Gebieten, den ursprünglichen Planeten entsprechend, und aus den sie umgebenden Allgebieten. Jeder Eutopianer kann sich niederlassen, wo er will, auf Zeit oder für immer. Es gibt mehr als genug Platz. In den Gebieten entsprechen die klimatischen und landschaftlichen Bedingungen den Bedürfnissen der dort ansässigen Originalstämmigen. In den Allgebieten herrschen moderatere Lebensbedingungen.

Wie ihre versanischen Vorfahren ähneln die Eutopianer Menschen. Ihre Sinnessysteme sind jedoch teils spezialisierter, teils ‚gesamtleiblicher‘ und ihre körperliche Substanz ist für andere Elementarteilchen durchlässig. Daher können sie auf verschiedene Weise Energie gewinnen und Nachwuchs erzeugen. Es gibt immer mehr ‚gemischte‘ Eutopianer‘, sogenannte Mis, aber nach wie vor auch ‚Originalstämmige‘, sogenannte Os. Ihre typischen Merkmale:

O-Novanis sind dünn, dunkel und meist langhaarig. Eine Feder wächst aus ihrem runden Kopf. Sie nähren sich von Sonnenlicht, lieben Pferde und Bücher. Die meisten verehren immer noch Solaria. Sie erwünschen ihren Nachwuchs, indem sie sich an den Händen halten und in die Sonne blicken. Sie kennen wie Katter und Zeronier keinen Unterschied zwischen männlich und weiblich.

O-Okter sind hellbraun, rundlich und meist kurzhaarig. Sie gewinnen Energie, indem sie ihre innere Lemniskate in Schwingung versetzen. Wenn zwei Okter sich synchronisieren, können sie Kleine erwünschen. Okter sind naturwissenschaffend aktiv und mögen Katzenhunde.

O-Septemer sind vorwiegend hell und schlank, ihre Haare sind voll. An jeder Hand wachsen sieben Finger. Ihr Leib ist ein Klangkörper. Sie nähren sich durch Töne und Klänge und ertönen ihren Nachwuchs in einer Klangschale. Der Glaube an einen wahren O-Ton ist geschwunden.

O-Seisonen sind sehr groß, untersetzt und kräftig. Ihre Haare sind dicht, die Farbe variiert wie bei ihren Augen. Sie verehren das Wesen des Waldes, nähren sich von Honigduft und vermischen ihren Eigenduft, um Kleine zu erzeugen. Sie sind vertraut mit Wölfen, Binen und Vögeln.

O-Faiwer sind eher hell. Ihre langen Haare sind wirr, Finger und Zehen gewunden. Sie laufen und denken selten geradeaus. Sie verehren das Prinzip des inneren Wachstums und des Verwurzelt-Seins, das sie Radix nennen, und nähren sich von Beeren. Sie mögen Schafe. Ihre Kleinen wachsen in einem Wurzelnest auf.

O-Katter bevorzugen für sich die Bezeichnung Elite-Katter. Sie sind haarlos, stabil gebaut und kantig. Mund und Gliedmaßen sind dünn. Sie können aus fast allem Energie gewinnen. Sie lieben Technik und Techniken und sind als einziger Stamm noch hierarchisch organisiert. Sie optimieren und klonen sich.

O-Trejaner sind klein und bleich. Ihre rundlichen Konturen wirken unscharf, ihr Äußeres und ihr Energielevel wechselt mit den Mondphasen. Die Haare sind staubfein, die Augen groß und rund, ohne Weiß. Sie verehren ihren Mond, trinken sein Licht und den Duft der Blumen. Sie leben in Dreier-Einheiten und erwünschen ihre Kleinen in Vollmondblüten. Sie mögen Katzen.

O-Twajis sind schlank, lockig, meist hell und überaus beweglich. Jeder von ihnen trägt einen Luden (eine Schlange) mit sich herum. Sie preisen das Prinzip Ludofluid – flüssiges Spiel – sind gesellig und ziehen ihre Energie aus dem Wassa. Ihren Nachwuchs ertanzen sie, bis er sich in einer Wassa-Blase manifestiert.

