Eutopia - Ingrid Manogg - E-Book

Eutopia E-Book

Ingrid Manogg

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Beschreibung

Die utopische Vision ist wahr geworden: Eutopia ist entstanden. Es herrscht Wohlstand und Freiraum; die höchsten Werte sind Vielfalt und individuelle Entfaltungsmöglichkeit. Eutopia ist jedoch nicht das Paradies. Denn ein Paradies ist für Tote, Eutopia hingegen für Lebende. Zahlreiche Abenteuer und Herausforderungen warten auf die Bewohner von Eutopia, die die neue Ordnung gleichzeitig bewahren und dynamisch anpassen wollen. Die Eutopia-Saga kombiniert eine Fantasiewelt mit einer Kritik unserer Gesellschaft und erzählt dies durch Schicksale liebenswerter Figuren. Eutopia ist eine fantastische Art des Zusammenlebens, die gepflegt und geschützt werden muss, und die wir vielleicht auch erreichen können...

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Die Reihe Eutopia

Die Utopie ist real geworden: Eutopia ist entstanden. Es gibt Wohlstand, Freiraum und individuelle Entfaltungsmöglichkeiten für alle. Eutopia ist jedoch nicht das Paradies, denn ein Paradies ist für Tote, Eutopia hingegen für Lebende. Zahlreiche Abenteuer und Herausforderungen warten auf die Eutopianer, die die neue Ordnung gleichzeitig bewahren und dynamisch anpassen wollen.

In diesem ersten Band lernen wir mit Raino und seinem besten Freund Noktus die Grundsätze, das Leben und die Herausforderungen auf Eutopia besser kennen und verstehen. Doch Raino scheint verändert, die jahrzehntelange Freundschaft zwischen ihm und Noktus droht zu zerbrechen. Bald wird die große Gefahr erkannt und Allarmia ausgerufen. Und es taucht eine mysteriöse Gestalt auf, die Schreckliches berichtet von einem Planeten namens Örf.

Bereits erschienen: Die Reihe Der Weg nach Eutopia

Inhalt

Einführung

Rainos Reise

Wiedersehen

Erfüllt?

Verwandlung

Das Konzert

Die Transferenz der Hüter

Allarmia

Von oben

Danach

Zurück

Ri-Mem-Ba-Mi

Kleine-Hüten

Bewerbung

Goldwasching

Eine neue Aufgabe

Träume

Gleiche Augen

Geschrei

Zaruno

Lussinda erzählt von Örf

Drei Verantworter

Wie es weiterging

Okapi

Einführung

Eutopia ist entstanden aus der Vereinigung der neun Planeten Formicula, Ludofluid, Lunaflor, Mosaika, Radix, Lignum, O-Ton, Lemniskate und Solaria (siehe Der Weg nach Eutopia). Eine künstliche Sonne liefert Energie, Licht und die gewünschten Temperaturen. Die Sonne sorgt auch für den Antrieb – Eutopia kann seinen Kurs durch das Allversum selbst bestimmen. Atmosfoira, der Wohnort der Zeronier, folgt und unterstützt Eutopia.

Eutopia ist geformt wie ein Ei und umgeben von mehreren Schutzschichten. Es besteht aus neun Gebieten, den ursprünglichen neun Planeten entsprechend, und aus den sie umgebenden Allgebieten. Jeder Eutopianer kann sich am Ort seiner Wahl niederlassen, auf Zeit oder für immer. Es gibt mehr als genug Platz. In den Gebieten entsprechen die klimatischen und landschaftlichen Bedingungen den Bedürfnissen der dort ansässigen Originalstämmigen. In den Allgebieten herrschen moderatere Lebensbedingungen.

Wie ihre versanischen Vorfahren ähneln die Eutopianer Menschen. Ihre Sinnessysteme sind jedoch teils spezialisierter, teils ‚gesamtleiblicher‘ und ihre körperliche Substanz ist für andere Elementarteilchen durchlässig. Daher können sie auf verschiedene Weise Energie gewinnen und Nachwuchs erzeugen. Es gibt ‚gemischte‘ Eutopianer‘, sogenannte Mis, und ‚Originalstämmige‘, sogenannte Os mit typischen Merkmalen.

O-Novanis sind dünn, dunkel und meist langhaarig. Eine Feder wächst aus ihrem runden Kopf. Sie nähren sich von Sonnenlicht, lieben Pferde und Bücher. Die meisten verehren immer noch Solaria, jedoch mehr das Prinzip, nicht eine materielle Sonne. Sie er-wünschen ihren Nachwuchs, indem sie sich an den Händen halten und in die Sonne blicken. Sie kennen keinen Unterschied zwischen männlich und weiblich.

