exit! Krise und Kritik der Warengesellschaft -  - E-Book

exit! Krise und Kritik der Warengesellschaft E-Book

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Beschreibung

exit! ist eine Zeitschrift für kritische Gesellschaftstheorie. Gesellschaftliche Entwicklungen analysiert sie auf der Grundlage der Kritik der Wert-Abspaltung als einer Weiterentwicklung der kritischen Theorie. Wesentliche Bezugspunkte sind dabei die Kritik der Politischen Ökonomie ebenso wie die Auseinandersetzung mit psychosozialen Phänomen vor dem Hintergrund der Psychoanalyse. Die voraussichtlichen Artikel im neuen Heft: Thomas Meyer Alternativen zum Kapitalismus – Im Check: Ökosozialismus Tomasz Konicz Von Crashpropheten, Preppern und Krisenprofiteuren – Rechte Ideologie in der Krise Kim Posster Männlichkeit ist die Krise?! Zu Geschichte und Verhältnis von latenter und manifester Krise des bürgerlichen Subjekts und seiner gesellschaftlichen (Geschlechts-)Natur Anselm Jappe Narziss oder Orpheus? Bemerkungen zu Freud, Fromm, Marcuse und Lasch Roswitha Scholz Exit! – nun sag, wie hältst du’s mit der Religion? Eine Klarstellung Herbert Böttcher Herr Kant, Seien Sie mir gnädig! Gott vor Gericht in der Corona-Krise Robert Kurz Die Intelligenz nach dem Klassenkampf – Von der Entbegrifflichung zur Entakademisierung der Theorie Andreas Urban und F. Alexander von Uhnrast Geldtheorie mit Januskopf – Anmerkungen zu Eske Bockelmanns ›Das Geld‹

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exit!

KRISE UND KRITIK DER WARENGESELLSCHAFT

Heft 19/2022

Herausgegeben vom Verein für kritische Gesellschaftswissenschaften e. V.

exit! Krise und Kritik der Warengesellschaft

Heft 19 (2022)

Herausgeber- und Redaktionsanschrift

Verein für kritische Gesellschaftswissenschaften e. V.

c/o Herbert Böttcher

Osterhausstr. 29

56072 Koblenz

Redaktion

Elisabeth Böttcher (Koblenz)

Thomas Meyer (Marburg)

Roswitha Scholz (Fürth)

Erscheinungsweise

Die exit! erscheint in der Regel einmal jährlich. Preis des Einzelheftes liegt zurzeit bei 22,– Euro [D]; Jahresabo Inland zurzeit pro Heft: 17,– Euro zzgl. Versandkosten (3,– Euro) [D]; Bezugspreis Ausland bitte erfragen. Berechnung jährlich bei Auslieferung des Heftes. Das Abonnement verlängert sich automatisch, wenn die Kündigung nicht bis zum 15.11. des jeweiligen Jahres erfolgt. Fragen zu Abonnement, Abobestellung oder -kündigung bitte an folgende Adresse:

Germinal GmbH,

 

Verlags- und Medienhandlung,

Tel.: 0641/41700

Siemensstraße 16,

Fax: 0641/943251

D-35463 Fernwald

E-Mail: [email protected]

Satz

Germano Wallmann, Gronau, www.geisterwort.de

Umschlaggestaltung

Stefan Hilden, HildenDesign, München, www.hildendesign.de

E-Book-Herstellung

Zeilenwert GmbH, Rudolstadt

ISBN Printausgabe 978-3-86674-820-0

ISBN E-Book-Pdf 978-3-86674-963-4

ISBN E-Book-Epub 978-3-86674-964-1

© zu Klampen Verlag 2022

Röse 21, 31832 Springe, www.zuklampen.de

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über ‹http://dnb.dnb.de›abrufbar.

Inhalt

Editoral, offener Brief und Spendenaufruf

Thomas Meyer Alternativen zum Kapitalismus – Im Check: Ökosozialismus

Tomasz Konicz Von Crashpropheten, Putschisten, Preppern und Krisenprofiteuren – Rechte Ideologie in der Krise

Kim Posster Männlichkeit ist die Krise?! Zu Geschichte und Verhältnis von latenter und manifester Krise des bürgerlichen Subjekts und seiner gesellschaftlichen (Geschlechts-)Natur

Anselm Jappe Narziss oder Orpheus? Bemerkungen zu Freud, Fromm, Marcuse und Lasch

Roswitha ScholzExit! – Nun sag, wie hältst du’s mit der Religion? Eine Klarstellung

