EXIT - Helmut Ortner - E-Book

EXIT E-Book

Helmut Ortner

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Beschreibung

2019 feiert Deutschland 100 Jahre Weimarer Verfassung und 70 Jahre Grundgesetz – und damit indirekt auch 100 bzw. 70 Jahre Verfassungsbruch (Missachtung der von der Verfassung geforderten weltanschaulichen Neutralität des Staates / Trennung von Staat und Religion seit 1919 bzw. 1949). Der Band versteht sich als Streitschrift gegen diesen konstanten Verfassungsbruch. Welche Rolle soll Religion heute spielen? So wenig wie möglich – wenn es nach den Autorinnen und Autoren dieses Sammelbandes geht. Noch immer ist ihr Einfluss auf Politik und Gesellschaft stark und unheilvoll. Ob als autoritäre Staatsdoktrin oder gesellschaftliches Sinnstiftungsangebot – es braucht keine Religion für einen furchtlosen Ausblick in die Zukunft.

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Seitenzahl: 377

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HERAUSGEGEBEN VON

HELMUT ORTNER

EXIT

WARUM WIR WENIGERRELIGION BRAUCHEN

EINE ABRECHNUNG

Gestaltung:

BlazekGrafik, Rudolf Blazek, Frankfurt am Main

ISBN 978-3-939816-61-4eISBN 978-3-939816-62-1

Copyright © der deutschsprachigen Originalausgabe:

Nomen Verlag, Frankfurt am Main 2019

www.nomen-verlag.de

1. Auflage Mai 2019

© 2019 NomenVerlag

Alle Rechte vorbehalten.

Das Werk einschließlich seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt.

Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar.

Das gilt insbesondere für Übersetzungen, Kopien, Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

»Verstand beginnt mit einem lebensbejahenden Atheismus. Er befreit die Seele von Aberglauben, Schrecken, Duckmäusertum, gemeiner Willfährigkeit und Heuchelei.«

George Bernard Shaw

»Auch Götter sterben, wenn niemand mehr an sie glaubt.«

Jean-Paul Sartre

Für Bibi Steffen-Binot und Herbert Steffen

HELMUT ORTNER

Glaube. Macht. Gott.

Warum die Welt weniger Religion braucht – und der Glaube Privatsache sein sollte

MICHAEL SCHMIDT-SALOMON

Vor dem Gesetz sind nicht alle gleich

70 Jahre Grundgesetz – 100 Jahre Verfassungsbruch: Warum wir die Kirchenrepublik überwinden müssen

CARSTEN FRERK

Seid umschlungen Millionen!

Die Kirchen und unser Geld – Über Vermögen, Subventionen, Immobilien und andere zweifelhafte Besitzstände

CONSTANZE KLEIS

Fifty Shades of Gott

Die Weltreligionen stimmen in seltener Eintracht seit Jahrtausenden darin überein, die Frau als ein Mängelexemplar zu betrachten

HAMED ABDEL-SAMAD

»Generation Allah« und der politische Islam

Warum wir eine neue Integrationspolitik brauchen – und eine konsequentere Trennung von Staat und Religion

HELMUT ORTNER

Lautes Schweigen

Über sexuellen Missbrauch, klerikales Vertuschen und Verschweigen – oder: Das Versagen des Rechtsstaats

MARTIN STAUDINGER, ROBERT TREICHLER, CHRISTOPH ZOTTER

Du sollst nicht schweigen!

Österreichs Kirche lässt sich als Vorbild für die Aufarbeitung von klerikalen Sexverbrechen feiern – Über eine optische und faktische Täuschung

KLAUS UNGERER

Die frohe Botschaft

Warum wir keinen Gott brauchen und jede Religion immer und überall kritisieren sollten

JACQUELINE NEUMANN

Streit um Gott

Kreuz-Erlass in Bayern und Lehrerinnen-Kopftuch Zwei exemplarische Fälle – ein Verfassungsbruch

GUNNAR SCHEDEL

Markenschutz für Gott & Co.

Über Blasphemie und Politik und warum der Gotteslästerungsvorwurf noch immer ein Repressionsinstrument ist

KATJA THORWARTH

Sei uns gnädig, Herrgottnochmal!

Über öffentlich-rechtliche Gottes-Botschaften, kirchliche Schleichwerbung und kostenfreies mediales Religions-Lobbying

CORINNA GEKELER

»Eine Kirchenmitgliedschaft wird erwartet …«

Grundrechte für Beschäftigte? Nicht bei Deutschlands zweitgrößtem Arbeitgeber! Wie sich Betroffene erfolgreich wehren

MICHAEL HERL

Himmel und Hölle

Über irdische Gottesfurcht, himmlische Wunder und anderen religiösen Mumpitz

ADRIAN GILLMANN

Menschen, zur Säkularität, zur Freiheit!

Laizität als Religions- und Weltanschauungspolitik für das 21. Jahrhundert – oder: Warum der Bürger immer vor dem Gläubigen kommt

INGRID MATTHÄUS-MAIER

Staatskirche oder Rechtsstaat?

Was ich von einem weltanschaulich-religiös neutralen Staat erwarte Zwanzig notwendige Korrekturen

PHILIPP MÖLLER

Das Ketzer-Jubiläum

Bekenntnisse eines ehemals Unreligiösen und wie er zum »Atheisten-Aktionisten« wurde – Eine Chronik

ANDREAS ALTMANN

Hochheilige Narreteien

Über Kreuzzüge, gen Himmel fahrende Jungfrauen und anhaltenden Gotteswahn – Ein Schurkenstück

GEORG DIEZ

Die letzte Freiheit

Vom Recht, sein eigenes Ende selbst zu bestimmen – oder: Warum die freie Verfügung über sein eigenes Leben ein Gradmesser der Freiheit ist

RICHARD DAWKINS

»Religion ist Unsinn!«

Ein Gespräch mit Daniela Wakonigg

JOHANN-ALBRECHT HAUPT

Die Privilegien der Kirchen

Gesetze und Verfassungen – Eine Dokumentation

Anmerkungen und Hinweise

Die Autorinnen und Autoren – Der Herausgeber

HELMUT ORTNER

Glaube. Macht. Gott.

Warum die Welt weniger Religion braucht – und der Glaube Privatsache sein sollte

Unser Land darf weiterhin auf göttlichen Beistand hoffen. Ein überwiegend christliches Kabinett setzte auch im März 2018 im Berliner Reichstag auf gewohnte Dramaturgie: zwölf Bundesministerinnen und -minister beendeten ihren Amtseid mit der Formel »So wahr mir Gott helfe«. In den Niederungen der Realpolitik mag eine Dosis göttlicher Eingebung mitunter durchaus hilfreich sein, doch möglich ist es den Ministerinnen und Ministern auch, ihren Eid »ohne religiöse Beteuerung« zu leisten. Sie sagen dann nur: »Ich schwöre es!« Drei der neuen Minister nutzten die Formel ohne religiöse Beteuerung: Bundesfinanzminister Olaf Scholz, Bundesjustizministerin Katarina Barley und Bundesumweltministerin Svenja Schulze (allesamt SPD). Schon Kanzler Gerhard Schröder hatte einst auf das religiöse Beiwerk verzichtet, ebenso wie sein grüner Außenminister Joschka Fischer und Umweltminister Jürgen Trittin. Die moralischen Grundwerte des rot-grünen Abendlandes gerieten – trotz leicht atheistischer Einfärbung – nicht in ernsthafte Gefahr. Immerhin.

Auch ohne Gottesschwur: Gott mischt kräftig mit in der deutschen Politik. In den Parlamenten, den Parteien, den Institutionen. »Dabei wird so getan, als hätte er ein ganz natürliches Anrecht darauf, als gehörte er zur politischen Grundausstattung, zum politischen Personal der Bundesrepublik, zur deutschen Demokratie«, konstatiert Dirk Kurbjuweit.

Nicht nur in der deutschen Politik, vor allem in deutschen Gerichtssälen, wird viel geschworen. Bei der Vereidigung vor Gericht geht dem Amts-Eid stets die Eingangsformel »Sie schwören …« (bei Gott dem Allmächtigen und Allwissenden) voraus. Im Strafverfahren wird nach § 64 StPO angemahnt: »… dass Sie nach bestem Wissen die reine Wahrheit gesagt und nichts verschwiegen haben. «Die Ironie dabei ist: es wird ausgerechnet auf ein Buch geschworen, das viele Irrtümer, Erfindungen und Mythen enthält. Trotz allem: von der Kanzlerin bis zum Gerichtszeugen – auf göttliche Beschwörung, vor allem christliche Beteuerung, wird hierzulande also noch immer gerne vertraut.