O-Unis sind groß, schlank und zäh, Augen und Haare sind tiefschwarz. Zwei feine Fühler ragen aus ihrem Kopf. Sie verehren die große Formicula in jedem Uni und nähren sich von Emsensaft. Energie gewinnen sie, indem sie dienen oder sich als Einheit zusammenschließen. Sie legen Eier, jeder kann dabei König oder Königin sein.

Zeronier sind kompakt und kräftig, Haare und Leib wechseln zwischen dunkel- und flammenfarbig. Sie nähren sich von Feuer und langweilen sich schnell. Jeder Zeronier ist mit dem Drachen verbunden, der gemeinsam mit ihm im Mutterdrachen herangewachsen und geschlüpft ist. Sie gestalten durch Willenskraft.

Alle Eutopianer sind untereinander sehr verschieden. Doch sie müssen weder glücklich sein noch einander mögen. Sie regeln ihr Zusammenleben durch Mediation und über unhierarchische Abstimmungsprozesse, in denen das sachliche Argument zählt und die Erkenntnisse der Psychologik berücksichtigt werden. Sie wählen ihre meist wechselnden Tätigkeiten und Aufgaben selbst; Schulen, Praktika und Multiversitäten sind frei für alle. Hilfe bei Problemen oder organisatorischen Fragen gibt es im Eu-Net, bei Mediatoren, Hütern, fachlich Kompetenten und Räten. Statt Macht gilt das Prinzip der Verantwortung, statt Gesetzen gibt es Regeln auf Zeit, statt Gefängnissen ‚Entfaltungsschutzräume‘.

Jeder Eutopianer darf über seinen ‚Besitz‘ verfügen nach den Kriterien der Verantwortlichkeit. Es gibt keinerlei Einschränkungen, über wieviel ‚Besitz‘ jemand verfügen darf. Nur Grundbesitz gibt es nicht, Gebiete werden gemeinsam verwaltet. Niemand muss teilen oder abgeben, es ist von allem genug da. Grundprinzipien auf Eutopia sind Vielfalt, Spielraum und Transparenz. Kommuniziert wird persönlich, über das Eu-Net mithilfe von Komkatts (Kommunikationsgeräte) oder über den geistigen Raum.

Wohlstand, Wahlmöglichkeit, Kreativität, Ausdrucksmöglichkeiten für die verschiedensten Fähigkeiten, Wissen um Psychologik, Technik und funktionierende Logistik sind ebenfalls unerlässliche Basis von Eutopia. Es wird nach Wunsch und Bedarf produziert, vorwiegend von ‚Künstlichen‘ und ‚Vier-Dimensionen-Drucker‘. Und es gibt keinerlei äußerliche Belohnungssysteme, also keine Währungen oder Bonuspunkte irgendwelcher Art. Lernen, Wachsen, Freunde, Partner und/oder Ausdrucksmöglichkeiten finden und das selbstwirksame, individuelle Sich-Entfalten gelten als die wahren Herausforderungen des Lebens.

Diese Geschichte schließt zeitlich an den Band Beschleunigung an.

Die Legende von Phoenix und Roch

Einst schlüpften zwei Vögel aus ihren Eiern. Der eine schlüpfte auf einem Berg, der andere in einer Ebene. Der eine Vogel war schwarz und hieß Roch, der andere Vogel war golden und hieß Phoenix.

Vogel Phoenix liebte es, seine goldenen Federn auszubreiten, dann konnte er sich in tausend spiegelnden Facetten erblicken. Manchmal kullerte eine kristallene Träne aus einem seiner Augen und heilte das, worauf sie tropfte.

Auch Vogel Roch spreizte gern seine Federn. Er genoss es, sich unter ihrem Schwarz zu verbergen. Wenn er flog oder mit den Flügeln flatterte, warf er tiefe Schatten. Manchmal fühlte er sich alleine, dann schrie er markerschütternd.

Eines Tages entdeckte Roch den Phoenix. Freudig rief er: »Endlich ein Vogel, so groß wie ich! Willst du mein Freund sein? Willst du mit mir spielen?« Er flatterte mit den Flügeln, bis ihre Schwärze den Phoenix vollständig bedeckte und dessen goldenen Spiegelungen erloschen.

