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Nach „Ein Gentleman in Moskau“ der neue Roman von Bestsellerautor Amor Towles: „Eine ausgelassene Road Novel quer durch Amerika.“ Time
Im Juni 1954 wird der achtzehnjährige Emmett aus dem Gefängnis entlassen. Zuhause in Nebraska wartet sein kleiner Bruder Billy auf ihn. Nach dem Tod des Vaters möchten sie einen Neuanfang in Kalifornien wagen, wo sie ihre verschwundene Mutter vermuten. Alles ist bereit für die Fahrt mit dem 48er Studebaker, doch plötzlich tauchen zwei Freunde aus dem Gefängnis auf. Sie haben allerdings ein anderes Ziel, New York City. So beginnt eine Reise mit den witzigsten und unglaublichsten Begegnungen – Clowns, Landstreicher, arbeitslose Schauspieler, Bettler und besonders gefährliche Pastoren. ‚Lincoln Highway‘ erzählt die ergreifende Odyssee von vier vaterlosen Jungen entlang der ersten Autobahn Amerikas.
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Seitenzahl: 785
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Im Juni 1954 wird der achtzehnjährige Emmett aus dem Gefängnis entlassen. Zuhause in Nebraska wartet sein kleiner Bruder Billy auf ihn. Nach dem Tod des Vaters möchten sie einen Neuanfang in Kalifornien wagen, wo sie ihre verschwundene Mutter vermuten. Alles ist bereit für die Fahrt mit dem 48 Studebaker, doch plötzlich tauchen zwei Freunde aus dem Gefängnis auf. Sie haben allerdings ein anderes Ziel, New York City. So beginnt eine Reise mit den witzigsten und unglaublichsten Begegnungen — Clowns, Landstreicher, arbeitslose Schauspieler, Bettler und besonders gefährliche Pastoren. ›Lincoln Highway‹ erzählt die ergreifende Odyssee von vier vaterlosen Jungen entlang der ersten Autobahn Amerikas.
Amor Towles
Lincoln Highway
Roman
Aus dem Englischen von Susanne Höbel
Hanser
Für
meinen Bruder Stokley
und
meine Schwester Kimbrough
Abend, und das flache Land,
Reich, feierlich, und unendlich still.
Meilen frisch gepflügter Erde,
Schwer und schwarz, kraftvoll und schroff.
Der Weizen wächst, das Wildkraut wächst,
Sich schindende Pferde, erschöpfte Männer.
Die langen, leeren Straßen,
Das fahle Feuer des Sonnenuntergangs, vergehend.
Der ewige Himmel, unerschütterlich.
Und davor die Jugend …
Willa Cather, O Pioneers!
12. Juni 1954.
Die Fahrt von Salina nach Morgen dauerte drei Stunden, und während der ganzen Zeit hatte Emmett kein einziges Wort gesprochen. Auf den ersten sechzig Meilen oder so hatte sich Direktor Williams bemüht, ein freundliches Gespräch in Gang zu bringen. Er erzählte von seiner Kindheit an der Ostküste und fragte Emmett nach seiner auf der Farm. Aber da sie nicht wieder zusammen sein würden, sah Emmett keinen Sinn darin, das alles aufzurollen. Als sie die Grenze zwischen Kansas und Nebraska überquerten und der Direktor das Radio anschaltete, schwieg Emmett weiter und sah aus dem Fenster, auf die vorüberziehende Prärie hinaus.
Fünf Meilen südlich von Morgen zeigte Emmett durch die Frontscheibe.
»Bei der nächsten Kreuzung geht es rechts ab. Nach sechs Meilen kommt man zu einem weißen Haus.«
Der Direktor fuhr langsamer und bog ab. Sie kamen an dem Haus der McKuskers vorbei, kurz darauf an dem der Andersens mit den zwei identischen roten Scheunen. Und dann sahen sie auch schon Emmetts Haus, das neben einer einzelnen Ulme ungefähr dreißig Meter abseits der Straße stand.
In Emmetts Augen sahen alle Häuser in dieser Gegend so aus, als wären sie vom Himmel gefallen, und das der Watsons schien besonders hart auf den Boden geprallt zu sein. Zu beiden Seiten des Schornsteins hatte sich der First gesenkt, und die Fensterrahmen waren so verzogen, dass die Hälfte der Fenster nicht richtig schlossen und die andere Hälfte sich kaum öffnen ließ. Gleich würden sie sehen, dass an vielen Stellen die Farbe von den Holzschindeln abgeblättert war. Aber etwa dreißig Meter vor der Einfahrt brachte der Direktor den Wagen am Wegrand zum Stehen.
»Emmett«, sagte er und legte die Hände aufs Steuerrad, »bevor wir zum Haus kommen, möchte ich noch etwas sagen.«
Dass Direktor Williams etwas zu sagen hatte, kam nicht unbedingt überraschend. Als Emmett neu in Salina war, gab es einen Direktor, der aus Indiana kam und Ackerly hieß, und der fand es unnötig, Ratschläge in Worte zu kleiden, wenn er sie ebenso gut mit dem Stock austeilen konnte. Aber Direktor Williams war ein moderner Mann, er hatte ein abgeschlossenes Studium und lauter gute Absichten, und hinter seinem Schreibtisch hing ein gerahmtes Foto von Franklin D. Roosevelt. Seine Vorstellungen stützten sich auf Bücher und eigene Erfahrungen, und er verfügte über einen reichen Wortschatz, um seine Ratschläge zu formulieren.
»Für manche der jungen Menschen, die nach Salina kommen«, begann er, »ist der Aufenthalt bei uns, was immer die Gründe waren, warum sie zu uns geschickt wurden, der Beginn eines langen Lebens voller Schwierigkeiten. Es sind Jungen, die von klein auf den Unterschied zwischen Gut und Böse nicht gelernt haben und nicht einsehen, warum sie ihn später noch lernen sollten. Die Werte und Zielvorstellungen, die wir ihnen mitzugeben versuchen, werden sie wahrscheinlich in dem Moment, da sie unseren Blicken entschwinden, abschütteln. Leider ist es für diese Jungen nur eine Frage der Zeit, bis sie sich in der Strafanstalt von Topeka wiederfinden, wenn nicht schlimmer.«
Der Direktor wandte sich Emmett zu.
»Was ich sagen will, Emmett — du bist nicht einer von denen. Wir kennen uns erst seit kurzem, aber in unserer gemeinsamen Zeit habe ich verstanden, dass der Tod des Jungen schwer auf deinem Gewissen lastet. Niemand glaubt, dass das, was an dem Tag geschah, einer Bösartigkeit in deinem Wesen entsprang. Vielmehr war es ein unglücklicher Zufall. Aber unsere Gesellschaft verlangt, dass auch derjenige, der ohne Absicht ein Unglück verursacht, einen Preis dafür zahlt. Natürlich soll die Strafe in erster Linie den Leidtragenden — in dem Fall der Familie des Jungen — Genugtuung verschaffen. Aber in unserer zivilisierten Gesellschaft verlangen wir auch, dass die Strafe demjenigen zunutze ist, der an dem Unglücksfall tätig beteiligt war, sodass auch er, indem er für seine Schuld büßt, Trost und ein Gefühl der Vergebung findet und zu einer Läuterung gelangt. Verstehst du, was ich meine, Emmett?«
»Ja, Sir.«
»Das freut mich. Ich weiß, du hast dich jetzt um deinen jüngeren Bruder zu kümmern, und die unmittelbar vor dir liegende Zukunft mag bedrückend scheinen, aber du bist ein gescheiter junger Mann, dessen ganzes Leben vor ihm liegt. Ich hoffe, dass du, wenn du einmal deine Schuld in voller Höhe abgetragen hast, das Beste aus deiner Freiheit machst.«
»Das ist meine Absicht, Sir.«
Und das meinte Emmett in dem Moment ehrlich. Denn im Großen und Ganzen stimmte er dem Direktor zu. Er war sich in vollem Maße bewusst, dass sein Leben vor ihm lag, und er begriff, dass er von jetzt an die Verantwortung für seinen Bruder trug. Er verstand auch, dass er zwar der Auslöser des Unglücksfalls gewesen war, nicht aber dessen Urheber. Doch dass seine Schuld voll beglichen sei — darin stimmte er dem Direktor nicht zu. Denn sosehr auch der Zufall eine Rolle gespielt hatte, als das Leben eines anderen durch Emmetts Handeln ausgelöscht wurde, würde es doch den Rest seines Lebens dauern, um dem Allmächtigen zu beweisen, dass er seiner Barmherzigkeit würdig war.
Der Direktor legte den Gang ein und fuhr beim Haus der Watsons vor. Auf dem Platz davor standen zwei Wagen — eine Limousine und ein Pritschenwagen. Der Direktor parkte neben dem Letzteren. Als er und Emmett ausstiegen, kam ein großer Mann mit einem Cowboyhut in der Hand aus dem Haus und ging die Stufen von der Veranda herunter.
»Hallo, Emmett.«
»Hallo, Mr. Ransom.«
Der Direktor streckte dem Farmer die Hand hin.
»Ich bin Direktor Williams. Es ist sehr freundlich von Ihnen, dass Sie sich die Mühe gemacht haben zu kommen.«
»Es war keine Mühe, Sir.«
»Soweit ich verstehe, kennen Sie Emmett schon seit langem.«
»Seit er auf der Welt ist.«
Der Direktor legte Emmett die Hand auf die Schulter.