Dass unsere heutige Demokratie unbestreitbar auf einem Menschenbild gründet, das viel mit dem Christentum zu tun hat, will niemand infrage stellen. Aber die Geschichte zeigt, dass die christlichen Kirchen nicht unbedingt Trägerinnen der Demokratie waren – und sind. Was heute Staat und Staatsbürger ausmacht, ist gegen die christlichen Kirchen erkämpft worden.

Hierzulande herrscht Glaubensfreiheit. Ob einer Christ oder Muslim, Buddhist oder Jude ist, darf keine Rolle dabei spielen, ob er als Bürger dieses Landes willkommen ist. Das Ideal eines Staatsbürgers sieht so aus: Er sollte die abendländische Trennungsgeschichte von Staat und Kirche akzeptieren, die Werte der Aufklärung respektieren und die Gesetze dieses Staates achten. Das reicht.

Wer Beamter, Staatsanwalt oder Richter werden möchte, schwört auf die Verfassung, nicht auf die Bibel oder den Koran. Deutschland ist ein Verfassungs- und kein Gottes-Staat. Und das, sagt der Rechtsphilosoph und Staatsrechtler Horst Dreier, ist die Voraussetzung für Religionsfreiheit. Alle Bürger dürfen ihren Gott, auch ihre Götter haben – der Staat aber muss in einer modernen, säkularen Grundrechtsdemokratie gottlos sein. Freilich: Wenn Verfassungsrechtler vom säkularen Staat sprechen, dann meinen sie keineswegs einen a-religiösen, laizistischen Staat, sondern einen, der Religions- und Weltanschauungsfreiheit garantiert und religiös-weltanschauliche Neutralität praktiziert. Entscheidend sind nicht religiöse Präferenzen, sondern Verfassungstreue.

Vorbei sind die Zeiten, als die beiden großen christlichen Konfessionen über Jahrzehnte das gesellschaftliche, politische Leben hierzulande beherrschten und die Religion aufgrund der kulturellen Harmonie eine integrierende und stabilisierende Größe war. Laut einer Umfrage sagen 33 Prozent der Deutschen, »mit dem Glauben an Gott nichts anfangen zu können«. Sie gehören zu den Bürgern, die in Deutschland keiner Glaubensgemeinschaft angehören – mit 36,2 Prozent der Bevölkerung –; das ist die Mehrheit. 28,5 Prozent (römisch-katholische Kirche) und 26,5 Prozent (evangelische Kirche) folgen – danach kommen weitere 4,9 Prozent (konfessionsgebundene Moslems) sowie 3,9 Prozent sonstige Religionsgemeinschaften (darunter: orthodoxe Kirchen – 1,9 Prozent, Judentum – 0,1 Prozent und Buddhismus – 0,2 Prozent). Wir sind also eine pluralistische, multi-ethnische, multi-religiöse Gesellschaft. Gläubige, Andersgläubige und Ungläubige müssen miteinander auskommen.

Deutlich wird: Die großen Konfessionen verlieren stetig an Mitgliedern – und an Vertrauen. Dennoch genießen sie nach wie vor eine Vielzahl von Privilegien, die eklatant gegen das staatliche Neutralitätsgebot verstoßen. Die Trennung von Kirche und Staat findet nicht statt: nicht in der Gesetzgebung, nicht in der Fiskalpolitik, nicht in der Medienpolitik, schon gar nicht in den Hochämtern und Niederungen der Politik.

Jüngste Beispiele? So verabschiedete die CSU-Landesgruppe Anfang 2019 auf ihrer Klausurtagung im bayrischen Kloster Seeon ein Strategie-Papier mit dem Titel »Innovation gestalten, Orientierung geben, Ethik bewahren«, in dem schon in der Einleitung die Rede davon ist, dass sowohl Rechtsstaat als auch Grundgesetz »untrennbar« mit dem christlichen Menschenbild verbunden sind. Auch Sozialstaat und soziale Marktwirtschaft sind »undenkbar« ohne die christliche Soziallehre. Und was auf keinen Fall fehlen darf: »Deutschland ist ein christliches Land« – der Klassiker.

Bayerischen CSU-Parlamentariern sei ihre religiöse Standfestigkeit unbenommen, nur: das staatliche Neutralitätsgebot hat Vorrang, vor allem, wenn es um die Umsetzung praktischer Politik von Mandatsträgern geht. So sieht es das Grundgesetz vor.

Nicht so in Bayern. Dort hat man demonstrativ und offensiv christliche Zeichen gesetzt: Kaum im Amt, ließ Ministerpräsident Söder in allen Amtstuben und Schulen des Landes das Kruzifix anbringen. Im CSU-freundlichen Bayerischen Rundfunk achtet man auf ein grund-solides christliches Programm, auch wenn es sich um keinen Kirchenfunk, sondern um eine öffentlich-rechtliche Anstalt handelt – die mithin von allen Steuerzahlern, also auch von Konfessionslosen und Ungläubigen, finanziert wird. Staatliches Neutralitätsgebot? Mitnichten.

Beispiel »stille Feiertage«: An »Allerheiligen«, einem katholischen Feiertag, herrscht in Bayern Tanzverbot. Nach Artikel 3 des »Bayerischen Feiertagsgesetzes« sind dem Ernst des jeweiligen stillen Tages entsprechend öffentliche Tanzveranstaltungen verboten. Dazu zählen: der Volkstrauertag, der Buß- und Bettag, der Totensonntag, der Heiligabend, der Aschermittwoch, der Gründonnerstag sowie der Karfreitag und Karsamstag. Besonders restriktiv sind die Einschränkungen am Karfreitag, an dem die bayerischen Behörden keinerlei Ausnahmen zulassen: »In den meisten Musiksparten gibt es eine Auswahl stiller, ruhiger Titel, die zum Charakter des stillen Tages passen können«, lässt etwa die Stadt München auf ihrer Internetseite verlauten. Die Programm-Macher – nicht nur im Bayerischen Rundfunk – halten sich im vorauseilenden Gehorsam daran. Auch alle anderen ARD-Sender zügeln Sound und Rhythmus. Die Vorgabe: »Jazz ja, Hardrock nein!« Selbst Spielhallen müssen im christlichen Bayern an Karfreitagen geschlossen bleiben, wie im Übrigen generell während der Hauptgottesdienst-Zeit an Sonntagen und gesetzlichen Feiertagen von sieben bis elf Uhr.

Keine Real-Satire, sondern Realität in einem demokratischen Bundesland, das sich dem Neutralitätsgebot verpflichtet hat. Erst 2016 hat das Bundesverfassungsgericht das bayerische Feiertagsgesetz als »grundsätzlich verfassungskonform« bestätigt. Willkommen im Gottesstaat Deutschland.

Auch über Bayern hinaus wird das staatliche Neutralitätsgebot massiv und beständig missachtet. Ob Subventionen für Kirchentage, Finanzierung theologischer Fakultäten an staatlichen Universitäten, Kirchenredaktionen in Landes-Rundfunkanstalten bis hin zum wöchentlichen »Wort zum Sonntag« – einem der ältesten Fernseh-Formate des Deutschen Fernsehens. Jeden Samstagabend, meist nach den »Tagesthemen« und vor dem Spätfilm, gibt es für die christlich-abendländische TV-Nation vier Minuten geistige Durchlüftung. Immer im Wechsel, darf ein evangelischer Pfarrer mal über die Wohltaten Luthers referieren, mal ein katholischer Kollege die Jungfrau Maria loben. Rabbiner, Imame, Buddhisten und Atheisten haben kein Rederecht. Der ehemalige Ratsvorsitzende der Evangelischen Kirche Deutschlands, Nikolaus Schneider, sieht die Sendung als einen »niedrigschwelligen Berührungspunkt mit dem Evangelium«. Sie gleicht eher einem vierminutigen religiösen Frontalunterricht.

