Eve - Amor Towles - E-Book
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Amor Towles

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Beschreibung

Eine umwerfende Gesellschaftssatire vom Autor des Bestsellers „Ein Gentleman in Moskau“: Amor Towles erzählt mit augenzwinkernder Eleganz, wie eine Frau aus der Provinz die Glamourwelt Hollywoods austrickst. Nachdem Eve mit ihrem Freund in New York Schluss gemacht hat, bricht sie nach Los Angeles auf. Wenig später wird sie mit der berühmten Olivia de Havilland in den angesagten Lokalen Hollywoods gesehen. Es ist die Zeit, als „Vom Winde verweht“ gedreht wird und die Studios sich gegenseitig die Schauspielerinnen abjagen. Die ebenso raffinierte wie rätselhafte Eve gibt kaum etwas von sich preis, verwirrt jeden Möchtegern und Betrüger, der ihr begegnet, bis sie diejenige ist, die zuletzt lacht.

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SusannasPlace

Man kann sich nicht von der Lektüre losreißen

Es ist die Zeit von David O. Selznick, die Zeit von "Vom Winde verweht". Da ist die geheimnisvolle Evelyn Ross, die Frau mit der Narbe im Gesicht, die Hollywood still und leise besucht. Nein, sie schlägt überall dort wo sie auftaucht, mit einem Wumms ein. Sie nimmt "De Havy" - Olivia de Havilland - unter ihre Fittiche, wird ihr Freundin und Beschützerin, während diese sich auf dem Weg zum Ruhm neben Clark Gable und Errol Flynn befindet. Als man de Havilland kompromittieren will, gerät Eve in Fahrt. Sehr kurzweilig, toll beschrieben. Man bekommt einen Einblick in das glamouröse Leben in Hollywood mit all den Stars und Sternchen. Eve wiederum ist eine starke Persönlichkeit, die all ihren Mitmenschen immer einen Schritt voraus ist und für einen Typ Frau steht, der sich nicht mit den typischen Rollenbildern zufrieden gibt. Eine beeindruckende wenn auch sehr geheimnisvolle Frau. Und auch wenn man etwas über ihre Hintergründe erfährt, fragt man sich doch bis zum Schluss: Wer ist eigentlich ...
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Das ist das Cover des Buches »Eve« von Amor Towles

Über das Buch

Eine umwerfende Gesellschaftssatire vom Autor des Bestsellers »Ein Gentleman in Moskau«: Amor Towles erzählt mit augenzwinkernder Eleganz, wie eine Frau aus der Provinz die Glamourwelt Hollywoods austrickst. Nachdem Eve mit ihrem Freund in New York Schluss gemacht hat, bricht sie nach Los Angeles auf. Wenig später wird sie mit der berühmten Olivia de Havilland in den angesagten Lokalen Hollywoods gesehen. Es ist die Zeit, als »Vom Winde verweht« gedreht wird und die Studios sich gegenseitig die Schauspielerinnen abjagen. Die ebenso raffinierte wie rätselhafte Eve gibt kaum etwas von sich preis, verwirrt jeden Möchtegern und Betrüger, der ihr begegnet, bis sie diejenige ist, die zuletzt lacht.

Amor Towles

Eve

Roman

Aus dem Englischen von Susanne Höbel

Hanser

Erster Teil

Charlie

Im Speisewagen wurde er wieder am selben Tisch wie die hübsche junge Frau mit der Narbe platziert. Sie las den neuesten Krimi, den mit der erdrosselten Dunkelblonden auf dem Umschlag. Fesselnd, sagte man darüber, obwohl es nicht danach aussah, so wie sie die Seiten umblätterte. Gut möglich, dass sie das Buch am Bahnhof nur deshalb gekauft hatte, um freundliche Annäherungsversuche abzuwehren. Dafür hatte er Verständnis. Manchmal wollte man einfach unbehelligt bleiben, selbst wenn es eine Reise von dreitausend Meilen war.

Er nickte, als er sich auf den Platz ihr gegenüber setzte. Er legte sich die Serviette auf den Schoß und sah aus dem Fenster, wo das Tal des Rio Grande in die hohe, einsame Wüste westlich von Exodus und östlich von John überging.

Noch ein Tag, dann wäre er wieder in Los Angeles.

Während der ersten Hälfte der Reise hatte er den Gedanken an das, was ihn dort erwartete, gemieden. Er hatte die Zeitungen gelesen und die Fahrgäste studiert. In Kansas City, wo sie mit ein paar Pullman-Wagen aus Memphis, Tennessee, verkoppelt wurden, hatte er im Bahnhof mit einem Mann aus Wells Fargo ein Bier getrunken und beinah die Weiterfahrt verpasst.

Aber nachdem sie die Grenze nach New Mexico überquert hatten, konnte er diesen Gedanken nicht länger umgehen. Er musste ihm die ihm gebührende Aufmerksamkeit schenken. In den nächsten Tagen würde der Hausverkauf besiegelt, ausstehende Rechnungen würden beglichen, das Konto bei der Sparkasse würde aufgelöst. Jedes Mal, wenn er an die Liste dachte, wurde sie länger. Sein Auto verkaufen. Seine Sachen zusammenpacken. Den Hochboden im Flur leerräumen, den er seit 1934, nachdem sie beschlossen hatten, den Tannenbaum ungeschmückt zu lassen, nicht mehr geöffnet hatte. Zusätzlich gab es die Liste innerhalb der Liste: Er musste sich um Bettys Dinge kümmern. Ihre Sommerkleider, ihre Schürzen. Ihre Haarbürste und die Broschen. Ihre Sonntagshüte. Die Ausstechformen und Nudelhölzer und Kuchenteller, die ihr teurer waren als alles andere. Wem sollte man ein Nudelholz schenken, wo doch jede erwachsene Frau ein Nudelholz besaß?

Tom, der ein guter Sohn war, hatte angeboten, aus Tenafly zu kommen und zu helfen. Beinah hätte Charlie das Angebot angenommen. Daran sah man, wie schwer ihm diese Aufgaben fielen, aber es war etwas, das er selbst übernehmen musste. Jetzt, da er Rentner und Witwer war und vorhatte, zu seinem Sohn an die Ostküste zu ziehen, waren dies wahrscheinlich die letzten Dinge, um die er sich tatsächlich selbst kümmern musste.