O-Okter sind hellbraun, rundlich und meist kurzhaarig. Sie gewinnen Energie, indem sie ihre innere Lemniskate in Schwingung versetzen. Wenn zwei Okter sich synchronisieren, können sie Kleine erwünschen. Okter sind naturwissenschaffend aktiv und mögen Katzenhunde.

O-Septemer sind vorwiegend hell und schlank, ihre Haare sind voll. An jeder Hand wachsen sieben Finger. Ihr Leib ist ein Klangkörper. Sie nähren sich durch Töne und Klänge und ertönen ihren Nachwuchs in einer Klangschale. Der Glaube an einen wahren O-Ton ist geschwunden.

O-Seisonen sind sehr groß, untersetzt und kräftig. Ihre Haare sind dicht, die Farbe variiert wie bei ihren Augen. Sie verehren das Wesen des Waldes, nähren sich von Honigduft und vermischen ihren Eigenduft, um Kleine zu erzeugen. Sie sind vertraut mit Wölfen, Binen und Vögeln.

O-Faiwer sind eher hell. Ihre langen Haare sind wirr, Finger und Zehen gewunden. Sie laufen und denken selten geradeaus. Sie verehren das Prinzip des inneren Wachstums und des Verwurzelt-Seins, das sie Radix nennen, und nähren sich von Beeren. Sie mögen Schafe. Ihre Kleinen wachsen in einem Wurzelnest auf.

O-Katter bevorzugen für sich die Bezeichnung Elite-Katter. Sie sind haarlos, stabil gebaut und kantig. Mund und Gliedmaßen sind dünn. Sie können aus fast allem Energie gewinnen. Sie lieben Technik und Techniken und sind als einziger Stamm noch hierarchisch organisiert. Sie optimieren und klonen sich.

O-Trejaner sind klein und bleich. Ihre rundlichen Konturen wirken unscharf, ihr Äußeres wechselt mit den Mondphasen. Die Haare sind staubfein, die Augen groß und rund, ohne Weiß. Sie verehren ihren Mond, trinken sein Licht und den Duft der Blumen. Sie leben in Dreier-Einheiten und erwünschen ihre Kleinen in Vollmondblüten. Sie mögen Katzen.

O-Twajis sind schlank, lockig, meist hell und überaus beweglich. Jeder von ihnen trägt einen Luden (eine Schlange) mit sich herum. Sie preisen das Prinzip Ludofluid – flüssiges Spiel – sind gesellig und ziehen ihre Energie aus dem Wassa. Ihren Nachwuchs ertanzen sie, bis er sich in einer Wassa-Blase manifestiert.

O-Unis sind groß, schlank und zäh, Augen und Haare sind tiefschwarz. Zwei feine Fühler ragen aus ihrem Kopf. Sie verehren die große Formicula in jedem Uni und nähren sich von Emsensaft. Energie gewinnen sie, indem sie dienen oder sich als Einheit zusammenschließen. Sie legen Eier, jeder kann dabei König oder Königin sein.

Zeronier sind kompakt und kräftig, Haare und Leib wechseln zwischen dunkel- und flammenfarbig. Sie nähren sich von Feuer und langweilen sich schnell. Jeder Zeronier ist mit dem Drachen verbunden, der gemeinsam mit ihm im Mutterdrachen herangewachsen und geschlüpft ist.

Alle Eutopianer sind untereinander sehr verschieden. Doch sie müssen weder glücklich sein noch einander mögen. Sie regeln ihr Zusammenleben durch Mediation und über unhierarchische Abstimmungsprozesse, in denen das sachliche Argument zählt und die Erkenntnisse der Psychologik berücksichtigt werden. Sie wählen ihre meist wechselnden Tätigkeiten und Aufgaben selbst; Schulen, Praktika und Multiversitäten sind frei für alle. Hilfe bei Problemen oder organisatorischen Fragen gibt es im Eu-Net, bei Mediatoren, Hütern, fachlich Kompetenten und Räten. Statt Macht gilt das Prinzip der Verantwortung, statt Gesetzen gibt es Regeln auf Zeit, statt Gefängnissen ‚Entfaltungsschutzräume‘.