Das alles ist in unseren Rundfunkgesetzen geregelt. Diese verpflichten die Sender dazu, Gottesdienste, Morgenandachten und allerlei andere Kirchen-Botschaften auszustrahlen. Die Öffentlich-Rechtlichen produzieren und finanzieren diese Sendungen selbst – will heißen: mit Geldern aus GEZ-Gebühren, die alle bezahlen, auch Konfessionslose und Ungläubige.

Noch einmal: Deutschland ist ein säkularer Verfassungsstaat. Ob eine religiöse Gemeinschaft oder ein Einzelner dennoch Sonderrechte beanspruchen können, darüber herrscht mitunter Unstimmigkeit. Ist eine rituelle Genitalbeschneidung bei Jungen ein akzeptables religiöses Ritual oder eine schmerzhafte Körperverletzung?

So hatte das Landgericht Köln im Mai 2012 über einen operativen Notfall zu urteilen, bei dem es nach einer Beschneidung in Folge von Nachblutungen zu Komplikationen gekommen war. Nüchtern stellte der Richter fest: »Die operative Entfernung der Penisvorhaut des minderjährigen Patienten hatte ohne medizinische Notwendigkeit stattgefunden.« Und weil die Amputation eines gesunden Körperteils zwingend der Aufklärung und schriftlichen Einwilligung des Patienten bedarf, der in diesem Fall nicht einwilligungsfähig war, warf die Staatsanwaltschaft dem »Beschneider« vor, »eine andere Person mittels eines gefährlichen Werkzeugs körperlich misshandelt und an der Gesundheit geschädigt zu haben«. Oder deutlicher: Das Gericht bezeichnete die rituelle Beschneidung als Körperverletzung.

Ein Sturm der Entrüstung brach los – im Epizentrum die brisante Frage: Was wird in Deutschland höher bewertet – das Recht männlicher Kinder, die religiöse Eltern haben, auf körperliche Unversehrtheit oder das Recht religiöser Eltern, ihre Rituale auf ihre Söhne zu übertragen, auch wenn dies einen schmerzhaften Eingriff zur Folge hat. Kindeswohl contra Religionsfreiheit? Diese sahen die religiösen Eltern mit dem Kölner Urteilspruch in Gefahr und sie bekamen lautstarke Unterstützung von Seiten ihrer offiziellen Religions-Funktionäre – unisono, ob vom Zentralrat der Juden, moslemischen Gemeinden, Deutschen Bischöfen. Sie alle werteten das Urteil als eklatanten Angriff auf die Ausübung ihres Glaubens.

Jüdische Glaubensfunktionäre behaupteten, die ganze Welt akzeptiere die Beschneidungspraxis – nur die Deutschen nicht. Wer sich für das Kindeswohl einsetzte, galt schnell als Antisemit. Auch wenn es hier nicht um ein generelles Verbot der Beschneidung, sondern um ein Verbot der Zwangsbeschneidung von Minderjährigen ging – in den Gottes-Communities rumorte es kräftig.

Der Deutsche Bundestag verabschiedete im Rekordtempo auf Initiative der Bundesregierung (und mit Mehrheit) ein »Gesetz über den Umgang der Personensorge bei einer Beschneidung des männlichen Kindes« und legalisierte damit rituelle Beschneidungen. Und so sind hierzulande nur Mädchen vor rituellen Genitalbeschneidungen geschützt, Jungen indes darf aus religiösen Gründen weiterhin straffrei die Vorhaut amputiert werden, auch wenn die Ausführenden keine Ärzte sind, sondern von Religionsgemeinschaften dazu intern ausgebildet wurden. Zwar heißt es in der Kinderrechtskonvention der Vereinten Nationen, die 1992 auch in Deutschland in Kraft trat, im Artikel 19: »Die Staaten treffen alle Maßnahmen, um Kinder vor jeglicher Form von Gewaltanwendung, Schadenszufügung oder Misshandlung zu schützen« – die schmerzhaften Beschneidungen scheinen hier ausgenommen zu sein.

Tatsache ist: Was Religion ist und wie sie praktiziert wird, liegt nach Auffassung des Bundestags (und auch des Bundesverfassungsgerichts) stellenweise noch immer in der Definitionshoheit der Religionsgemeinschaften selbst. Man kann dieses expansive Verständnis von Religionsfreiheit – das einerseits die Standards unseres liberalen Verfassungssystems in Anspruch nimmt, andererseits auf Sonderrechte pocht – als Ausdruck einer konstanten Missachtung des staatlichen Neutralitätsbegriffs sehen.

Die Frage drängt sich auf: Wie säkular soll, ja muss die Justiz selbst sein? Wie viele religiöse Symbole verträgt die dritte Gewalt in einer multireligiösen Gesellschaft? Das Bundesverfassungsgericht hat im Zusammenhang mit dem Urteil zum Kopftuchverbot für Lehrerinnen 2003 angemahnt, die »Pflicht des Staates zu weltanschaulich-religiöser Neutralität« strenger zu handhaben, um Konflikte zwischen den Religionen zu vermeiden.

Für Richterinnen oder Staatsanwältinnen ist die Rechtslage hier eindeutig: Landesgesetze, wie das Berliner »Weltanschauungssymbolgesetz«, schreiben vor, keine »sichtbaren religiösen oder weltanschaulichen Symbole zu tragen«. In Hessen ist Musliminnen während der Referendarzeit das Tragen von Kopftüchern innerhalb von Dienstgebäuden untersagt, bei Schöffinnen mit Kopftuch zeigt sich die Justiz mal tolerant, mal ablehnend. Die Justiz reagiert eher hilf- und orientierungslos. Zwei Wege sind möglich: »Einübung in die Toleranz«, etwa das Aufeinandertreffen eines jüdischen Angeklagten mit Kipa, der vor einer muslimischen Schöffin mit Kopftuch im Gerichtssaal steht – unter einem christlichen Kreuz. Oder aber, wie im laizistischen Frankreich, das Verbot jeglicher religiöser Symbolik im Gerichtssaal – selbstredend auch Verzicht auf das obligate Kruzifix an der Wand.

Oder: Wie säkular soll, ja muss der Alltag in unseren Schulen sein? Religionsunterricht gibt es flächendeckend in staatlichen Schulen, zunehmend auch für moslemische Schüler, unterrichtet von eignes dazu ausgebildeten moslemischen Religionspädagogen. In den Kultusministerien sieht man darin ein zeitgemäßes Spiegelbild unserer multi-religiösen Gesellschaft. Der Psychologe Ahmad Mansour, Mitbegründer der »Initiative Säkularer Islam«, lehnt das ab. Er fordert: Kein Religionsunterricht, sondern Religionskunde. Dort könnten Kinder und Jugendliche erfahren, was es mit den Religionen auf sich hat, woher sie kommen, wie sie entstanden sind, wie sie unsere Gesellschaft, unseren Alltag geprägt haben und noch immer prägen. In einem Rundfunk-interview kritisierte Mansour, es sei nicht mehr zeitgemäß, an einem bekenntnisorientierten Religionsunterricht festzuhalten, getrennt nach religiöser Zugehörigkeit. »Ich halte es für hochproblematisch, dass wir Kindern schon mit acht oder neun Jahren sagen; Ja, Du bist Christ, Protestant – dann gehe in die Klasse A. Die Moslems gehen in die Klasse B und die Juden in die Klasse C«, so der islamkritische Psychologe. Gerade in Zeiten von Vorurteilen müsse das Wissen übereinander gefördert werden, so Mansour. Er plädiert stattdessen für einen nicht-bekenntnisorientierten Unterricht für alle Konfessionen gemeinsam. Es würde Muslimen gut tun, mehr über das Christentum und das Judentum zu erfahren »und zwar nicht in den Hinterhofmoscheen in Neukölln, sondern in einer staatlichen Schule von einem Religionslehrer, der gut ausgebildet ist, der ein Demokrat ist, der Aufklärung verstanden hat«, so dessen Kritik.

Man möchte Herrn Mansour beipflichten – und ihm zurufen: Wie wäre es, vielleicht ganz auf den Religionsunterricht an staatlichen Schulen zu verzichten? Stattdessen eine Einführung in den evolutionären Humanismus, von Lehrerinnen und Lehrern, die sich der säkularen Aufklärung widmen? Aber es wird hierzulande vorerst beim bekenntnisorientierten Religionsunterricht bleiben, ordentlich separiert nach Konfessionen. Und nicht nur in Bayern unter einem Kruzifix an der Wand des Klassenzimmers.