Jenseits des Fensters erstreckte sich die breite Uferlandschaft des Navajo bis zum Horizont, erbarmungslos, rissig und rot. Auf seiner Reise gen Osten hatten ihn die Felsformationen beeindruckt, die sich vor dem Himmel abhoben, als wären sie die letzten Überlebenden — Zeit und Absicht Überdauernde, so einsam und majestätisch wie sonst nichts auf der Welt. Er hatte sich auf die Rückreise durch diese Landschaft gefreut, damit er die Felsen genauer ansehen konnte, aber während der Zug weiterratterte, wurde ihm bewusst, dass ihre Formen verschwammen. Ohne es wirklich zu bemerken, waren sie an den Rand seines Sichtfelds gewandert, während er das in der Scheibe gespiegelte Gesicht der jungen Frau betrachtete.

Zuerst war sie ihm auf dem Bahnsteig in New York aufgefallen — sie hatte eine Zigarette geraucht, ein kleiner roter Koffer stand bei ihren Füßen. Sie musste Mitte zwanzig sein, und mit der attraktiven Figur und dem hellen Haar wirkte sie elegant und selbstsicher und fiel selbst in der Menge auf. Vielleicht besonders in der Menge. Er war einen Schritt nach rechts getreten, um sie besser ansehen zu können, doch dann öffneten sich die Zugtüren, und die Frau war inmitten der anderen Einsteigenden verschwunden.

Dann war er damit beschäftigt, sein eigenes Abteil zu finden und seine Tasche in der Ablage zu verstauen, und wurde von dem Schuhlederverkäufer aus Des Moines in ein höfliches Gespräch verwickelt, so dass er nicht mehr an die junge Frau mit dem roten Koffer dachte, bis er am nächsten Morgen, als sich der Zug Chicago näherte, zum Frühstück am selben Tisch platziert wurde.

Sie sah sinnend aus dem Fenster und tippte mit einer frischen Zigarettenpackung auf den Tisch. Sie sah sich nicht einmal nach demjenigen um, der an ihrem Tisch Platz genommen hatte. Aber als der Kellner ihre Kaffeetasse erneut füllen wollte, drehte sie sich kurz um und lehnte das Angebot ab. Und da sah er den Schaden, der ihrer Schönheit zugefügt worden war.

Es überraschte ihn, dass ihm die Narbe nicht eher aufgefallen war, denn sie musste gut zehn Zentimeter lang sein und verlief von ihrem Wangenknochen bis zum Kinn. Sicher, er hatte Hunderte von Narben gesehen. Sternförmige von einem Schlag auf die Stirn, sichelförmige von einem Messer in Downtown Encino, breite, weiße Narben, die das Resultat ungeschickter Hände beim Zusammenflicken in dunklen Garagen waren. Aber diese Narben waren Männern zugefügt worden, und sie waren verdient. Erjagt. Beinah ersehnt. Mit einem inneren Kopfschütteln wandte er sich der Speisekarte zu und bemühte sich, die junge Frau nicht anzustarren, denn er wusste, sobald sie vom Tisch aufstand, würde er sie genauer betrachten können.

Aber als der Schaffner durch den Gang kam und die bevorstehende Ankunft in der Union Station, Chicago, ankündigte, geschah etwas Interessantes: Die junge Frau drehte sich vom Fenster weg, rief den Schaffner zu sich und fragte, was es kosten würde, ihre Reise von Chicago nach Los Angeles zu verlängern. Nachdem sie den zusätzlichen Fahrpreis entrichtet hatte, gab sie dem Kellner ein Zeichen, dass er ihr doch nachgießen solle — als hätte sie die Fahrkarte bis zum Ende der Strecke gekauft, um genügend Zeit für eine weitere Tasse Kaffee zu haben.

Darüber hatte er lange nachgedacht. Als er in seiner Schlafwagenkoje lag und die Gedanken an das, was ihn erwartete, zu vermeiden suchte, beschäftigte ihn diese Frage. Warum würde eine junge Dame mit einem kleinen Koffer, die in New York allein eingestiegen war, plötzlich nach L. A.fahren wollen statt nach Chicago? Sie hatte nicht überraschend eine wichtige Nachricht erhalten. Auch hatte sie nicht besorgt gewirkt, als der Schaffner den nächsten Bahnhof ausrief. Sicher war allerdings eins: Sie war zufrieden mit ihrer Entscheidung. Nachdem ihre Tasse frisch gefüllt war, lehnte sie sich zurück, und das Leuchten in ihren Augen hätte den Neid aller Blonden in Brentwood wecken können.

Am zweiten Morgen, als er wieder gegenüber der jungen Dame mit der Narbe saß und sich über seinen Teller mit Schinken und Ei hermachte, setzten sich zwei Frauen in den Dreißigern auf die freien Plätze. Sie trugen Pillbox-Hüte mit kleinem schwarzen Schleier, der zu klein war, um etwas zu verschleiern. Ihre Kleidung hatte modische Schnitte, aber es war Kleidung für Frauen über fünfzig. Die Frau mit dem blauen Hut setzte sich ihm gegenüber und nahm eine selbstgerechte Haltung ein, während die mit dem roten Hut neben ihm saß und ihre Handtasche mit festem Griff auf dem Schoß festhielt. Sie kamen aus einer Gegend östlich des Mississippi, vermutete er, aber nicht sehr weit östlich. Vielleicht Cleveland.

»Guten Morgen«, sagten sie.

»Guten Morgen«, sagte er.

Die junge Frau mit der Narbe las.

»Guten Morgen«, wiederholte die Frau mit dem blauen Hut, und ihr höfliches Beharren rückte sie näher an St. Louis heran.

»Guten Tag«, sagte die junge Frau auf Deutsch, ohne von ihrem Buch aufzusehen.

Die Frau mit dem blauen Hut sah zu ihrer Gefährtin hin und zog die Augenbrauen hoch.

Nachdem der Kellner die Bestellung aufgenommen hatte, holte die Frau mit dem blauen Hut ein kleines Notizbuch aus ihrer Tasche und ging den Reiseplan durch: Wann sie ankommen, wo sie übernachten würden, wo sie in der Nähe des Hotels ein Restaurant finden konnten, das laut einer zuverlässigen Freundin sauber und nicht zu teuer war. Außerdem gab es einige Empfehlungen, welche Gegenden man meiden und was man unterlassen sollte. Ihm war klar, dass sie solche Gespräche schon öfter geführt hatten, und dass sie ähnliche Gespräche jeden Tag führen würden, bis sie wieder zu Hause waren.