Entsetzt hüpfte Phoenix aus dem Dunkel und flog auf. Während er wieder ergoldete, ließ er zwei Tränen auf die Federn von Roch tropfen. Doch nichts geschah. »Was ist mit dir?«, fragte Phoenix fassungslos. »Kannst du etwa nicht geheilt werden?«

Roch verstand nicht, was Phoenix meinte. Er zog sich zurück. Nun aber fühlte er sich nicht mehr nur allein, sondern einsam. Und er schrie noch lauter und rauer als zuvor.

Als sie erwachsen waren, legte jeder der Vögel ein Ei. Roch sang seinem Ei den Schrei vor und löste sich danach in Schwärze auf. Phoenix stieg kurz vor dem Schlüpfen seines Kükens in den Himmel, verbrannte lichterloh und ließ seine glühende Asche in das sich eben öffnende Ei regnen. Daraufhin vergoss der neue Phoenix erste Tränen und heilte damit seine Verbrennungen.

Auch der neue junge Roch suchte die Freundschaft mit dem neuen jungen Phoenix, wollte mit ihm spielen und wurde abgewiesen. Ebenso der nächste Roch und der übernächste … So wurde der Schrei der Rochs mit jeder Generation lauter und durchdringender, und jeder Roch wurde noch größer als sein Vorgänger. Und es wurden auch die Tränen der Phoenixe zahlreicher, die sie vergeblich auf die Rochs tropfen ließen.

Nach einigen weiteren Generationen suchten die Rochs nicht mehr die Freundschaft der Phoenixe. Sie hatten die Ablehnung verinnerlicht. Und zur gleichen Zeit verstanden die Phoenixe, dass sie nur heilen sollten, was geheilt werden wollte.

Fortan umkreisten über viele Zeiteinheiten hinweg zwei mächtige Vögel den Planeten. Der eine, mittlerweile riesengroß, warf Schatten und schrie. Verzweiflung, Einsamkeit und Angst erfasste alle Geschöpfe, die ihn hörten oder sahen. Der andere Vogel spiegelte goldene Bilder und tropfte kristallene Tränen, und wo sie hinfielen, geschah Heilung. Je öfter der schwarze Vogel kreiste und schrie, desto mehr Geschöpfe verlangten nach Heilung und goldenem Licht.

Bald erkannte der Phoenix, dass seine Tränen niemals ausreichen würden, alles Lebendige und Leidende zu erlösen. Da er sich nicht vergrößern konnte wie Roch, beschloss er, es solle mehr von seiner Sorte geben. Er verwandelte sich in eine Phoenisse und legte ein Phoenissen-Ei nach dem anderen. Jede der neuen Phoenissen legte noch mehr Eier. So stieg die Zahl der Phoenissen exponentiell an, bis es rund um den Planeten Milliarden von Phoenissen gab mit gigantischem Heiltränenpotential. Das war der Tag des Lichts.

An diesem Tag flogen alle Phoenissen gleichzeitig auf und breiteten weit ihre Flügel aus. Der Glanz ihrer Federn bedeckte den Himmel wie eine unendliche Wolkenschicht aus goldenem Licht.

Die Hjumän gerieten in Verzückung. Sie rannten auf die Straßen, tanzten in Ekstase und wiesen auf den goldenen Schleier, aus dem die Tränen der Phoenissen zu tropfen begannen. »Die Erlösung ist gekommen!«, schrien sie.

Während die kristallenen Tropfen auf sie fielen, traten sie in die goldene Spiegelung ein und wurden geheilt. Alle Wunden, alle Schmerzen, alles Leid verwandelte sich, wie wenn der sanfteste Regen alle Blumen der Welt gleichzeitig zum Blühen bringt und alle Harmonien auf einmal erklingen. Die Hjumän heilten, die Tire heilten, ebenso die Pflanzen, die Autos, die Steine, die Flüsse, die Meere, die Erde – alles heilte.

Und es regnete weiter. Hjumän umarmten sich, Tire hielten andächtig inne, Fische vergaßen zu atmen …

Und es regnete weiter. Straßen wurden überflutet, Flüsse und Seen traten über die Ufer, die Meere schwollen an. Das Wassa stieg und stieg, alles ging heilend und geheilt in der Tränensintflut unter. Das Wassa durchtränkte die Erdschichten, löschte alle Lavaglut, durchfeuchtete die Erdkerne. Und es regnete weiter, bis Örf vollgesogen war wie ein Schwamm und aus dem Gleichgewicht geriet.