Ob im Gerichtssaal oder im Klassenzimmer: es geht nicht um die »Austreibung Gottes« aus der Welt. Glaubens- und Religionsfreiheit ist Menschenrecht. Im Gegenteil: Demokratische Staaten garantieren religiösen Gruppen, Gemeinschaften oder Kirchen, dass sie frei agieren können, soweit sie nicht die Freiheiten anderer gefährden oder die Gesetze verletzen. Aber wir hätten keinerlei Einwände, wenn das Neutralitätsgebot endlich Anwendung fände und der Einfluss der Religionen – hierzulande vor allem der beiden großen christlichen Konfessionen – entscheidend eingeschränkt und zurückgedrängt würde, inklusive aller Privilegien und Ressourcen, Subventionen und Ordnungsfelder. Und der Gottesbezug in der Präambel unseres Grundgesetzes? Auch der darf gerne gestrichen werden. Unser Grundgesetz sollte gottlos sein.

Dass es an der Zeit ist, die »Kirchenrepublik Deutschland« hinter uns zu lassen und dafür zu sorgen, dass aus Verfassungstext endlich Verfassungswirklichkeit wird, wurde einmal mehr sichtbar, als im Februar 2019 im Deutschen Nationaltheater in Weimar der offizielle Festakt zu »70 Jahre Grundgesetz« und »100 Jahre Weimarer Verfassung« stattfand. Die Jubiläums-Dramaturgie sah wie selbstverständlich einen ökumenischen Gottesdienst mit der evangelischen Landesbischöfin und dem katholischen Erfurter Bischof vor. Dabei wurde gerade das, was die elementaren Bürgerechte betrifft – von Meinungsfreiheit bis Frauenrechte – kurz das, was heute Staat und Staatsbürger ausmacht, gegen den Klerus erkämpft.

An diesem grundsätzlichen Mangel an demokratischen Standards wird, so ist zu befürchten, sich in naher Gegenwart wenig ändern. Dafür sorgt die politische Klasse, allen voran die C-Parteien. So inszenierte sich die neue Parteivorsitzende der CDU, Annegret Kramp-Karrenbauer, der große Chancen eingeräumt werden, Angela Merkel als Bundeskanzlerin zu folgen, wiederholt als Retterin des christlichen Abendlandes. Sie ist nicht nur Mitglied des Zentralkomitees der deutschen Katholiken (ZdK), sondern demonstriert auch immer wieder ihre Frömmigkeit, wenn es um politische Inhalte geht. Eine Entscheidung des Saarbrücker Amtsgerichts, Kreuze aus den Sitzungssälen entfernen zu lassen, mochte sie nicht nachvollziehen: »Das Kreuz verdeutlicht, dass der Mensch nicht das Maß aller Dinge ist«, so Kramp-Karrenbauer im Saarländischen Rundfunk. Nirgendwo sieht die CDU-Frontfrau Änderungsbedarf, was den Status quo der genannten Privilegien, Subventionen und Zuwendungen betrifft, auch das staatliche Neutralitätsgebot sieht sie nicht verletzt. Alles soll so bleiben, wie es ist. Beispielsweise auch der »Blasphemie-Paragraph« (§ 166 StGB). Dort heißt es:

»… Wer öffentlich oder durch Verbreiten von Schriften (§ 11 Abs. 3) den Inhalt des religiösen oder weltanschaulichen Bekenntnisses anderer in einer Weise beschimpft, die geeignet ist, den öffentlichen Frieden zu stören, wird mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder mit Geldstrafe bestraft. …«

Kurz nach dem Attentat auf die Redaktion der Satirezeitschrift Charlie Hebdo sprach sich Kramp-Karrenbauer gegen eine Streichung aus, denn dieser Paragraph verdeutliche, »dass Religion und die damit verbundenen Gefühle der Menschen ein schützenswertes Rechtsgut« seien. Die CDU-Politikerin ist sich in der Beschwörung des »Respekt[s] vor religiösen Anschauungen« mit eifernden Glaubens-Fundamentalisten aller Religionen einig: Ob Adepten des Katholizismus, Vertreter eines Islams oder orthodoxen Judentums – sie alle reklamieren ständig und allerorten »Respekt!«. Einige fordern sogar einen neuen, schärferen Blasphemie-Paragraphen.

Die Blasphemie ist eine Konstruktion und hat eine lange und wechselhafte Geschichte. In Frankreich wurde sie als »imaginäres Verbrechen«, als strafwürdiges Delikt 1791 abgeschafft. Lange war sie im modernen, aufgeklärten Europa verschwunden. Spätestens seit den Mord-Drohungen gegen die Herausgeber und Redakteure einer dänischen Tageszeitung, die Mohammed-Karikaturen veröffentlich hatte (was in der moslemischen Welt zu einem Sturm der Entrüstung führte), aber kehrte die Diskussion um ein Blasphemie-Verbot zurück. Wendepunkt war dann der terroristische Angriff am 7. Januar 2015 auf die Pariser Redaktion des Satireblatts Charlie Hebdo, bei dem zwölf Redaktionsmitglieder von moslemischen Glaubensfanatikern ermordet wurden. In den Tagen danach distanzierten sich zwar zahlreiche muslimische Organisationen von dem Anschlag, doch einige konnten der Versuchung nicht widerstehen, dem Ganzen ein »Aber« hinzuzufügen. Man verurteilte die Terroristen wegen ihrer Gewalttat, doch im gleichen Atemzug wurde – auch von linken Intellektuellen – der Zeitschrift vorgeworfen, sie habe die »Gefühle von Millionen Muslimen überall auf der Welt verletzt«.

Das Prinzip der Rede- und Meinungsfreiheit, aber auch das der Pressefreiheit im Zusammenhang mit den islam-kritischen Zeichnungen war schon vor dem Attentat »im Namen des Respekts vor Religion« immer wieder kritisch thematisiert worden. Gegen solcherlei Vorwürfe und Attacken wehrte sich das Blatt.

Der Zeichner und Chefredakteur Charb schrieb an die Kritiker einen längeren Text mit der Überschrift »Brief an die Heuchler« (der später in Buchform erschien). Er konnte nicht ahnen, dass er zwei Tage, nachdem er das Manuskript abgeschlossen hatte, nicht mehr leben sollte – ermordet von fanatischen Killern, die behaupteten, im Namen Allahs zu handeln.

»Ein Fanatiker ist ein Mensch, der nur bis eins zählen kann«, beschreibt Amos Oz, weltweit gelesener und vielfach ausgezeichneter israelischer Schriftsteller (unter anderem mit dem Friedenspreis des Deutschen Buchhandels 1992) das autistische Weltbild dieser mörderischen Irrläufer:

»Die fanatischen Kämpfer sind uns von Gott gesandt, um die Welt zu reinigen, um uns von all dem Schmutz zu befreien, der an uns haftet. … In den Augen moslemischer wie auch anderer Glaubensfanatiker ist die Befolgung sämtlicher religiöser Gesetze in ihrer schärfsten Form die einzige Medizin gegen alle Krankheiten der Menschheit.«

Ihr mörderischer Irrsinn ist zeitlos. Noch heute arbeitet die Charlie Hebdo-Redaktion an einem geheimen Ort in Paris, der mit Panzertüren gesichert ist, rund um die Uhr bewacht von einem privaten Sicherheitsdienst. Immer wieder gibt es Drohungen, vor allem im Internet.

Warum aber sollte man Religionen einen besonderen Respekt entgegenbringen? Es ist eine Errungenschaft der Aufklärung, dass es in einer freiheitlichen Demokratie keine »Meinungsdelikte« – definiert von Kardinälen, Imamen oder Rabbinern – gibt. In einer säkularisierten Gesellschaft schützt der Staat immer den Gläubigen, nie aber eine einzige Religion. Und deswegen müssen Religionen, welche es auch immer sein mögen, Spott aushalten, ganz gleich, ob es ihren Gott oder ihre Propheten trifft.