Als das Essen kam, zog die Frau mit dem blauen Hut abermals die Augenbrauen in die Höhe, diesmal als Kommentar zu der eher groben Art, wie der Kellner die Teller auf den Tisch gestellt hatte.

Während sie aßen, erinnerte sich die Frau mit dem blauen Hut an etwas, das sie vor kurzem gehört hatte, und das Gespräch wandte sich dem Thema Nachbarn zu. Die Frau mit dem roten Hut hörte zu wie jemand, der das alles schon kannte, aber trotzdem kein Wort verpassen wollte. Da sieht man’s mal wieder, sagte sie jedes Mal, wenn das Erzählte ihre schlimmsten Befürchtungen bestätigte. Wie damals, als der junge Schwarze, der bei den Adelsons für die Autopflege zuständig war, sich den Cadillac für eine Abendfahrt auslieh. Oder als Miss Hollister dem schnell sprechenden Lehrer nach Chicago hinterherlief und dann zurückkam und immer noch Miss Hollister war und ein Kind bei sich hatte. Und dann das mit Leonara Cunningham …? Nachdem sie das Haus der Obermeyers in Clayton Street gekauft hatte und allen, die zuhören wollten, von den Vorzügen dieser oder jener Vorhänge und dieser oder jener Sofas erzählt hatte, statteten die Kreditprüfer dem Büro ihres Mannes einen Besuch ab und kamen mit den Kontobüchern von sieben Jahrgängen in einem Karton wieder heraus!

Na, da sieht man’s mal wieder.

Charlie legte sein Besteck gekreuzt auf den Teller und wandte sich mit einem traurigen Gefühl im Innern zum Fenster. Es war das traurige Gefühl, das ihn immer dann befiel, wenn eine Erinnerung an Betty an die Oberfläche kam. Aber diesmal war das nicht der Grund. Stattdessen wanderten seine Gedanken zu Caroline.

Als ihr Sohn sich mit Caroline anfreundete, waren er und Betty richtig stolz gewesen. Das lag nicht daran, dass Caroline aufs College ging und Tochter eines New Yorker Anwalts war. Vielmehr, es lag nicht nur daran. Es lag daran, dass sie so offen und klug und interessiert war. Sie hatte mit ihnen auf der Veranda gesessen und angeregt von Reisen und Musik und Büchern und allen möglichen Dingen erzählt. Aber jetzt, keine sechs Jahre später, konnte sie ihre Ungeduld nicht bezähmen, wenn Tom beispielsweise darüber sprach, wie stolz er auf seinen Posten innerhalb der Firma war, oder wenn er seine Freude über eine Kleinigkeit an ihrem Haus hervorhob. Und als sie den Besuch bei einer alten Freundin in Greenwich beschrieb, erwähnte sie Tom gegenüber zweimal, er könne sich nicht vorstellen, wie prächtig die Bäume in dem Garten dort waren — als würden die Bäume in Greenwich von einer höheren Göttlichkeit gepflanzt als die Bäume in Tenafly.

Auch hatte er ihre scharfe Zunge kennengelernt. Am ersten Abend seines Besuches, als er von einem Fall in seinem Arbeitsleben erzählte, hatte sie ihn unterbrochen — das sei kein angemessenes Thema für ein Abendessen, hatte sie gesagt. Kein angemessenes Thema vor dem Kind. Und als er am nächsten Tag in seinem alten grauen Anzug zum Frühstück kam, warf sie ihm einen Blick zu, der klarmachte, dass sein alter grauer Anzug ebenfalls nicht angemessen sei.

Auch Caroline war eine von denen, die Pläne machten und Empfehlungen hatten, dachte er jetzt ein wenig traurig, aber ihre Pläne betrafen nicht eine Reise nach Kalifornien — sie betrafen ihr Leben.

Aber noch im selben Moment, als der Gedanke in ihm Form annahm, schalt er sich, dass er ihm überhaupt in den Sinn gekommen war. Er schalt sich, wie Betty das getan hätte.

Denn hatte Caroline nicht jedes Recht, ihr Leben zu planen? Es sich auszumalen? Hatten er und Betty nicht das Gleiche getan, damals? Hatten sie nicht bezaubernde Abende in der kleinen Wohnung in der Finley Avenue damit verbracht, sich ihr Leben in einem der Häuser auf der Amesbury Road vorzustellen? Hatten sie nicht die besten Jahre ihres Lebens damit zugebracht, sich eine Zukunft für ihren Jungen auszudenken, lange bevor er alt genug war, sich selbst eine Zukunft auszudenken?

Man nannte es »The American Way«.

Vielleicht war es dasselbe in der ganzen Welt.

Er betrachtete sich in der Fensterspiegelung mit kritischem Blick. So wie Caroline das getan hatte, als er in seinem alten grauen Anzug zum Frühstück gekommen war. Seit Bettys Tod hatte er gut zwanzig Pfund abgenommen, und er war an Armen und Brustkorb geschrumpft. Jetzt hing sein alter grauer Anzug locker an ihm, als hätte er ihn gebraucht gekauft. Und warum trug er ihn überhaupt? Wo wollte er, so im Anzug, eigentlich hin?

Ja, er wusste, dass wir in diesem Land unser Leben nach unseren eigenen Vorstellungen gestalten. Wir wählen den Ort und unsere Gefährten, und wie wir unseren Unterhalt verdienen wollen, und so gestalten wir unser Leben. Durch das Wo, Wer und Wie. Aber wenn wir uns auf diese Weise gestalten, dann folgt daraus auch, dass der Verlust eines jeden Elements eine Minderung mit sich bringt. Einen Ehepartner zu begraben, aus dem Beruf auszuscheiden, ein Zuhause zu verlassen, wo man zweiundzwanzig Jahre gelebt hat — das ist der Schwund, der Abbau. Mit diesem Prozess fordern Zeit und Absicht die ungebundene Seele für ihr erhabeneres Ziel zurück.

Der Blick auf das Telefonkabel, das, aufgehängt an dünnen, grauen Masten, durch die Wüste geführt wurde und Nachrichten von Hochzeiten und Kriegen brachte, diente als demütigende Mahnung.