Die Phoenissen stiegen noch höher in den Himmel und verbrannten in einem gigantischen Feuerball, in goldener Erfüllung, in einem Fest geheißen Samadhi. Es war, als wären sie ein einziger riesiger Phoenissen-Phoenix. Ihre Flammen loderten so hoch, dass ein goldener Abglanz davon in das Weltall hineinleuchtete. Die glühende Asche hingegen fiel in das Tränenmeer und erlosch für immer.

Nur der Gipfel des allerhöchsten Berges ragte noch aus dem Wassa. Hier saß Vogel Roch, der einzige Zeuge des goldenen Feuerwerks und des Ascheregens. Er blickte einer kristallenen Träne nach, die sich aus dem Meer löste und vom Sog des Weltalls erfasst wurde. Dann flog er auf und umrundete den überfluteten Planeten. Alles war wüst und leer, nichts und niemand lebte mehr. Es war, als hätten alle Rochs vor ihm den Schrei nur deshalb weitergegeben, um diesem hier den größten Ausdruck zu geben. Vogel Roch schrie und schrie, bis ihn der Schrei zerriss.

Später fanden auf einem anderen, fernen Planeten Schrei, Träne und Spiegelglanz wieder zusammen und alles begann von vorne.

Der Auftrag

Das ging ja gut los. Schon das erste Kapitel war ihm absolut unverständlich. Frustriert ließ Rimembert die Seiten sinken. Wenn er Lussindas Texte wenigstens auf seinem Komkatt lesen könnte! Diese Papierversion, die sich vor ihm türmte, war eine Zumutung. Sie bestand aus einseitig bedruckten losen Blättern, es gab weder ein Inhaltsverzeichnis noch eine Nummerierung.

Er fühlte sich hintergangen. Raino und Noktus weilen nicht mehr unter uns, hatte Lunovo, der Leiter der MISAP, ihm gestern Abend geschrieben. Begib dich so schnell wie möglich zu mir. Ich brauche dich.

Ohne nachzudenken oder sich von Zaradiva zu verabschieden war er sofort in seinen Flugkasten gesprungen und losgeflogen. Erst bei seiner Ankunft hatte er erfahren, worum es Lunovo wirklich ging.

Rimembert war zu müde gewesen, um sich zu wehren, er hatte in der Reisenacht kaum geschlafen. Doch jetzt reichte es. Entschlossen verließ er sein Gästezimmer und stapfte die sonnenbeschienenen Flure mit den blau gestrichenen Decken entlang zur kleinen Bibliothek, Rainos früherem Lieblingszimmer.

Die Tür stand offen. Lunovo saß vor einem großen Komkatt. Die hochgeschlagene Kapuze seines schwarzen Kapuzenumhang verschattete sein blasses Gesicht.

»Ich fliege wieder nach Hause«, sagte Rimembert ohne einzutreten. »Jetzt gleich. Ich möchte zu Zaradiva.«

Lunovo blickte auf. »Ich verstehe, dass es dir momentan schwerfällt, dich mit Lussindas Ausführungen zu beschäftigen«, erwiderte er. »Aber Raino und dein Freund Noktus hätten sich sicher gewünscht, dass du mich unterstützt. Ich muss wissen, warum die Katter sich neuerdings für Örf interessieren. Rimembert, du bist der einzige Katter, dem ich vertraue. Nur du kannst mir erklären, wie deine Stammesgenossen Wesen und Logik von Hjumän interpretieren.«

»Ich habe nichts mehr mit den Katter zu tun«, widersprach Rimembert heftig. »Sie haben meine psychologische Anleitung zum Umgang mit ihren Kleinen abgelehnt.« Demonstrativ strich er über seinen hellbraunen Umhang. »Ich bin schon lange halb Uni, halb Faiwer und lebe in deren Allgebiet, wie du weißt.«

Lunovo schüttelte den Kopf. »Du bist kein Faiwer und noch weniger ein Uni. Kennst du überhaupt die Geschichte von Unizar?«

»Geschichten, immer nur Geschichten. Wir Katter kennen nur Narrative.«

»Du bist durcheinander«, meinte Lunovo nachsichtig. »Du hattest noch keine Zeit, Noktus‘ Gehen zu verarbeiten. Also gut, nimm die Unterlagen mit und lies sie in deinem Zuhause. Tu es für deinen Freund. In zwei Wochen finden die Trauerfeiern statt, ich habe gerade viel zu tun. Aber wenn du einen Heiler brauchst, ruf mich an. Ich bin für dich da.«

Kurz darauf verließ Rimembert die MISAP. Achtlos deponierte er die Papiere in der Mitte seines Flugkastens. Schon bei der ersten Turbulenz wirbelten sie umher.