Herbert Böttcher Herr Kant, seien Sie mir gnädig! Gott vor Gericht in der Corona-Krise

Robert Kurz Die Intelligenz nach dem Klassenkampf – Von der Entbegrifflichung zur Entakademisierung der Theorie

Andreas Urban und F. Alexander von Uhnrast Geldtheorie mit Januskopf – Anmerkungen zu Eske Bockelmanns »Das Geld«

Editorial, offener Brief und Spendenaufruf

Welch eine Farce! Nachdem das Bundesverfassungsgericht im Frühjahr die Regierung gerügt hatte, nicht genug gegen den Klimawandel zu tun und somit die Lebens- und Freiheitsinteressen künftiger Generationen zu gefährden, konnten die ›Funktionäre des Kapitals‹ gar nicht mehr aufhören, sich großspurig selbst zu loben und zu betonen, wie viel sie bereits an Klimaschutzpolitik getan und umgesetzt hätten. Selbstverständlich hat auch die Juristerei hier nichts anderes im Blick, als dass die ›Klimakrise‹ innerhalb der ›freiheitlich-demokratischen Grundordnung‹ lösbar wäre. Mit der ›richtigen Politik‹, den ›richtigen Rahmenbedingungen‹, würde schon ›das Richtige‹ umgesetzt werden, ›Finanzierbarkeit‹ und ›Wirtschaftswachstum‹ vorbehalten. Nichts anderes dürfte vom Ampel-Regime zu erwarten sein. Von der ›internationalen Staatengemeinschaft‹ erst recht, wie die sog. ›Klimagipfel‹ immer wieder zeigen.

Der Anspruch, künftigen Generationen keine ›Hypotheken‹ aufzulasten, um ihnen ›Zukunftsfähigkeit‹ zu ermöglichen, wird besonders dann gern betont, wenn es darum geht, die Ausdünnung des sozialen Netzes und das Verlottern der Infrastruktur zu rechtfertigen. Die junge Generation hätte demnach keine Zukunft, wenn der Staat überschuldet wäre. Dazu muss sie halt verarmen, Opfer bringen und notfalls sterben. Die naive Annahme dabei ist, durch Reduktion der Staatsausgaben die Staatseinnahmen erhöhen zu können, damit der Staat künftig gar mehr auszugeben hätte. Selbstverständlich gilt auch hier: Alle Staatsausgaben sind gleich, aber manche sind gleicher als andere (frei nach George Orwell). Eine Reduktion der Staatsausgaben für Aufrüstung ist effektiv nicht vorgesehen.

Für die sog. Zukunftsfähigkeit wird die Gegenwart mobilisiert und umgestaltet, damit sie gegenwärtigen Verwertungsinteressen entgegenkommt oder um neue Verwertungsmöglichkeiten zu eröffnen. Man nennt dies ›Modernisierung‹ oder ›Entwicklung‹, die freilich ›nachhaltig‹ sein möge, sofern das Wirtschaftswachstum dabei nicht nachhaltig beeinträchtigt wird. Hauptkriterien bleiben die Rendite und die sog. Arbeitsplätze, die möglicherweise neu geschaffen werden könnten (oder unter verschärften Bedingungen neu aufgelegt werden). Nur jenes, das zu einer fortgesetzten und vermehrten Verwertungsbewegung des Kapitals beiträgt oder beitragen könnte, gilt als ›fortschrittlich‹ oder als ›zukunftsfähig‹. Maßnahmen dieser Art opfern die Gegenwart und damit Mensch und Natur für eine Zukunft, die nichts anderes als eine die Realität unterwerfende Abstraktion ist, die nichts mit einer Offenheit für das Neue o. Ä. zu tun hat, sondern nur als eine Fortsetzung der Gegenwart gedacht wird. Sog. Zukunftsvisionen setzen bestehende Herrschafts- und Fetischverhältnisse voraus.1 Was eigentlich getan werden soll oder muss (Umwelt- und Klimaschutz), gerinnt so zur Nebensache, wenn nicht gar zum genauen Gegenteil. Im Endeffekt sollen Wirkungen mit Mitteln bekämpft werden, die diese Wirkungen erst hervorrufen. Versagt die ›Gestaltungsfähigkeit‹ der Politik (mittels Steuern u. ä.), wird auf ultimative technische Lösungen gesetzt (Geo-Engineering, Künstliche Intelligenz oder ›Wunder-Technologien‹, die möglicherweise irgendwann erfunden werden), die das Ruder im letzten Moment angeblich noch einmal herumreißen würden. Eine derartige Unterwerfung unter selbst geschaffene Verhältnisse und die damit einhergehende Fetischisierung von Technik kommt einer Selbstaufgabe der Menschheit gleich.