Damals, an seinem ersten Abend an der Ostküste, als Caroline ihn mitten in einer seiner alten Geschichten unterbrochen hatte, wusste er trotz seines verletzten Stolzes, dass sie unbedingt Recht hatte. Sie hatte Recht, ihn zu unterbrechen, nicht weil seine Geschichten am Abendtisch oder für das Kind unangemessen wären. Sondern weil es die Geschichten eines alten Mannes waren — traurig, lahm, zu oft erzählt.

Die größte aller Eitelkeiten.

Nur gibt es keine Erinnerung an die Früheren, und auch an die Späteren, die erst kommen werden, wird es keine Erinnerung geben bei denen, die noch später kommen.

»Taugt es was?«

Als die beiden Frauen aus St. Louis ihre Rechnung bezahlten, sah die junge Dame mit der Narbe von ihrem Buch auf und bat ebenfalls um die Rechnung, und die Frau mit dem blauen Hut nutzte den Moment für die Frage.

»Das Buch, das Sie da lesen«, sagte sie. »Taugt es?«

Ihr Ton deutete an, dass sie nicht mit einer positiven Antwort rechnete.

Die junge Dame sah sie einen Moment lang nachdenklich an. Dann drückte sie ihre Zigarette aus, lächelte wie eine Südstaatenschönheit und sprach mit dem entsprechenden Akzent.

»Oh, es ist nicht schlecht, würde ich sagen. … Es kommen alle möglichen Hauptwörter und Verben darin vor. Sogar Adjektive! Aber es bildet das Leben nicht ab. Als der Held in Kapitel 22 einen Mickey, also eine Art K.o.-Getränk, verabreicht bekommt, fällt er binnen weniger Sekunden um. Aber in Kapitel vierzehn, als er einen Bauchschuss erleidet, schafft er den Weg quer durch die Stadt zu Fuß. Und was Ess E Ix angeht, so wird das so gut wie nicht erwähnt.«

Sie schüttelte den Kopf, als nähme sie an, ihre Enttäuschung würde geteilt.

»Also, ich bin durchaus für dichterische Freiheit, aber ein Küsschen auf die Wange, das ist in diesen Tagen doch realitätsfern.«

»Ah!«, sagten die Frauen mit ihren Hüten.

Und während sie den Gang entlang davonrauschten, leckte die junge Dame mit der Narbe sich den Finger und blätterte die Seite um.

Ein paar Minuten las sie weiter, doch dann schien etwas in dem Buch sie nachdenklich zu stimmen. Sie sah aus dem Fenster. Und nachdem sie in ihrer kleinen Handtasche gesucht hatte, fragte sie Charlie, ob er ihr einen Bleistift oder Kugelschreiber leihen könne. Charlie nahm den Bleistift aus der Tasche seines Jacketts und gab ihn ihr. Sie schlug das Buch ganz hinten auf und machte ein paar Notizen. Dann gab sie den Bleistift mit zufriedener Miene zurück.

Inzwischen war der Speisewagen so gut wie leer. Ein paar Tische entfernt schimpfte eine Mutter mit ihrem sommersprossigen Jungen, weil er mit den Salz- und Pfefferstreuern Soldaten gespielt hatte. An dem Ecktisch vertiefte sich ein eifriger junger Mann in einen Stapel Bücher. Unterdessen lief draußen das Telefonkabel immer und immer weiter.

»Sie haben Recht, was den Mickey angeht«, sagte Charlie unvermittelt. »Bei einem Mann von durchschnittlichem Gewicht würde selbst ein Fünf-Sterne Mickey Finn zehn Minuten brauchen, um eine Wirkung zu erzielen.«

Die junge Dame ließ das Buch sinken und musterte ihn darüber hinweg.

»Aber eine Gewehrkugel«, sagte er, »das ist eine andere Geschichte.«

Sie legte das Buch hin.

»1924 hatte ich in Ventura mit jemandem zu tun, dem ins Auge geschossen wurde. Die Kugel streifte seine Schädeldecke und trat aus dem Ohr aus. Er fuhr fünfzehn Meilen zum Bezirkskrankenhaus und überlebte. Aber Eddie O’Donnell? Er wurde von einer jungen Dame — kaum älter als Sie — mit einer 22er Pistole angeschossen.«

Charlie zeigte mit den Fingern, wie klein die Pistole war.

»Sie hatte jemanden versteckt; wen, weiß ich nicht mehr. Wir wollten nur ein paar Fragen stellen, plötzlich hatte sie eine Pistole in der Hand. Sie zitterte wie Espenlaub. Wir sagten, sie solle nichts tun, was sie später bereuen würde, aber sie machte einfach die Augen zu und zog am Hahn und schoss Eddie ins Bein. Er mochte das nicht glauben. Was soll das denn?, sagte er zu mir. Aber die Kugel hatte seine Oberschenkelschlagader getroffen, und Eddie verblutete vor uns im Eingang.«

Er richtete den Blick aus dem Fenster, und empfand Schmerz bei dem Gedanken an Eddie O’Donnell — nach all den Jahren.

»Bei einem Schuss weiß man einfach nicht«, sagte er.

Als er sie wieder ansah, war ihr Blick auf ihn gerichtet. Sie nickte ein paarmal, als wollte sie Anteilnahme für seinen alten Kollegen zeigen. Dann streckte sie ihm ihre Hand über den Tisch aus.

»Ich heiße Evelyn Ross.«

Sie hatte einen guten Handgriff.

»Charlie Granger.«

Sie nahm eine frische Zigarette aus der Packung und zündete sie an.

»Und was ist Ihre Geschichte, Charlie?«

Sie schob die Packung über den Tisch.

Es war das erste Mal in über fünfzehn Jahren, dass eine Frau ihm eine Zigarette anbot.

Und was ist Ihre Geschichte?, hatte sie ihn gefragt, und das hatte Charlie ihr erzählt.

Er erzählte ihr, dass er und Betty 1905 mit ihrem kleinen Sohn nach Los Angeles gekommen waren, auf eine Anzeige in den Chicagoer Zeitungen hin, in denen erfahrene Polizisten gesucht wurden, die ihren Standort wechseln wollten. Und dass bei ihrer Ankunft die ganze Stadt wie eine Außenstelle für den Pony-Express aussah.

