Verbindung, Belohnung und mehr - Ingrid Manogg - E-Book

Verbindung, Belohnung und mehr E-Book

Ingrid Manogg

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Beschreibung

Auf welche Weise gehen Menschen in Verbindung, in ein Wir-Gefühl? Welche Rolle spielen dabei innere Bilder und Emotionen? Welche Sinnessysteme nutzen wir, sind wir denkfeindlich? Was erscheint uns schön, was wird als Belohnung empfunden, ist das für alle gleich? Was ist mit Abweichungen, wie entsteht Neurodiversität bzw. Autismus? Was sind Lieblingskinder, welche Bedeutung haben die Ahnen, welche Funktionen haben Stolz und Scham? Werden wir zum Lügen erzogen? Wie spiegeln sich unsere gelernten Muster in unserem Gesellschaftssystem? Eine psycho-logische Analyse mit neuen Denkansätzen.

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Zu diesem Buch

Unabdingbar für Menschen und alles Lebendige ist Verbindung. Autistische und neurotypische Menschen sind hinsichtlich des Erlebens und der Bewertung von Verbindung jedoch von Anfang an anders geprägt. Dadurch orientieren sie sich anders in der Welt, bilden eine andere Objekt- bzw. Personenkonstanz und ein unterschiedliches Ich- und Wir-Gefühl aus, gehen anders mit Emotionen, Belohnungen und Metaphern um und nutzen ihre Sinnessysteme in anderer Kombination. Nach der Beschreibung grundlegender Wirkfaktoren analysieren bzw. vergleichen wir autistische mit neurotypischen Mustern und untersuchen deren Zusammenspiel mit unserem Gesellschaftssystem.

Zur Autorin

Ingrid Manogg, geb. 1962 in Freiburg i.Br., Dipl.-Psychologin. Weitere Bücher: Eutopia. Fantasy-Roman (Verlag: BoD)

Inhaltsverzeichnis

Vorwort

Basis gefühlten Seins – Verbindung

Verbindung nach innen und außen

Rhythmisch und dynamisch

Verbindungen loslassen

Innere Bilder, Personenkonstanz und Schrödingers Katze

Basisfaktoren von Belohnung

Sinn und SinnePrimäre, sekundäre und tertiäre SystemeDer Denksinn als MediatorDenkfeindlichkeitBewertungen von SinneseindrückenDie verachteten FüßeSchönheit, Identifikation und Hingezogen-SeinBasis für SchönheitsvorstellungenDifferenzierung von Schönheitskriterien bei KindernBasis-Schönheitskriterien bei Frauen und MännernFreunde, Ähnlichkeit und GeruchAutismusDiagnose / DifferentialdiagnoseTherapienMimik lesenInterpretationenEmpathie, Spiegelneuronen, InterozeptionEntstehung von AutismusMitschwingen, Inkompatibilität und AbkoppelnTrauma und ÜbergriffigkeitNeurotypismusMangel und HalblösungenSehnsucht und StrebenFalscher Rhythmus und unpassende PädagogikGespensterangstEmotionale Erpressung – Beispiel EssenSmall Talk, ‚Erarbeiten‘ und Rituale bei ErwachsenenIn Besitz nehmenManipulation mit MetaphernVerletzte GefühleParadies und UrangstDie Geschwisterneid-LügeDie Lieblingskind-LügeDie Rolle der AhnenScham und StolzNeurotypische und neurodiverse Muster im ÜberblickNeurotypische MusterAutistische MusterNeurotypismus und KapitalismusBeeren, Bären und MangelDer Prozess der ZivilisationBasis für kapitalistisches Denken

Nachwort

Vorwort

‚Es ist nicht einfach, im eigenen Analphabet zu lesen‘, sagt Stanislaw Jerzy Lec in ‚Letzte unfrisierte Gedanken‘. Aber die Alternative ist, sich sein Alphabet von ‚Alphabet‘-Google, ‚Allgottrhythmus‘ oder Ideologen diktieren zu lassen.

Einige der Thesen und Gedankengänge in diesem Buch sind neu, sofern etwas neu sein kann; andere Thesen sind aus schon bekannten Thesen neu kombiniert oder ergänzt. Auch die beste Psycho-Logik kann nicht alles erfassen, jede Logik kann zu falschen Schlüssen führen. Es gibt verschiedene Arten von Logik, und keine Logik stimmt für alles. Wie in der Physik funktioniert etwas, oder aber die Annahme ist falsch. Oder sie gilt nur in bestimmten Kontexten unter bestimmten Bedingungen. Schwerkraft gilt auf der Erde und auf dem Mond, dennoch würde ein Apfel auf dem Mond nicht auf den Boden fallen.

In diesem Sinne wünsche ich mir vom Leser ein Mit- und Weiterdenken, aber vor allem ein größeres Verständnis für das unterschiedliche Erleben und Verhalten von Menschen, ob ‚typisch‘ oder ‚divers‘. Mögen sich dadurch individuelle und gesellschaftliche Denk- und Freiräume weiten, so dass in ihren Nischen gute Visionen gedeihen und sich eines Tages vereinen können.

Zum Sprachgebrauch in diesem (100% Chatbot-freien) Buch: Ich wähle die Bezeichnung neurodivers, nicht neurodivergent. Divers bedeutet anders, unterschiedlich, divergent bedeutet abweichend. Ich gendere nicht, da ich Prototypen beschreibe, die jegliches Geschlecht haben können. Die Einstellung, die hinter den Begriffen steht, halte ich für wichtiger als die ‚richtige‘ Etikettierung.

Basis gefühlten Seins – Verbindung

Wir sind ‚Planet Man‘ und haben daher ein Bedürfnis nach Einheit und nach einer übergeordneten ‚Verwaltungsinstanz‘. Es gibt verschiedene Möglichkeiten, Verbindungen einzugehen und zu lösen. Wir beschreiben Grundmerkmale von Verbindung, das Wirkprinzip der Spiegeltherapie, streifen die ‚wahre‘ Geschichte von Narziss und erkunden unser Schmerzzentrum. Zentral für menschliche Fähigkeiten ist unsere Vorstellungskraft, die sich über den Wunsch nach Verbindung mit der sogenannten Objektkonstanz bzw. Personenkonstanz entwickelt, und durch die wir unser inneres soziales Panorama aufbauen. Zum Schluss lösen wir das Rätsel um Schrödingers Katze.

Verbindung nach innen und außen

Wir sind imstande, Unbelebtes oder Belebtes, das nicht zu unserem Körper gehört, als zugehörig zu empfinden. Blinde fühlen mit ihrem Blindenstock, als wäre er ein verlängerter Arm oder Finger; in Experimenten können wir lernen, einen Gummi-Arm so zu spüren, als wäre er unserer eigener. Hierzu legen wir einen Arm auf einen Tisch, der Arm wird sanft von jemand anderem gestreichelt. Dann wird ein Gummi-Arm dicht neben unseren echten Arm gelegt und gleichzeitig auf die gleiche Weise gestreichelt. Nach einer Weile wird unser echter Arm abgedeckt, wir können ihn nicht mehr sehen. Wird nun der Gummi-Arm gestreichelt, reagieren wir darauf genauso wie vorher auf das Streicheln unseres echten Armes. Wir fühlen uns mit dem Gummi-Arm verbunden.