Dies wird auch bei der Digitalisierung deutlich. Kein Gedanke wird auf den eigentlichen Inhalt verschwendet, der in digitale Form gebracht werden soll (Bildung, Medizin u. a.). Die Corona-Pandemie hat dem Digitalisierungswahn und den damit zusammenhängenden Herrschaftspraktiken weiteren Auftrieb gegeben. Die Digitalisierung eignet sich hervorragend für eine technokratische Schreckensherrschaft, wie man sie am chinesischen Regime2 unschwer erkennen kann. In eine ähnliche oder vergleichbare Richtung bewegt sich auch der ›Werte-Westen‹. Wandel durch Annäherung ist offenbar die Devise der (post)demokratischen Krisenregime.3 Die Corona-Pandemie wird auch dazu genutzt, bestehende Repressionsinstrumente auszubauen und zu modernisieren, um damit Krisen aller Art weiterhin und vertieft polizeistaatlich zu ›bearbeiten‹ (etwa durch eine weitere Aushöhlung von Demonstrationsfreiheit, Streikrecht und Arbeitnehmer/-innenrechten).4 Dies ist durchaus vergleichbar mit dem 11.9.2001. Auch damals wurde der Sicherheitsapparat ausgebaut und modernisiert, angeblich ausschließlich dazu, gegen den islamistischen Terrorismus vorzugehen.5

Katastrophale ›Nebenwirkungen‹ der Digitalisierung (sozial-psychologische und ökologische) werden als Preis des ›Fortschritts‹ oder als ›Kollateralschäden‹ verharmlost; schlussendlich werden sie als ›Schicksal‹ bewusst in Kauf genommen, wogegen der Staat eventuell mit aberwitzigen Regularien antritt (freiwillige Selbstverpflichtung‹ der Unternehmen, Steuererhöhungen oder -senkungen usw.) oder/und indem er mit seiner sichtbaren Faust dafür sorgt, dass der sog. Fortschritt als angebliche ›historische Notwendigkeit‹ mit Gewalt durchgesetzt wird (man denke dabei an den Abbau von Rohstoffen und die damit einhergehenden Enteignungen, die Vertreibung und Ermordung von Indigenen usw.). Wo gehobelt wird, fällen auch Späne. Hierin sind sich Stalinismus und (Neo-)Liberalismus einig. Beide warten mit einer perfiden Rabulistik auf, wenn es darum geht, repressiven Zwang als ›Freiheit‹ zu verkaufen. Die Einsicht in das Kapitalistisch-Notwendige setzt also den Rahmen, innerhalb dessen sich ›Freiheit‹ zu verwirklichen hat. Die sichtbare Faust des Staates und seine geheimdienstlichen Schergen wachen darüber, dass dies auch ja so bleibt.6 Die ›freiheitlich-demokratische Grundordnung‹ (mit oder ohne Ausnahmezustand und diversen diktatorischen Ergänzungen) ermöglicht also die aktive Mitgestaltung oder die passive Hinnahme der Weltzerstörung. Die bürgerliche Freiheit wird damit eine Freiheit zum Tode. Diese Entpuppung bürgerlicher Freiheit fällt umso deutlicher aus, je mehr sich der ›Gestaltungs- und Auswahlrahmen‹ einschnürt, je mehr alle politischen Maßnahmen ins Leere laufen oder das Gegenteil bewirken. Die Schranke staatlichen Handels ist und bleibt seine eigene Finanzierbarkeit und damit eine erfolgreiche Kapitalverwertung, die jedoch mehr und mehr stockt und sich als Weltvernichtungsprogramm erweist (wobei wir wieder beim Ausgangsproblem angelangt wären). Schlussendlich gibt es im Rahmen der kapitalistischen Fetisch-Konstitution nichts mehr zu wählen oder zu gestalten, sondern diese selbst muss zum Gegenstand der theoretischen wie praktischen Kritik werden und allen daraus folgenden Imperativen (Finanzierbarkeit, Rentabilität, Arbeitsplätze) wäre entschieden entgegenzutreten. Alle kapitalistischen ›Erfolgskriterien‹ sind als null und nichtig zurückzuweisen und nicht diejenigen, die diesen nicht (mehr) zu genügen vermögen. Ebenso ist zurückzuweisen, dass alle Produktion nur dann überhaupt stattfindet, wenn sie einen möglichen Beitrag zur Verwertung des Werts realisiert (bzw. dass sie immer noch stattfindet, weil Kapital verwertet wird – wenn auch nur noch auf Pump).