Itzmieh, hai!

Was für eine öde Gegend, grollte Rimembert, als er am frühen Abend zur Landung ansetzte. Nur dürre Sträucher, kümmerliche Bäume, erdfarbene Kästen. Und erst der Himmel! Flach und grau hängt er über der Ebene. Wie sollen hier hochfliegende Gedanken keimen?

Sein eigener Wohnkasten hob sich wohltuend von dem Einerlei ab. Er war zweistöckig, stand abseits der kleinen Siedlungen und strahlte in makellosem Weiß.

Routiniert parkte er seinen schnittigen Flugkasten neben dem Gebäude. Zaradivas Haus-Emse ruhte vor ihrem separaten Anbau und fuchtelte unorganisiert mit den Antennen. Rimembert ignorierte sie. Seit seinem Praktikum bei Zaruno hatte er nie wieder eine Emse angefasst.

»Zaradiva!«, rief er und klopfte ungeduldig an die große Fensterfront. Er sehnte sich danach, sich bei dem ihm vertrautesten Wesen fallenzulassen. Dann würde sich die Lücke schließen, die sich in ihm aufgetan hatte.

Auch auf sein erneutes Klopfen und Rufen antwortete niemand. Rimembert beschlich ein seltsames Gefühl. Mit seinem Code öffnete er die Haustüre und blickte sich um. Bis auf die edlen Möbel war alles leer. Zaradiva war nicht da. Er suchte nach einer kleinen liebevollen Notiz – nichts. Auch keine Nachricht auf seinem Komkatt. Dabei hatte er ihr doch kurz vor seinem Rückflug geschrieben, wo er gewesen war, wenngleich nicht warum, und dass er heute Abend zurückkommen würde. Müde sank er auf das Sofa. Als die Dunkelheit aufzog, fielen ihm die Augen zu. »Itzmieh, hai!«

Zaradivas Stimme riss Rimembert abrupt aus dem Schlaf. Noch benommen murmelte er: »Noktus und Raino sind gegangen. Und ich soll Lussindas gesamte Schriften lesen.«

Zaradiva schaltete die Lichter ein und setzte sich ihm gegenüber. Im ersten Moment erfasste Rimembert sie nur als Schatten. Er wartete darauf, dass sie etwas sagte, schließlich hatte sie Raino und Noktus ebenfalls wertgeschätzt, und dass sie ihn tröstend mit ihren Fühlern umspielte. Doch sie tat es nicht.

Zorn kochte in ihm hoch. »Warum hast du mir nie die Geschichte von Unizar erzählt? Bei den Novanis kennt sie jeder!«

»Ich dachte, Uni-Geschichten interessieren dich nicht«, erwiderte Zaradiva knapp. »Im Übrigen sind sie kein Geheimnis. Du findest sie alle im Eu-Net.«

Sie erhob sich, ging in ihr Zimmer und schloss ab. Rimembert starrte ihr fassungslos hinterher. Zum ersten Mal in ihrem langen Zusammensein wies sie ihn ab. Was war los mit ihr, und was war mit ihm los?

›Gefühle kommen und gehen, wie Wellen‹, hatte Raino ihm einst erklärt. ›Du kannst auf ihnen surfen, ihre Energien nutzen, sie als Hinweise beachten. Oder über ihrem Fluss schweben. Gefühle verändern sich von alleine, wenn du sie lässt. Wenn du in ihnen schwimmen willst, bleibe mit dem Kopf über Wassa und atme. Tauchst du unter, mach es wie ein schlafender Delfin: lass eine Hirnhälfte wach …‹

Aber was, wenn er nichts fühlte? Leere war doch kein Gefühl. Sie wellte nicht, sie floss nicht, sie blieb einfach.