Jeder Eutopianer darf über seinen ‚Besitz‘ verfügen nach den Kriterien der Verantwortlichkeit. Es gibt keinerlei Einschränkungen, über wieviel ‚Besitz‘ jemand verfügen darf. Nur Grundbesitz gibt es nicht, Gebiete werden gemeinsam verwaltet. Niemand muss teilen oder abgeben, es ist von allem genug da. Grundprinzipien auf Eutopia sind Vielfalt, Spielraum und Transparenz. Kommuniziert wird persönlich, über das Eu-Net mithilfe von Komkatts (Kommunikationsgeräte) oder über den geistigen Raum.

Wohlstand, Wahlmöglichkeit, Kreativität, Ausdrucksmöglichkeiten für die verschiedensten Fähigkeiten, Wissen um Psychologik, Technik und funktionierende Logistik sind ebenfalls unerlässliche Basis von Eutopia. Es wird nach Wunsch und Bedarf produziert, vorwiegend von ‚Künstlichen‘ und ‚Vier-Dimensionen-Drucker‘. Und es gibt keinerlei äußerliche Belohnungssysteme, also keine Währungen oder Bonuspunkte irgendwelcher Art. Lernen, Wachsen, Freunde, Partner und/oder Ausdrucksmöglichkeiten finden und das selbstwirksame, individuelle Sich-Entfalten gelten als die wahren Herausforderungen des Lebens.

Unsere Geschichte beginnt im Jahre 59 a. Eu. (Anno Eutopii).

Rainos Reise

In Immersommer, dem Gebiet der Novanis, dunkelte es nie. Auch nachts strahlte die künstliche Sonne groß und hell über den grünen Hügeln. Nur für wenige Stunden wurde sie ein wenig heruntergedimmt und schuf die Illusion von Dämmerung und Kühle.

Raino fand keinen Schlaf. Unruhig wälzte er sich hin und her und ging immer wieder seine Reiseroute durch. Dabei kannte er sie auswendig …

Eutopia ist geformt wie ein riesiges Ei. Oben auf der Karte, auf der breiten Fläche, liegt das Gebiet der Novanis, an dessen Grenze Raino lebt. Hier brennt die künstliche Sonne heiß und hell. Getrennt durch einen Streifen Allgebiet befinden sich darunter die Gebiete der Okter und Katter – alle Gebiete sind umgeben von Allgebieten. Unterhalb von Okter- und Katter-Gebieten liegt das Gebiet der Septemer, noch weiter unten das der Twajis. September- und Twaji-Gebiete ziehen sich ringförmig um die breite Mitte Eutopias. Unter ihnen finden sich die Gebiete der Faiwer und Seisonen. Wie die Gebiete der Katter und Okter liegen sie einander auf gleicher Höhe gegenüber und ähneln sich in Größe und Form. Faiwer- und Seisonen-Gebiete grenzen unten an das ringförmige Gebiet der Unis. An der Spitze des Eis, mehr als 10.000 km vom Kerngebiet der Novanis entfernt, leuchtet der Mond. Hier leben die Trejaner. Das Schneegebirge, das neben ihrem Gebiet liegt, ist Allgebiet.

Alle Gebiete sind voneinander getrennt durch sie umgebende Allgebiets-Flächen. In diesen leben zumeist Misch-Wesen, sogenannte Mis. Auch in den Gebieten wohnen Mis, doch siedeln hier vorwiegend Original-Wesen, die Os. Die kleinen Kerngebiete sind jeweils nur für Os betretbar, Mis vertragen deren extreme Bedingungen nur mit speziellem Schutz.

Eutopia ist spiegelbildlich angeordnet. ‚Vorne‘ und ‚hinten‘ durchzieht jeweils ein Allgebietskorridor die Gebiete. Raino könnte von seinem Zuhause aus zum Schneegebirge laufen oder fliegen, ohne ein einziges Gebiet zu queren. Er könnte auch den Wassa-Weg nehmen. Durch die Allgebiets-Korridore fließen zwei große Ströme direkt nebeneinander, der eine mondwärts, der andere sonnenwärts, wie auf einer Autobahn. Diese großen Ströme biegen jeweils vor dem Novani- und dem Trejaner-Gebiet ab, umrunden Eutopia und verbinden sich mit den ihnen gegenüberliegenden Strömen. Über allen Strömen gibt es zahlreiche Brücken.

Aufregung und Vorfreude quälten Raino, immer wieder raufte er sich die langen grauen Haare. Endlich würde er seinen Freund Noktus wiedersehen. Die letzten Jahre hatten sie nur über Komkatts miteinander kommuniziert, das zählte nicht wirklich. Aber nun hatte Noktus die meisten seiner füssikalischen Tätigkeiten abgegeben und ihn eingeladen. Wie in früheren Zeiten wollten sie zwei Wochen miteinander verbringen und verschiedene Gebiete besuchen.