Auch mit geistig vorgestellten Körperteilen können wir in Verbindung gehen. Es gibt eine uralte Übung, in der wir zusätzlich zu unserem echten Arm einen geistigen Arm visualisieren und spüren lernen. Lege deinen Arm auf einen Tisch oder auf deinen Oberschenkel, die Handfläche ist offen und zeigt nach oben. Dann hebe den Arm langsam an, Zentimeter für Zentimeter, winkele ihn an unter ständigem Spüren und Beobachten, bis du mit der Hand die gleichseitige Schulter berührst. Dann führst du den Arm genauso langsam wieder in die Ausgangsposition zurück. Nach einigen Durchgängen stellst du dir einen geistigen Arm vor, der sich aus deinem echten Arm erhebt und die gleichen Bewegungen vollzieht, während dein echter Arm auf deinem Oberschenkel oder dem Tisch liegenbleibt. Als letztes bewegst du den geistigen und den realen Arm gleichzeitig in einer gegenläufigen Bewegung, der reale Arm hebt sich, der geistige Arm senkt sich. In dem Moment, wo sich die Arme begegnen, durch einander durchgehen, gibt es eine Art Flash, eine Trance. Zum Abschluss lässt du deinen geistigen Arm wieder in den realen Arm sinken. Wenn du dich gut konzentrieren konntest, hattest du für einen Moment zwei Arme an einer Schulter.

Schon bevor wir eine Bindung zu Menschen eingehen und uns ihnen zugehörig fühlen, sucht unser Gehirn nach Verbindungen. Wir alle haben es als Embryonen erlebt, dass eines aus dem anderen herauswächst und sich gleichzeitig mit unserem Ich- und Körper-Empfinden entfaltet. Wir gingen auf vielfältige Weise in Verbindung mit allem, was uns an Reizen aus unserem Inneren und aus der Umgebung, dem Mutterbauch, begegnete.

Wir ‚wissen‘, dass wir selbst eine aus vielen Teilen zusammengesetzte ‚Einheit‘ sind. Wir sind ‚Planet Man‘. Wir bestehen nicht nur aus Abermilliarden Kleinstlebewesen, z.B. Bakterien, sondern auch aus mehr oder weniger autonom arbeitenden Organen, Sinnessystemen, Faszien u. a., wir bestehen aus verschiedenen Selbst-Vorstellungen, die sich überlagern und sich aufeinander aufbauend miteinander entwickeln. Wissenschaftler behaupten, das Leben auf der Erde hätte sich in unterseeischen schwarzen Vulkankaminen aus schwefelfressenden, hitzebeständigen einzelligen Bakterien entwickelt. Sie begannen sich auch voneinander zu ernähren, nahmen sich gegenseitig auf. Dadurch wurden sie komplexer, differenzierten sich aus, und es entstanden neue Kombinationen. Auch die neuen, komplexeren Wesen reagierten und agierten jedoch jeweils als Ganzes, als Einheit. Auch unser Gehirn ist zusammengesetzt. Am Anfang gab es nur den Hirnstamm, dann wuchs er, neue Teile differenzierten sich aus, bis hin zum Präfrontalkortex.

Wir sind also ein Verbund und funktionieren mit allen unseren Teilen und Teilchen gemeinsam. Was unseren Kern oder unsere Seele ausmacht, ist umstritten. Unzweifelhaft ist, dass wir nach einem verbindenden Prinzip suchen, nach einer einheitlichen Definition für ‚uns und unsere Teilchen‘, nach einer übergeordneten Instanz, nach etwas, was Regie führt.

Auf welche Weise wir uns als Einheit definieren, wie unsere Vorstellungen aussehen von unserer Verkörperlichung, unserer Verhirnlichung und der Hierarchie unserer Systeme, wird natürlich mitgeformt oder überformt von unserer Sozialisation, den Lernsystemen wie Schule und Medien, und von den Narrativen, die zu den jeweils herrschenden Ideologien gehören.

Unabhängig davon brauchen wir es als Individuen, uns als Einheit zu definieren. Es wäre für unser Überleben nicht sinnvoll, würden wir Sinnessysteme wie Augen und Ohren, oder unsere Arme, Beine und Hände, längerfristig als nicht zugehörig ‚begreifen‘ oder wahllos in Verbindung gehen zu körperfremden Objekten. Könnten wir keine oder nur falsche Rückmeldungen von unserem Körper oder Geist empfangen, bliebe sehr schnell nichts von uns übrig. Physiologisch und kulturell geprägt haben wir zu unseren Körperteilen und Sinnessystemen einen unterschiedlichen Bezug. Hände sind uns näher als Füße, Augen erscheinen den meisten wichtiger als Nasen oder Ohren.

Als gefühlte Ganzheit wollen wir uns in eine Einheit mit anderen Einheiten fügen, an anderen andocken oder uns teilweise vermischen. Wir suchen nach Passungen, so wie es auch Bakterien und Viren tun. Passt etwas, belohnt es uns.

Unsere ersten Verbindungen zwischen unserem Innen und dem Außen finden in einem geschlossenen Raum statt, im Mutterbauch, ohne Blickkontakt mit Menschen oder menschlichen Berührungen. Wir bauen Verbindungsempfindungen auf über Reize wie Darmgeräusche, Herzschlag, Nabelschnur, Plazentageschmack und -geruch; später auch über auditive Reize wie die Stimme der Mutter, über Berührungen auf oder Druck in ihrem Bauch, und über das Schaukeln, wenn sie sich bewegt oder geht. Unser visuelles System wird erst zu einem späteren Zeitpunkt dominant, dann aber wird es für die meisten Menschen zur wichtigsten Grundlage von Verbindungen. Die sogenannte Spiegeltherapie nutzt dies.

Manche Menschen, die eine Gliedmaße verloren haben, z.B. einen Arm, leiden an Phantomschmerz: Der Arm, der nicht mehr da ist, tut weh. Das Gehirn kann offensichtlich den Verlust des Armes nicht nachvollziehen, vielleicht geschah er zu plötzlich. Das Gehirn sucht über die gekappten Nervenenden die Verbindung wiederherzustellen zu etwas, was in der Körpervorstellung da sein müsste, aber in dem zuletzt ein akuter Schmerz abgespeichert wurde. Das Nichtgelingen ist ambivalent, einerseits will das Gehirn das Wiedererleben der letzten Schmerzen vermeiden, andererseits quält das chronische ‚unfinished business‘, es absorbiert alle anderen Empfindungen. Richard Bandler riet Ärzten schon in den 70er-Jahren dazu, bei Phantomschmerz die Schmerzmittel nicht in den realen Arm zu spritzen, sondern in den fehlenden Arm, denn es ist der fehlende Arm, der schmerzt. Aber selbst, wenn das Schmerzmittel, in den fehlenden Arm gespritzt, in der Vorstellung des Menschen den ehemaligen Arm wiederbelebt, bleibt die Verbindungsvorstellung nicht unbedingt bestehen.