Ich halte es hier gerne mit Rowan Atkinson, besser bekannt als der zappelnde Kino-Komiker »Mr. Bean«, welcher der Meinung ist, man dürfe grundsätzlich über alles Witze machen, selbstverständlich auch über Glaube und Religion. Der britische Ex-Außenminister Boris Johnson, ein Politiker, der Witz und Spott zum Stilmittel in der Politik erhob, hatte Burka-Trägerinnen als »Briefkästen« bezeichnet – und damit in seinem Land heftigen Protest ausgelöst. Mr. Bean, alias Rowan Atkinson, sprang ihm bei und erinnerte an den Grundsatz der Rede- und Meinungsfreiheit:

»Wir dürfen auch Witze über Burka-Trägerinnen machen, denn das Prinzip der Redefreiheit ist ein zwingender Bestandteil einer funktionierenden und selbstbewussten Demokratie. … Ich bin auch manchmal beleidigt, wenn jemand was sagt, was mir nicht gefällt. Schlimm ist es nur, wenn Menschen für das Recht kämpfen, nicht beleidigt zu werden. Dann geht es der Meinungsfreiheit an den Kragen.« Großartig, dieser Mr. Bean!

Keine Frage: Das Bekenntnis gläubiger Menschen verdient Achtung, doch es darf nicht mit den Dogmen und Institutionen verwechselt werden, deren rückhaltlose Kritik immer möglich sein muss – jedenfalls überall dort, wo Meinungsfreiheit ein Verfassungsrecht ist. Und so warnt Jacques de Saint Victor, Professor für Rechtsgeschichte an der Universität Vincennes-Saint-Denis, vor einer wiederkehrenden Kriminalisierung der Blasphemie aufgrund dieser Verwechslung von persönlichem Glauben und religiöser Doktrin (»einer geistigen Konfusion«). Außer dem Schutz der Gläubigen dürfe der Staat nichts unternehmen. Die Beleidigung und Kritik jedweder religiösen Doktrin dürfe als der Preis betrachtet werden, der für den Vorzug der Freiheit zu zahlen ist.

Das müssen auch Allahs Religions-Funktionäre und allerlei beseelte Imame akzeptieren, die unter uns – und manchmal auch mit uns – leben. Mohammed, ihr Prophet, steht hierzulande nicht unter Denkmalschutz. Im siebten Jahrhundert geboren, hat er die Zeiten überdauert und ist vielen Muslimen bis heute ein moralisches, religiöses und mitunter auch politisches Vorbild. Ein Abgesandter Gottes.

Seine Worte geben Millionen Muslimen Orientierung, spenden ihnen Trost und Heil. Die überlieferten Beteuerungen und Verheißungen des Propheten haben Einfluss auf die politische Situation in mehreren islamischen Staaten und auf deren Gesetzgebung, sie bestimmen noch immer die Beziehung zwischen Männern und Frauen, auch zwischen Muslimen und Nicht-Muslimen – also zwischen »Gläubigen« und »Un-Gläubigen«. Viele Moslems sind noch immer der Meinung, die Beleidigung des Propheten müsse bestraft werden. Allenfalls hinsichtlich der Härte der Strafe sind sie uneins. Satire missverstehen sie als Angriff auf ihre religiöse Identität.

Ob moslemische Gottes-Fanatiker, christliche Fundamentalisten, ob Hardliner des Vatikans oder alt-testamentarische Rabbiner – sie alle müssen zur Kenntnis nehmen: Wir leben in einem säkularen Verfassungs-Staat, alle Bürger dürfen ihren Gott, auch ihre Götter haben, der Staat aber ist in einer modernen Grundrechtsdemokratie gottlos. Jeder hat das Recht, sich über »Monty Python«-Filme zu erregen, Mohammed-Karikaturisten zu verurteilen oder den von mir so geschätzten Mr. Bean in die Hölle zu wünschen. Jeder hat das Recht, sich beleidigt zu fühlen. Doch das sollte er aushalten. Den Rest klärt in einem Rechtstaat die Justiz.

Um Religion geht es in diesem Buch. Zu mächtig, zu selbstherrlich und zu arrogant tritt sie allerorten auf. Zwar gehen ihrem Bodenpersonal die Rechtfertigungen aus, zwar verliert die Institution Kirche massiv an Glaubwürdigkeit und Deutungsmacht – und doch ist es ungebrochen vorhanden: das Verlangen nach einem Gott.

Woher aber kommt die Sehnsucht nach einem Gott, einer Religion, die stets etwas huldigt, das oberhalb und jenseits des irdischen Daseins steht? Woher der Glaube an eine heilige Jungfrau Maria, der »Unbefleckten«, woher der blinde Gehorsam gegenüber einem Gott, der den Menschen so sehr misstraut, dass er ihnen die Vernunft verbietet? Warum wird überall auf der Welt so andauernd und inbrünstig zu einem Gott gebetet, in dessen Namen gemordet und gemetzelt wird, einem Gott, der die Sünde erfindet, damit er die Vergebung versprechen kann, einem Gott, der niemanden neben sich duldet und schon gar nicht den Menschen? Ist es diese »Phantasma-Orgie aus Angst, Schuld und Himmelsglocken« (Andreas Altmann), seit Jahrtausenden verkündet in Kirchen, Moscheen und Synagogen? Ist es dieses immerwährende Glücksversprechen, flankiert von einer monströsen Angstmaschine, die den Menschen zum Gläubigen machen? Wohl beides.

Dass »es Religionen vor allem darum geht, die weltliche Ordnung zu zementieren«, darauf verweist Yuval Noah Harari. Religion sei eine angstbesetzte Übereinkunft. Wohlverhalten, Demut und Gottesfürchtigkeit: Nur wer Gott gehorcht (und seinen irdischen Verkündern und Verwaltern), der findet Aufnahme im Paradies, im Himmel oder in einem bislang unbekannten göttlichen Disneyland. »Gott existiert« – das ist Drohung, Rechtfertigung und Versprechen zugleich. Er befiehlt den Gläubigen, wie sie zu leben und sich zu verhalten haben. Wer sich ihm nicht unterwirft, wer sich weigert oder zweifelt, dem droht Ungemach und Verdammnis – die Hölle.

Monotheistische Religionen behaupten, nur der Mensch verfüge über eine unsterbliche Seele. Wer gibt da dem Himmel nicht den Vorrang? Sanftes »Seelenheil forever«, – eine grandiose Versprechung. Das alles ist kein Märchen aus der Kita, sondern ein äußerst wirkmächtiger Mythos, der auch Anfang des 21. Jahrhunderts noch das Leben von Milliarden von Menschen bestimmt. Die Überzeugung, Menschen hätten eine unsterbliche Seele, bildet noch immer den Überbau unseres rechtlichen, politischen und gesellschaftlichen Lebens. »Sie reden über die Glückseligkeit im Jenseits, wollen aber die Macht im Diesseits«, sagt Christopher Hitchens.

Die wichtigsten Stützen für den Machterhalt sind nicht evolutionäre Fakten, auch nicht moralische Prinzipien (die am wenigsten), sondern Tatsachenbehauptungen, wie: »Gott existiert« oder »Der Papst ist unfehlbar« oder auch »Allah ist der Allmächtige«. Nicht wissen soll der Mensch (der Sünder), sondern glauben. Dieses Modell – man darf es Geschäftsmodell nennen – hat sich seit Jahrtausenden in allen Religionen bewährt. Die Macht der Kirche nährt sich seit Jahrtausenden vom schlechten Gewissen der Gläubigen.

Augenfällig ist: Für alles Schöne und Gute im Basar der Glückseligkeit reklamiert der Liebe Gott gerne die Urheber- und Patenschaft. Für Unglück, Katastrophen und Scheußlichkeiten jeder Art ist der sündhafte Mensch verantwortlich. Erdbeben, Überschwemmungen und Tsunamis gehen auf das Konto teuflischer Kräfte. Ein moderates Erklärungsmodell. Gott ist immer der Gewinner.

Immerhin: Der Einfluss schwindet. Wo die Religion einst durch völlige Kontrolle der Weltsicht in der Lage war, das Aufkommen der Rivalen, der Abtrünnigen und Zweifler zu verhindern oder zu bekämpfen – hat sie ihr Angst-Instrumentarium verloren. Ob Menschen, gerade geboren, durch das Entfernen der Vorhaut traktiert werden, andere sich auf den beschwerlichen Weg nach Lourdes machen, wieder andere in die richtige Himmelsrichtung beten oder eine Hostie zu sich nehmen, um »errettet« zu werden – es darf und sollte nur für den Einzelnen bedeutungsvoll sein. Für den Lauf der Zeit ist es völlig irrelevant. Der Glaube kann Gläubige im Sinne des Wortes glückselig machen. Er kann für Menschen etwas Wunderbares sein: als Privatsache.