Erst gegen Morgen fielen Raino die Augen zu und er verschlief, wie jedes Mal, wenn ihm etwas Außergewöhnliches bevorstand. Noch müde trat er am späten Vormittag aus seinem schlichten Wohnkasten, Modell künstliche Birke. Er streckte die langen, dünnen Gliedmaßen und ließ seine Augen über die Hügel schweifen. Kein weiterer Wohnkasten hatte sich in seiner Nähe niedergelassen. Das war gut, er schätzte seine Abgeschiedenheit. Wenige Meter entfernt, im Schatten einiger knorriger, silbrigblättriger Bäume, grasten einige Pferde. Kahu, sein schwarzer Katzenhund, umkreiste sie mit wedelndem Schwanz und miaulte auffordernd. Doch die Pferde beachteten ihn nicht, sie kannten ihn seit Jahren.

Gemächlich spazierte Raino zum nächsten Vier-Dimensionen-Gestalten-Former, den alle nur Vier-Dim nannten, und ließ seine Körperform abscannen. Gewissenhaft tippte er Wunschfarben, Form und Materialien für einen neuen Umhang ein und studierte die Veranschaulichung auf dem großen Display. Er hätte auch seine früheren Bestellungen aufrufen und ‚Umhang identisch wie Vorgänger‘ anklicken können. Jeder Eutopianer hatte die Wahl, seine Daten anonym oder personifiziert abspeichern zu lassen, auf seinem eigenen Komkatt und/oder im Eu-Net, und hatte dadurch Zugriff auf alle seine Eingaben. Doch Raino benutzte den Vier-Dim so selten, dass er die Funktion vergessen hatte.

Der neue Umhang schimmerte frisch in Blau und Grün und fiel weich an ihm herunter. Die Selbstreinigungszellen waren inzwischen so verbessert, dass sie weder zu erkennen noch zu ertasten waren. Aber die aufgedruckte Sonne auf der Brust entsprach nicht dem gewünschten Farbton, sie war mehr orange als gelb. Raino meldete die Abweichung sofort auf dem danebenstehenden All-Komkatt. Innerhalb eines halben Tages würde vermutlich ein Katter oder ein Uni das Gerät checken, es vor Ort oder aus der Ferne justieren oder das fehlende Farbmaterial auffüllen oder auffüllen lassen. Raino stellte sich plastisch vor, wie seine Daten in den allgemeinen Datenspeicher flossen und zur perfekten Logistik und Versorgung beitrugen, seine Arme ruderten in weiten Kreisen in der Luft.

Ach ja, er brauchte auch neue Stiefel. Er tippte auf ‚Scan von Fuß bis Knie‘, wählte Funktion, Farbe und Material. Während der kurzen Wartezeit warf er die alten Stiefel und den ausgedienten Umhang in den Wiederaufbereiter. Er trennte sich nur ungern von seiner gewohnten Kleidung, doch so zerschlissen wollte er vor Noktus nicht erscheinen. Erst gestern hatte einer seiner Schüler an der MISAP, der Multiversität Immersommer, Abteilung Psychologik, ihn auf mehrere Löcher hingewiesen.

Die neuen maßgefertigten Stiefel saßen perfekt. Raino hatte gar nicht gemerkt, wie ausgeleiert die alten gewesen waren. Beschwingt machte er sich auf den Rückweg zu seinem Wohnkasten und überlegte erneut, ob er sich für den weiten Flug zum Schneegebirge einen schnellen AFK, einen allgemeinen Flugkasten, bestellen sollte. Das würde seine Reise um Tage abkürzen. Aber die Vorstellung, Zeit mit Fremden verbringen zu müssen, behagte ihm nicht. Die Alternative wäre, einen Einzelflugkasten zu ordern, doch das hatte er noch nie gewagt. Er kannte sich mit dem neuesten Stand der Technik nicht aus, sicher war alles viel zu kompliziert zu bedienen. So kehrte er zu seinem ursprünglichen Entschluss zurück, mit Kahu im eigenen Wohnkasten zu reisen.

Akribisch traf er seine Vorbereitungen. Er rollte einen der kleineren blauen Teppiche zur Seite, um auch durch das Fenster im Boden blicken zu können, schob die Türen der Bücherregale zu, stopfte die zahlreichen umherrollenden Bälle in eine Truhe und ließ Tisch und Stühle einrasten. Dann prüfte er das manuelle Steuerungssystem und klappte einen Teil des Solardaches auf.