In der Spiegeltherapie wird versucht, die Verbindung des Gehirns zu dem verlorenen Arm über Visualisierung wieder herzustellen. Der Patient sitzt entspannt an einem Tisch, auf dem ein Spiegel steht, sein vorhandener Arm liegt auf der Tischplatte und wird vom Spiegel erfasst. Die andere Körperhälfte und der Armansatz des fehlenden Arms sind verdeckt. Im Spiegel sieht sich der Patient spiegelverkehrt, er sieht sich nun also selbst mitsamt seinem nichtvorhandenen Arm. Dem Gehirn ist das Bild vertraut, es erinnert sich. Es nimmt es den verlorenen Arm für real, ohne Schmerzen, und reaktiviert die Verbindung (zur Unterstützung braucht es entsprechende Suggestionen). Allmählich, in mehreren Durchgängen, kann es den ‚falschen‘ Arm wieder loslassen, die Trennung nachvollziehen und akzeptieren, dass der Arm nicht mehr am Körper ist. Die körperlichen Schmerzen bleiben weg, das Business ist ‚finished‘. Für die seelischen Schmerzen, den seelischen Bruch, braucht es u.U. eine ergänzende Psychotherapie.

Wir können also auf verschiedene Weise in Verbindung gehen, unser Körperbild erweitern und verändern, wir können mit anderen oder anderem vorübergehend oder dauerhafter in unserer Vorstellung ‚verschmelzen‘. Jedoch hat auch die Spiegeltherapie nur eine Erfolgsquote von bis zu 70%, d.h. bei 30% funktioniert sie nicht.

Viele Autisten oder auch Neurotypische, die durch Menschen traumatisiert wurden, können nicht oder nicht gut in ein Spiegelbild hineingehen, in eine Vorstellung von sich selbst, in einen Film oder in ein Foto. Das Bild bleibt außerhalb von ihnen. Zum einen kann es sie stören, dass Fremdes ins Bild hineingemischt ist über die Spiegelverkehrtheit, den mitgespiegelten Hintergrund oder einen einschränkenden Spiegelrahmen. Zum anderen kann ihnen die Nähe zu anderen Lebewesen oder Menschen unangenehm sein, wenn sie Nähe mit Übergriffigkeit assoziieren. Dann wird selbst das eigene Spiegelbild nicht gerne als körperlich substantiell wahrgenommen (was es ja auch nicht ist). Es triggert in seiner Frontalheit und durch das eingefangene Hintergrundbild die Vorstellung von anderen Menschen, von Fremdblicken.

Wie können wir gleichzeitig wir selbst sein und ein anderer? Ein Spiegelbild, eine Filmfigur oder ein Avatar wird, wenn er lebendig erscheinen soll, verkörperlicht, er wird mit fiktiver Körperwärme und Emotion gefüllt. Neurotypische gehen in ein Spiegelbild, eine Filmfigur, Spielfigur oder Avatar hinein wie in einen Mantel, in den sie sich einhüllen. Ihnen reicht die Außenfassade, um sich als jemand anderer zu fühlen, sie fühlen vorwiegend von außen nach innen. Autisten, bestimmte Traumatisierte und auch einige Neurotypische müssen in solch einer Situation das Außenbild jedoch abwehren, denn sie nehmen eher von innen nach außen wahr. Sollen sie etwas von außen in sich hineinnehmen, wird die erzwungene ‚Nähe‘ als Übergriff oder als Überwältigung erlebt.

Menschen, die sich selbst im Spiegelbild suchen, werden nach der altgriechischen Legende als Narzissten bezeichnet. Aber niemand sucht nur sich selbst im Spiegel. Schauen wir uns im Spiegel an, schaut immer noch jemand anderes mit. Wir erinnern uns an frühe Fremdblicke, und immer sind wir im Spiegel falsch gespiegelt, mindestens seitenverkehrt. Unser Spiegelbild passt nicht wirklich zum Körper-Selbstgefühl, es ist außerhalb von uns.

Narziss war ein schöner Jüngling, vielleicht auch nur einfach der einzige Jüngling, der an einem bestimmten Flussufer mit seiner Nymphen-Mutter lebte, ein Hahn im Korb. Viele junge Nymphen umwarben ihn, wollten von ihm wahrgenommen und angesehen werden. Sie begannen ihn zu hassen, weil er keine Notiz von ihnen nahm, sondern stattdessen in den Fluss blickte, tagein, tagaus. Schauten sie, was Narziss anschaute, sahen sie das Spiegelbild von Narziss und meinten, er sei in seinen eigenen Anblick versunken. Als er in den Fluss sprang, untertauchte und verschwand, glaubten sie, er hätte vor lauter Verliebtheit in sich selbst sein Spiegelbild ergreifen wollen. Aber Narziss suchte nach etwas anderem. Er kannte seinen Vater nicht, er wusste nur, dass er ein Flussgott war und seine Mutter vergewaltigt hatte, so dass sie nie über ihn sprach.

Spätestens in der Pubertät wird die Frage nach der Herkunft, nach dem Wesen der Erzeuger, nach der Zugehörigkeit wichtig. Sie kann wichtiger werden als alles andere. Wird sie nicht beantwortet, ist kein Raum frei für Verbindungen anderer Art, denn wir fühlen uns nicht als vollständiges Ich. Erst muss die Leerstelle gefüllt, der Phantomschmerz besänftigt werden. So spiegeln viele Neurotypische ihre eigene Leerstelle und hoffen, ein anderes Gesicht möge dazukommen, ihr eigenes Gesicht wohlwollend wahrnehmen, und somit ihr Sein und So-Sein bejahen.

Die existentiellen Grundbedürfnisse wie Nahrung, Wasser, Luft, Wärme, ein sicherer Ort etc. stehen schon am Anfang unseres Lebens mit den Grundbedürfnissen Verbindung und Zugehörigkeit in Wechselwirkung. Nur in Extremsituationen können sie wichtiger werden als gefühlte Verbindung und/oder Zugehörigkeit. Setzen Erwachsene ein kleines Kind aus, kann es nicht überleben. Der Ausschluss aus der Gruppe bedeutete zumindest in früheren Zeiten den sicheren Tod, diese Grenzerfahrung sitzt tief in uns. Daher wirkt Mobbing so verheerend, daher können auch erwachsene Menschen sterben, wenn sie über Voodoo-Rituale aus ihrer Gruppe verbannt und mit einem Todesfluch belegt werden.

Aus beidseitig wahrgenommener, manchmal auch aus einseitig fantasierter Verbindung, entsteht das Gefühl der Zugehörigkeit. Es entsteht über die sogenannte Bindung, die kleine Kinder zu ihren Bezugspersonen aufbauen. Auf welche Weise wir Bindungen eingehen, hängt von der Art ab, wie wir Verbindungen zu uns selbst und unserer Umwelt aufgebaut haben. Dies ist bei Neurodiversen von Anfang anders als bei Neurotypischen (dazu später).