Sich ›großhungern‹7, um im kapitalistischen Sinne ›zukunftsfähig‹ zu werden, d. h. um sich in der Konkurrenz auf Kosten anderer durchsetzen zu können, ist im Wesentlichen ein archaischer Menschenopferkult: Der »Kapitalismus als Religion« (Walter Benjamin) erweist sich damit als ein finsterer Götzendienst. Dass die ›Zukunftsfähigkeit‹ auch scheitern kann, wird daran deutlich, dass sie bestimmten Menschen verwehrt wird. Erscheinen Menschen nur noch als ›Kostenfaktoren‹ oder faschistisch gesprochen als ›Ballastexistenzen‹ oder als ›Volksschädlinge‹, wird ihr Lebenswert also nur nach ihrem Beitrag zum Bruttoinlandsprodukt bemessen, so ist ihre Vernichtung nur eine Frage der Zeit (und sei es, dass sie indirekt, durch strukturelle Gewalt8 in Kauf genommen wird).9 Sozialdarwinistisches Denken und Handeln (die gemeinsame Schnittstelle zwischen Faschismus/Nationalsozialismus und (Neo-)Liberalismus) sind damit angewandte Betriebswirtschaftslehre.

Erst wenn menschliche Entscheidungen und Handlungen nicht durch die apriorische Matrix der kapitalistischen Formkonstitution vorstrukturiert oder vorentschieden werden, böte sich die Möglichkeit einer Zukunft, die nicht durch das fortlaufende Opfern der Gegenwart herbeigeführt oder herbeigezwungen wird. Wirkliche Zukunftsfähigkeit könnte also erst dann Wirklichkeit werden, wenn man all dies hier Angedeutete überhaupt erst zur Kenntnis nimmt und das radikal in Frage stellt, was die heutige Gegenwart erst als eine die Zukunft gefährdende geschaffen hat. Es ist klar, dass dies nicht allein eine theoretische Frage ist, keinesfalls aber eine juristische.

Wie auch viele vorherige exit!-Ausgaben, so weist auch diese ›nicht wirklich‹ ein Schwerpunktthema auf, da die Themen, die hier angegangen werden, sich ohnehin überlappen und aufeinander verweisen. Die akademisch anmutende ›Einteilung‹ in Schwerpunkt- und Nichtschwerpunkttexte erscheint uns daher als wenig sinnvoll.

Mit einem weiteren Beitrag der Artikelreihe »Alternativen zum Kapitalismus – Im Check«10 widmet sich Thomas Meyer dem »Ökosozialismus«. Im Zuge der Klimakatastrophe und der fortgesetzten Zerstörung der Umwelt durch die kapitalistische Lebens- und Produktionsweise wird diesen vermehrt Aufmerksamkeit zuteil. Der Ökosozialismus ist dem Anspruch nach eine ›Verknüpfung‹ von Ökologie und Marx’scher Theorie. Je nach Richtung innerhalb des Ökosozialismus wird bei Marx & Engels ein unterschiedliches Ausmaß an ökologischem Denken festgestellt. Meyer skizziert daher den ›ökologischen Diskurs‹, wie er im Werk von Marx & Engels zu finden ist und wie dieser von unterschiedlichen Ökosozialisten eingeschätzt wird. Zentral wird dabei der Stoffwechselprozess des Menschen mit der Natur und wie dieser durch den kapitalistischen Verwertungsprozess formbestimmt und damit für das Kapital zugerichtet wird. Hierbei wird deutlich, dass der »Widerspruch zwischen Stoff und Form« (Ortlieb) sich nicht nur in der Welt der Waren zeigt, sondern auch im Stoffwechselprozess mit der Natur. Des Weiteren widmet sich Meyer theoretischen Defiziten der Ökosozialisten. Diese reichen von einem verkürzten Verständnis der Krise sowie des Staates bis hin zu Ansichten, die man klar als reaktionär bzw. als kleinbürgerlich einstufen kann.