»Dann brauche ich Ihnen ja nicht zu sagen, was für ein prächtiger junger Mann er ist. Ich habe ihm gerade auf der Fahrt gesagt, dass, nachdem er seine Schuld abgetragen hat, sein ganzes Leben vor ihm liegt.«
»Da stimme ich Ihnen zu«, sagte Mr. Ransom.
Die drei Männer standen einen Moment stumm zusammen.
Der Direktor lebte erst seit einem Jahr im Mittleren Westen, aber nachdem er schon öfter vor einem Farmhaus gestanden hatte, wusste er, dass man an diesem Punkt im Gespräch wahrscheinlich ins Haus eingeladen wurde und ein kaltes Getränk angeboten bekam, und in dem Fall sollte man die Einladung annehmen, weil eine Ablehnung als unhöflich betrachtet würde, selbst wenn man noch eine dreistündige Autofahrt vor sich hatte. Aber weder Emmett noch Mr. Ransom gaben ein Zeichen, dass sie den Direktor ins Haus bitten wollten.
»Gut«, sagte der Direktor nach einem kurzen Moment, »dann sollte ich mich wieder auf den Weg machen.«
Emmett und Mr. Ransom bedankten sich noch einmal ausdrücklich bei dem Direktor und schüttelten ihm die Hand, dann sahen sie zu, wie er einstieg und davonfuhr. Der Direktor entschwand langsam den Weg entlang, und Emmett zeigte auf die Limousine.
»Der Wagen von Mr. Obermeyer?«
»Ja, er sitzt in der Küche.«
»Und Billy?«
»Ich habe Sally gebeten, ihn ein bisschen später zu bringen, damit ihr beide, du und Tom, eure Angelegenheiten regeln könnt.«
Emmett nickte.
»Sollen wir reingehen?«, fragte Mr. Ransom.
»Je eher, desto besser«, sagte Emmett.
Als sie in die Küche kamen, saß Tom Obermeyer an dem kleinen Küchentisch. Er trug ein weißes, kurzärmliges Hemd mit Krawatte. Falls er ein Jackett dabeihatte, musste er es im Auto gelassen haben, denn es hing nicht über der Rückenlehne des Stuhls.
Anscheinend hatten Emmett und Mr. Ransom den Bankier überrascht, denn er schob kratzend den Stuhl zurück, stand auf und streckte die Hand aus, alles in einer durchgehenden Bewegung.
»Hallo, Emmett. Wie schön, dich zu sehen.«
Emmett schüttelte dem Bankier die Hand, sagte aber nichts.
Er ließ den Blick durch die Küche schweifen und sah, dass der Boden gefegt, die Arbeitsfläche aufgeräumt, das Waschbecken leer und die Küchenschränke geschlossen waren. So sauber war die Küche in Emmetts Erinnerung noch nie.
»Hier«, sagte Mr. Obermeyer und zeigte auf den Tisch. »Wollen wir uns nicht setzen?«
Emmett nahm den Stuhl dem Bankier gegenüber. Mr. Ransom blieb stehen und lehnte sich mit der Schulter an den Türrahmen. Auf dem Tisch, knapp außer Reichweite für den Bankier, lag ein prall gefüllter Ordner, als hätte jemand anders ihn dort liegengelassen. Mr. Obermeyer räusperte sich.
»Zunächst einmal, Emmett, möchte ich dir mein Beileid zum Tod deines Vaters aussprechen. Er war ein guter Mensch, und zu jung, um an einer Krankheit zu sterben.«
»Danke.«
»Wenn ich es richtig verstanden habe, hat Walter Eberstadt mit dir über den Nachlass deines Vaters gesprochen, als du zur Beerdigung hier warst.«
»Das ist richtig«, sagte Emmett.
Der Bankier nickte mit verständnisvollem Blick.
»Dann vermute ich, Walter hat auch erklärt, dass dein Vater vor drei Jahren ein neues Darlehen aufgenommen hat, zusätzlich zu der bestehenden Hypothek. Damals hat er gesagt, er wolle neue Geräte anschaffen, aber ich vermute, ein großer Teil des Darlehens wurde zur Tilgung alter Schulden verwendet, denn das einzige neue landwirtschaftliche Gerät, das wir finden konnten, ist der John Deere in der Scheune. Im Grunde ist das jedoch nicht von Bedeutung.«
Emmett und Mr. Robinson waren offenbar ebenfalls der Meinung, dass es nicht von Bedeutung sei, denn sie machten keinerlei Anstalten, etwas zu sagen. Der Bankier räusperte sich wieder.
»Mein Punkt ist, dass die Ernte in den letzten Jahren nicht dem entsprach, was dein Vater sich erhofft hatte, und in diesem Jahr, nach seinem Tod, wird es gar keine Ernte geben. Deswegen mussten wir auf der Rückgabe des Darlehens bestehen. Diese geschäftlichen Einzelheiten sind unangenehm, das weiß ich, Emmett, aber du sollst wissen, dass es der Bank nicht leichtgefallen ist, diese Entscheidung zu treffen.«
»Wahrscheinlich fällt es Ihnen inzwischen nicht mehr so schwer«, sagte Mr. Ransom, »wenn man sieht, wie oft Sie Gelegenheit dazu bekommen.«
Der Bankier sah den Rancher an.
»Wirklich, Ed, das ist nicht fair, und das weißt du. Keine Bank vergibt Darlehen in der Erwartung, dass sie nicht zurückgezahlt werden.«
Der Bankier wandte sich Emmett zu.
»Bei einem Darlehen ist es vorgesehen, dass die Zinsen und die Leihsumme in einem festen zeitlichen Rahmen zurückgezahlt werden. Sollte aber ein vertrauenswürdiger Kunde mit den Zahlungen in Rückstand geraten, versuchen wir unser Möglichstes, ihm entgegenzukommen. Wir verlängern den Termin und gewähren Aufschub. Dein Vater ist ein gutes Beispiel. Als er mit den Zahlungen nicht nachkam, haben wir ihm mehr Zeit eingeräumt. Und als er krank wurde, haben wir die Fristen abermals verlängert. Aber manchmal ist es für einen Menschen zu schwierig, sich aus einer verfahrenen Situation zu befreien, wie viel Zeit man ihm auch zubilligt.«
Der Bankier streckte den Arm aus und legte die Hand auf den braunen Ordner, womit er ihn als seinen beanspruchte.
»Wir hätten das Anwesen schon vor einem Monat räumen lassen und auf den Markt bringen können, Emmett. Dazu hatten wir ohne weiteres das Recht. Aber das haben wir nicht getan. Wir haben gewartet, bis deine Zeit in Salina um war, damit du nach Hause kommen und in deinem eigenen Bett schlafen konntest. Wir wollten sicherstellen, dass ihr, du und dein Bruder, in aller Ruhe durchs Haus gehen und eure persönlichen Sachen zusammensuchen könnt. Ja, wir haben sogar die Energiebetriebe veranlasst, Gas und Strom auf unsere Kosten weiterlaufen zu lassen.«
»Das ist sehr freundlich von Ihnen«, sagte Emmett.
Mr. Ransom knurrte.
»Aber jetzt bist du zurück«, fuhr der Bankier fort, »und da ist es sicherlich für alle Beteiligten das Beste, wenn wir die Sache zu einem Abschluss bringen. Als Nachlassverwalter für deinen Vater muss ich dich bitten, ein paar Dokumente zu unterschreiben. Und dann, in ein paar Wochen, werdet ihr, du und dein Bruder, so leid es mir tut, ausziehen müssen.«
»Wenn es was zu unterschreiben gibt, dann machen wir das am besten gleich.«
Mr. Obermeyer nahm ein paar Dokumente aus dem Ordner. Er drehte das Konvolut zu Emmett um, blätterte es auf, erklärte einzelne Abschnitte, übertrug die Terminologie in verständliches Englisch und zeigte auf die Stelle, wo das Dokument unterschrieben werden musste.
»Haben Sie was zum Schreiben?«
Mr. Obermeyer reichte Emmett seinen Füller. Emmett unterschrieb die Papiere, setzte sein Kürzel an den Rand, ohne etwas zu lesen, und schob sie über den Tisch zurück.
»Ist das alles?«
»Eine Sache noch«, sagte der Bankier, nachdem der die Papiere wieder sorgfältig in dem Ordner verstaut hatte. »Das Auto in der Scheune. Als wir die routinemäßige Bestandsaufnahme des Hauses gemacht haben, konnten wir weder die Zulassung noch die Schlüssel finden.«
»Wozu brauchen Sie die?«
»Das zweite Darlehen, das dein Vater aufgenommen hat, war nicht für bestimmte landwirtschaftliche Geräte. Als Sicherheit galten ganz allgemein alle Investitionen, die auf der Farm getätigt wurden, und das, so leid es mir tut, erstreckt sich auch auf Personenwagen.«
»Aber nicht auf diesen.«
»Emmett, ich …«
»Und zwar deshalb nicht, weil dies keine Investition meines Vaters ist. Das Auto gehört mir.«
Mrs. Obermeyer sah Emmett mit einer Mischung aus Skepsis und Verständnis an, zwei Gefühle, die nach Emmetts Ansicht nicht gleichzeitig in einem Gesicht auftauchen sollten. Emmett nahm seine Brieftasche heraus, zog die Zulassung hervor und legte sie auf den Tisch.
Der Bankier nahm sie und las sie aufmerksam.