Wieso war Zaradiva so kalt, warum half sie ihm nicht? Und was war eigentlich eine Trauerfeier, was feierten sie da bloß? Er würde Noktus danach fragen. Nein, Noktus war doch gegangen.

Er war so verwirrt. Vielleicht sollte er Lunovos Angebot annehmen und ihn anrufen, schließlich hatten Raino und Noktus ihm vertraut. Aber er selbst kannte ihn nur von früher, von Begegnungen auf Transferenzen und an der MISAP.

Früher war lange her.

Außerdem würde er niemals sein Freund werden. Lunovo hatte keine Freunde, er stand nicht auf Freundschaft.

Unizar

Auch am nächsten Morgen sprach Zaradiva nicht mit ihm. Sie trug einen dunklen Umhang, den er noch nie an ihr gesehen hatte. Ohne ihn eines Blickes zu würdigen verließ sie den Kasten, schwang sich in einer eleganten Bewegung auf ihre Emse und ritt davon. Als sie beschleunigte, wehte ihr die Kapuze vom Kopf. Ihre Antennen waren flach angelegt, aber die dünnen dunkelgrauen Haare bildeten störende Linien in der Luft.

Rimembert strich sich über seinen kahlen Schädel und blickte ihr nach, als wäre sie eine Fremde. Er schüttelte die merkwürdige Empfindung ab und beschloss sich abzulenken. Vielleicht würde es Zaradiva freuen, wenn er sich mit dieser Unizar-Geschichte beschäftigte?

Alles wird wieder gut, sagte er sich und griff zu seinem Komkatt. Er fand die Datei auf Anhieb und entschied sich für die Vorlesefunktion auf Kattarisch. Der strenge Vierertakt beruhigte ihn.

»In den alten Zeiten waren alle Unis gleich. Jeder Uni nannte sich ‚Itzmieh‘ und begrüßte andere Unis mit ‚Itzmieh, Hai!‘ Die Unis waren alle gleich, weil sie Ungleiche sofort eliminierten. So fühlten sie sich stets als Einheit. Sie konnten ihre Energie untereinander fließen lassen und sie dadurch verstärken.

Dann kam die Zeitenwende, der Tag des großen Festes, welcher das Verum einläutete. Alle Unis hielten sich auf dem Gemeinschaftsplaneten auf. Nur die Königin und zweimal zehn Brutpfleger blieben auf Formicula, ihrem Planeten. Die Königin schlief tief in ihrem Separee, erschöpft vom Eierlegen. Die Brutpfleger waren hingegen hellwach, jeden Augenblick konnte der Nachwuchs schlüpfen. Fleißig molken sie die kleinen Saft-Emsen, die sich wie immer erfolglos wehrten, und füllten nährende Saftvorräte ab.

Als sie fertig waren, begannen sie damit zu hadern, dass sie nicht auf das Fest durften. Immer stärker wuchs ihre Unzufriedenheit. Plötzlich erfüllte alle derselbe Gedanke. Ohne sich abzusprechen bestiegen sie ihre Flug-Emsen und flogen zum Gemeinschaftsplaneten. Aus sicherer Distanz beobachteten sie das Geschehen, niemand bemerkte sie. Nach der erfolgreichen Hüpnose der Zeronier sausten sie sofort wieder zurück.

Doch sie waren zu lange fortgeblieben – die frischgeschlüpften Kleinen lagen verhungert auf dem Boden. Völlig verstört rannten die Brutpfleger durch den Bau, bis sie ein Überlebendes fanden. Eben streckte es seine Fühler durch die weiche Eischale und strampelte sich frei.