Alle Wohnkästen waren flugfähig, selbst die größten und originell Geformten. Viele Eutopianer liebten es, mobil zu sein, und wohnten oder lebten mal hier, mal da. Dadurch schwankten Lage und Größe der Ansiedlungen zum Teil beträchtlich. Ständig wurde die Logistik angepasst. Ferngesteuerte Transportflugkästen stellten All-Komkatts, Vier-Dims, Wiederverwerter und Materialkästen an die jeweils neuen Sammelpunkte und nahmen nicht mehr benötigte Geräte mit. Etliche Eutopianer verfügten zusätzlich zu ihrem Wohnkasten über mindestens einen privaten Flugkasten. Die schnellsten flogen fast 1000 km/h und brauchten für die Strecke vom Novani-Gebiet ins Schneegebirge wenig länger als zehn Stunden.

Rainos Kasten hingegen gehörte zu den ältesten und langsamsten Flugobjekten. Schwerfällig und laut brummend stieg er auf. Bedauernd sah Raino seinen Stammplatz kleiner und kleiner werden, es ergriff ihn schon jetzt ein starkes Heimweh. Erst als sein Wohnhügel aus seinem Blickfeld verschwand, richtete er seine Konzentration auf die Landschaft, die unter ihm dahinglitt.

Hier findet wohl bald ein Markplatz mit Konzert statt, stellte er fest, als er über die sich abflachenden Hügel des Novani-Allgebietes zog. Er registrierte zahlreiche Kästen, die sich am Rande eines großen abgesteckten Bereiches gruppierten, und eine riesige, halb aufgebaute Bühne. Fast bedauerte er, dass er nicht auf automatischen Flug umstellen, sondern nur Flughöhe, Geschwindigkeit und Richtung fixieren konnte. Er musste aufpassen, sich nicht in seinen Gedanken zu verlieren.

Nach einigen Stunden überflog er die dreieckige Insel der Sonnenverzweigung ‚SV1‘, eine der vier Stellen, an der der große Strom sich teilte, um Eutopia zu umrunden. Die Verzweigungen vor dem Trejaner-Gebiet wurden MV genannt, M für Mond.

Die Landschaft wirkte immer sandiger und öder, er hatte das Allgebiet zwischen Okter- und Katter-Gebiet erreicht. Weder Okter noch Katter legten Wert auf Bäume oder Grün. Wenn es regnete, spross es ohnehin explosionsartig auf. Schien hingegen die Sonne, schrumpfte das Grün wieder, nur einige der achtarmigen oder achtblättrigen Kakteen hielten stand. Umso mehr Wert legten Katter und Okter auf die Architektur ihrer Gebäude. Weiße, kubische und runde Kästen gruppierten sich um zwei große, hochaufragende Pyramiden. Diese waren die Haupt-Multiversitäten für Naturwissenschaffen & Architektur und für Technik: die MUNA I und die MUT I.

Multiversitäten waren wie Schulen und andere Lernstätten allen Eutopianern frei zugänglich. Niemand brauchte Prüfungen zu absolvieren und es gab auch keine offiziellen Abschlüsse. Jeder konnte sein Wissen zu Theorien und Anwendungen freiwillig testen oder Wissensfragen und Antworten ergänzen. An jeder Multiversität herrschten andere Regeln. An einigen erschienen die Lernenden, wann und wie sie wollten, und auch die Lehrenden hielten ihre Lesungen und Kurse nicht nach einem vorgegebenen Plan ab. An der MUT, der MUNA und der MUL, der Multiversität der Unis für Logistik, Organisation, Schreinern und Kampftechniken, gab es hingegen Lernpläne und Anmeldungspflichten. Doch auch diese Kurse standen jedem onlain zur Verfügung.

Am Morgen des nächsten Tages erreichte Raino das Gebiet der Septemer. Im Kontrast zu dem kargen Allgebiet der Katter und Okter wirkte es geradezu lieblich. Prächtige Bäume strotzten in frischem Grün, Blumen blühten, Bäche plätscherten, hohe und sanfte Hügel wellten sich. Die Septemer schwärmten von ihren abwechslungsreichen Landschaften. Sie hatten sogar eine kleine Wüste und ein eigenes Gebirge, aber von dem Allgebietskorridor aus waren sie nur verschwommen zu erkennen. Die Sonne schien hier spürbar milder, das Licht wirkte weich. Die meisten Kästen waren bunt und niedrig. Nur die runden Türme der musikalischen Multiversität, der MUM, ragten schlank und golden empor, an ihrer Spitze drehten sich silberne Notenschlüssel.