Ein Baby fügt seine verschiedenen Sinnesempfindungen zusammen durch Gleichzeitigkeit. Es studiert das Bild, das Gesicht einer Bezugsperson, dann greift es danach und ‚begreift‘ es nun über zwei Sinnessysteme. Hört es dazu noch die Stimme der Bezugsperson, wird auch das auditive System mitverknüpft. So wird die Bezugsperson zu einer Gesamtgestalt, zu der das Baby eine Beziehung aufbaut.

Haben wir als kleine Kinder erste Bindungen aufgebaut, sichere oder unsichere, lernen wir anhand dieses Grundmusters Verbindungen auch zu anderen Lebewesen einzugehen. In einer guten, sicheren Verbindung fühlen wir uns wahrgenommen, beachtet und erkannt in unseren Bedürfnissen. Idealerweise sind wir auch in Verbindung mit uns selbst, so dass wir selbst auch wiederum die Anderen wahrnehmen können, ohne diesen ihren Raum zu nehmen oder selbst unseren Raum zu verlieren.

Obwohl wir nicht festgebunden, nicht in Besitz genommen werden oder falsch verbunden sein wollen, geschieht genau das immer wieder. Denn viele haben gelernt, unter Zugehörigkeit nicht Einander-Zuhören zu verstehen, sondern Einander-Gehören oder gar Hören und Folgen. Dann müssen sie nach immer mehr Beweisen suchen für die nicht wirklich gefühlte, nicht stimmige Verbindung.

Viele Menschen mit unsicherer Bindung glauben, eine Verbindung zu verlieren, wenn sie das betreffende Wesen oder Objekt nicht ständig spüren, sehen, hören oder daran denken. Sie suchen nach einer statischen Verbindung, nach absoluter Sicherheit und Zugehörigkeit. Eine statische Sicherheit wäre greifbar, wie für ein Baby der Körperkontakt mit der Mutter. Nur klammert kein Baby konstant an der primären Bezugsperson, sondern lernt Hinzu- und Weg-von-Bewegungen in Interaktion mit der Bezugsperson. Würden Menschen eine statische Sicherheit finden, müssten sie sofort wieder aus ihr ausbrechen, denn wir sind wie alles Lebendige dynamisch. Was sich nicht bewegt, halten wir für tot.

Auch wenn wir nicht in Verbindung zu anderen Menschen gehen, arbeiten unsere Gehirne und Körper ständig daran, Dinge in Verbindung zu bringen. Was hat der eine Sinnesreiz mit einem anderen Sinnesreiz zu tun? Was war vorher, was nachher? Wie hängt das eine mit dem anderen zusammen, gibt es Kausalitäten? Gibt es etwas Neues im Vertrauten oder Abweichungen? Unser Gehirn versucht sowohl im Wach-, als auch im Schlafzustand, alles raumzeitlich in das ursprüngliche Ablagesystem einzuordnen und zu komprimieren, um dadurch Platz zu schaffen. Auf diese Weise sind wir immer wieder frei, neu zu lernen. Auch unser Ablagesystem kann sich erweitern und Spielraum bieten für neue Kategorien oder erweiterte Perspektiven.

Rhythmisch und dynamisch

Alle Verbindungsoptionen haben eines gemeinsam: Sie sind rhythmisch oder zumindest dynamisch. Sie sind niemals statisch, auch wenn Menschen für ihr Sicherheitsgefühl Statik anstreben und darüber die Verbindung wieder verlieren. Lücken, Synkopen, prägen uns genauso wie anwesende Sinnesreize. Nur in der Pause können wir wahrnehmen. Ein Dauerton, ein Dauergrundrauschen muss ausgeblendet werden, sonst haben wir Mühe, andere Reize aufzunehmen, einzuordnen oder zu verarbeiten. Daher gewöhnen wir uns an Dauerreize und reagieren nicht mehr auf sie.

Unser Gehirn reagiert nur auf Abweichungen des Gewohnten. Durch Ablenkung, durch das Umschwenken auf andere Sinnessysteme, können wir Dauersignale kurzfristig ausblenden, aber das funktioniert nur begrenzt. Hört ein Dauerton nicht auf zu tönen, wird er von der Wahrnehmung abgekoppelt. Zu laut dauerbeschallte Embryonen können für die entsprechende Frequenz taub werden, körperwarmes Badewasser wird nicht gefühlt. Ein zu regelmäßiger Herzschlag der Mutter, ohne Synkopen, würde das mitschwingende Herz des Ungeborenen nur unzureichend auf die Anpassung an verschiedene Erregungszustände vorbereiten.

Unsere Sinnessysteme takten ebenso wie unsere Organe in unterschiedlichen Rhythmen. Unser Geruchssinn schaltet den Empfang eines neuen Geruchs nach ca. sieben Minuten ab. Erst nach weiteren sieben Minuten können wir denselben Geruchsreiz erneut riechen. Auch unser Schmerzsystem taktet auf diese Weise, solange der Schmerz nicht zu vehement ist. Wir können Schmerz unterdrücken, uns von ihm ablenken, aber er kommt immer wieder, bis die Ursache geheilt ist. Das trifft auf körperliche Schmerzen genauso zu wie auf seelische. Unser Gehirn selbst ist schmerzunempfindlich, dennoch ist es für die Schmerzmeldung und -verarbeitung zuständig.

Unser Schmerzzentrum im Gehirn ist für beide Schmerzarten zuständig, für seelische wie für körperliche, wie eine Stadt, die aus zwei Stadtteilen besteht. Bei kleinen Kindern und einigen Erwachsenen sind die Stadtteile nicht voneinander zu unterscheiden. Sie reagieren dann in der Regel psychosomatisch, also gleichzeitig seelisch, emotional und körperlich. Je nach Kultur und Sozialisation werden die Schmerz-Stadtteile im Laufe des Heranwachsens getrennt, manchmal werden sogar verbindende Straßen und Brücken blockiert. Dann somatisieren wir nur noch und nehmen unseren seelischen Schmerz nicht mehr wahr, oder wir nehmen nur noch den seelischen Schmerz wahr und ignorieren den körperlichen Schmerz. Eine Blockade in dem einen Stadtteil kann zur Blockade auch im anderen Stadtteil führen.

Neurowissenschaftler können die sogenannte Schmerzsignatur identifizieren. Sie haben festgestellt, dass chronische, körperlich stark empfundene Schmerzen dazu führen, dass das System ‚umspringt‘, es feuert dann Signale zunehmend mehr im emotionalen Bereich. Genauso können chronische seelische Schmerzen umspringen in körperlichen Schmerz. Menschen, bei denen die gesamte Schmerzstadt blockiert ist, leben in der Regel nicht lange.