»Es stimmt, der Wagen ist auf deinen Namen zugelassen, aber ich fürchte, wenn er von deinem Vater für dich gekauft worden ist …«
»Das ist er aber nicht.«
Der Bankier sah Mr. Ransom an, als erhoffte er von ihm Unterstützung. Da er keine fand, wandte er sich wieder Emmett zu.
»Ich habe zwei Sommer lang«, sagte Emmett, »bei Mr. Schulte gearbeitet und mir das Geld für den Wagen verdient. Ich habe Hausrahmen gebaut, Dächer gedeckt, Veranden repariert. Ich habe sogar bei Ihnen, fällt mir da ein, in der Küche neue Geschirrschränke eingebaut. Wenn Sie mir nicht glauben, fragen Sie Mr. Schulte. Aber mit Sicherheit kommen Sie nicht an den Wagen ran.«
Mr. Obermeyer runzelte die Stirn. Aber als Emmett seine Hand für die Zulassung ausstreckte, gab der Bankier sie ihm ohne Widerspruch zurück. Dann nahm er seinen Ordner und ging, und er war nicht besonders überrascht, dass weder Emmett noch Mr. Ransom ihn zur Tür begleiteten.
Nachdem der Bankier abgefahren war, ging Mr. Ransom vor die Tür, um dort auf Sally und Billy zu warten, und gab Emmett die Gelegenheit, sich im Haus umzusehen.
Wie schon die Küche war auch das Wohnzimmer, wie Emmett feststellte, besser aufgeräumt als sonst, die Kissen in den Sofaecken waren aufgeschüttelt, die Zeitschriften lagen in ordentlichen Stapeln auf dem Couchtisch, und der Rollladen am Schreibtisch seines Vaters war geschlossen. Oben in Billys Zimmer war das Bett gemacht, die Sammlung von Kronkorken und Vogelfedern lag ordentlich auf den Regalbrettern, und eins der Fenster stand zum Lüften offen. Ein zweites Fenster musste auf der anderen Hausseite geöffnet sein, denn die kleinen Jagdflugzeuge über Billys Bett, Modellbauten von Spitfire, Warhawk und Thunderbolt, bewegten sich in einem leichten Luftzug.
Emmett lächelte, als er sie sah.
Er hatte die Flugzeuge gebaut, als er so alt war wie Billy heute. Im Jahr 1943 hatte seine Mutter ihm die Baukästen geschenkt, in einer Zeit, als Emmett und seine Freunde von nichts anderem sprachen als von den Luftkämpfen in Europa und über dem Pazifik, von General Patton, der mit der Siebten Armee auf Sizilien gelandet war, und von Pappy Boyington und seinem Black Sheep Squadron, der dem Feind das Leben in der Salomonensee schwer machte. Akribisch wie ein Ingenieur hatte Emmett die Modelle am Küchentisch zusammengebaut. Mit der Emaillefarbe aus vier winzigen Fläschchen und einem ganz feinen Haarpinsel hatte er die Embleme und Seriennummern auf die Flugzeugrümpfe gemalt. Dann hatte Emmett die Modelle auf seiner Kommode aufgestellt, diagonal ausgerichtet in einer Reihe, wie auf einem Flugzeugträger.
Billy hatte sie, seit er vier Jahre alt war, bewundert. Manchmal, wenn Emmett aus der Schule kam, fand er Billy neben der Kommode auf einem Stuhl stehend, wo er in der nachgeahmten Sprache von Kampfpiloten Selbstgespräche führte. Zu Billys sechstem Geburtstag hatten Emmett und sein Vater die Flugzeuge über Billys Bett aufgehängt, als Überraschung.
Emmett ging den Flur entlang zum Zimmer seines Vaters, wo ebenfalls alles aufgeräumt war: das Bett gemacht, die Fotos auf der Kommode entstaubt, die Vorhänge mit einer Schleife zurückgebunden. Emmett trat ans Fenster und blickte über das Land seines Vaters. Nachdem die Felder zwanzig Jahre lang gepflügt und bestellt worden waren, hatten sie eine Saison lang brachgelegen, und schon konnte man das unaufhaltsame Voranschreiten der Natur beobachten und sehen, wie Beifuß und Greiskraut und Scheinastern sich wieder zwischen dem Präriegras ansiedelten. Noch ein paar Jahre der Brache, und man würde nicht mehr erkennen, dass dies einmal Ackerland war.
Emmett schüttelte den Kopf.
»Eine verfahrene Situation.«
So hatte Mr. Obermeyer es genannt. Eine verfahrene Situation, aus der man sich nicht leicht befreien konnte. Und bis zu einem gewissen Grad hatte der Bankier recht. Wenn es um verfahrene Situationen ging, hatte Emmetts Vater mehr als genug davon gehabt. Aber Emmett wusste, dass es das nicht allein war. Denn wenn es um schlechte Entscheidungen ging, hatte Charlie Watson davon ebenfalls mehr als genug gehabt.
Emmetts Vater war 1933 von Boston nach Nebraska gekommen, zusammen mit seiner jungen Frau und dem Traum, auf dem Land zu arbeiten. Über die nächsten zwanzig Jahre versuchte er, Weizen, Mais, Soja, sogar Alfalfa anzubauen, aber seinen Bemühungen war kein Erfolg vergönnt. Wenn das Getreide, für das er sich entschied, viel Feuchtigkeit brauchte, herrschte zwei Jahre lang Trockenheit. Wechselte er zu einer Sorte, die sonnige Bedingungen verlangte, ballten sich im Westen die Regenwolken zusammen. Die Natur kennt keine Gnade, könnte man dazu sagen. Sie ist gleichgültig und unvorhersehbar. Aber ein Farmer, der alle drei Jahre die Getreidesorte auf seinen Feldern wechselte? Das war einer, wie Emmett schon damals verstand, der nicht wusste, was er tat.
Hinter der Scheune stand eine Maschine, die für die Hirseernte aus Deutschland importiert worden war. Zu einem Zeitpunkt schien sie unabdingbar, doch schon bald wurde sie nicht mehr gebraucht und stand herum, weil sein Vater nicht die Voraussicht hatte, sie weiterzuverkaufen, nachdem er aufhörte, Hirse anzubauen. Er ließ sie einfach hinter der Scheune stehen, wo sie Wind und Wetter ausgesetzt war. Als Emmett so alt war wie Billy heute und seine Freunde von benachbarten Höfen zum Spielen kamen — Jungen, die während des Kriegs auf Fahrzeuge jeder Art kletterten und vorgaben, es seien Panzer —, schlugen die Jungen einen Bogen um die Erntemaschine, weil sie das schlechte Omen spürten, die Spuren des Scheiterns, die dem rostenden Gerät anzuhaften schienen, sodass man sich besser fernhielt, sei es aus Höflichkeit oder aus Selbstschutz.
So kam es, dass Emmett, als er fünfzehn war, am Ende des Schuljahrs mit dem Fahrrad in die Stadt fuhr und bei Mr. Schulte, der Schreiner war, anklopfte. Mr. Schulte war von Emmetts Ansinnen so erstaunt, dass er ihn zu Tisch bat und ihm eine Scheibe Fleischpastete bringen ließ. Dann fragte er Emmett, warum ein Junge, der auf einer Farm aufgewachsen war, den Sommer damit verbringen wolle, Nägel einzuschlagen.
Dass Emmett Mr. Schulte als freundlichen Mann kannte, der zudem in einem der schönsten Häuser der Stadt wohnte, war nicht der Grund. Vielmehr war der Grund der, dass Emmett zu dem Schluss gekommen war, was auch passierte, ein Schreiner würde immer Arbeit finden. Auch das solideste Haus musste repariert werden. Scharniere lockerten sich, Fußböden nutzten sich ab, Dächer wurden undicht. Man brauchte nur durch das Haus der Watsons zu gehen, um zu sehen, wie der Zahn der Zeit an einem Haus nagen konnte.
In den Sommermonaten, wenn der Donner grollte oder ein trockener Wind über die Ebene pfiff, konnte Emmett seinen Vater hören, der sich schlaflos im Zimmer nebenan wälzte. Und aus gutem Grund, denn ein Farmer mit einer Hypothek war wie jemand, der mit ausgestreckten Armen und geschlossenen Augen auf einem Brückengeländer balancierte. Es war ein Leben, in dem der Abstand zwischen Wohlstand und Ruin in einer Handbreit Regen oder ein paar Nachtfrösten gemessen werden konnte.
Aber ein Schreiner lag nachts nicht wach und machte sich wegen des Wetters Sorgen. Er hieß die Extreme der Natur willkommen. Die Schneestürme und Regengüsse und Wirbelwinde. Er begrüßte das Auftreten von Schimmel und den Einfall von Insekten. Denn da waren die Kräfte der Natur am Werk, die langsam, aber sicher die Stabilität eines Hauses zerstörten, seine Fundamente zermürbten, seine Balken porös machten und den Gips zerkrümelten.
All das sagte Emmett nicht zu Mr. Schulte, als der seine Frage stellte. Stattdessen legte er die Gabel hin und antwortete schlicht:
»So wie ich das sehe, Mr. Schulte, war Hiob der mit dem Ochsen und Noah der mit dem Hammer.«
Mr. Schulte lachte laut und stellte Emmett auf der Stelle ein.