Er erzählte ihr, was sie schon wusste — von dem Aufstieg der Studios und von den Matinee-Sternchen, den prachtvollen Häusern und den prunkvollen Hotels. Aber er erzählte auch von dem anderen Los Angeles, das sich aus dem Staub neben dem Glitzern erhob und ebenso schnell wuchs, wenn nicht schneller. Das Los Angeles der Gangster und Betrüger und der Damen der Nacht. Von der Stadt innerhalb der Stadt, die ihre eigenen Lokale und Seilbahnen, ihre eigenen Kirchen und Banken hatte — wo es Misserfolg und Verrücktheiten gab, aber auch Anmut und Integrität.

Als er merkte, dass er wahrscheinlich zu lange gesprochen hatte, entschuldigte er sich, aber sie schob einfach ihre Zigaretten wieder über den Tisch. Sie fragte ihn nach seinem Leben bei der Polizei, und sie hörte aufmerksam zu, als er ihr von Kleinverbrechern erzählte, aber auch von den anderen, deren Geschichten auf den Titelseiten standen. Und als er ihr von Doheny Drowning erzählte, brach sie in herzhaftes Lachen aus.

Sie lachte, wie junge Damen in der Küche und in herrschaftlichen Hallen lachten, in Hollywood und in Tenafly und überall in der Welt.

Nachdem der Speisewagen sich geleert hatte — der fleißige junge Mann hatte seine Bücherstapel wieder in sein Abteil getragen, und der sommersprossige Junge hatte das Geld, das seine Mutter für den Kellner hingelegt hatte, geschickt in seiner Jackentasche verschwinden lassen — sagte Evelyn, sie schulde Charlie eine Entschuldigung.

»Als Sie Platz nahmen«, sagte sie, »kamen Sie mir vor wie ein Vertreter, der die Strecke zehnmal zu oft gefahren ist, und ich hatte die feste Absicht, Sie nicht weiter zu beachten. Aber nachdem Sie einmal angefangen hatten zu erzählen, Mr Granger, hätte ich Ihnen von hier bis Timbuktu zuhören können.«

Sie klopfte einmal auf den Tisch und stand auf.

»Da sieht man’s mal wieder.«

Sie wollte gehen, aber er hinderte sie, indem er ihren Arm festhielt. Sie sah ihn an und neigte fragend den Kopf.

»Darf ich Ihnen eine persönliche Frage stellen, Miss Ross?«

»Selbstverständlich.«

»Warum haben Sie Ihr Reiseziel von Chicago zu Los Angeles geändert?«

Sie wirkte überrascht und lächelte dann.

»Ich weiß es selbst nicht so genau. Ich fand plötzlich, dass der richtige Zeitpunkt für einen Tapetenwechsel gekommen war.«

Wieder sah er das Funkeln in ihren Augen, weil sie diese Entscheidung getroffen hatte. Eine Entscheidung, die nicht irgendwelchen Gründen, einem Zwang oder einem Plan unterworfen war. Und in dem Moment wusste Charlie, dass er nicht zu seinem Sohn ziehen würde.

Die junge Dame ging nicht gleich weiter. Offenbar beschäftigte sie eine Frage, während der Osten immer weiter östlich verschwand.

»Darf ich Ihnen auch eine persönliche Frage stellen, Mr Granger?«, fragte sie dann.

»Selbstverständlich.«

»Wie macht man einen Fünf-Sterne Mickey Finn?«

Prentice

Es war am sechzehnten September, als Prentice Symmons in der nordöstlichen Ecke der Poolterrasse des Beverly Hills Hotels zwischen zwei Sonnenliegen stehen blieb, um Atem zu schöpfen. Er verharrte so wie Kutusow auf den Feldern von Borodino, oder wie Washington am westlichen Ufer des Hudson, nachdem er Howes Zugriff entkommen war. Hier, auf der Poolterrasse, hielt die Sonne einen Moment in ihrem Lauf inne, und das Knattern der Markisen verstummte, während Prentice sich auf seinen Stock stützte.

Im Becken schwamm ein einzelnes Filmsternchen. Ihr kupferrotes Haar hatte sie ordentlich unter eine hellblaue Badekappe gesteckt, und ihre zarten Arme teilten ohne jedes Geräusch das sonnenbeschienene Wasser. Sie war die neueste Nachtigall in dieser Stadt. An den vier Ecken des Beckens standen dunkelhäutige Poolboys, von denen jeder hoffte, dass sie, wenn sie fünfzig Bahnen geschwommen war, in seiner Nähe aus dem Wasser steigen würde, damit er derjenige war, der ihr ein Handtuch reichen konnte. Vor fünf Jahren, als diese Elfe (oder vielmehr ihre Vorgängerin) ihre Sportübungen beendet hatte, wäre sie auf Prentice zugeschwommen. Sie hätte ihm scheu etwas zugerufen und ihn verspielt vom Rand mit Wasser bespritzt, bevor sie mit Rückenschwimmzügen dem Ruhm in die Arme geschwommen wäre.

Leider jedoch lässt sich die Position eines Mannes im Firmament ebenso wenig festmachen wie die eines Segelbootes auf dem Meer. Leider, ja, leider. Aber auch Avanti!

»Tag, Mr Symmons«, sagte der Junge an der nordnordwestlichen Ecke. Das war James, der Übermütige. Tag, sagte er knapp und zeigte nicht die Spur eines Lächelns, als erlaube er sich im Wissen um Prentice’ professionelle Situation einen Scherz. Es war zweifellos ein Anzeichen von dem künftigen Erfolg des jungen Mannes als Talentmanager oder als Betrüger.

»Guten Tag«, korrigierte Prentice ihn im Vorbeigehen. Am Ende der Poolterrasse gelangte man über sechsundzwanzig Stufen zur Hauptebene. Den Stufen wie auch ihm selbst war bekannt, dass keine dreißig Meter entfernt erst vor kurzem ein Aufzug eingebaut worden war. Aber er würde nicht klein beigeben und ihn benutzen. Er schwang seinen Stock und begann die Stufen zu erklimmen. Fünf, zehn, fünfzehn, zwanzig. Dies ist ein guter Tag, stellte er fest, als er oben ankam. Er hatte seine tägliche Ertüchtigung absolviert, den unverschämten Pooljungen in die Schranken gewiesen und die sechsundzwanzig Stufen bewältigt, und dabei war es erst halb vier.