Jedes Allgebiet und jedes Gebiet bestimmte über sein eigenes Klima. Mit Hilfe kleiner künstlichen Sonnen und Reflektoren, die Licht, Wärme und Energie der Hauptsonne weiterleiteten, stellten die Bewohner die gewünschten Jahreszeiten ein. Nur das Tageswetter wurde dem Zufallsprinzip überlassen. Nach anfänglich hitzigen Diskussionen hatte sich überall ein fester Rhythmus eingestellt. Wer im Frühling Herbstwetter erleben wollte oder im Sommer Winterwetter, flog einfach in ein anderes Gebiet oder in eine andere Region.

Der Übergang zum Twaji-Allgebiet vollzog sich unmerklich, es gab keine eingezeichneten Grenzen. Das Twaji-Gebiet zog sich wie ein Wassa-Band rund um die Mitte Eutopias und lag auf der Klima-Achse der Übergangsjahreszeiten. Blühende Bäume zierten die zahlreichen Inseln, wie zarte Wölkchen in Rosarot. Hier herrschte gerade Mitt-Frühling. Wie auch im Septemer-Gebiet zogen Frühling und Herbst im Halbjahres-Rhythmus gemächlich rund um Eutopia. Raino kniff die Augen zusammen, die glitzernden Wassa-Flächen blendeten ihn. Das Weiß unzähliger Schwäne schimmerte, springende Delphine ließen Fontänen aufsteigen, von bunten Kästen wehten Partygeräusche zu ihm hoch.

Erst vor wenigen Monaten hatte ihn ein Twaji-Rat als Mediator angefragt. Die Bewohner der an das Twaji-Gebiet angrenzenden Faiwer-Allgebiete hatten sich über die Überflutung einiger Wiesen beschwert. »Wir sind mehr geworden«, hatten sich die Twajis gerechtfertigt, »wir brauchen mehr Platz, mehr Wassa.« Nach einigen Drei-D-Visualisierungen, Beratungen mit Fachkundigen und mehreren Abstimmungen einigten sie sich schließlich darauf, die Erweiterung des Twaji-Gebietes in Richtung Seisonen-Allgebiet vorzunehmen, wo weniger Eutopianer lebten.

Alle paar Jahre vergrößerten oder verkleinerten sich die Allgebiete und Gebiete, alles war ständig im Fluss. Nicht einmal die Kerngebiete blieben in Größe und Form stabil. Einige Ratskästen, Produktionsstätten, Multiversitäten und Marktplätze waren hingegen fest verortet.

Unvermittelt hielt ein schnelles Fluggerät auf ihn zu. Raino zog seinen Kasten hoch und duckte sich dabei – seine Höhenangst war so anhänglich wie sein Katzenhund. Der Insasse in dem anderen Kasten winkte ihm zu, sein automatisches Steuerungsprogramm hatte längst einen Bogen geschlagen, aber Raino sah es nicht.

Endlich wagte er es, den Kasten wieder zu senken und döste erschöpft ein. Als er wieder erwachte, schwebte er knapp über den Baumwipfeln der dichten Seisonen-Wälder. Ein leichter Regen fiel, das sanfte Rauschen vermischte sich mit Wolfsheulen und Binen-Gesumm. Mehrere seiner Schüler hatten ihm von ihren Besuchen an der MUW, der Multiversität für das Wesen des Waldes und das Waldwesen vorgeschwärmt und von spannenden Abenteuern, die sie im Dämmerlicht des Waldes erlebt hätten. Doch für Raino waren Begegnungen mit Gedanken viel aufregender als die Begegnung mit Binen, Wölfen oder urwüchsigen Seisonen. Obwohl er gerne verstehen würde, wie die Seisonen den Nährungs-Übergang bewältigt hatten: Sie nährten sich jetzt nicht mehr von Honig, indem sie ihn sich einverleibten, sondern indem sie seinen Duft einatmeten. Auch ihre Nachwuchs-Erwünschung hatten sie vom Erspucken auf Duftvermischung umgestellt.