Die meisten Farmer in der Gegend hätten ihrem ältesten Sohn auf die Eröffnung, dass er bei einem Schreinerbetrieb eine Anstellung gefunden habe, eine Standpredigt gehalten, die der Sohn so schnell nicht vergessen würde. Dann, um seiner Position Nachdruck zu verleihen, wäre der Farmer zum Haus des Schreiners gefahren und hätte ihm ebenfalls gehörig die Meinung gesagt, falls er je wieder auf den Gedanken kommen sollte, sich in die Erziehung des Sohnes eines anderen einzumischen.
Aber als Emmett nach Hause kam und seinem Vater erzählte, er habe eine Stelle bei Mr. Schulte angenommen, war sein Vater nicht verärgert. Er hörte aufmerksam zu. Er dachte kurz nach und sagte dann, Mr. Schulte sei ein guter Mann und Schreinerei ein nützliches Gewerbe. Und am ersten Tag der Sommerferien machte er Emmett ein kräftiges Frühstück, packte ihm ein Mittagsbrot ein und schickte ihn mit seinem Segen in den Betrieb eines anderen.
Vielleicht war auch das ein Zeichen für eine schlechte Entscheidung.
Als Emmett wieder nach unten kam, saß Mr. Ransom auf den Stufen der Veranda, die Unterarme auf den Knien, den Hut immer noch in der Hand. Emmett setzte sich neben ihn, und die beiden blickten über die unbestellten Felder. Eine halbe Meile entfernt konnte man schwach den Zaun erkennen, hinter dem die Ranch von Mr. Ransom begann. Soweit Emmett wusste, hatte Mr. Ransom sechshundert Stück Vieh und fünf Männer, die für ihn arbeiteten.
»Ich möchte mich bei Ihnen bedanken, dass Sie Billy zu sich genommen haben«, sagte Emmett.
»Das war das mindeste, was wir tun konnten. Du kannst dir vielleicht vorstellen, dass es für Sally eine große Freude war. Für mich den Haushalt zu führen, ist nicht so aufregend, aber es hat ihr viel bedeutet, deinen Bruder bei uns zu haben. Seit Billy bei uns ist, haben wir alle besser gegessen.«
Emmett lächelte.
»Trotzdem. Billy hat es viel bedeutet, und ich hatte die Beruhigung zu wissen, dass er bei Ihnen wohnen konnte.«
Mr. Ransom nickte in Antwort auf Emmetts Dank.
»Direktor Williams ist wohl ein guter Mann«, sagte er nach einer Weile.
»Das ist er.«
»Anscheinend nicht aus Kansas.«
»Er ist in Philadelphia aufgewachsen.«
Mr. Ransom begann, seinen Hut zwischen den Händen zu drehen, und Emmett erkannte, dass sein Nachbar etwas auf dem Herzen hatte. Offenbar überlegte er, wie er es sagen sollte oder ob er es überhaupt sagen sollte. Vielleicht wollte er auch einfach nur den richtigen Moment abpassen. Aber manchmal entscheidet der Moment selbst, wann er gekommen ist, wie jetzt, als die Staubwolke in einer Meile Entfernung das Nahen seiner Tochter ankündigte.
»Emmett«, begann er. »Direktor Williams hatte recht, als er sagte, du hättest deine Schuld beglichen — wenigstens, was die Gesellschaft angeht. Aber wir leben hier in einer kleinen Stadt, viel kleiner als Philadelphia, und nicht jeder in Morgen sieht die Sache so wie Direktor Williams.«
»Sie meinen die Snyders.«
»Ich meine die Snyders, Emmett, aber nicht nur die Snyders. Die Snyders haben in der Gegend Verwandte. Sie haben Nachbarn und alte Freunde. Sie kennen Leute, mit denen sie Geschäfte machen und die Mitglieder ihrer Gemeinde sind. Es ist bekannt, dass Jimmy Snyder den Ärger, in dem er steckte, nur sich selbst zuzuschreiben hatte. In all seinen siebzehn Jahren hatte er nichts als Mist produziert. Aber das sehen seine Brüder nicht so. Besonders nachdem Joe junior im Krieg gefallen ist. Es ist ihnen schon quer runtergegangen, dass du nur achtzehn Monate in Salina gekriegt hast, und seit sie erfahren haben, dass man dir nach dem Tod deines Vaters die letzten Monate erlassen hat, sind sie voll des selbstgerechten Zorns. Mit Sicherheit werden sie dich diesen Zorn so oft und so heftig wie möglich spüren lassen. Auch wenn es stimmt, dass du dein ganzes Leben vor dir hast — oder besser gesagt, weil du dein ganzes Leben vor dir hast —, solltest du dir überlegen, ob du damit an einem anderen Ort anfängst.«
»Seien Sie ganz unbesorgt«, sagte Emmett. »Innerhalb von achtundvierzig Stunden, das ist wenigstens mein Plan, werden Billy und ich nicht mehr in Nebraska sein.«
Mr. Ransom nickte.
»Dein Vater hat dir nicht viel hinterlassen, deshalb würde ich euch beiden gern eine kleine Starthilfe geben.«
»Ich könnte kein Geld von Ihnen nehmen, Mr. Ransom. Sie haben schon so viel für uns getan.«
»Betrachte es als Darlehen. Du bezahlst es mir zurück, sobald ihr euch etabliert habt.«
»Ich glaube, die Watsons haben erst mal genug von Darlehen.«
Mr. Ransom lächelte und nickte. Als er aufstand und sich den Hut aufsetzte, kam Betty, so nannte Sally ihren alten Pritschenwagen, vorm Haus zum Stehen, mit Sally am Steuer und Billy auf dem Beifahrersitz. Noch bevor der Wagen in der schwarzen Wolke, die der Auspuff ausstieß, richtig angehalten hatte, machte Billy die Tür auf und sprang heraus. Er hatte einen Rucksack auf, der ihm von den Schultern über den Po reichte, und er rannte an Mr. Ransom vorbei und schlang seine Arme um Emmett.
Emmett ging in die Hocke und begrüßte seinen Bruder mit einer festen Umarmung.
Sally kam auf Emmett zu. Sie trug ein buntes, festliches Kleid und hatte eine Auflaufform in den Händen und ein strahlendes Lächeln auf dem Gesicht.
Interessiert registrierte Mr. Ransom das Kleid und das Lächeln.
»Sieh mal an, wer da ist«, sagte sie. »Drück ihm nicht die Luft ab, Billy Watson.«
Emmett richtete sich auf und legte seinem Bruder die Hand auf den Kopf.
»Hallo, Sally.«
Wie immer, wenn sie aufgeregt war, kam sie gleich zur Sache.
»Das Haus ist ausgefegt und alle Betten sind frisch bezogen, im Badezimmer liegt neue Seife, und im Kühlschrank sind Butter, Milch und Eier.«
»Danke«, sagte Emmett.
»Ich wollte euch zum Abendessen zu uns einladen, aber Billy bestand darauf, dass ihr die erste Mahlzeit zu Hause essen würdet. Weil du gerade erst gekommen bist, habe ich einen Auflauf für euch gemacht.«
»Das wäre doch nicht nötig gewesen, Sally.«
»Nötig oder nicht, hier ist er. Ihr braucht ihn nur eine Dreiviertelstunde bei 180 Grad in den Ofen zu stellen.«
Als Emmett die Auflaufform entgegennahm, schüttelte Sally den Kopf.
»Ich hätte das aufschreiben sollen.«
»Bestimmt kann Emmett die Anweisung behalten«, sagte Mr. Ransom, »und wenn nicht, dann weiß Billy, was man machen muss.«
»Man stellt die Form bei 180 Grad eine Dreiviertelstunde in den Ofen«, sagte Billy.
Mr. Ransom wandte sich zu seiner Tochter um.
»Die Jungen haben sich bestimmt viel zu erzählen, und wir müssen zu Hause auch noch das eine oder andere erledigen.«
»Ich will nur schnell gucken, dass alles —«
»Sally«, sagte Mr. Ransom in einem Ton, der keinen Widerspruch duldete.
Sally zeigte auf Billy und lächelte.
»Sei schön brav, Kleiner.«
Emmett und Billy sahen zu, wie Vater und Tochter in ihre Pritschenwagen stiegen und abfuhren. Dann drehte Billy sich zu Emmett um und umarmte ihn wieder.
»Ich bin froh, dass du wieder zu Hause bist, Emmett.«
»Ich bin auch froh, dass ich wieder zu Hause bin, Billy.«
»Diesmal musst du nicht nach Salina zurück, oder?«
»Nein. Ich muss nie wieder nach Salina zurück. Komm.«
Billy ließ Emmett los, und die beiden gingen ins Haus. In der Küche machte Emmett den Kühlschrank auf und schob die Auflaufform ins unterste Fach. In den oberen Fächern waren Milch, Eier und Butter, wie angekündigt. Außerdem gab es ein Glas Apfelmus und ein Glas eingemachter Pfirsiche.
»Möchtest du etwas essen?«
»Nein, danke, Emmett. Sally hat mir vorm Weggehen ein Brot mit Erdnussbutter gemacht.«
»Aber ein Glas Milch?«
»Ja.«
Als Emmett zwei Gläser mit Milch zum Tisch brachte, nahm Billy den Rucksack ab und stellte ihn auf einen Stuhl. Er öffnete das Oberfach, nahm ein Päckchen in Alufolie heraus und machte es vorsichtig auf. Es enthielt acht Kekse. Billy legte zwei auf den Tisch, einen für Emmett, einen für sich, dann faltete er das Päckchen wieder zu, steckte es in den Rucksack, verschloss die Klappe und setzte sich auf seinen Platz.
»Das ist ein ziemlich großer Rucksack«, sagte Emmett.