Im Hotel lächelte er, als er an dem Schild mit der eleganten Schrift vorbeikam, das den Weg zur Lobby wies. Den Raum als Lobby zu bezeichnen, schien ihm wie eine Beleidigung. In einem solchen Raum hatte Kublai Khan Hof gehalten. Dies war das geographische Nadelkreuz, in dem sich binnen einer Stunde die Welt tummeln würde. Irregeführte Finanzberater aus Manhattan mit nur einem frischen Hemd im Gepäck würden sich beim Empfang anmelden. Lieferanten würden prächtige Blumenbouquets abgeben, die Bewunderung oder Bedauern mitteilen sollten. Und die forschen jungen Männer der Stadt würden auf dem Weg zur Bar an den Titanen beim späten Lunch vorbeigehen, die sie zu verdrängen hofften.

Aber als Prentice um die Ecke kam und zwischen den Topfpalmen hindurchging, machten die Parzen abermals ihre Überlegenheit, ja, ihre Herrschaft über die Sterblichen deutlich. Denn hier, unter der ausgemalten Decke, saß eine zarte Schönheit auf seinem Sessel und blätterte selbstvergessen in Gander, der neuesten Zeitschrift, die Aufstieg und Niedergang der neuesten Sternchen dokumentierte. Man musste es ihr nachsehen, dass sie seinen Platz gewählt hatte, so einladend, wie sein Sessel war, so gut gepolstert und perfekt platziert. Außerdem gab es keinen Grund, warum sie es besser wissen sollte.

Prentice suchte mit Blicken nach dem Empfangschef oder dem Concierge, doch beide waren anderweitig beschäftigt. Also ließ er die Augenbrauen sinken, stützte sich etwas schwerer als nötig auf seinen Stock und näherte sich der jungen Dame.

»Ehm.«

Als die junge Frau von ihrer Zeitschrift aufblickte, sah er, dass sie, die aus der Ferne eine zarte Schönheit zu sein schien, aus der Nähe betrachtet von einer Narbe im Gesicht entstellt war, die dem Zorn des Zorro geschuldet sein konnte. Ihre Augenbrauen hoben sich mit verhaltener Neugier. Er sah auf Anhieb, dass es keinen Zweck hatte, an ihr Mitleid zu appellieren. Also nahm er eine aufrechte Haltung ein.

»Entschuldigen Sie bitte, wenn ich störe«, begann er. »Aber hätten Sie etwas dagegen, sich in den Sessel da drüben zu setzen?«

Mit seinem Stock zeigte er auf einen leeren Platz ganz in der Nähe.

»Mein Leibesumfang, müssen Sie verstehen, verlangt Geräumigkeit.«

Sie neigte lächelnd den Kopf.

»Aber die Sessel sind gleich groß.«

Er räusperte sich.

»Ja«, sagte er, »das stimmt natürlich, das stimmt. Folglich würde ich wahrscheinlich in diesen freien Sessel passen. Aber verstehen Sie — wie soll ich es sagen? Es ist nicht mein Sessel.«

Sie legte die Zeitschrift auf die Knie und lehnte sich zurück, als wollte sie zum Ausdruck bringen, dass sie bereit sei, mit uneingeschränkter Aufmerksamkeit seinen Ausführungen zu folgen. Die Gute!

Er nahm die Haltung des Cicero an.

»Junge Frau«, hob er an. »Obwohl ich in diesem Hotel mehr als dreitausend Nächte in Folge verbracht habe, sollte ich daraus keine Sonderprivilegien für den Aufenthalt in der Lobby ableiten. Sollten Sie nur eine Nacht in diesem Hotel verbringen, hätten Sie jedes Recht, alle seine Vorzüge zu nutzen. Deshalb werde ich nicht an Ihr Gefühl von Angemessenheit appellieren, sondern an Ihre Duldsamkeit. Denn ich bin nichts weiter als ein alternder, übergewichtiger Verflossener, der keinen Anspruch mehr erhebt auf die sagenumwobenen Genüsse der Stadt — außer dem einen, dass er nachmittags um vier Uhr den Drehungen des Rades von diesem meinem Elba … meinem Gartenzaun … meinem Ausguck zuschauen möchte.«

Die junge Frau lächelte entzückt und setzte sich auf den Sessel daneben.

»Sie sind eine Frau von ausgesuchter Höflichkeit«, sagte Prentice mit einer Verneigung.

»Keineswegs«, antwortete sie. »Ich fühle mich einfach zu Verflossenen hingezogen.«

Zum Ausdruck der Höflichkeit der Wohlerzogenen nahm die junge Frau Prentice’ Angebot an, ein Kännchen Tee und einen Teller Rosinenbrötchen mit Sahne und Marmelade mit ihm zu teilen.

»Was bringt Sie nach Beverly Hills, meine Teure?«, fragte Prentice und schenkte ihr ein.

»Ich glaube, ich war in der Stimmung für ein Abenteuer.«

»Dann sind Sie ja an den richtigen Ort gekommen. Teddy Roosevelt und Ernest Hemingway sind bis nach Afrika gereist, um die Geschöpfe der Wildnis zu treffen, sich der Jagd anzuschließen und Todesgefahren auszusetzen. Es hätte gereicht, so behaupte ich, wenn sie einfach in diese Lobby gekommen wären.«

Die junge Frau lachte.

Es war ein herrliches Lachen.

»Todesgefahr …?«, fragte sie neugierig.

»Ich übertreibe nicht. In den nächsten Minuten werden sie räuberische Wesen in Mänteln sehen, deren Pelz so dick wie der eines Ozelot ist. Im hohen Gras um die Wasserstelle werden sie hinterhältige Hunde sehen, die auf das Nahen junger, unbeschützter Gazellen warten. Und jeden Nachmittag um fünf Uhr kommt es zu einer Verfolgungsjagd.«

Sie lachte wieder, und es freute ihn, es zu hören.

Ihr Lachen hatte nichts Abgebrühtes oder Hässliches. Im Gegenteil, es war das Lachen eines Menschen, der die Schwächen anderer durchschaute und sich nicht an ihnen stieß. Mit ihrem Lachen zollte sie der menschlichen Komödie Tribut — seit Jahren, vielleicht sogar seit Jahrzehnten, hatte er ein solches Lachen nicht gehört. Ein Lachen, das nicht unterbrochen werden sollte! (Einem Kellner, der sich mit einem Tablett kleiner Sandwiches näherte, wurde freundlich bedeutet weiterzugehen.)