Welche Rolle also soll die Religion heute spielen? So wenig wie möglich – wenn es nach den Autorinnen und Autoren dieses Bandes geht. So vielfältig die Themen, so unterschiedlich die Tonalität der Texte – es gibt eine große Übereinkunft: Wir brauchen weniger Religion in dieser Welt. Nach wie vor lehrt sie vor allem das Fürchten, steht für Gewalt, Intoleranz und Unterdrückung. Ungläubige und Gottlose werden in vielen Ländern noch immer verfolgt, bestraft, getötet. Der Irrsinn himmlischer Bodentruppen ist grenzenlos. Noch immer ist ihr Einfluss auf Politik und Gesellschaft stark und unheilvoll. Ob als autoritäre Staatsdoktrin oder gesellschaftliches Sinnstiftungsangebot – es braucht keine Religion für ein friedvolles Zusammenleben und einen furchtlosen Ausblick in die Zukunft. Die Welt dreht sich weiter – ohne Gott. Die Autorinnen und Autoren sind sich einig: Der Bürger kommt vor dem Gläubigen!

»Die Religion vergiftet alles«, konstatiert Christopher Hitchens. Die Texte auf den folgenden Seiten verstehen sich als Entgiftungs-Lektüre.

MICHAEL SCHMIDT-SALOMON

Vor dem Gesetz sind nicht alle gleich

70 Jahre Grundgesetz – 100 Jahre Verfassungsbruch Warum wir die Kirchenrepublik überwinden müssen

Eineinhalb Jahrtausende waren Thron und Altar miteinander vermählt, seit 100 Jahren leben Staat und Kirche in Deutschland voneinander getrennt. Zumindest ist dies die offizielle Version. In Wahrheit jedoch wurden die Scheidungspapiere der beiden »Elitepartner« niemals unterzeichnet. Denn die verantwortlichen Politikerinnen und Politiker haben es seit 1919 nicht gewagt, einen Schlussstrich unter die gescheiterte Beziehung von Staat und Religion zu ziehen und reinen Tisch zu machen. Dies ist der Grund dafür, dass der deutsche Staat noch immer Milliardenbeträge an die Kirchen zahlt, dass der Schwangerschaftsabbruch noch immer als »Unrecht« gilt und dass schwerstkranken Patienten die Chance verwehrt wird, selbstbestimmt zu sterben.

Fakt ist: Die Freiheiten der Bürgerinnen und Bürger werden noch immer in beträchtlichem Maß durch religiöse Normen beschnitten – und zwar von der Wiege bis zur Bahre, ja sogar darüber hinaus, nämlich vom Embryonenschutz bis zum Friedhofszwang. Dies wiederum geht zwingend mit einem Verstoß gegen das Verfassungsgebot der weltanschaulichen Neutralität des Staates einher – wodurch die beiden Jubiläen, die der demokratische Verfassungsstaat 2019 feiern kann, einen bitteren Beigeschmack erhalten. Denn »70 Jahre Grundgesetz« und »100 Jahre Weimarer Verfassung« bedeuten nicht zuletzt auch 70 bzw. 100 Jahre Verfassungsbruch.

Die Spitze des Eisbergs

Am einfachsten lässt sich dies wohl an den Artikeln 136 bis 141 der Weimarer Verfassung (WRV) aufzeigen, die 1949 in das Grundgesetz (GG) der Bundesrepublik Deutschland aufgenommen wurden (Art. 140 GG). Die Väter und Mütter der Weimarer Verfassung, die 1919 den Grundstein für die Demokratie in Deutschland legten, hatten wirklich versucht, die überkommene, für nicht wenige Menschen tödliche Verbindung von Politik und Religion zu beenden. Daher verfügten sie nicht nur, dass es keine Staatskirche gibt und dass Religions- und religionsfreie Weltanschauungsgemeinschaften gleichberechtigt sind (Art. 137 WRV), sie forderten auch, die finanziellen Verflechtungen von Staat und Kirche aufzulösen. Dazu heißt es in Artikel 138 der Weimarer Reichsverfassung (bzw. in Art. 140 des Grundgesetzes): »Die auf Gesetz, Vertrag oder besonderen Rechtstiteln beruhenden Staatsleistungen an die Religionsgesellschaften werden durch die Landesgesetzgebung abgelöst. Die Grundsätze hierfür stellt das Reich auf.«

Es ist bemerkenswert, dass dieser »Ablösebefehl« der Verfassung bis zum heutigen Tag nicht erfüllt wurde, was zur Folge hat, dass die Gehälter katholischer und evangelischer Bischöfe nicht zuletzt auch mit den Steuergeldern konfessionsfreier Menschen bestritten werden. Allein 2018 lagen diese aus dem allgemeinen Steuertopf aufgebrachten Staatsleistungen an die Kirchen bei über 538 Millionen Euro. Warum, so fragt man sich, werden diese Staatsleistungen noch immer gezahlt? Einige Politikerinnen und Politiker behaupten, der Staat könne sich eine Ablösung gar nicht leisten, da er auf einen Schlag eine sehr hohe Summe aufbringen müsste. Doch dieses Argument ist völlig abwegig. Denn durch die Milliardenbeträge, die der Staat den Kirchen – gegen den Auftrag der Verfassung – seit 100 Jahren gezahlt hat, ist jede Ablösesumme, die man 1919 theoretisch hätte veranschlagen können, längst schon abgegolten.

Nun sind diese jährlichen Zahlungen von mehr als 500 Millionen nur Peanuts, wenn man sie mit den jährlichen Kirchensteuereinnahmen in Höhe von zehn Milliarden Euro vergleicht. Allerdings kommen für diese Einnahmen – im Unterschied zu den »Staatsleistungen« – nicht alle Steuerzahler auf, sondern bloß diejenigen, die Kirchenmitglieder sind. Wo also liegt das Problem? Ganz einfach: In Artikel 136 der Weimarer Verfassung (und damit auch in Art. 140 des Grundgesetzes) heißt es: »Niemand ist verpflichtet, seine religiöse Überzeugung zu offenbaren. Die Behörden haben nur soweit das Recht, nach der Zugehörigkeit zu einer Religionsgesellschaft zu fragen, als davon Rechte und Pflichten abhängen.« Die Weimarer Republik hat sich an diese Verfassungsvorgabe gehalten – nicht jedoch die Bundesrepublik Deutschland, die stattdessen auf eine Nazi-Regelung aus dem Jahr 1934 zurückgegriffen hat, nämlich auf den Eintrag der Konfessionszugehörigkeit auf der Lohnsteuerkarte, durch den nicht nur staatliche Behörden, sondern auch sämtliche Arbeitgeber von der etwaigen Religionszugehörigkeit oder Konfessionsfreiheit ihrer Arbeitnehmer in Kenntnis gesetzt werden.

Dieser seit 70 Jahren bestehende Verfassungsbruch hat gravierende Folgen – nicht zuletzt deshalb, weil die kirchlichen Sozialkonzerne Caritas und Diakonie die größten nichtstaatlichen Arbeitgeber Europas sind. Dank der massiven Unterstützung des Staates dominieren sie seit Jahrzehnten die sogenannte »freie Wohlfahrtspflege« von der Medizin über die Kinder- und Jugendhilfe bis hin zur Altenpflege. Menschen, die in diesen Segmenten tätig sind, unter anderem ErzieherInnen, AltenpflegerInnen, ÄrztInnen, PsychologInnen und PädagogInnen, können es sich in vielen Fällen gar nicht leisten, aus der Kirche auszutreten, da sie befürchten müssen, von einem kirchlichen Arbeitgeber entweder entlassen oder gar nicht erst angestellt zu werden. Für sie steht das Recht auf Religionsfreiheit nur auf dem Papier. Dieses Problem ließe sich jedoch leicht entschärfen, wenn der Staat sich endlich an seine Verfassung halten und den automatischen Einzug der Kirchensteuer über den Arbeitgeber abschaffen würde. Dass er stattdessen zugunsten der Kirchen auf eine verfassungswidrige Nazi-Regelung zurückgreift, ist ein Skandal, der viel zu wenig Beachtung findet.