»Es ist ein echter US-Army-Rucksack«, sagte Billy. »Aus Armeebeständen, er wurde im Krieg nicht gebraucht. Ich habe ihn bei Mr.Gunderson im Laden gekauft. Außerdem habe ich eine Taschenlampe und einen Kompass und diese Uhr gekauft, alles aus Armeebeständen.«
Billy streckte den Arm aus, an dessen Handgelenk lose eine Uhr hing.
»Sie hat sogar einen Sekundenzeiger.«
Emmett bewunderte gebührend die Uhr, dann biss er von einem Keks ab.
»Lecker. Schokolade?«
»Ja. Sally hat sie gemacht.«
»Hast du geholfen?«
»Ich habe die Schüssel ausgeleckt.«
»Das kann ich mir vorstellen.«
»Sally hat uns ein ganzes Blech gemacht, aber Mr. Ransom fand, dass das übertrieben war, und dann hat sie gesagt, sie würde uns nur vier geben, aber heimlich hat sie acht eingepackt.«
»Haben wir Glück gehabt.«
»Mehr Glück, als wenn es nur vier wären, aber nicht so viel Glück wie bei einem ganzen Blech.«
Emmett lächelte, trank von der Milch und betrachtete seinen Bruder über den Glasrand hinweg. Billy war zwei Zentimeter größer geworden und sein Haar war kürzer geschnitten, wie nicht anders zu erwarten bei den Ransoms, aber sonst schien seine körperliche und geistige Verfassung so wie immer. Dass Emmett seinen Bruder zurücklassen musste, hatte ihn besonders bekümmert, als er nach Salina gekommen war, und jetzt war er froh, Billy kaum verändert vorzufinden. Und glücklich, mit ihm an dem alten Küchentisch zu sitzen. Und auch Billy war darüber glücklich, das merkte Emmett.
»Ist das Schuljahr gut zu Ende gegangen?«, fragte Emmett und stellte das Glas hin.
Billy nickte.
»In Erdkunde habe ich 105 % bekommen.«
»105 %!«
»Normalerweise gibt es das nicht, 105 %«, erklärte Billy. »Normalerweise gibt es nicht mehr als 100 %.«
»Wie hast du Mrs. Cooper dann die zusätzlichen fünf Prozent abgeluchst?«
»Es gab eine Zusatzfrage.«
»Und wie lautete die?«
Billy hatte sie noch genau im Kopf.
»Wie hoch ist das höchste Gebäude der Welt?«
»Und du wusstest die Antwort?«
»Ja.«
…
»Willst du sie mir nicht sagen?«
Billy schüttelte den Kopf.
»Das wäre gemogelt. Du musst es schon selbst rauskriegen.«
»In Ordnung.«
Einen Moment schwiegen sie, dann wurde Emmett sich bewusst, dass er in sein Milchglas starrte. Jetzt war er es, der etwas auf dem Herzen hatte. Und er musste jetzt entscheiden, wie, ob und wann er es sagen sollte.
»Billy«, fing er an. »Ich weiß nicht, was Mr. Ransom dir erzählt hat, aber wir können hier nicht mehr wohnen.«
»Ich weiß«, sagte Billy. »Weil wir bankrott sind.«
»Richtig. Weißt du, was das bedeutet?«
»Es bedeutet, dass unser Haus der Bank gehört.«
»Genau. Wir könnten natürlich trotzdem in Morgen bleiben. Eine Weile könnten wir bei den Ransoms wohnen, und ich könnte wieder bei Mr. Schulte arbeiten. Im Herbst würdest du wieder in die Schule gehen, und irgendwann könnten wir uns wieder ein Haus leisten. Aber ich glaube, jetzt wäre für uns ein guter Moment, etwas Neues zu probieren …«
Emmett hatte lange darüber nachgedacht, wie er das sagen sollte, weil er Angst hatte, Billy würde die Vorstellung, aus Morgen wegzugehen, traurig machen, besonders so schnell nach dem Tod ihres Vaters. Aber Billy war nicht im mindesten traurig.
»Ich habe genau dasselbe gedacht, Emmett.«
»Wirklich?«
Billy nickte mit Nachdruck.
»Jetzt, wo Daddy tot ist und unser Haus der Bank gehört, brauchen wir nicht in Morgen zu bleiben. Wir können unsere Sachen packen und nach Kalifornien gehen.«
»Dann sind wir uns ja einig«, sagte Emmett lächelnd. »Nur dass ich finde, wir sollten nach Texas gehen.«
»Aber nach Texas können wir nicht gehen«, sagte Billy und schüttelte den Kopf.
»Und warum nicht?«
»Weil wir nach Kalifornien müssen.«
Emmett wollte anfangen zu sprechen, aber Billy war schon aufgestanden und machte sich an seinem Rucksack zu schaffen. Diesmal öffnete er die Vordertasche und nahm einen kleinen braunen Umschlag heraus, dann setzte er sich wieder. Während er den roten Faden um den Umschlag sorgfältig aufmachte, fing er an zu sprechen.
»Nach Daddys Beerdigung, und als du wieder nach Salina gefahren warst, hat Mr. Ransom gesagt, Sally und ich sollten im Haus nach wichtigen Papieren gucken. Und da haben wir in der untersten Schublade von Daddys Schreibtisch eine Dose gefunden. Sie war nicht abgeschlossen, aber man konnte sie abschließen, wenn man wollte. In der Dose waren die wichtigen Papiere, die Mr. Ransom gemeint hatte, unsere Geburtsurkunden und die Heiratsurkunde von Mom und Dad. Aber ganz unten in der Dose habe ich dies hier gefunden.«
Billy ließ eine Reihe von Postkarten aus dem Umschlag auf den Tisch gleiten, neun an der Zahl.
Emmett sah an dem Zustand der Karten, dass sie weder besonders alt noch besonders neu waren. Es waren Ansichtskarten mit Fotos oder Zeichnungen, alle in Farbe. Ganz oben lag eine Ansicht des Welsh Motor Court in Ogallala, Nebraska, einem modernen Motel mit weißen Häuschen, einem Pflanzstreifen als Straßenbegrenzung und einem Fahnenmast, an dem die amerikanische Flagge hing.
»Das sind Postkarten«, erklärte Billy, »an uns beide. Von Mom.«
Emmett war wie vor den Kopf geschlagen. Fast acht Jahre waren vergangen, seit ihre Mutter ihn und Billy zu Bett gebracht hatte und aus dem Zimmer gegangen war, und seitdem hatten sie nie wieder von ihr gehört. Keine Anrufe. Keine Briefe. Keine achtsam eingewickelten Päckchen zu Weihnachten. Auch keine weitergetragenen Neuigkeiten von jemandem, der zufällig von jemand anderem etwas gehört hatte. So hatte Emmett es erlebt — bis jetzt.
Emmett nahm die Postkarte mit der Ansicht des Welsh Motor Court und drehte sie um. Es war, wie Billy gesagt hatte: Die Karte war in der eleganten Handschrift ihrer Mutter an sie beide adressiert. Wie bei Postkarten üblich, beschränkte sich der Text auf wenige Zeilen. Darin drückte sie aus, dass sie ihre Jungen vermisste, obwohl sie erst seit einem Tag fort war. Emmett nahm die nächste Postkarte von dem Stapel. Oben links auf dem Bild war ein berittener Cowboy zu sehen, und das Lasso, das er schwang, formte sich im Vordergrund zu den Wörtern Grüße aus Rawlins, Wyoming, was die größte Stadt der Plains war. Emmett drehte die Karte um. In sechs Sätzen, von denen einer sich um die untere rechte Ecke schlängelte, schrieb ihre Mutter, dass sie in Rawlins zwar noch keinen Cowboy mit Lasso gesehen habe, dafür aber viele Kühe. Am Schluss schrieb sie wieder, wie sehr sie ihre Jungen liebte und vermisste.
Emmetts Blick glitt über die anderen Postkarten auf dem Tisch, er las die Namen der Städte, der Motels und Restaurants, er sah sich die Ansichten und Monumente an und stellte fest, dass mit einer Ausnahme der Himmel auf allen Bildern blau war.
Weil Emmett wusste, dass sein Bruder ihn beobachtete, bemühte er sich um einen Ausdruck, der nichts von seinen Gefühlen verriet. Am stärksten war sein Zorn — Zorn auf seinen Vater. Denn der musste die Postkarten entgegengenommen und vor ihnen versteckt haben. So wütend sein Vater auf seine Frau auch gewesen sein mochte, er hatte nicht das Recht, seinen Söhnen die Postkarten vorzuenthalten, zumindest nicht Emmett, der damals schon alt genug war, sie selbst zu lesen. Aber Emmetts Wut verflog schnell, denn er verstand, dass sein Vater das einzig Vernünftige getan hatte. Was konnte schließlich eine gelegentliche Postkarte ausrichten, mit ein paar Sätzen auf der Rückseite, geschrieben von einer Frau, die ihre Kinder mit voller Absicht verlassen hatte?
Emmett legte die Postkarte aus Rawlins wieder auf den Tisch.
»Du weißt doch, dass Mom uns am fünften Juli verlassen hat, oder?«, fragte Billy.
»Ja, das weiß ich.«
»Von da an hat sie uns neun Tage lang jeden Tag eine Postkarte geschrieben.«
Emmett nahm die Postkarte von Ogallala wieder in die Hand und prüfte die Stelle über der Anrede — Liebster Emmett und Billy —, aber da stand kein Datum.