Und welch kluge Neugier in ihren Fragen zum Ausdruck kam. Eine Neugier, die man sich bei dem jungen Galileo oder bei Isaac Newton hätte vorstellen können. Ohne sich an die modischen Gepflogenheiten der Vergangenheit zu klammern (sondern eher mit einem Misstrauen gegen sie) interessierte sie sich für die Welt — und für die unsichtbaren und unveränderlichen Gesetze, die verantwortlich dafür waren, die Erdkugel in ihre Schräglage zu bringen und uns alle zu hindern, ins Weltall geschleudert zu werden.

Er überließ es anderen Professoren, die Geschichte von den spanischen Missionen und den großen, von Sutters Mühle ausgelösten Migrationswellen zu erzählen, und schilderte stattdessen, wie Beverly Hills gegründet wurde. Beverly Hills, eine Wüste innerhalb einer Wüste, hatte Tausende von Jahren unentwickelt dagelegen, bis Pioneer Oil kam und tief in der Erde nach Öl bohrte, aber nur Wasser entdeckte — diese geschmacklose, formlose, farblose Substanz, ohne die nichts ist. (Prentice umschloss mit einer Geste die Umgebung und die Orangenblüten und den Jasmin — alles Pflanzen, die außerhalb der Lobby üppig blühten.)

Dann beschrieb er, wie die Andersons 1912 diese vierzigtausend Quadratmeter für eine Million Dollar und einen Traum erwarben — den Traum, zwischen Gärten und Lauben ein außerordentliches Gebäude zu erschaffen. Und eine Vision führte zur nächsten. Denn innerhalb der Hotelmauern hatte man sich Schlachten in der Karibik zwischen Piraten und der königlichen Flotte vorgestellt, und die kaltherzigen Liebesspiele der Nachkommen Kleopatras, sowie die allumfassende Wohltätigkeit eines Tramps, der eine Melone trug.

»Keine hundert Meter von hier schmiedeten Chaplin, Fairbanks, Pickford und Griffith auf dem Amboss die künstlerische Unabhängigkeit und gründeten United Artists!«

Etc., etc.

Zu seiner Überraschung parierte die junge Frau seine Erzählung mit einer der phantastischsten Geschichten von Hollywood, die er je gehört hatte — eine, die sie im Speisewagen des Golden State Limited von keinem Geringeren als einem Inspektor der Mordkommission gehört hatte. Und als sie sich zum Gehen erhob, stand er ohne die Hilfe seines Stocks aus seinem Sessel auf, nahm ihre Hand und dankte ihr für den vergnüglichen Nachmittag.

Ursprünglich hatte Prentice sich vorgenommen, den späten Nachmittag bei den Seiten von Charles und Mary Lamb und ihren Tales From Shakespeare zu verweilen. Aber nachdem er seine tägliche Sportübung absolviert, den Sandwiches widerstanden und mit einer reizenden jungen Dame ausführlich Konversation betrieben hatte, spürte er, als er sich erhob und die Lobby verlassen wollte, frischen Schwung.

Warum sollte er in seine Suite zurückkehren?, dachte er. Mr und Mrs Lamb waren so gewogene und verständnisvolle Begleiter, wie man sie sich nur wünschen mochte. Sie wären die Ersten, denen die Gründe für seine Verspätung einleuchten würden. Und mit dem Gedanken strebte er aus der Lobby und in die würzige Luft.

Edgar, der Portier, klopfte leicht auf das Dach eines Taxis, nachdem er einem Gast in den Fond geholfen hatte. Als er sich umdrehte und Prentice vor sich sah, schlug der die Hacken zusammen.

»Mr Symmons!«

»Hallo, Edgar! Wie sieht’s aus?«

»Ich denke, es wird ein wunderschöner Abend.«

»Da haben Sie sicherlich Recht. Genau der richtige Abend, um zu einem frühen Abendessen im Maison Robert einzukehren. Könnten Sie sehen, ob William frei ist?«

»Selbstverständlich, Sir«, sagte Edgar und machte sich im Laufschritt zu den unteren Stellplätzen auf den Weg.

Maison Robert …, dachte Prentice mit einem Lächeln der Vorfreude (als er die Auffahrt zu den großen toskanischen Töpfen mit den prächtig blühenden Gardenien überquerte). Wie sie sich freuen würden, ihn zu sehen! Ohne die vergangenen Monate zu erwähnen oder auch nur einen Blick in die Reservierungen zu werfen, würde Robert ihn persönlich zu seinem angestammten Platz führen. Nach einer kalten Spargelsuppe würde Prentice das Porterhouse Steak mit Kartoffeln Dauphinois nehmen, zum Dessert ein Soufflé. Noch besser wäre es … wenn der Kellner kam, um die Bestellung aufzunehmen, würde Prentice sagen: Bertrand soll entscheiden! Und wenn er den letzten Bissen verzehrt hatte, würde er durch die schwingenden Küchentüren treten und das einzige Wort äußern, das angemessen war: magnifique.

Doch als er sich vorbeugte, um den Blütenduft einzuatmen, hörte er, wie ein Motor angelassen wurde, und als er sich umdrehte, sah er, dass die schwarze Limousine, die am Ende der Auffahrt geparkt hatte, langsam vorrollte, und hinter dem Steuer nahm er die bekannte Silhouette wahr.

Sein Herzschlag beschleunigte sich.

Er war gut dreißig Meter vom Eingang entfernt, und niemand außer ihm war draußen. Die Limousine näherte sich ihm mit unheilvoller Geschwindigkeit. In dem Moment, da der Motor aufdrehte, traten die Sandersons ins Blickfeld, ein attraktives junges Paar aus Houston, das seinen fünften Hochzeitstag feierte. Offenbar hatten sie einen kleinen Spaziergang zwischen den Rosen im Stadtpark gemacht und wollten sich jetzt zum Essen umziehen.

Im Vorübergehen begrüßten sie Prentice auf ihre warme texanische Art, und die Limousine blieb stehen, ihre düstere Absicht vorübergehend vereitelt.