Der Beitrag »Von Crashpropheten, Preppern und Krisenprofiteuren – Rechte Ideologie in der Krise« von Tomasz Konicz ist bemüht, die wichtigsten Elemente rechter Krisenideologie und Praxis in den vergangenen Jahren – vom Zusammenbruch der transatlantischen Immobilienblase über die Flüchtlingskrise bis zur Corona-Pandemie – zu skizzieren. Ausgehend von der instrumentellen Rezeption Marx’scher Krisentheorie und der Wertkritik durch die Vordenker der Neuen Rechten werden einzelne Bewegungen, Narrative und Ideologien in ihrer Wechselwirkung mit jeweiligen Krisenschüben beleuchtet: Von den rechtsextremen und putschistischen Seilschaften im Staatsapparat über die sogenannte Prepper-Bewegung, die reaktionäre und strukturell antisemitische Interpretation des Krisengeschehens durch rechte Autoren bis zur unüberschaubaren Ausdifferenzierung des Wahns im Gefolge der Querdenker-Proteste. Abschließend soll auf die irrationale Funktion rechter Ideologie verwiesen werden, die voll aufgeht in den sozialen wie ökologischen Selbstzerstörungstendenzen, die das Kapital in seiner letalen Krise evident exekutiert.

Kim Posster widmet sich in seinem Beitrag »Männlichkeit ist die Krise?! – Zu Geschichte und Verhältnis von latenter und manifester Krise des bürgerlichen Subjekts und seiner gesellschaftlichen (Geschlechts-)Natur« Aspekten der Geschichte der ›Männlichkeit‹. Im Fokus steht dabei die im warenproduzierenden Patriarchat stets von Neuem notwendig herzustellende ›Männlichkeit‹, ohne dass diese je aus sich selbst heraus ›Stabilität‹ erreichen könnte: ›Wahre Männlichkeit‹ kann nicht einfach sein. Sie gibt es entweder ›noch nicht wirklich‹ oder ›fast schon nicht mehr‹. Immer in Gefahr, nur ein Verblassen der Vergangenheit zu sein. Niemals fähig, das Entschwinden in die Zukunft zu verhindern. Dass Männlichkeit in der Krise sei, ist deshalb eine Diagnose, die jederzeit zuzutreffen scheint und normalerweise als Argument für eine patriarchale Resouveränisierung in Stellung gebracht wird. Kritischere Geister halten dem entgegen: ›Männlichkeit ist die Krise!‹ und verweisen auf die grundlegend prekäre Konstitution von Männlichkeit und die ihr zu Grunde liegende Angst vor Schwäche und Zerfall. So richtig es aber ist, die Apologie der mythisch-ewigen Geschlechtsnatur, die alles ändern will, damit es endlich wieder so wird, wie es schon immer war, zurückzuweisen, so falsch ist es, die in ihr aufgehobene Geschichte zu ignorieren. Statt also die ewige Gegenwart des Geschlechts nur dekonstruktivistisch aufzudröseln und in bunter ›Vielfalt‹ zu variieren, wie es auch der Queerfeminismus tut, gilt es den geschlechtlichen Wiederholungszwang der bürgerlichen Gesellschaft materialistisch durch die historischen Umwälzungen hindurch zu verfolgen. Denn nur eine Historie der mythischen Ewigkeit des Geschlechts, also eine Betrachtung der inneren Geschichte der gesellschaftlichen (Geschlechts-)Natur, vermag es, das Verhältnis von latenter und manifester Krise des Geschlechts im Allgemeinen und der Männlichkeit im Besonderen aufzuklären. Männlichkeit kann dabei als ›naturwüchsige‹ Kategorie des Wertverhältnisses und seiner geschlechtlichen Abspaltung entwickelt werden, die in der historischen Entfaltung des prozessierenden Widerspruchs, d. h. des Kapitals, stets sowohl verfällt als auch auf der jeweiligen historischen Stufe erneuert werden muss. Wie dieser Verfall aktuell von Männern verhandelt wird und auf welch barbarische Art vor allem völkische und islamistische Ideologien eine Erneuerung anstreben, verrät dabei, wie sich die Krise heute, nach dem ›Ende der Geschichte‹, manifestiert und welche vor allem regressiven Potentiale sie freisetzt.