Manche behaupten, keine Gefühle entwickeln zu können, wenn sie nicht ihren Körper fühlen. Aber Menschen fühlen auch mit ihrem Geist oder Gehirn, selbst wenn der Körper betäubt ist. Natürlich können Gefühle intensiver wahrgenommen werden, wenn zugleich Körperempfindungen wahrgenommen werden, und natürlich erweitert sich die Gefühlsskala oder -palette, wenn wir den Körper miteinbeziehen. Wir nehmen dann mehr Sinnesreize auf, vor allem aber haben wir dann mehr Worte dafür. Gefühle ohne Bezeichnung können wir schlecht bewusst einordnen. Wenn es um Selbstvergewisserung und Selbstverankerung geht, ist das Spüren und Bewohnen unseres Körpers sehr wichtig, ansonsten können wir uns abgeschnitten fühlen. Es ist beim Fühlen wie beim Schmecken. Auf den Eigengeschmack von Gefühlen wirkt das Bewohnen und Spüren des Körpers wie Gewürze. Entziehen wir die Gewürze, schmeckt alles erst einmal nach nichts. Wir können aber durch abgespeicherte Erinnerungen geistig nachwürzen.

Wir sind in ständiger Verbindung mit dem, was uns umgibt, von Anfang an, indem wir mitschwingen. Womit wir im Einzelnen mitschwingen, ist individuell verschieden, und Schwingen ist immer geprägt durch Dynamik, also Abweichungen. Mit einer Flatline können wir nicht mitschwingen. Wir schwingen uns auf unsere Mitmenschen ein, wir spiegeln ihren Tonfall, ihre Bewegungen, ihre Energie. Wir takten mit den Tageszeiten, mit den Jahreszeiten, mit der Erdumdrehung, mit den Lichtverhältnissen, mit den Aktivitäten unserer Organe (Biorhythmus). Die saisonal immer wiederkehrenden Farben in der Mode greifen diesen Mechanismus auf, wir wollen uns auch im Außen an die Verhältnisse anpassen.

Zusammenhängende Tonfolgen, also Musik, wird oft als das verbindende Medium zwischen Menschen, Völkern und Nationen beschrieben. Wenn wir in Verbindung mit einem Rhythmus gehen, fantasieren Neurotypische darüber eine Verbindung zu den Menschen, die sich zu dem gleichen Rhythmus bewegen und in ihm mitschwingen – Synchronizität als Kriterium für Verbindung oder gar Einssein.

Reiten triggert einen ähnlichen Mechanismus. Schon vorgeburtlich werden wir durch die Schritte der Mutter wiegend getragen. Später, als Kleinkinder, würden wir als Traglinge natürlicherweise auf der Hüfte der Mutter sitzen und die Beine um ihren Körper schlingen. Bewegt sich ein Pferd unter uns und wir können mitschwingen, fühlen wir uns angenommen. Wir glauben, in Verbindung zu sein, ohne auf das tragende Wesen achten zu müssen, was zum Erfolg von Reittherapien beiträgt, aber leider auch zu Fehleinschätzungen der Pferdebefindlichkeit führen kann.

Dadurch, dass wir für die Funktionsfähigkeit unserer Wahrnehmung Lücken oder Synkopen brauchen, ist unsere Wahrnehmung zwar immer gefüllt, aber nie vollständig. Auch unsere visuelle Wahrnehmung zeigt uns nicht alles, obwohl wir in der Illusion leben, alles zu sehen. Wir blinzeln an die zwanzigmal pro Minute, und mit jedem Lidschlag erzeugen wir eine visuelle Wahrnehmungslücke. Wir überbrücken sie mit Erwartungsbildern, die wir verknüpfen mit den zuletzt gesehenen Bildern, den Nachbildern. Und/oder wir verknüpfen die Erwartungsbilder mit Bildern aus unserer Erinnerung, wenn früher Erlebtes getriggert wurde. Diese Fähigkeit zu Erwartungsbildern, die die Lücken in der Wahrnehmung füllen und uns suggerieren, unser Sehen zeige uns einen zusammenhängenden Film, ist eine Grundvoraussetzung einerseits für die Vorstellung von Zukunft, zum anderen für Fantasie.

Besonders im Zustand der blinzellosen Wahrnehmung (Trance, Meditation, drittes Auge) glauben Menschen, alles wahrzunehmen und nehmen alles für wahr. Sie können in dem Zustand nur schwer, oder nur auf andere Weise, denken oder fantasieren. Es fehlt die Lücke zur Verarbeitung, es gibt keine kognitive Dissonanz, keine Widersprüchlichkeiten, sie fühlen sich sicher und zeitlos. Sie glauben, frei zu sein von Glaubenssätzen oder subjektiven Interpretationsmustern. Aber auch eine Fliege verfügt über hervorragende Mosaik-Augen, und doch erkennt sie das Spinnennetz nicht und nicht die Glasscheiben unserer Fenster.

Im Übrigen blinzeln beispielsweise auch Schlangen, alle Lebewesen leben in Rhythmen. Schlangen blinzeln mit ihrem wichtigsten Sinnesorgan, der Zunge, sie züngeln. Jedes Mal, wenn eine Schlange die Zunge zurückzieht, damit sie nicht austrocknet oder festklebt und sie immer wieder neue Reize aufnehmen kann, hat sie eine Wahrnehmungslücke. Diese Lücke muss sie genau wie Menschen überbrücken mit Vorstellungen, als Schlange tut sie dies vermutlich mit Erwartungs-Geruchs-Spürmustern.

Der Mensch ist mit Sicherheit nicht das einzige Wesen mit Vorstellungen zu Zukunft und Vergangenheit, ebenso ist er nicht das einzige Wesen, das sich im Spiegel erkennen kann. Der Mensch definiert als Spiegel nur den visuellen Spiegel, nicht aber Geruchsspiegel von Hunden oder Tast-Spür-Spiegel von beispielsweise Katzen oder blinden Menschen. Der Mensch glaubte lange, nur er könne fühlen, denken, sich im Spiegel erkennen, fantasieren, sich erinnern… alles Illusion, sobald wir bereit sind, noch andere Sinnessysteme anzuerkennen oder andere Aufbauten des Gehirns. Vögel und Oktopusse haben keinen Cortex, und doch sind auch sie nach menschlicher Definition sehr intelligent. Viele behaupten, Fische seien stumm und taub, dabei weiß jeder Fischer, dass dem nicht so ist. Aber erst, wenn es ‚wissenschaftlich bewiesen‘ ist, ändern Menschen ihre falschen Annahmen.

Verbindungen loslassen

Wir können nicht statisch, dauerhaft in der gleichen Verbindung sein, nicht mit Menschen, nicht mit Ideen, nicht mit der Umgebung, nicht mit uns selbst, da weder wir, noch sonst etwas statisch und unveränderlich ist. Auch Verbindungen sind Rhythmen unterworfen und brauchen Synkopen.

Nicht einmal die Vorstellung von ewiger Liebe währt ewig, wir können sie nur ab und zu heraufbeschwören, und jedes Mal verändert sie sich. Wir müssen immer wieder loslassen, seelisch, geistig und physiologisch. Lösen wir nicht immer wieder Verbindungen, spüren wir sie nicht mehr, und wir schaffen keinen Raum für Neues. Atmen wir nicht aus, können wir nicht einatmen, scheiden wir nicht aus, können wir keine neue Energie aufnehmen. Vergessen wir nicht, können wir nicht verlernen und Neues lernen.