»Warten Sie!«, rief Prentice den Sandersons zu. »Ich wollte auch gerade hineingehen. Darf ich mich Ihnen anschließen?«

Am nächsten Tag, als er zum Tee in die Lobby kam, war er entzückt zu sehen, dass die junge Frau mit der Narbe auf ihn wartete. Sie hieß Evelyn Ross und hatte bis vor kurzem in Manhattan gelebt. Als er sich förmlich vorstellte, lehnte sie sich mit einem skeptischen Gesichtsausdruck zurück und sagte dann:

»Natürlich.«

Nachdem Prentice knapp die Hälfte seines Lebens in Hollywood gelebt hatte, war er vertraut damit, dass Menschen ihn zu erkennen vorgaben. Er war weder beleidigt noch nahm er es zu ernst, vielmehr führte er das Spiel fort, in dem er wie eine verblasste Berühmtheit leer lächelte und nickte, in der Erwartung, dass das Gespräch sich der Politik oder einer anderen Form des Wetters zuwenden würde.

Aber Miss Ross zählte auf der Stelle sechs Filme auf, in denen er Rollen gehabt hatte. Sie gestand, dass sie, seit sie dreizehn war, wann immer möglich ins Kino gegangen sei. Er rechnete es ihr hoch an, dass sie sich seine Karriere ins Gedächtnis rief wie jemand, der Memory spielt, und nicht als wäre ihr die Gelegenheit zu schmeicheln gegeben worden. Indem sie sich gelegentlich an die Lippen tippte, ließ sie Szenen aufleben, in denen er andere überstrahlt hatte; sie gab unglaubliche Wendungen in der Handlung wieder; sie hauchte Liebesmomenten, die niemals hätten untergehen sollen, neues Leben ein. Ihre Nacherzählung war so vollständig, dass sie beide anschließend schwiegen.

Vermisste er es?, fragte sie ihn dann. Vermisste er die Leinwand?

»Ach was«, sagte er und winkte ab.

Was er vermisste, war die Bühne.

»Für den Zuschauer, Evelyn, ob Verkäuferin, Schurke oder ein Rothschild, ist das Kino das A und O der Unterhaltung. Eine überfließende Quelle von Liebesgeschichten und Dramen. Aber für den Darsteller spielen sich Liebesgeschichten und Dramen auf der Bühne ab. Bei einer Nahaufnahme muss die Filmkamera den Darsteller für sich haben. Wenn eine emotional aufgeladene Szene gedreht wird, sagt man als Schauspieler seine Zeilen allein. Ich schwöre, Fräulein, bei dem heil’gen Mond… Das deklamiert man vor dem kalten, schwarzen Auge der Kamera, bevor man in die Garderobe geht, damit Julia die Abwesenheit Romeos beklagen kann. O schwöre nicht bei dem Mond, dem Wandelbaren … Wo bist du Romeo — genau so ist es.«

Prentice hielt inne, um Tee nachzuschenken, bevor er bitter wurde.

»Aber auf der Bühne, meine Teure, auf der Bühne, da ist es im engen Zusammenspiel der lebendigen Schauspieler, wo der Funke entsteht. In dem Zwischenraum, wo zwei Blicke sich treffen, wo zwei Fingerspitzen sich beinah berühren. Und die Gefahren? Für den Schauspieler ist jede Nuance davon im Theater zu finden. Nicht wegen der Krokodile und der Säbel, müssen Sie wissen, sondern weil der Bühnenrand den Abgrund darstellt! Denn beim Theater kann nichts wiederholt werden, Evelyn, es gibt keine zweite Chance. Eine falsche Bewegung, und der Schauspieler stürzt durch das Pechschwarze in die Tiefe seiner Selbstzweifel.«

Evelyn folgte seiner Beschreibung fast intuitiv, und ihre Wangen überzogen sich mit einem rosafarbenen Hauch.

»Warum haben Sie dann aufgehört?«, fragte sie mit atemloser Stimme. »Warum spielen Sie nicht mehr?«

»Sie sind entzückend, meine Teure.«

Aber sie erschien aufrichtig in ihrer Verwirrung. Aufrichtig!

»Meine Dickleibigkeit«, erklärte er.

Aber bevor sie ihrem Schock (oder, Gott bewahre, ihrem Verständnis) Ausdruck verleihen konnte, hob er die Hand, um Einhalt zu gebieten.

»Bemitleiden Sie mich deshalb nicht. Vermisse ich Dinge des Lebens als Star? Was soll ich sagen? Ich vermisse Dinge der Zeit im Internat. Oder Momente meiner schlimmsten Affären. Wir könnten also sagen, dass es nicht um das Vermissen geht.«

Um ein Uhr morgens war die Lobby des Beverly Hills Hotel seit fast einer Stunde leer. Keine Gäste trafen mehr ein, keine Liebespaare trennten sich. Durch die Tür der Bar erklangen ein paar Töne auf dem Klavier, die ein müder Reisender spielte, der beim Einschlafen einen G-Dur Dreiklang mit dem Kopf anschlug. Derweil stand Michael, der Nachtportier, allein und aufrecht am Empfangstisch.

Unter den Umständen war es nur natürlich, dass er die Chance zu einer Plauderei willkommen hieß.

Und nachdem Prentice und Michael die Saison besprochen und die neuesten Gäste gewürdigt hatten, stimmten sie einander zu, dass Miss Ross eine entzückende junge Frau war. Aber wie und woher und wann war sie eingetroffen? Nun, offenbar war sie in einem Taxi vom Bahnhof gekommen und hatte einen kleinen roten Koffer dabei. Wollte sie Freunde besuchen? Schwer zu sagen, denn sie hatte keine Anrufe getätigt und keine Besucher empfangen. An ihrem ersten Abend übergab sie zwei Schmuckstücke in die Obhut des Hotelsafes: einen prächtigen Verlobungsring und einen einzelnen diamantenen Ohrring. Aber am nächsten Morgen (erzählte Michael mit gedämpfter Stimme) hatte sie sich den Ohrring aus dem Safe geben lassen und war am Nachmittag mit ein paar neuen Kleidern und zwei Paar Schuhen wiedergekommen.

Eine ausgezeichnete Verwendung der Mittel für eine junge Frau, da waren sich die Herren einig.

Prentice überlegte laut, ob es möglicherweise dieselbe Miss Ross sei, Freundin eines Freundes, die ihn Gramercy Park lebte?

Nein, sagte Michael und drehte die Anmeldekarte so, dass Prentice sie lesen konnte.

»Ah«, sagte Prentice. »Verstehe. Gute Nacht, mein Guter.«