Der Beitrag »Narziss oder Orpheus? Bemerkungen zu Freud, Fromm, Marcuse und Lasch« von Anselm Jappe ist ein Beitrag zum Verhältnis von Freud’scher Psychoanalyse und radikaler Gesellschaftskritik. Er zeichnet vor allem die Diskussion über Freud nach, die Erich Fromm, Theodor Adorno, Norman Brown, Herbert Marcuse, Christopher Lasch und andere ein halbes Jahrhundert lang geführt haben und in der jeder im Namen der sozialen Emanzipation und der Kapitalismuskritik argumentierte und dabei den Kontrahenten vorwarf, ungewollt im Rahmen der Gesellschaft zu verbleiben, die sie überwinden wollten. Die Begriffe des ›Narzissmus‹ und des ›Todestriebs‹ spielen dabei eine besondere Rolle. Adornos und Marcuses Angriffe auf Fromm wirken paradox, da sie scheinbar den ›konservativen‹ Freud verteidigen: Ihnen zufolge erkannte dieser die Unmöglichkeit einer Harmonie von Triebstruktur und kapitalistischer Gesellschaft. Christopher Lasch unterstreicht in seinem Werk Die Kultur des Narzissmus (1979), dass die klassische, von der ›Freud’schen Linken‹ angegriffene ödipale Familienstruktur die Möglichkeit zur Entwicklung eines autonomen Ichs enthalte, während der heute überwiegende Narzissmus in voller Übereinstimmung mit dem Konsumkapitalismus stehe. Er bringe ein ständiges Schwanken zwischen Ohnmachts- und Allmachtsgefühlen mit sich, das sich unter anderem in der ständigen Weiterentwicklung der Technologien äußert. Aber was auch bei Lasch fehlt, sind eine Untersuchung der historischen Ursachen des Anstiegs des Narzissmus und eine Thematisierung des Isomorphismus von Narzissmus und Wert: Beide beruhen auf einer Entleerung der Welt und ihrer Reduzierung auf eine einzige (Pseudo-)Substanz: beim Wert die abstrakte Arbeit, beim Narzissmus das beziehungs- und weltlose Ich.

Mit dem Kommentar: »Exit! – nun sag, wie hältst du’s mit der Religion? – Eine Klarstellung« beschäftigt sich Roswitha Scholz mit der ›Gretchenfrage‹ bei exit!. Dies erscheint so sinnvoll wie notwendig, da Materialismus und Atheismus (nach marxistisch-leninistischer Tradition) in kritischen Kreisen nicht selten als synonym mit Gesellschaftskritik gelesen werden. Hiermit soll der Auffassung widersprochen werden, theologisches Denken wäre schlechthin reaktionär.11

Die mit den Krisenprozessen verbundenen Katastrophen reichen offenbar nicht, um in der Theologie die Frage nach Gott und Leid zu thematisieren. Dazu bedurfte es des Corona-Virus. Herbert Böttcher befasst sich in dem Beitrag »Herr Kant, Seien Sie mir gnädig! – Gott vor Gericht in der Corona-Krise« mit theologischen Deutungen der Corona-Pandemie sowie ihrer affirmativ-ethischen ›Bewältigung‹. Aufgegriffen wurde dazu die sog. Theodizeefrage von dem Theologen Markus Striet. Hier zeigt sich wieder einmal das Elend einer Theologie, die affirmativ an die Aufklärung und ihr Freiheitspathos anknüpft. Nicht zufällig ist Kants praktische Vernunft ihr zentraler Bezugspunkt. Im sittlichen Handeln begegnet das Subjekt dem unbedingten Anspruch, moralisch zu handeln. Er ergibt sich aus der gegenüber Natur und kausalen Handlungsketten autonomen Vernunft. Solche Unbedingtheit moralischer Verpflichtung verbindet sich mit der Freiheit zu wählen, mit der Freiheit des Willens. Sollen und Freiheit sind ›jenseits‹ inhaltlicher, zeitlich-geschichtlicher Bestimmungen fundiert.

Für Theologen/-innen ist die ›praktische Vernunft‹ attraktiv, da der aus der reinen metaphysischen Vernunft verbannte Gott als Postulat moralischen Handelns gebraucht wird. Ohne ihn bräche alle Ethik zusammen, fehlte ihr doch eine richtende Instanz, die gutes Handeln belohnt und böses Handeln sanktioniert. Nur so können Sittlichkeit und Glückseligkeit zusammenfinden und Gott wenigstens als ›Lückenbüße‹ vor Kants Richterstuhl Gnade finden.

Theologen/-innen wittern die Chance, auf der ›Höhe der Zeit‹ mitreden zu können, reden aber an dem vorbei, was ›an der Zeit‹ wäre: die kategoriale Kritik des Kapitalismus und seiner Krisenverhältnisse, die immer mehr Menschen in Leid und Tod stürzen. Corona verschärft das. Dies kommt einer an Kant orientierten Ethik ebenso wie einer daran anknüpfenden Theologie kaum in den Blick. Ihr Elend besteht in der Fundierung des Denkens in reinen Formen. Dabei sind die zu kritisierenden Verhältnisse als affirmierte ›Normalität‹ vorausgesetzt. Die Theologie bleibt bei dem ›Leisten‹, der ihr zugewiesen ist: Hilfen zur Daseinsbewältigung im Anschluss an die Welt wie sie ist. Die Alternative dazu wäre eine gesellschaftskritische Theologie, der der Bezug auf kritische Gesellschaftstheorie inhärent ist.