Verbindungen jeglicher Art, seelisch, körperlich und geistig, können wir besser loslassen, wenn es in einem Prozess geschieht, wenn genügend andere tragende Verbindungen vorhanden sind oder gleichzeitig neue Verbindungen entstehen. Niemand versucht, unter Wasser auszuatmen, wenn er nicht gleich wieder auftauchen kann – wir halten dann lieber die Luft an.

Menschen gehen unterschiedlich miteinander in Verbindung, je nach Entwicklungsphase, Vorstellungsvermögen und je nachdem, wie eine Verbindung vorwiegend erlebt wird: körperlich, geistig, seelisch oder in einer Kombination. Das Loslassen einer veräußerlichten linearen Verbindung fühlt sich anders an als das Loslassen einer innerlich empfundenen. Viele Menschen visualisieren Verbindungen analog zu ausgestreckten Armen, die einen anderen berühren, also verkörperlicht, und in gewisser Hinsicht linear. Andere fantasieren Verbindung ‚rund‘, analog zu Umarmungen, wie kleine Kinder, die umklammern und gehalten werden wollen, noch andere als Einheit, dann ‚kleben‘ oder verschmelzen sie. Wird ein ausgestreckter Arm nicht ergriffen oder losgelassen, reißt die gefühlte Verbindung ab oder wird abgeschnitten.

Es ist ein Unterschied, ob wir freiwillig aus einer Verbindung gehen, oder ob wir losgelassen oder gar verlassen werden. Es macht ebenso einen Unterschied, ob uns jemand von der Seite geht oder aus dem Herzen, ob uns jemand zur Seite stand wie eine Stütze, ob jemand hinter uns stand und dadurch Rückendeckung gab, oder ob wir uns von jemandem umhüllt fühlten.

Wir können Menschen, die uns wichtig sind, in einer Familienaufstellung aufstellen und schauen, wo im Raum sie ihren Platz haben. Wir können dies auch in unserer Vorstellung tun. Die Verortung von anderen Menschen in unserem Sozialen Panorama (der Begriff stammt von Lukas Derks) spielt eine entscheidende Rolle dafür, wo der gefühlte Riss oder die Lücke entsteht, wenn jemand geht, und wie sichtbar oder spürbar das Fehlen ist. Jeder kann in seiner Vorstellung prüfen, wo ‚seine‘ Menschen verortet sind: Vorne, hinten, links, rechts, an der Seite, nah, weiter weg, größer, kleiner, leuchtender… Stehen die Menschen verlässlich an der immer gleichen Position, wechseln sie ihren Standort, sind sie klar zu erkennen? Wo schauen sie hin, wie schaue ich auf sie, zu wem spüre ich eine Verbindung, und wenn, auf welche Weise?

Je wichtiger eine Verbindung ist, desto eher mündet das Loslassen in einen Trauerprozess. Prozesse brauchen ihre Zeit, in unserer Kultur soll Loslassen aber schnell geschehen. Hast du etwas verloren, kauf dir einen Ersatz, etwas Neues, etwas Besseres. Stillstand ist Rückschritt, die Rädchen müssen sich weiterdrehen, niemand darf den gemeinsamen Takt stören, der eine Grundverbindung unseres Miteinanders suggeriert. So stehen Arbeitsnehmern nach dem Verlust eines nahen Verwandten maximal drei freie Tage zu. Wer länger als zwei Wochen trauert, soll zum Arzt oder Therapeuten und erhält dann die Diagnose Depression. Entstandene Lücken sollen schnellstmöglich wieder mit ‚guten‘ Bildern gefüllt werden.

Ein gelungener Trauerprozess schließt natürlich immer mit versöhnlichen Bildern ab. Die Lücke ist dann zumindest diffus oder weich gefüllt, so dass sie nicht mehr akut schmerzt. Für den gegangenen Menschen ist ein anderer Platz gefunden worden, beispielsweise im Himmel, und andere Menschenbilder rücken in den Vordergrund oder näher an die Lücke heran, die sich dadurch verkleinert. Doch das gelingt nicht unter Druck oder in einem vorgegebenen Zeitraum.

Zudem ist das Verändern der Bilder und das visuelle Schließen der Lücke nur ein Aspekt des Trauerprozesses. Die Menschen, die gegangen sind, waren nicht nur mit Bildern verknüpft, sondern auch mit bestimmten Körperempfindungen, mit Glaubenssätzen, Erinnerungen und Sicherheiten, vielleicht auch mit Schuldgefühlen. Jeder Mensch hat sein individuelles Grundmuster. Manche Leerstellen können nicht oder nur unzureichend gefüllt werden (Broken Heart Syndrom), und manche Lücke sollte noch eine Weile betrachtet werden. Vielleicht taucht ein dahinterstehendes Bild auf, das vorher verdeckt war, und sonst wieder verdrängt wird, ein Bild, mit dem sich der Trauernde befassen sollte. Denn vielleicht leidet er nicht nur unter dem aktuellen Verlust, sondern auch unter dahinterliegenden, in früheren Zeiten erlebten Verlusten oder Erlebnissen, die noch nicht aufgearbeitet werden konnten.

Da die Verortung im inneren Familiensystem, im sozialen Panorama, und die Qualität der Verbindungen so unterschiedlich sein können, passen die offiziellen fünf Trauerphasen nicht für jeden Menschen, weder inhaltlich, noch in der vorgegebenen Reihenfolge (Verleugnung, Wut, Verzweiflung, Resignation und Akzeptanz). Kinder trauern ohnehin anders als Erwachsene, sie fühlen sich nicht verpflichtet und sind auch nicht imstande, 24 Stunden am Tag an jemanden zu denken. Sie gehen in die Trauer hinein und wieder hinaus in das Leben, sie wechseln, und sie erstarren daher seltener komplett. Täten sie es, könnten sie innerlich und äußerlich nicht mehr wachsen, sie würden alle Verbindungen zum Leben abschneiden. Viele Erwachsene, die sich sogar verbieten, dass in ihnen ein Lächeln aufscheint, während sie in Trauer sind, verstehen das nicht und machen ihren Kindern bewusst oder unbewusst Vorwürfe. Aber Kinder leben mehr im Hier und Jetzt, wie Neurodiverse.

Auch Frauen, die ein ungeborenes Kind verlieren, werden in dieser visuellen Welt selten verstanden. Ihre Trauer wird abgetan mit Sprüchen wie: ‚Das Kind war ja noch gar nicht da‘, oder: ‚Du kannst doch ein Neues haben‘. In der Tat haben schwangere Frauen ihr Kind noch nie gesehen. Ihre Trauer ist innerlich und körperlich, sie haben nur diffuse visuelle Vorstellungen. So hilft es den meisten, wenn ihre ‚Sternenkinder‘ schön fotografiert werden. Dann können sie eine visuelle Verbindung eingehen, die Verbindung darüber veräußerlichen, im Äußeren einen Platz schaffen und ein wenig loslassen. Und sie haben einen ‚Beweis‘, dass sie um etwas Reales trauern, so dass andere mittrauern können.