»Mom hat kein Datum draufgeschrieben«, sagte Billy, »aber du kannst es am Poststempel sehen.«
Er nahm Emmett die Ogallala-Karte aus der Hand, drehte alle Postkarten um und legte sie auf dem Tisch aus. Er zeigte auf die Poststempel.
»Fünfter Juli, sechster Juli. Vom siebten Juli gibt es keine, aber zwei vom achten. Das liegt daran, dass der 7. Juli 1946 ein Sonntag war, und sonntags hat die Post geschlossen, deshalb musste sie am Montag zwei Karten abschicken. Aber guck mal hier.«
Billy ging wieder an die Vordertasche seines Rucksacks und holte etwas heraus, das wie ein Flugblatt aussah. Als er das Blatt auffaltete, sah Emmett, dass es eine Phillips-66-Straßenkarte der Vereinigten Staaten war. Quer durch die Karte führte eine Straße, die Billy mit schwarzer Tinte markiert hatte. Im westlichen Teil waren acht Ortsnamen entlang der Route umkringelt.
»Das ist der Lincoln Highway«, erklärte Billy und fuhr an der schwarzen Linie entlang. »Er ist 1912 erfunden worden und nach Abraham Lincoln benannt, die erste Straße, die Amerika von Osten nach Westen durchquert.«
Billy setzte die Fingerspitze auf den Anfang am Atlantik und fuhr an der Linie entlang.
»Der Lincoln Highway fängt in New York am Times Square an und geht bis zum Lincoln Park, San Francisco, der dreitausenddreihundert Meilen weiter westlich liegt. Und er führt durch Central City, das ist nur zwanzig Meilen von unserem Haus entfernt.«
Billy legte seinen Finger auf den kleinen schwarzen Stern, mit dem er auf der Straßenkarte ihr Haus markiert hatte.
»Als Mom am fünften Juli von uns weggegangen ist, ist sie in diese Richtung gereist …«
Billy nahm die Postkarten, drehte sie wieder um und legte sie auf dem unteren Teil der Straßenkarten in westlicher Richtung aus, sodass jede unter dem Namen der Stadt auf der Karte lag.
Ogallala.
Cheyenne.
Rawlins.
Rock Springs.
Salt Lake City.
Ely.
Reno.
Sacramento.
Dann kam er zur letzten Postkarte, auf der ein großes Gebäude im klassizistischen Stil neben einem Springbrunnen in einem Park in San Francisco zu sehen war.
Billy seufzte befriedigt, als alle Postkarten in der richtigen Reihenfolge auf dem Tisch lagen. Aber Emmett hatte ein unbehagliches Gefühl, als würden sie unerlaubterweise eine Privatkorrespondenz lesen.
»Billy«, sagte er, »ich bin mir nicht sicher, dass wir nach Kalifornien gehen sollten …«
»Aber wir müssen nach Kalifornien, Emmett. Verstehst du das nicht? Deshalb hat sie uns die Postkarten geschickt. Damit wir ihr folgen können.«
»Aber in den letzten acht Jahren hat sie keine anderen Postkarten geschickt.«
»Weil sie am dreizehnten Juli an ihrem Ziel angekommen ist. Wir müssen nur auf dem Lincoln Highway nach San Francisco fahren, dann finden wir sie.«
Emmett hätte gern etwas Einsichtiges zu seinem Bruder gesagt, das ihn von seinem Vorhaben abgebracht hätte. Zum Beispiel, dass ihre Mutter nicht unbedingt in San Francisco geblieben sei. Dass sie leicht hätte weiterreisen können und das wahrscheinlich auch getan hatte. Außerdem, auch wenn sie an den ersten acht Tagen an ihre Söhne gedacht hatte, sah es doch eher so aus, als hätte sie danach nicht mehr an sie gedacht. Doch dann beschränkte er sich darauf zu sagen, selbst wenn ihre Mutter in San Francisco wäre, sei es praktisch unmöglich, sie dort zu finden.
Billy nickte mit einer Miene, die ausdrückte, dass er sich dieser Schwierigkeit durchaus bewusst war.
»Du hast mir doch selbst erzählt, wie sehr Mom Feuerwerke liebt und dass sie am Vierten Juli mit uns bis nach Seward gefahren ist, damit wir dort bei dem großen Feuerwerk zusehen konnten.«
Emmett konnte sich nicht erinnern, seinem kleinen Bruder das erzählt zu haben, und in Anbetracht der Umstände schien es ihm nicht vorstellbar, dass er je die Lust dazu gehabt hätte. Andererseits konnte er es auch nicht leugnen.
Billy nahm die letzte Postkarte, die mit dem klassizistischen Gebäude und dem Springbrunnen. Er drehte sie um und fuhr mit dem Finger an der Schrift entlang.
»Das ist der Palace of the Legion of Honor im Lincoln Park von San Francisco, und jedes Jahr gibt es am Vierten Juli hier eins der größten Feuerwerke in ganz Kalifornien!«
Billy sah seinen Bruder an.
»Da ist sie, Emmett. Bei dem Feuerwerk am Palace of the Legion of Honor, am Vierten Juli.«
»Billy …«, sagte Emmett.
Aber Billy hörte den Vorbehalt in Emmetts Stimme und fing an, heftig den Kopf zu schütteln. Mit Blick auf die Straßenkarte vor sich auf dem Tisch fuhr er mit dem Finger an der Route entlang, die ihre Mutter genommen hatte.
»Von Ogallala nach Cheyenne, von Cheyenne nach Rawlins, von Rawlins nach Rock Springs, von Rock Springs nach Salt Lake City, von Salt Lake City nach Ely, von Ely nach Reno, von Reno nach Sacramento, und von Sacramento nach San Francisco. So fahren wir.«
Emmett lehnte sich auf seinem Stuhl zurück und dachte nach.
Seine Wahl war nicht zufällig auf Texas gefallen. Im Gegenteil, er hatte die Frage, wohin er und sein Bruder gehen sollten, sorgfältig und systematisch erwogen. Und er hatte viele Stunden in der kleinen Bibliothek von Salina zugebracht und in den Almanachen und Enzyklopädien nachgelesen, bis die Antwort auf die Frage klar und unmissverständlich vor ihm stand. Aber Billy hatte ähnlich sorgfältig und systematisch über die Frage nachgedacht, und die Antwort auf die Frage, wohin sie gehen sollten, stand mit ähnlicher Klarheit vor ihm.
»Na gut, Billy. Weißt du was? Steck die Postkarten wieder in den Umschlag und lass mich eine Weile über das nachdenken, was du gesagt hast.«
Billy fing an zu nicken.
»Das ist eine gute Idee, Emmett. Das ist auf jeden Fall eine gute Idee.«
Er schob die Postkarten in ost-westlicher Reihenfolge zusammen und steckte sie in den Umschlag, dann schlang er den roten Faden um den Umschlag und band ihn mit einer Schleife zu. Er steckte den Umschlag wieder in die Vordertasche seines Rucksacks.
»Denk mal eine Weile darüber nach, Emmett. Dann siehst du schon.«
Während Billy in seinem Zimmer beschäftigt war, duschte Emmett lange und ausgiebig. Anschließend nahm er die Sachen, die er auf dem Weg nach und von Salina getragen hatte, vom Boden auf, holte die Packung Zigaretten aus der Brusttasche und warf alles in den Müll. Nach kurzem Überlegen warf er die Zigaretten auch weg, achtete aber darauf, sie unter die Bekleidung zu stopfen.
In seinem Zimmer zog er sich frische Jeans und ein Jeanshemd an, schlang sich seinen Lieblingsgürtel um und zog seine Lieblingsstiefel an. Aus der obersten Schublade der Kommode nahm er ein Paar zusammengerollter Socken. Er rollte sie auf und schüttelte sie, bis die Schlüssel zu seinem Auto herausfielen. Er ging über den Flur und guckte ins Zimmer seines Bruders.
Billy saß auf dem Fußboden, den Rucksack neben sich. In seinem Schoß lag die alte blaue Tabakdose mit dem Bild von George Washington, und auf dem Teppich hatte er seine Silberdollars in Stapeln und Reihen aufgebaut.
»Anscheinend hast du, während ich weg war, noch ein paar mehr gefunden«, sagte Emmett.
»Drei Stück«, sagte Billy und begradigte einen der Stapel.
»Wie viele fehlen noch?«
Billy zeigte auf die leeren Felder auf seiner Tabelle.
»1881. 1894. 1895. 1899. 1903.«
»Du bist schon ganz schön weit.«
Billy nickte zustimmend.
»Aber die von 1894 und 1895 findet man nicht leicht. Ich hatte Glück, dass ich 1893 gefunden habe.«
Billy sah zu seinem Bruder auf.
»Hast du schon über Kalifornien nachgedacht, Emmett?«
»Ein bisschen schon, aber ich muss noch mehr darüber nachdenken.«
»Gut.«
Während Billy sich wieder den Silberdollars zuwandte, sah Emmett sich — zum zweiten Mal an dem Tag — im Zimmer seines Bruders um und ließ den Blick über die ordentlich auf den Borden aufgestellten Sammlungen und die Flugzeuge über dem Bett schweifen.
»Billy …«
Billy sah auf.