Von Robert Kurz wird der Aufsatz »Die Intelligenz nach dem Klassenkampf – Von der Entbegrifflichung zur Entakademisierung der Theorie« aus den frühen 90er Jahren neu veröffentlicht12, ergänzt durch ein Nachwort von Roswitha Scholz.

Zum Schluss beschäftigen sich Andreas Urban und F. Alexander von Uhnrast in einem ausführlichen Rezensionsessay mit dem Buch Das Geld – Was es ist, das uns beherrscht von Eske Bockelmann (Matthes & Seitz, Berlin 2020).

Auch dieses Jahr bitten wir alle exit!-Interessenten um Spenden zur Unterstützung unserer ›theoretischen Praxis‹. Sinnvoll wäre es von unseren Leser/-innen, sofern sie es noch nicht getan haben, die exit! zu abonnieren, um auch damit zur materiellen Absicherung dieser Zeitschrift beizutragen. Um theoretische Reflexion ist es in den gegenwärtigen Zeiten schlecht bestellt. Die Corona-Pandemie hat dies keineswegs zum Besseren gewendet – im Gegenteil! Resignation und Defätismus sind aber keine Option. Daher hoffen wir inständig auf entsprechende Unterstützung, um beitragen zu können, dieser verrückten Gesellschaft den Spiegel vorzuhalten.

Als Letztes sei auf einige Publikationen hingewiesen. So sind neu aufgelegt worden: Von Robert Kurz Der Kollaps der Modernisierung – Vom Zusammenbruch des Kasernensozialismus zur Krise der Weltökonomie (Edition Tiamat) sowie der Weltordnungskrieg – Das Ende der Souveränität und die Wandlungen des Imperialismus im Zeitalter der Globalisierung (zu Klampen). In französischer Übersetzung sind des Weiteren einige Werke von Robert Kurz (Kollaps der Modernisierung, Blutige Vernunft sowie der mit Ernst Lohoff verfasste Aufsatz Klassenkampffetisch13) bei Crise & Critique erschienen: L’effondrement de la modernisation – De l’écroulement du socialisme de caserne à la crise du marché mondial, Raison sanglante – Essais pour une critique émancipatrice de la modernité capitaliste et les Lumières bourgeoises sowie Le Fétiche de la lutte des classes – Thèses pour une démythologisation du marxisme. Ebenso von Fábio Pitta: Le Brésil dans la crise du capital au XXIe siècle (auf Deutsch in: exit! Nr. 18, Erstveröffentlichung auf Portugiesisch online: obeco.planetaclix.pt).

Auf Spanisch ist ein Sammelband mit Texten von Roswitha Scholz erschienen: Capital y patriarcado – La escisión del valor, herausgegeben von Clara Navarro Ruiz14 (Ediciones Mimesis, Santiago de Chile); des Weiteren Aufsätze von Thomas Meyer »›Aspekte des neuen Rechtsradikalismus ‹ und die totalitäre Demokratie« auf Griechisch in der Zeitschrift Πανοπτικόν Nr. 27 (panopticon.gr) sowie von Herbert Böttcher: »Emanzipation durch Befreiung der Arbeit vom Kapital? – Kritik der positiven Bewertung der Arbeit in theologischem Denken« in: Theologie und Glaube Nr. 1/2021 und »Kapitalismus – Religion – Kirche – Theologie« in: Füssel, Kuno & Ramminger, Michael (Hg.), Kapitalismus: Kult einer tödlichen Verschuldung – Walter Benjamins prophetisches Erbe, Münster 2021.