Je nach individueller Bevorzugung bestimmter Sinnessysteme brauchen wir beim Prozess des Loslassens Unterschiedliches, meistens mehreres gleichzeitig. Manche brauchen es, sich auszusprechen, manche wollen schreiben oder malen, manche sich bewegen. Für das visuelle System brauchen wir gute Bilder, je beunruhigender die letzten Bilder waren, umso mehr davon. Für das Namenlose, Unbegreifliche am Verschwinden eines Wesens brauchen wir gute Benennungen, Worte. Und für das verschwundene Körperlich-Wesenhafte brauchen wir einen Platz, sowohl im Außen, beispielsweise auf einem Friedhof, als auch in unserer Vorstellung.

Es ist schlimm für Menschen, wenn ihnen Nahestehende irgendwo in der Ferne gestorben sind, und sie nicht genau wissen, wie und wo. Im zweiten Weltkrieg, als deutsche Soldaten in Russland kämpften, steckten viele ihrer Söhne Fähnchen auf eine Karte, die den Frontverlauf markierten. Sie warteten auf die Rückkehr des Vaters, waren in Gedanken bei ihm, begleiteten ihn in einem sehr großen, fernen Land. Kam der Vater nicht zurück, blieben die Assoziationen an ihn mit dem Land verbunden. Die Kinder hofften, selbst wenn sie schon erwachsen waren, immer noch auf ein Zeichen aus dem Land, das den Vater ‚beherbergt‘, suchten nach einem Zeichen. Selbst wenn die Väter zurückkamen, waren sie verändert. Etwas von ihnen war in der Ferne geblieben, wie die Sehnsucht der Kinder nach den verlorenen, vaterlosen Jahren.

Dieses die Väter-in-der-Ferne-Verorten in Kombination mit diffusen Schuldgefühlen der damaligen Kinder - die Väter gehörten zu den Verlierern, und wer weiß, was sie für Untaten begingen - mag die Dienstbarkeit einiger deutscher Politiker gegenüber russischen Machthabern miterklären. Die Sehnsucht nach dem Vater wird verschoben auf männliche Repräsentanten des fernen Landes; das Bedürfnis, dem Vater nahe zu sein, ihn zu unterstützen oder ihn zu rechtfertigen, trübt ihr Denkvermögen.

Leider gibt es für Tote, wie auch für Lebende, immer weniger Raum und Platz, alles wird zunehmend in den unendlichen, visuellen Vorstellungsraum verlagert. Aber im Internet oder Metaverse bauen die Menschen die gleichen Städte, und sie stellen die gleichen Regeln auf, die sie in der Basiswirklichkeit kennen. Es wird alles verdoppelt, so dass die Menschen wie in einem (schöneren?) Spiegel zu dem ihnen Vertrauten in Verbindung gehen, ohne jedoch mit allen Sinnen in Verbindung zu sein. Ein trügerisches Sicherheitsgefühl entsteht, das abrupt enden kann, wenn die Datenwelt zusammenbricht, dann ist alles weg.

Zu plötzliches Loslassen, zu schnelle Trennung oder Kappung von Verbindung kann zu Schocktrauma und Phantomschmerz führen. Dann braucht es noch viel mehr, um loszulassen. Einige Menschen halten es daher für eine Lösung, erst gar nicht in Verbindung zu gehen, um Trennungsschmerz prophylaktisch zu vermeiden.

Buddhisten versuchen, alle Anhaftungen an das Irdische zu lösen. Leid entsteht ihrer Vorstellung nach durch Emotionen, Begehren, Streben, letztlich durch Hinzu-Bewegungen. Nur im rein geistigen Vorstellungsraum ist alles sicher, wahr und frei. Jedoch leben auch Buddhisten in Verbindungen und haften an, denn niemand kann nicht anhaften. Buddhisten haften beispielsweise an ihrem Heimatland, an ihren Ritualen, an ihren Glaubenssätzen, an Statuen, an ihrem Abt oder höchsten Repräsentanten; sie leben meist ihr Leben lang im gleichen Kloster, von Kindheit an immer mit den gleichen Brüdern oder Schwestern, sie stehen immer zur gleichen Uhrzeit auf, haben eine Hierarchie und nur eine bestimmte Wahrnehmungsperspektive. Sie essen, was ihnen vorgesetzt wird, aber der Geruch der Räucherstäbchen ist nicht beliebig. Sie haben es auch nicht sonderlich eilig, in ihr Nirwana einzutreten. Manche halten sich für einen Bodhisattva, für einen Erleuchteten oder Erwachten, der beauftragt ist, sein Wissen weiterzugeben. Verlässt der Kapitän das Schiff aber als Letzter, bedeutet es, dass er an seinem Schiff hängt oder an seiner Pflicht. Buddhisten verstehen unter Anhaftung also nur eine Auswahl an möglichen Verbindungen.

Wir können Loslassen auch mit Vergessen, Entwerten oder Wegwerfen verwechseln. Wir haben alle gelernt, die Verbindung zu etwas eben noch Aktuellem, Wertvollen oder Interessantem abrupt zu kappen, so wie wir unsere Aufmerksamkeit in bestimmten Situationen abrupt auf etwas anderes richten müssen. Wir können nicht auf alles achten, wir können nicht gleichzeitig in allen Sinnessystemen Verbindung zu allem spüren. Wenn Menschen behaupten, mit ‚Allem‘ in Verbindung zu sein, sind sie nur in Verbindung zu ihrer Vorstellung von ‚Allem‘.

Kleine Kinder üben fallenlassen und wiederaufheben, beides ist ihnen gleich wichtig. Später lernen sie, achtlos wegzuwerfen. Vielleicht galten die von ihnen gebauten Türmchen oder Puppenaufstellungen nichts mehr, sobald aufgeräumt wurde oder der Staubsauger durchs Zimmer röhrte. Vielleicht galten sie selbst in bestimmten Situationen nichts. Eben noch lächelte sie jemand an, dann klingelte das Handy.

Jagte eine Mensch in früheren Zeiten ein Fluchttier, suchte er die Verbindung zu diesem über die Fährte, die Flugbahn eines Speeres oder Pfeiles. War das Wild erlegt, brach die Verbindung zu dem Lebewesen, das nun tot war, ab. Der Mensch kümmerte sich nur noch um das Verwertbare der Beute.

Es gibt also viele, sehr unterschiedliche Arten, in Verbindung zu gehen und Verbindungen zu lösen. Trotzdem gehen die meisten Menschen davon aus, dass alle anderen auf die gleiche Weise wie sie selbst Verbindung suchen und in Verbindung sind, was für Neurodiverse zum Problem werden kann.

Menschen gehen nicht einfach in Verbindung zu anderen Menschen. Sie entwickeln Vorstellungen zu Menschen, innere Bilder, und gehen in Verbindung mit diesen. Sie legen ihre inneren Bilder auf das Außen, sie projizieren – oft sind sie mehr in Verbindung mit ihren Bildern als mit den realen Menschen. Manche gleichen ihre Bilder nicht einmal mit den Menschen dahinter ab, sondern wollen Menschen an ihre Bilder angleichen.