»Egal, ob wir nach Texas oder nach Kalifornien gehen, ich glaube, es wäre das Beste, wenn wir mit leichtem Gepäck reisen. Es soll ja ein Neuanfang sein.«
»Das denke ich auch, Emmett.«
»Wirklich?«
»In meinem Buch sagt Professor Abernathe, dass der unerschrockene Reisende sich mit dem, was er in einem Rucksack unterbringen kann, auf den Weg macht. Deshalb habe ich den Rucksack bei Mr. Gunderson gekauft. Ich wollte fertig sein, sobald du nach Hause kommst. Ich habe schon alles gepackt, was ich brauche.«
»Alles?«
»Alles.«
Emmett lächelte.
»Ich wollte in der Scheune nach dem Auto gucken. Kommst du mit?«
»Jetzt?«, sagte Billy überrascht. »Warte! Ich komme! Warte auf mich!«
Nachdem er die Silberdollars präzise in chronologischer Reihenfolge ausgelegt hatte, sammelte er sie jetzt mit einer großen Bewegung zusammen und warf sie schnell in die Tabakdose. Er klappte den Deckel zu, packte die Dose wieder in den Rucksack und setzte sich den Rucksack auf den Rücken. Dann ging er vor Emmett die Treppe hinunter und nach draußen.
Auf dem Weg über den Hof erzählte Billy, Mr. Obermeyer habe am Scheunentor ein Vorhängeschloss angebracht, aber Sally habe es mit einem Brecheisen, das sie im Auto hatte, aufgebrochen.
Und so war es: Am Scheunentor war lose an den Schrauben der Riegel befestigt, an dem das Vorhängeschloss noch hing. In der Scheune war die Luft warm und vertraut und roch nach Vieh, obwohl es auf der Farm kein Vieh mehr gab, seit Emmett klein war.
Emmett blieb stehen und wartete, dass seine Augen sich an die Dunkelheit gewöhnten. Vor ihm stand der neue John-Deere-Trecker, dahinter die alte Mähmaschine. Emmett ging nach hinten und blieb vor einem geschwungenen Objekt unter einer Zeltplane stehen.
»Mr. Obermeyer hat die Plane abgezogen«, sagte Billy, »aber Sally und ich haben sie wieder drübergemacht.«
Emmett packte die Plane an einer Ecke an und zog mit beiden Händen, bis sie in einem Haufen vor seinen Füßen lag und er vor sich an der Stelle, wo er ihn vor fünfzehn Monaten gelassen hatte, den rauchblauen, viertürigen Wagen mit festem Dach sah — seinen 1948er Studebaker.
Nachdem Emmett mit der Handfläche über die Motorhaube gefahren war, öffnete er die Tür an der Fahrerseite und setzte sich hinein. Einen Moment saß er still da, die Hände auf dem Steuerrad. Beim Kauf standen 80.000 Meilen auf dem Tacho, die Motorhaube hatte ein paar Beulen und auf den Sitzen waren Brandlöcher von Zigaretten, aber der Motor lief rund. Emmett nahm den Schlüssel aus der Tasche und steckte ihn ins Zündschloss, er drückte auf den Starter und wartete auf das beruhigende Brummen des Motors, aber nichts regte sich.
Billy, der in respektvoller Entfernung stand, kam jetzt vorsichtig näher.
»Ist was kaputt?«
»Nein, Billy. Wahrscheinlich ist die Batterie leer. Das passiert, wenn der Wagen eine Weile nicht gefahren wird, aber man kann das leicht in Ordnung bringen.«
Billy wirkte erleichtert. Er setzte sich auf einen Heuballen und nahm den Rucksack ab.
»Möchtest du einen Keks, Emmett?«
»Im Moment nicht, aber nimm du dir einen.«
Billy machte den Rucksack auf, und Emmett stieg aus dem Auto, ging nach hinten und machte den Kofferraum auf. Nachdem er sich vergewissert hatte, dass sein Bruder ihn nicht sehen konnte, zog er die Filzdecke in der Nische, wo der Ersatzreifen lag, ab und befühlte die äußere Rundung. Ganz oben lag ein Umschlag mit seinem Namen, so wie sein Vater es ihm beschrieben hatte. In dem Umschlag war ein kurzer Brief in der Handschrift seines Vaters.
Noch so eine handgeschriebene Botschaft von einem Geisterwesen, dachte Emmett.
Lieber Sohn,
wenn Du dies liest, ist die Farm wahrscheinlich in den Besitz der Bank übergegangen. Vielleicht bist Du wütend auf mich oder enttäuscht von mir, und das könnte ich Dir nicht verübeln.
Du wärst höchst erstaunt, wenn Du wüsstest, wie viel mir mein Vater bei seinem Tod hinterlassen hat, wie viel mein Großvater meinem Vater, und wie viel mein Urgroßvater meinem Großvater. Nicht nur Aktien und Sparbriefe, sondern Häuser und Gemälde, Möbel, Porzellan, Mitgliedschaften in Clubs und Verbindungen. Alle drei Vorfahren fühlten sich der puritanischen Tradition verbunden, wonach man die Gunst des Herrn dadurch erwirkt, dass man seinen Nachkommen ein größeres Erbe hinterlässt, als das, was man selbst angetreten hat.
In diesem Umschlag findest Du mein Vermächtnis an Dich, es besteht aus zwei Teilen, der eine groß, der andere klein, und beide sind gewissermaßen eine Schändung.
Während ich dies schreibe, bin ich beschämt von dem Wissen, dass ich mit meinem Leben, so wie ich es gelebt habe, den tugendhaften Kreislauf der Genügsamkeit meiner Vorfahren durchbrochen habe. Gleichzeitig erfüllt es mich mit Stolz zu wissen, dass Du mit dieser kleinen Hinterlassenschaft zweifellos mehr erreichen wirst, als ich es mit einem großen Vermögen vermocht habe.
In Liebe und Bewunderung
Dein Vater
Charles William Watson
An dem Brief war mit einer Büroklammer der erste Teil des Vermächtnisses befestigt: eine einzelne, aus einem alten Buch herausgerissene Seite.
Emmetts Vater war kein Mann gewesen, der seine Kinder im Ärger schlug, auch wenn sie es verdient hätten. Und das einzige Mal, dass Emmett sich an einen Zornesausbruch seines Vaters erinnern konnte, war der Tag, als er aus der Schule nach Hause geschickt worden war, weil er ein Buch beschädigt hatte. Wer ein Buch beschädigte, gab sein Vater ihm schmerzhaft zu verstehen, verhielt sich wie ein Banause und handelte gegen die heiligste und edelste Errungenschaft des Menschen, die Fähigkeit nämlich, die höchsten Gedanken und Gefühle schriftlich niederzulegen, damit nachfolgende Generationen daran teilhaben konnten.
Eine Seite aus einem Buch zu reißen, war für seinen Vater ein Sakrileg. Noch schockierender war die Tatsache, dass die Seite aus den Essays von Ralph Waldo Emerson stammte, dem Buch, das sein Vater vor allen anderen Büchern in größten Ehren hielt. Unten auf der Seite hatte sein Vater zwei Sätze sorgfältig mit roter Tinte unterstrichen.
Im Laufe seiner persönlichen Entwicklung kommt der Mensch zu der Erkenntnis, dass Neid Unwissenheit ist und Nachahmung Selbstmord; dass er sich, im Guten wie im Schlechten, so nehmen muss, wie er ist, als sein Los; und dass, obwohl das weite Universum voll des Guten ist, dem Menschen doch nicht der geringste nahrhafte Kern zufallen kann, außer durch seine Mühen, die er auf das Land verwendet, das ihm zu bestellen gegeben ist. Die ihm innewohnende Kraft kommt aus einer neuen Quelle, und niemand außer ihm weiß, wozu er imstande ist, und auch er selbst weiß es erst, wenn er es versucht hat.
Emmett verstand sofort, dass dieser Absatz aus einem Essay von Emerson zweierlei aussagte. Zum einen war es eine Entschuldigung. Es war eine Erklärung dafür, warum sein Vater gegen alle Vernunft die Häuser und Gemälde, die Mitgliedschaften in Clubs und Verbindungen aufgegeben hatte und nach Nebraska gekommen war, um Farmer zu werden. Emmetts Vater legte diese Passage von Emerson als Beweis dafür vor — als wäre es ein göttlicher Entschluss —, dass er keine andere Wahl gehabt hatte.
Aber wenn es eine Entschuldigung war, so war es auch eine Aufforderung: die Aufforderung nämlich, dass Emmett sich ohne Bedauern oder Schuldgefühle, und ohne jedes Zögern, von den dreihundert Hektar, denen sein Vater die Hälfte seines Lebens gewidmet hatte, abwenden sollte, solange er es tat, um frei von Neid und Nachahmung sein eigenes Los zu erfüllen und dabei zu entdecken, wozu er allein fähig war.
Hinter der Seite aus Emersons Essays lag der zweite Teil des Vermächtnisses, ein Stapel brandneuer Zwanzig-Dollar-Noten. Emmett fuhr mit dem Daumen über die glatten, sauberen Kanten und schätzte, dass es zweihundertfünfzig Scheine waren, alles zusammen also $ 3000.
Obwohl Emmett verstand, dass die aus einem Buch gerissene Seite für seinen Vater ein Sakrileg darstellte, traf das aus seiner Sicht nicht auf die Banknoten zu. Vielleicht war sein Vater zu dieser Sichtweise gekommen, weil er das Geld hinter dem Rücken der Gläubiger weitergab. Damit verstieß er sowohl gegen seine rechtlichen Verpflichtungen als auch gegen sein eigenes Gefühl von Recht und Unrecht. Aber nachdem er zwanzig Jahre lang den Zinszahlungen für die Hypothek nachgekommen war, hatte er die Farm doppelt bezahlt. Und ein weiteres Mal hatte er mit seinen Mühen und Enttäuschungen, dann mit seiner Ehe und schließlich mit seinem Leben dafür bezahlt. Nein, die zurückbehaltenen dreitausend Dollar waren in Emmetts Augen kein Sakrileg. In seinen Augen gehörte jeder Cent davon seinem Vater.