›Ein Spätschlüpfer‹, wisperte Itzmieh. ›Wir müssen ihn vernichten. Spätschlüpfer sind schwach und ungleich.‹

›Aber er ist der einzige Kleine, den wir haben‹, wandte Itzmieh ein. ›Er mag zart sein, aber er ist ein Uni. Er ist präsent, er ist ein Präsent.‹

›Wir meinen, er ist ein Geschenk?‹

Itzmieh nickte. Der Brutpflegeinstinkt begann ihn zu durchströmen und wallte auf die anderen Pfleger über. ›Wir müssen füttern, wir müssen pflegen!‹

Itzmieh fuhr mit einem Fühler über seinen Mund. ›Schsch …‹

Gemeinsam versteckten sie den Kleinen in einem stillgelegten Seitengang. Den Unis, die von dem Fest zurückkehrten, erzählten sie etwas von einer Fehlbrut. Die Hektik, hervorgerufen durch die aufregenden Festvorbereitungen, habe sich negativ auf den Schlupf ausgewirkt. Sogleich wurde beschlossen, die nächste Paarungssaison vorzuverlegen. Die Soldaten weckten die Königin, schon bald reiften neue Eier. Die daraus Geschlüpften wurden synchron gefüttert und entwickelten sich gleich schnell. Wer nicht wie die anderen mitwuchs, bekam keine Nahrung mehr und ging innerhalb weniger Stunden. So krabbelten nach einiger Zeit neue, robuste Itzmiehs durch den Bau und wurden nach Bedarf trainiert und zur Arbeit eingeteilt.

Trotz exzellenter Fütterung und Pflege wurde der zarte Uni nur halb so groß wie seine jüngeren Geschwister. Als er sich zu langweilen begann, verließ er entgegen dem Rat seiner Betreuer sein Versteck. Staunend wanderte er durch die Gänge. Vorsichtshalber lief er dicht an der Wand entlang, um nicht in den Sog des Gewimmels zu geraten. So viele Wesen, so viele Abteilungen! Sogar bei der Königin schaute er kurz vorbei. Sie war riesig.

›Wer ist das?‹, fragte ein Itzmieh der führenden Klasse, als er ihn eines Tages entdeckte. ›Wozu dient er? Er ist zu klein, seine Antennen sind zu dünn, seine Beine zu schwach. Gehört er zu den Lastenträgern? Aber was für Lasten soll er tragen, wenn er kaum seinen Kopf halten kann? Gehört er zu den Soldaten? Wie will er kämpfen? Selbst für einen Späher oder Reiter ist er zu empfindlich. Und wie soll er Emsen melken, wenn sie größer und stärker sind als er? Das soll ein Itzmieh sein?‹

Da richtete der Kleine sich auf und verkündete stolz: ›Ich bin ein Uni, ein Unikat, ein zarter Uni. Ich heiße Unizar, denn ich bin so zart, dass sogar das T zu hart klingt. Ich bin präsent, bin ein Geschenk. Ich diene der Sache an sich.‹

›Hoho‹, lachte der große Itzmieh und stach mit seinen Antennen dem kleinen Unizar in den Kopf, um an dessen tiefste Bilder und Gerüche zu gelangen. Drohend fragte er: ›Wer hat gegen die Regeln verstoßen, wer hat dich gefüttert und gepflegt? Wer hat aus dir eine Ausnahme gemacht? Ausnahmen beleidigen Formicula, die große Emsen-Königin. Ihr Zorn wird fürchterlich sein!‹

Unizar wimmerte: ›Es war Itzmieh und Itzmieh und Itzmieh und es waren noch mehr Itzmiehs!‹

So etwas war noch nie vorgekommen. Der große Itzmieh löste Alarm aus.

Die Itzmiehs, die den kleinen Unizar aufgezogen hatten, warteten nicht ab, bis der Anführer-Uni ihre Geruchsmuster weitergeben konnte und die große Identifizierung begann. Sie packten Unizar, der ihnen bereits entgegenrannte, und schwangen sich auf die nächstbesten Reit-Emsen. Hastig trieben sie eine Herde Flug- und Saft-Emsen zusammen. Schnell weg, bevor sie erkannt wurden und das Auslöschungskommando auf den Plan trat! Sie wussten, es bestand keinerlei Hoffnung auf Entkommen. Sie konnten nur auf ein Wunder hoffen.

Und es geschah, das Wunder. Kurz bevor das Auslöschungskommando die Flüchtigen erreichte, meldeten sich die Katter. ›Unis, wir brauchen eure Dienste. Sofort.‹

›Erst müssen wir eine interne Angelegenheit regeln‹, versuchten die anführenden Itzmiehs die Katter hinzuhalten. Doch sie konnten nicht widerstehen. ›Große Katter, die ihr größer seid als Formicula. Wie können wir euch dienen?‹

Die fliehenden Itzmiehs jubelten, als ihre Verfolger abbogen. ›Das ist der Beweis! Die große Formicula will, dass es dich gibt, kleiner Unizar! Wir werden eine neue Kolonie gründen. Du wirst unser Anführer sein und unsere Stammeskönigin. Und wir geben uns individuelle Namen.‹

Frohgemut zogen sie weiter und weiter, bis die innerliche Verbindung zu ihrem Heimatbau abriss und Panik ausbrach.