Innere Bilder, Personenkonstanz und Schrödingers Katze

Selbst die besten Eltern können nicht ständig auf gute Weise bei ihren Kindern sein, und kein Kind kann ständig seine Eltern anschauen oder spüren, es braucht auch Raum für anderes. Nicht nur Menschenkinder entwickeln daher die sogenannte Objektkonstanz, die ich auf Menschen bezogen als ‚Personenkonstanz‘ bezeichne. Oder ist eine Mutter, meist ist ja sie die erste Bezugsperson, ein Objekt? Auch andere Lebewesen entwickeln Objekt- und ‚Personenkonstanz‘, allerdings viel schneller, nach drei Monaten ist sie bei unseren nächsten Verwandten, den Menschenaffen, abgeschlossen. Die lange Dauer bei Menschen, bedingt durch seine Frühgeburtlichkeit (aufrechter Gang, schmalere Becken, frühere Geburten), öffnet einerseits ein größeres Lernfenster, andererseits benötigt das Kind dadurch eine verlässlichere Begleitung, die Entwicklung ist störanfälliger bzw. lässt mehr Raum für Varianten.

Objektkonstanz meint, dass ein Kind weiß, dass der Ball noch da ist, also existiert, selbst wenn er unter einen Schrank gerollt ist und das Kind den Ball nicht mehr sieht, nicht mehr hört oder fühlt. Das Kind entwickelt durch Erfahrung eine überdauernde Vorstellung von einem Objekt, die sich von dem Objekt löst. In dieser Entwicklungsphase wird aus der Vorstellung von dem konkreten Ball, der unter den Schrank gerollt ist, ein abstrakter Ball, der Ball, ein Bild und/oder eine Form-, Ton-, Berührungs-, Geruchsgestalt, die stellvertretend für Bälle steht. Mit den Worten, den Bezeichnungen, kommt eine Art Bilderrahmen hinzu, so können wir Bilder oder Filme durch Benennung bannen. Taube Kinder bannen oder rahmen anders, vielleicht u.a. mit Farben und Formen, blinde Kinder konturieren u.a. mit Tönen, Rhythmen, Formen und Haptik.

Analog und parallel zur Objektkonstanz entwickelt das Kind die Personenkonstanz, eine überdauernde Vorstellung zu seiner ersten Bezugsperson.

Miau… Ist die Katze da oder ist sie nicht da? Oder ist sie gleichzeitig da und gleichzeitig nicht da? Schrödingers quantentheoretisches Paradox entspricht einer Verdichtung des Erlebens kleiner Kinder in der Phase, in der sich die Personenkonstanz aufbaut. Ist die Bezugsperson da, existiert sie, auch wenn sie nicht mehr zu sehen, zu hören, zu riechen und zu berühren ist? Oder zerfällt das Bild, die Vorstellung von ihr, und damit auch die positive Emotion und das körperlich-seelische Sicherheitsgefühl? Wenn das Bild stabil ist, hilft es, eine gewisse Zeit ohne Mutter zu überbrücken, weil sie in der intensiven Vorstellung irgendwie doch da ist. Die Vorstellung wird zur zentralen inneren Sicherheit, zum Garant für die Existenz der Bezugsperson, unabhängig von ihrer Präsenz.

Objekt- und Personenkonstanz sind elementare Voraussetzung für Imagination und Abstraktion, für die menschliche Fähigkeit, Geschichten zu erzählen und für das Gefühl von überdauernder Verbindung. Wir könnten uns nicht über Bälle unterhalten, wenn wir keine ähnlichen Vorstellungen zu Bällen entwickeln würden, nicht über Gefühle, nicht über Menschen, Lebewesen, Techniken oder Ideen, wir hätten keine gemeinsamen Metaphern, keine gemeinsame Narrative, keinen gemeinsamen Vorstellungsraum.

Leider bewerten viele neurotypische Menschen ihre inneren konstanten Bilder als wichtiger und wertvoller als die realen Objekte oder Personen. Die Idee wird heilig, denn nur sie ist zuverlässig da. ‚Moderne‘ Psychologen sprechen passend dazu nicht mehr von Objektkonstanz, sondern von Objektpermanenz. Das ist jedoch eine Suggestion, denn nichts ist permanent oder unzerstörbar, weder Gefühle, noch Bilder, noch Ideen, noch die Herrschaft von Göttern oder Diktatoren.

Objekt- und Personenkonstanz entwickeln sich ca. in den ersten anderthalb Lebensjahren. Viele Mütter spielen kulturübergreifend in dieser Zeit das sogenannte Guck-Guck oder Kuckuck-Spiel. Mal zeigen sie ihr Gesicht, mal verdecken sie es, z.B. mit einem Tuch. Das Kind wird sehr aufgeregt, wenn das Gesicht der Mutter verschwindet, und strahlt, wenn es wieder erscheint. Durch das Kuckuck-Spiel trainieren Mütter aber weniger die Personenkonstanz, vielmehr emotionalisieren sie die Kinder, sie putschen sie auf. Mögen die Kinder das Spiel nicht, oder stimmt das Timing nicht, verstört es die Kinder und hat den gegenteiligen Effekt. Es ist wie beim Kitzeln. Verpasst der Kitzelnde den Moment, in dem es für das Kind genug ist, schlägt das Kitzeln in Übergriffigkeit um. Die Kinder lachen schon gequält, aber der Kitzelnde hält es noch für lustig und fordert vom Kind ein, dass es weiter mitspielt. Viele Eltern überziehen, wenn sie selbst in Emotion und Aktion gefangen sind, sie sind dann nicht empfänglich für feinere Signale.

Das Kind lernt also in einem Prozess, dass seine Bezugsperson irgendwie immer da ist, selbst wenn es sie nicht sieht und vielleicht auch nicht hört oder spürt. Viele Eltern wollen aus Ungeduld oder aus anderen Gründen diese Entwicklung abkürzen. Vielleicht brauchen sie mehr Zeit für sich allein oder sie glauben, schon kleine Kinder bräuchten ein eigenes Zimmer, wo es alleine durchschlafen soll. Doch eine Beschleunigung dieses Prozesses hat Folgen, genauso, wie wenn wir Hirnreifung oder Wachstum forcieren wollten, und sie stresst sowohl Kind als auch Eltern. Erlebt das Kind qualitativ und quantitativ nicht genug echte, gute Präsenz der Bezugspersonen, wird es dementsprechend auch keine zuverlässige Personenkonstanz entwickeln, es wächst in einer Lüge auf und wird seine Verbindungsimpulse anders oder an anderes koppeln. Es kann Kippbilder entwickeln: die gute oder die böse Mutter; mal erscheint die eine, mal die andere, mal erscheint niemand. Diese Kippbilder finden sich später in entsprechenden Welt- oder Gottesbildern wieder.

Nach und nach erweitert sich die Vorstellungskapazität des Kindes. Zur ersten Bezugsperson treten weitere Bezugspersonen hinzu, das innere soziale Panorama entsteht und erweitert sich. Die