Der milliardenschwere Wohlfahrtsmarkt, auf dem Caritas und Diakonie Umsätze erzielen, vor denen Dax-Unternehmen neidvoll erblassen, zeigt in besonderem Maße, wie intim das Verhältnis der angeblich getrennten Partner Staat und Kirche noch immer ist: Nicht ohne Grund hat die Monopolkommission der Bundesregierung bereits vor 20 Jahren die »kartellartigen Absprachen« zwischen dem Staat und den Wohlfahrtsverbänden angeprangert, da sie den Wettbewerb blockieren und den Status quo schützen, in dem die kirchlichen Anbieter den Markt beherrschen. Geändert hat sich durch die scharfe Rüge der Monopolkommission kaum etwas: In vielen ländlichen Regionen gibt es noch immer keine Alternativen zu Caritas und Diakonie, was dazu führt, das religionsfreie Menschen ausgerechnet in besonders schwierigen Phasen ihres Lebens auf die Unterstützung von Institutionen angewiesen sind, denen sie möglicherweise zutiefst misstrauen. Man denke nur an die vielen Tausende von Heimkindern, die in konfessionellen Einrichtungen als billige Arbeitskräfte ausgebeutet, körperlich und psychisch misshandelt oder sexuell missbraucht wurden – und nun befürchten müssen, ihre letzten Jahre ausgerechnet in einem konfessionellen Altersheim zu verbringen.

Die wissenschaftliche Aufarbeitung der Geschichte der Heimkinder hat gezeigt, dass in kirchlichen Heimen die wohl schwersten Menschenrechtsverletzungen auf deutschem Boden seit dem Zweiten Weltkrieg stattgefunden haben. Doch der Staat griff nicht ein. Statt die Opfer zu schützen, schützte er die Täter – damals (durch die Verletzung der Aufsichtspflicht) wie heute (durch das Aushandeln von »Entschädigungen«, die im internationalen Vergleich empörend gering sind!). Hier zeigen sich die Folgen der Missachtung eines weiteren 100-jährigen Verfassungsgebots, nämlich des Artikels 137 Absatz 3 der Weimarer Verfassung (über Art. 140 ebenfalls Bestandteil des bundesdeutschen Grundgesetzes), der da lautet: »Jede Religionsgesellschaft ordnet und verwaltet ihre Angelegenheiten selbständig innerhalb der Schranken des für alle geltenden Gesetzes.« Wichtig ist in diesem Fall der oft vernachlässigte Zusatz »innerhalb des für alle geltenden Gesetzes«, denn er besagt, dass die Religionen keineswegs über dem Gesetz stehen und dass der Staat es unter keinen Umständen zulassen darf, dass Religionsgemeinschaften Verstöße gegen allgemeine Gesetze als »interne Angelegenheiten« regeln. Letzteres geschieht jedoch immer wieder, wie der jüngste Missbrauchsskandal der katholischen Kirche gezeigt hat. Klar ist: Hätte die Mafia einen anonymisierten Forschungsbericht über den massenhaften sexuellen Missbrauch innerhalb der eigenen Organisation vorgelegt, wäre schon am nächsten Morgen ein ganzes Bataillon von Polizisten ausgerückt, um die Archive zu durchsuchen. Als jedoch die Katholische Kirche im September 2018 einen Bericht veröffentlichte, der nachwies, dass sich in ihren Reihen 1670 Kleriker befinden, die in mehr als 6000 Fällen sexuellen Missbrauch begangen haben, geschah rein gar nichts! Es bedurfte schon bundesweiter Strafanzeigen durch das Institut für Weltanschauungsrecht (ifw) sowie sechs renommierte Juraprofessoren, bis zumindest einige Staatsanwaltschaften in Erwägung zogen, in dieser Angelegenheit vielleicht doch einmal tätig zu werden. Mit rechtsstaatlichem Handeln hat dies wenig zu tun.

So skandalös all dies ist, es handelt sich bloß um die Spitze des Eisbergs. Denn die weltanschauliche Schieflage des deutschen Staates zeigt sich nicht nur in den offenkundigen Privilegien der Kirchen, die als »Körperschaften des öffentlichen Rechts« als »Staaten im Staate« agieren können, mit öffentlichen Geldern Kinder indoktrinieren dürfen (»Missionsbefehl«) und in nahezu allen öffentlichen Gremien (vom Ethikrat bis zum Rundfunkrat) stark überrepräsentiert sind. Die Greifarme der »Kirchenrepublik Deutschland« reichen tiefer: Sie haben Einfluss auf fast alle Aspekte des menschlichen Lebens.

Vor dem Gesetz sind alle gleich? Nicht in Deutschland!

Um den gesamten Umfang der religiös bedingten Beschneidungen der bürgerlichen Freiheiten zu erfassen, müssen wir uns die Grundprinzipien des liberalen Rechtsstaates vor Augen führen. Im Kern sind sie bereits in Artikel 1 der UN-Menschenrechtserklärung von 1948 enthalten, auf die sich das deutsche Grundgesetz von 1949 stützt: »Alle Menschen sind frei und gleich an Würde und Rechten geboren.« Wir alle kennen den Wortlaut dieses ersten Menschenrechtsartikels, vermutlich aber ist nur wenigen bewusst, dass er gleich drei fundamentale Rechtsprinzipien enthält, die für den modernen Rechtsstaat verbindlich sind:

– das Prinzip der Liberalität, das mit dem Wort »frei« angesprochen wird. Es besagt, dass mündige Bürgerinnen und Bürger tun und lassen dürfen, was immer sie wollen, solange sie nicht gegen geschützte Interessen Dritter verstoßen. (Im deutschen Grundgesetz spiegelt sich dies in Artikel 2 wider, der die »freie Entfaltung der Persönlichkeit« zum Inhalt hat)

– das Prinzip der Egalität, das mit dem Wort »gleich« angedeutet wird. Es verbietet jegliche Diskriminierung von Menschen aufgrund ihrer Religion oder Weltanschauung, ihrer Herkunft, ihres Geschlechts oder ihrer sexuellen Orientierung. (Im Grundgesetz wird dies in Artikel 3, der »Gleichheit vor dem Gesetz«, abgehandelt.)

– das Prinzip der Individualität, welches mit dem Begriff der »Würde« einhergeht. Denn die unantastbare Menschenwürde, deren Achtung und Schutz nach Artikel 1 des Grundgesetzes »Verpflichtung aller staatlichen Gewalt« ist, kann nicht über die Köpfe der Betroffenen hinweg definiert werden. Vielmehr gilt: Die Würde des Einzelnen ist dadurch bestimmt, dass der Einzelne über seine Würde bestimmt – nicht der Staat oder eine wie auch immer geartete Religions- oder Weltanschauungsgemeinschaft.

Aufgrund dieser Verfassungsvorgaben darf der Gesetzgeber nur dann in die bürgerlichen Freiheiten eingreifen, wenn er hierfür eine rationale, evidenzbasierte und weltanschaulich neutrale Begründung vorlegen kann. Was heißt das? Nun, der Staat muss bei jeder Rechtsnorm nachweisen können, a) dass diese widerspruchsfrei aus der Verfassung abgeleitet wurde (würde der Gesetzgeber aus der »Gleichheit vor dem Gesetz« die Ungleichbehandlung von Mann und Frau folgern, wäre dies nicht »rational«), b) dass ein unterstellter Sachverhalt auch empirisch feststellbar ist (wenn keine Belege dafür vorliegen, dass eine angeblich justiziable Handlung reale Interessen verletzt, ist das Eingreifen des Staates nicht »evidenzbasiert«) und c) dass die Rechtsnorm nicht auf spezifischen weltanschaulichen Überzeugungen beruht (wenn ein Gesetz nur vor dem Hintergrund der »katholischen Sittenlehre« verständlich erscheint, ist es nicht »weltanschaulich neutral«). Gelingt dem Gesetzgeber ein solcher dreifacher Nachweis nicht, so darf er die Freiheitsrechte der Bürgerinnen und Bürger in keiner Weise einschränken.