›Wir sind im Nichts gelandet!«, riefen die Itzmiehs. »Unizar, was sollen wir bloß tun?‹

Unizar dachte lange nach. Schließlich meinte er: ›Wir schaffen uns einen Platz im Nichts. Dann wird etwas sein.‹

Zusammen errichteten sie einen Bau und spürten dabei tief in sich hinein. Sie suchten nach ihren Grundfähigkeiten, die unter den vorgegebenen Spezialisierungen vergraben lagen. Schließlich teilten sie sich auf: in Unas und Unos, in Pfleger, Kämpfer, Späher, Boten und Anführer. Sie beschlossen, ab und an ihre Aufgaben zu wechseln, damit alle alles lernen und in jedem Bereich dienen könnten. Und sie züchteten weitere Saft-, Reit- und Flugemsen.

Unizar wandelte sich zu ihrer Königin und blieb es für drei Schlupfe. Seine Brut geriet uneinheitlich. Zarte und robuste Unis entstanden, feinfühlerige und grobfühlerige. Alle wurden individuell gefüttert und gepflegt. Manche der Kleinen hatte feine Löcher im Kopf. Unizar freute sich darüber. ›Durch die Löcher weht Wind, der Weg wird klar. Der Weg ist das Ziel. Wir sind präsente Geschenke und leben im Hier und Jetzt.‹

Die Kolonie der Unizare wuchs und wuchs. Sie blieb unentdeckt, bis der Planet der Unis im schwarzen Ring landete und der Kontakt zu den Katter abbrach. Die Itzmiehs verloren jegliche Orientierung, ihre Einheit zerfiel. Haltlos wanderten sie umher, ohne Aufgabe und Ziel. Eines Tages begegneten sie den Unizaren und waren dankbar für deren einfühlsames Verhalten. Sie passten ihre Namen an und übernahmen die Konzepte des stolzen Dienens und absichtslosen Überbringens von Geschenken. Von da an galt jeder als Uni, als Präsent und als Unikat, ob zart oder robust. Nur wenn die Unis ihre Einheit beschworen, nannten sie sich weiterhin Itzmiehs.«

Das also ist die Geschichte von Unizar. Eine einzige Ausnahme – und schon sind alle Unis degeneriert. Sie haben die Idee der Selektion und des ständigen Besserwerdens verraten.

Rimembert fühlte sich unbehaglich. Er hatte schon lange nicht mehr in der Katter-Logik gedacht. Und was bedeutete es, dass Zaradiva ihn mit ‚Itzmieh-Hai‘ begrüßt hatte? Damit hatte sie ihn doch ausgeschlossen aus ihrer Verbindung, oder? Identifizierte sie sich nun mit der Einheit der Unis, wollte sie kein Unikat mehr sein? Aber sie war doch eine Mi! Nur über ihre Faiwer-Anteile hatten sie beide ihre Beziehung und Harmonie verstärken und Kleine erwünschen können. Und natürlich über Zaradivas feine Fühler. Wenn es ihm nicht gut ging oder wenn er längere Zeit von ihr getrennt war, entfremdete er sich von ihr und von sich selbst. Erst wenn sie ihn achtsam abtastete, fand er wieder zu sich und zu seinen Gefühlen. Gestern hatte sie ihn zum ersten Mal ignoriert und in seiner Leere allein gelassen.

Etwas verhärtete sich in ihm. Er beschloss, sich nie wieder befühlen zu lassen.

Es brennt

Ein weiterer Tag verging. Zaradiva war noch nicht zurückgekehrt, sie hatte nicht einmal eine Nachricht geschickt. Ihr Komkatt war abgeschaltet. Rimembert versuchte eine geistige Verbindung zu ihr herzustellen – vergeblich. Seine Gedanken waren zu fordernd, und immer wieder wurde er zornig.