Mist, er hatte die Große Kreuzung I verpasst, den Bereich, in dem der Strom das Twaji-Gebiet passierte. Die Große Kreuzung galt als Allgebiet und markierte wie die gegenüberliegende Große Kreuzung II die Mitte Eutopias. Etliche stationäre Marktplätze hatten sich dort auf den größeren Inseln angesiedelt, es waren die am dichtesten bewohnten Gegenden. Eigentlich hatte Raino spätestens hier auf dem Wassa weiterreisen wollen. Er hatte geplant, seinen Flugkasten auf einem der Fährenkästen zu parken und sich für den Rest der Reise zu entspannen. Natürlich könnte er sich auch an einer anderen Stelle auf einem der Fähren niederlassen. Sie fuhren Tag und Nacht und es waren immer genügend frei, nur die Hälfte der Kästen war für den Warentransport reserviert. Aber er schien abgedriftet zu sein. Der Wassa-Weg war nicht mehr zu erblicken, nur endloser Wald …

Der Himmel wurde grauer, er schlief wieder ein. Er verschlief einen ganzen Tag und eine halbe Nacht. Oder waren gar zwei Tage vergangen? Raino schüttelte sich, er fühlte sich völlig desorientiert. Er hatte schon immer viel Schlaf gebraucht, aber diese Art von Müdigkeit kannte er nicht. Es war ihm, als wollte etwas in ihm für immer weiterschlafen.

Es dunkelte, die rund um Eutopia schwebenden Sonnenreflektoren waren hier stark heruntergedimmt. Offenbar hatte er das Uni-Gebiet bereits überflogen und näherte sich jetzt dem Trejaner-Gebiet. Tatsächlich, in der Ferne konnte er das Schneegebirge und den selbstleuchtenden, magnetisch fixierten Mond erkennen. Bald würde er dort in der schwerkraftlosen Zone mit Noktus schweben. Aber zuerst wollten sie sich auf ‚ihrem‘ Schneehügel treffen, so wie früher. Ach ja, er sollte Noktus anrufen …

Raino griff hastig zu seinem Komkatt und schaltete es ein. Bei Solaria! Seit seinem Aufbruch waren über acht Tage vergangen und er hatte sich immer noch nicht gemeldet! Rasch schickte er eine Textnachricht: ‚Ankomme in zwei Stunden am verabredeten Treffpunkt.‘

Wiedersehen

Seit über einer Stunde suchte Noktus den Himmel ab, doch außer dichtem Schneetreiben konnte er nichts erkennen. Sicherlich flog Raino mit seinem langsamen Privatkasten und die Flugdauer hatte er wohl auch noch falsch berechnet. Und warum hatte er sich nicht schon früher bei ihm gemeldet oder wenigstens sein Komkatt auf Empfang geschaltet? Noktus hätte sich die tagelange Warterei im eintönigen Uni-Allgebiet gerne erspart.

Missmutig stampfte er auf der Stelle. Sein hellblauer, dichtanliegender Umhang passte gut zu seinem mittelbraunen Hautton und betonte seine rundliche Körperform, auf die er sehr stolz war. Aber ihm war kühl. Er war ein Mi-Okter-Mi-Novani und erheblich temperaturempfindlicher als ein O-Novani. Zudem verfügte der Umhang noch nicht über die neuesten Kälteanpassungsfunktionen. Noktus zog die Kapuze enger, seine eisengrauen Haare und seine kurze Feder legten sich glatt an seinen runden Kopf an.

Endlich leuchteten schwache Scheinwerferlichter durch das fallende Weiß. Eine Schneewolke stäubte auf, Raino war gelandet. Noktus registrierte sofort, dass der Flugkasten schiefstand, aber er sagte nichts. Raino hielt nichts von den ausfahrbaren Beinen, die Unebenheiten ausgleichen konnten.

Nicht anfassen, nicht umarmen, ermahnte er sich, als sich die Tür des Kastens öffnete. Rainos dunkles Gesicht lächelte ihn an, seine lange Feder neigte sich ihm zu. Noktus hob die Hand zum Gruß und bemühte sich, seinen Ärger über die Verspätung zu unterdrücken. »Hallo, alter Freund«, sagte er freundlich. »Du hast mich lange warten lassen. Willst du nicht das Verdeck von deinem Kasten schließen? Es schneit herein. Lass uns gleich los-sausen, mir ist kalt. Wo sind deine Gleiter?«

»Habe ich vergessen.«

»Macht nichts«, meinte Noktus. »Ich habe ein Extra-Paar für dich mitgenommen.« Dann schüttelte er den Kopf über Rainos Umhang, der sich in der frischen Brise breit aufblähte. »Hast du keinen Gürtel? Segeln wollten wir doch erst später. Und du solltest deine Haare zusammenbinden, sie wirbeln wie die Luden der Twajis.«

»Eigentlich will ich mich nur mit dir unterhalten«, gestand Raino. »Und dann ein bisschen fliegen und schweben.«

»Gut. Dann gleite ich den Hügel eben alleine herunter. Wir treffen uns unten.« Noktus verstaute die überflüssigen Gleiter in Rainos Flugkasten, schnallte sich sein Paar an und verschwand in den Flocken.