So weit, so klar. Leider aber wird diese Verfassungsvorgabe häufig ignoriert. Tatsächlich wird der Rechtsgrundsatz »In dubio pro libertate« (»Im Zweifel für die Freiheit«) in Deutschland oft in ein »In dubio pro ecclesia« (»Im Zweifel für die Kirche«) umgemünzt. Aus diesem Grund sind vor dem deutschen Gesetz auch längst nicht alle Menschen gleich. Denn das Gesetz ist in vielen Fällen parteiisch zugunsten der Vertreterinnen und Vertreter überholter christlicher Sittlichkeitsvorstellungen – zwar nicht mehr so offenkundig wie noch in den 1950er Jahren, als das Bundesverfassungsgericht (!) die staatliche Verfolgung der Schwulen mit dem »christlichen Sittengesetz« begründete, aber dennoch in einem Ausmaß, das atemberaubend ist. Eine Folge dieser weltanschaulichen Schieflage des Staates ist, dass Richter mitunter gezwungen sind, Menschen zu verurteilen, deren Anliegen sie eigentlich teilen, und denen Recht zu geben, die nach rationalen Kriterien objektiv im Unrecht sind.

Freiheitsbeschränkungen von der Wiege bis zur Bahre

Letzteres wurde mir wieder einmal bewusst, als ich im Herbst 2018 den Prozess gegen die Ärztin Kristina Hänel im Landgericht Gießen verfolgte. Hänel war in erster Instanz verurteilt worden, weil sie auf ihrer Webseite darauf hingewiesen hatte, sie würde Schwangerschaftsabbrüche durchführen, was nach § 219a Strafgesetzbuch (Werbung für den Abbruch der Schwangerschaft) bis Anfang 2019 strikt verboten war. (Übrigens folgte die Bundesrepublik Deutschland auch hier der Nazigesetzgebung, nämlich dem »Gesetz zur Abänderung strafrechtlicher Vorschriften« vom 26. Mai 1933). Der Richter machte in der Berufungsverhandlung deutlich, dass er große Sympathien für das Anliegen Kristina Hänels hege und dass der Staat in gravierender Weise in die Grundrechte von ÄrztInnen und ungewollt schwangeren Frauen eingreife. Dies sei aber nach herrschender Rechtsmeinung (Urteile des Bundesverfassungsgerichts in den 1970er und 1990er Jahren) dadurch legitimiert, dass bereits der Embryo »Menschenwürde« besäße und Träger von Grundrechten sei, weshalb das Urteil der ersten Instanz bedauerlicherweise nicht aufgehoben werden könne.

Jetzt, da ich dies schreibe (Ende Januar 2019), hat die Bundesregierung einen »Kompromiss« ausgehandelt, um die Proteste zu entschärfen, welche die Verurteilung Kristina Hänels ausgelöst haben. Danach dürfen Ärztinnen und Ärzte zwar darüber informieren, dass sie Abtreibungen vornehmen, müssen sich dabei aber auf amtliche Informationen beschränken. Ansonsten bleibt alles beim Alten: Der Schwangerschaftsabbruch soll weiterhin als »rechtswidrig« gelten und die betroffenen Frauen müssen sich weiterhin einer Zwangsberatung unterziehen, in dessen Zentrum der »Schutz des ungeborenen Lebens« steht, um einer Strafverfolgung zu entgehen. Legitimiert werden diese Eingriffe in die Selbstbestimmungsrechte der Frauen weiterhin mit der »herrschenden Meinung«, dass schon der Embryo »Menschenwürde« besäße.

Womit aber lässt sich diese »herrschende Meinung« begründen? Der Verweis auf Artikel 1 des deutschen Grundgesetzes »Die Würde des Menschen ist unantastbar« gibt dies nicht her. Im Gegenteil! Denn die »unantastbare Würde« des Menschen wird hier mit den »unverletzlichen und unveräußerlichen Menschenrechten« in Verbindung gebracht. In Artikel 1 der Menschenrechtserklärung steht aber klar und deutlich, dass alle Menschen mit gleicher Würde und gleichen Rechten geboren sind – mit gutem Grund heißt es dort nicht, dass sie mit gleicher Würde und gleichen Rechten gezeugt wurden.

Sucht man nach der eigentlichen Quelle für die merkwürdige deutsche Gesetzgebung zum Schwangerschaftsabbruch und Embryonenschutz, so landet man nicht bei der UN-Menschenrechtserklärung, sondern bei einem der größten Verächter der Menschenrechtsidee: Papst Pius IX. Dieser als besonders rückständig bekannte Pontifex hatte 1869 das Konzept der »Simultanbeseelung« (Beseelung im Moment der Befruchtung der Eizelle) zur unhinterfragbaren »Glaubens-Wahrheit« gemacht. Zuvor waren Katholiken oft von dem alternativen Konzept der »Sukzessivbeseelung« ausgegangen, welches besagt, dass sich die »Seele« in den ersten drei Schwangerschaftsmonaten erst entwickelt, was Abbrüche bis zu diesem Zeitpunkt erlaubte.

Theologisch begründet war die Entscheidung des Papstes durch ein besonders obskures Dogma, das er bereits 15 Jahre zuvor erlassen hatte, nämlich das »Dogma der unbefleckten Empfängnis Mariens«, wonach nicht nur der »Heiland«, sondern schon dessen Mutter »erbsündenrein« empfangen wurde. Offenkundig litt Pius IX. nach der Verkündigung dieses Dogmas im Jahre 1854 sehr unter dem Gedanken, dass die »sündenfrei« empfangene Gottesmutter nach dem Konzept der »Sukzessivbeseelung« in den ersten drei Schwangerschaftsmonaten »vernunft- und seelenlose Materie« gewesen sein könnte. Also erhob er 1869 zu Ehren der »Heiligen Jungfrau« die »Simultanbeseelung« zur verbindlichen »Glaubens-Wahrheit« – eine Posse, über die man schmunzeln könnte, würde sie nicht noch heute die Gesetze des angeblich »säkularen Staates« bestimmen!

Indem der deutsche Gesetzgeber das katholische Glaubensdogma der »Simultanbeseelung« (wenn auch in leicht abgeschwächter Form) zur allgemein gültigen Norm erhebt (nämlich in den Paragraphen 218 bis 219b Strafgesetzbuch/StGB, die den Schwangerschaftsabbruch regeln), verstößt er in empfindlicher Weise gegen das Verfassungsgebot der weltanschaulichen Neutralität. Er privilegiert Menschen, die mit den Vorgaben der katholischen Amtskirche übereinstimmen (zweifellos nur eine kleine Teilmenge der Kirchenmitglieder) und diskriminiert all jene, die diese Überzeugungen nicht teilen – nicht nur die vielen Menschen, die religiöse Konzepte per se ablehnen, sondern beispielsweise auch gläubige Juden (für die das menschliche Leben erst mit der Geburt beginnt) oder Muslime (für die der Fötus erst ab dem 120. Tag der Schwangerschaft beseelt ist).

Wie müsste demgegenüber eine Gesetzgebung aussehen, die den auch grundlegenden Anforderungen einer rationalen, evidenzbasierten, weltanschaulich neutralen Begründung genügt? Nun, zunächst einmal müsste sie die empirischen Fakten zur Kenntnis nehmen, die für die ethische und juristische Bewertung des Schwangerschaftsabbruchs relevant sind. Interessant sind dabei unter anderem die folgenden beiden Punkte:

– Erwiesenermaßen geht etwa die Hälfte der befruchteten Eizellen spontan wieder ab, was nur in knapp 20 Prozent der Fälle überhaupt bemerkt wird. Angesichts dieser Häufigkeit des natürlichen Aborts ist es geradezu absurd, dass der Gesetzgeber die Folgen des künstlichen Aborts, also des Schwangerschaftsabbruchs, derart dramatisiert, dass er den betroffenen Frauen eine »zumutbare Opfergrenze« (§ 219 StGB) abverlangt. (Nebenbei bringt diese empirische Tatsache auch die Anhänger der »Simultanbeseelung« in Bedrängnis: Denn warum sollte »Gott« jedem Embryo eine »ewige Seele« einhauchen – und sie kurz darauf der Hälfte von ihnen wieder aushauchen? Ist der »Allmächtige« etwa verwirrt oder hat er gar »Spaß« am Abort?)