Emmett steckte sich einen Schein in die Tasche, legte den Umschlag wieder auf den Reifen und breitete die Filzdecke darüber.
»Emmett«, sagte Billy.
Emmett schloss den Kofferraum und sah Billy an, aber Billy sah nicht zu ihm hin, sondern auf zwei Personen, die im Scheunentor standen. Im Gegenlicht konnte Emmett nicht erkennen, wer sie waren. Er erkannte sie erst, als der Dünne, der links stand, beide Arme hochriss und sagte:
»Da sind wir!«
Das hätte man sehen müssen — Emmetts Gesichtsausdruck, als er begriff, wer da in der Tür stand. Wir hätten vom Himmel gefallen sein können, so wie er uns anstarrte.
Damals, in den Vierzigerjahren, gab es einen Artisten, der sich Kazantikis nannte. Ein paar Witzbolde in der Zirkuswelt nannten ihn den Halbidioten Houdini aus Hackensack, aber das war ein bisschen ungerecht. Zwar fehlte es dem ersten Teil seiner Nummer an Schliff, aber das Finale war großartig. Vor den Augen des Publikums ließ er sich in Ketten fesseln und in einem großen Koffer einschließen, der dann in einem riesigen Aquarium versenkt wurde. Eine hübsche Blondine schob eine riesige Standuhr auf die Bühne, während der Conferencier den Zuschauern erklärte, der Mensch könne im Durchschnitt zwei Minuten lang die Luft anhalten, nach vier Minuten ohne Sauerstoff werde ihm schwindelig und nach sechs Minuten verliere er das Bewusstsein. Zwei Mitarbeiter der Pinkerton Detective Agency waren auch auf der Bühne und versicherten sich, dass das Vorhängeschloss an dem Koffer fest abgeschlossen war, und ein Priester der griechisch-orthodoxen Kirche in einem langen schwarzen Talar und mit weißem Bart stand dabei, falls es nötig sein sollte, die Sterbesakramente zu verabreichen. Der Koffer wurde in den Wassertank versenkt, und die Blondine drückte auf die Uhr. Nach zwei Minuten fingen die Zuschauer an zu pfeifen und zu grölen, nach fünf Minuten machten sie »ooh« und »aah«. Dann, nach acht Minuten, wechselten die Pinkerton-Männer besorgte Blicke. Nach zehn Minuten bekreuzigte sich der Priester und murmelte ein unverständliches Gebet. In der zwölften Minute brach die Blondine in Tränen aus, und zwei Bühnenarbeiter stürzten herbei und halfen den Pinkerton-Männern, den Koffer aus dem Wassertank zu hieven. Er wurde mit einem Plumps auf die Bühne gesetzt, und das Wasser strömte über die Rampe in den Orchestergraben. Während der eine Pinkerton-Mann mit den Schlüsseln hantierte, stieß der andere ihn beiseite, zog seine Pistole und schoss das Schloss ab. Hastig riss er den Deckel hoch, kippte den Koffer auf die Seite — und siehe da, er war leer. Jetzt zupfte der Priester sich den Bart ab und gab sich mit noch nassem Haar als Kazantikis zu erkennen, und die gesamte Zuschauerschaft starrte in heiligem Staunen. Ein solcher Ausdruck stand in Emmett Watsons Gesicht, als er sah, wer in der Tür stand. Er konnte einfach nicht glauben, dass von allen Menschen auf der Welt wir das waren.
»Duchess?«
»Höchstpersönlich. Und Woolly.«
Emmett war konsterniert.
»Aber wie …?«
Ich lachte.
»Das möchtest du gern wissen, was?«
Ich legte die Hand an den Mund und senkte die Stimme.
»Wir haben uns vom Direktor mitnehmen lassen. Als er deine Papiere holte, haben wir uns im Kofferraum seines Wagens versteckt.«
»Das ist nicht dein Ernst.«
»Ich weiß, nicht gerade Reisen erster Klasse. Bei der Hitze hinten im Wagen, und dann Woolly, der alle zehn Minuten dringend aufs Klo wollte. Und als wir nach Nebraska kamen! Ich dachte, von den ganzen Schlaglöchern würde ich eine Gehirnerschütterung kriegen. Es sollte mal jemand an den Gouverneur schreiben!«
»Hallo, Emmett«, sagte Woolly, als wäre er eben erst eingetroffen.
Das ist Woollys Charme. Er kommt zu allem fünf Minuten zu spät, er rennt mit dem falschen Gepäck zum falschen Bahnsteig, gerade wenn der Zug losfährt. Seine Art bringt manchen auf die Palme, aber mir ist jemand, der in allem eine Verspätung von fünf Minuten hat, um vieles lieber als einer, der fünf Minuten vor der Zeit da ist.
Aus dem Augenwinkel hatte ich den Kleinen beobachtet, der auf einem Heuballen saß und sich jetzt langsam auf uns zubewegte. Als ich auf ihn zeigte, erstarrte er wie ein Kaninchen im Gras.
»Billy, richtig? Dein Bruder sagt, du bist ein helles Bürschchen. Stimmt das?«
Der Kleine lächelte und wagte sich weiter vor, bis er neben Emmett stand. Er sah zu seinem Bruder auf.
»Sind das deine Freunde, Emmett?«
»Natürlich sind wir seine Freunde!«
»Sie sind aus Salina«, erklärte Emmett.
Ich wollte das gerade ein bisschen näher erläutern, als mein Blick auf den Wagen fiel. Bei all der Aufregung um unser Wiedersehen war er mir hinter der Landwirtschaftsmaschine gar nicht aufgefallen.
»Ist das der Studebaker, Emmett? Wie nennt man die Farbe? Himmelblau?«
Man konnte sich gut vorstellen, wie die Frau des Zahnarztes in einem solchen Wagen zum Bingo fährt, aber ich pfiff trotzdem anerkennend. Dann wandte ich mich an Billy.
»Einige Jungen in Salina hatten neben ihrem Bett ein Foto von ihrer Freundin zu Hause, das sie sich anguckten, bevor das Licht ausgemacht wurde, und einige hatten Fotos von Elizabeth Taylor und Marilyn Monroe an die Wand geklebt. Aber dein Bruder hier, der hatte aus einer alten Zeitschrift ein Farbfoto von diesem Auto ausgeschnitten und an die Wand gepinnt. Wir haben ihn ganz schön damit aufgezogen, das muss ich ehrlich sagen, Billy. Dass einer seinem Auto verliebte Augen macht. Aber jetzt, wo ich es aus der Nähe sehe …«
Ich schüttelte anerkennend den Kopf.
»He«, sagte ich zu Emmett, »können wir eine kleine Spritztour damit machen?«
Emmett antwortete nicht, weil sein Blick auf Woolly geheftet war, der sich ein leeres Spinnennetz anguckte.
»Alles in Ordnung, Woolly?«
Woolly drehte sich langsam um und dachte über die Frage nach.
»Alles in Ordnung, Emmett.«
»Wann hast du das letzte Mal was gegessen?«
»Ach, ich weiß gar nicht. Wahrscheinlich bevor wir in das Auto des Direktors geklettert sind. Das stimmt doch, Duchess, oder?«
Emmett drehte sich zu seinem Bruder um.
»Billy, weißt du noch, was Sally wegen des Essens gesagt hat?«
»Sie hat gesagt, wir sollen es im Ofen eine Dreiviertelstunde lang bei 180 Grad warm machen.«
»Kannst du schon mal mit Woolly ins Haus gehen und den Auflauf in den Ofen stellen und den Tisch decken? Ich will Duchess was zeigen.«
»Ist gut, Emmett.«
Als wir Billy und Woolly hinterhersahen, wie sie zum Haus gingen, wartete ich interessiert auf das, was Emmett mir zeigen wollte. Aber als er sich zu mir umdrehte, war er verändert. Ja, es wäre nicht falsch zu sagen, er wirkte verärgert. Wahrscheinlich ist das bei manchen Menschen so, wenn sie eine Überraschung erleben. Was mich angeht, ich liebe Überraschungen. Nichts liebe ich mehr, als wenn das Leben mir ein Kaninchen aus dem Hut zaubert. Oder wenn es in einem Billiglokal mitten im Mai als Tagesgericht Truthahnbraten mit allem Drum und Dran gibt. Aber manche Menschen mögen nicht gern in ihrer Routine gestört werden, selbst wenn es wegen guter Nachrichten ist.
»Was macht ihr hier, Duchess?«
Jetzt war ich es, der überrascht war.
»Was wir hier machen? Na, wir wollen dich besuchen, Emmett. Uns die Farm angucken. Du weißt, wie es ist. Man hört Geschichten von jemandem über sein Leben bei sich zu Hause, und irgendwann will man es sich mal ansehen.«
Um das zu unterstreichen, zeigte ich auf den Trecker und die Heuballen und die weite amerikanische Prärie direkt vor der Tür, die uns mit aller Macht zu überzeugen versuchte, dass die Welt flach war.
Emmett folgte meinem Blick und sah dann wieder mich an.