Was war los mit Raino? Als echter Novani hatte er den Schnee immer geliebt. Und es war seine Idee gewesen, sich hier zu verabreden. Noktus erreichte den Fuß des Hügels schneller als Raino mit seinem Flugkasten und musste ihn eine ganze Weile suchen. Dann saßen sie sich endlich in Rainos Zuhause gegenüber, Raino im Schneidersitz, während Noktus einen Teppich über seine genüsslich ausgestreckten Beine legte.

»Sie haben die letzten Entfaltungsschutzräume aufgelöst. Niemand muss mehr sozialisiert oder resozialisiert werden. Alle haben jetzt Zugang zu ihren Potentialen«, begann Raino.

Noktus nickte. »Ich weiß.« Er war es gewohnt, dass sein Freund ohne Umschweife auf die Themen zu sprechen kam, die ihn gerade beschäftigten, und spielte mit. »Die Lernangebote und Mediationsprogramme sind ein voller Erfolg. Die meisten Eutopianer, sogar die Kleinen, können mittlerweile ihre Probleme selbst, miteinander oder mit Hilfe von anderen lösen. Und es gibt zahlreiche Modellbeispiele im Eu-Net, jeden Tag kommen neue dazu. Raino, erinnerst du dich an deine erste Mediation, als du die Spaltung der Zeronier verhindert hast, vielleicht sogar einen Krieg? Die einen Zeronier wollten ihren Planeten Atmos nennen, die anderen Foira. Wie zufrieden sie waren, als sie sich dank deiner Vermittlung auf Atmosfoira geeinigt hatten. Es war das erste Mal, dass sie sich auf ein ‚Sowohl-Als-Auch‘ einlassen konnten. Und, wie läuft es mit deiner Psychologik?«

»Ganz gut. Meine Abteilung wächst. Neue Mitarbeiter und Schüler sind dazugekommen. Und zu meiner letzten Vorlesung sind immerhin neun Interessierte erschienen.«

»Was war das Thema?«

»Ich habe über die individuellen Muster gesprochen, die in jedem Wesen gleichbleiben, auch wenn wir alle mehr oder weniger in unseren Eigenschaften und Fähigkeiten gemischt sind. Und darüber, wie verschieden sich unsere individuelle Entfaltung gestaltet.«

Noktus beobachtete ihn aufmerksam. »Und über was hast du noch gesprochen?«

Raino wich seinem Blick aus. Es dauerte eine Weile, bis er antwortete. »Über den richtigen Zeitpunkt zu gehen. Wann ist eine Entfaltung abgeschlossen, wann ist es gut? Wann falten wir uns wieder zusammen wie schlafende Auf-und-zu-Falter, um im nächsten Kreislauf neu aufzufliegen? Wie lange können wir entfaltet gleiten? Auch darin sind alle Wesen verschieden.«

»Ein schwieriges Thema«, sinnierte Noktus. »Kleine entstehen, Große müssen gehen. Sonst bleibt die Population nicht konstant. Die Katter schlagen vor, weniger Kleine zu produzieren, damit die Großen ewig leben können. Gibt es aber zu wenig Kleine, wachsen sie in einer Welt auf, die ihre Bedürfnisse zu wenig oder zu viel beachtet. Vielleicht halten sie sich dann für etwas allzu Besonderes. Oder sie rebellieren, um eine Gegenwelt zu erschaffen. Sie brauchen genug Gleichaltrige, um gut zu gedeihen. Meinst du, Große sollten ab einem bestimmten Alter gehen, um Platz zu schaffen?«

Raino schüttelte den Kopf. »Keine Vorgaben, kein Opferbringen, kein Platzschaffen. Es wäre grausam für die Älteren und würde zu einem unbarmherzigen Bewertungssystem führen. Das passt nicht zu Eutopia. Man würde Eutopianer ab einem bestimmten Alter nicht mehr als lebendige Individuen wahrnehmen, sondern als Schmarotzer. Als würden sie anderen etwas wegnehmen, wenn sie länger blieben. Niemand könnte sich mehr frei weiter-entfalten. Die Hemmung, die die Älteren befiele, würde auch auf die Jüngeren abfärben, Zeitdruck entstünde. Früher auf Solaria war alles gut geregelt, nur hat keiner verstanden, nach welchen Gesetzmäßigkeiten. Die großen Novanis verschwanden einfach, wenn die dritte Generation erschien, und es war für alle richtig und stimmig.«