Sandrine Aumercier kritisiert in ihrem kürzlich erschienenen Buch Le mur énergétique du capital (Die Energiewand des Kapitals) den Begriff der ›Entwicklung der Produktivkräften‹. Darin entlarvt die Autorin eine moderne Fortschrittsmetaphysik, die sowohl von Liberalen und Neoliberalen als auch vom gesamten traditionellen marxistischen Denken nachgeplappert wurde. Reste dieses Denkens sind selbst bei einigen Autoren der Wertkritik noch vorhanden, insofern, als sie sich auch auf eine Wiederaneignung neuerer Erfindungen (wie z. B. der sog. ›erneuerbaren Energien‹ oder des 3D-Druckers) stützen, ohne die kapitalistischen Produktionsbedingungen und staatliche, wirtschaftliche, gesellschaftliche Infrastrukturen zu kritisieren, welche diese Innovationen von vornherein voraussetzen. Die Moral der energetischen Effizienz, der Knappheit, der Optimierung und der Nüchternheit ist genau Teil dieser Subjektform, welche dem Modell des grenzenlosen Wachstums nachgeformt wird. Aumercier kehrt in ihrem Buch zur Marx’schen Analyse der organischen Zusammensetzung des Kapitals zurück, um insbesondere die enge Beziehung zwischen der immer ungezügelteren technologischen Entwicklung und dem Industriekapitalismus aufzuzeigen, die darin besteht, dass lebendige Arbeit durch tote Arbeit ersetzt wird, um einem immer mehr verschwindenden Mehrwert nachzujagen. Von daher ist die Kernfrage, wie tote Arbeit ohne lebendige Arbeit überleben würde. Das Verschwinden der lebendigen Arbeit ist als das Verschwinden der produktiven Gesamtarbeit zu verstehen. Die historische Dynamik dieser Substitution verdeutlicht sowohl die Unmöglichkeit ihrer Entkopplung (in der Perspektive eines Post-Kapitalismus) als auch die Besonderheit der Energiekrise, die der Entwicklung des Kapitalismus eigen ist. Eine solche Analyse zeigt also, wie inkonsequent es ist, eine Abschaffung der kapitalistischen Kategorien (Arbeit, Geld, Staat, Ware) ins Auge zu fassen, ohne gleichzeitig die industrielle Produktion zu kritisieren, welche erst durch die Konstitution dieser Kategorien ermöglicht wurde.

Thomas Meyer für die exit!-Redaktion im November 2021.

1Dies wird besonders deutlich in den ›Zukunftsvisionen‹ der Transhumanisten, vgl. Meyer, Thomas: Transhumanismus als Rassenhygiene von heute – Zwischen Selbstvernichtung und technokratischem Machbarkeit, wahn, 2020, online: https://www.oekumenisches-netz.de/wpcontent/uploads/2020/02/nt-2020-1.pdf.

2Wie peinlich, dass Teile der deutschen Linken dem chinesischen Regime recht positiv gegenüber stehen: Heinelt, Peer: Der große Sprung in der Schüssel, in: Konkret Nr. 10/2021.

3Man führe sich etwa die Propagandabroschüre Smart City Charta – Digitale Transformation in den Kommunen nachhaltig gestalten (zu finden auf bmi.bund.de) zu Gemüte. Auf Seite 43 heißt es: »Da wir [Wer ist wir?] genau wissen, was Leute tun und möchten, gibt es weniger Bedarf an Wahlen, Mehrheitsfindungen oder Abstimmungen. Verhaltensbezogene Daten können Demokratie als das gesellschaftliche Feedbacksystem (!) ersetzen«. Wäre dies nicht ein Fall für den sog. ›Verfassungsschutz‹? Vgl. auch folgende Propagandaseite des Bundesministeriums für Bildung und Forschung (https://www.vorausschau.de/vorausschau/de/home/home_node.html). Ein ›Zukunftsbüro‹ versucht mögliche Zukünfte zu ergründen. Natürlich bar aller Kritik der Gegenwart und keineswegs als Warnung gemeint. Die Autoren skizzieren diese Zukunftsmöglichkeiten in einer Naivität, die einem/einer die Sprache verschlägt. Allen Ernstes wird ein Punktesystem nach dem Vorbild des chinesischen Regimes positiv ausgemalt: »Ein Punktesystem als zentrales politisches Steuerungsinstrument (!) bestimmt das Deutschland der 2030er Jahre. Trotz freiwilliger Basis und demokratischer Spielregeln [die da wären?] erzeugt es sozialen Druck zur Teilnahme (!), zum Beispiel über den ständigen Wettbewerb (!) in sozialen Netzwerken«. Obgleich zum Teil umstritten, so wird dieses Punkteregime »in den 2030er Jahren bei der großen Mehrheit Zustimmung« finden. Des Weiteren werden im Hinblick auf den Klimawandel »das Verursacherprinzip transparent« gemacht (d. h. individuelle Konsumgewohnheiten), sowie »Qualifizierungspotentiale erfasst und die räumliche Mobilität der Arbeitskräfte effizient organisiert«. Somit kann auch in Zukunft alles seinen gewohnten kapitalistischen Gang gehen.

4Vgl. etwa zu Griechenland: Der Staat ergreift die Gelegenheit, in: Wildcat Nr. 107 (Frühjahr/2021).

5Vgl dazu: Trojanow, Ilija; Zeh, Juli: Angriff auf die Freiheit – Sicherheitswahn, Überwachungsstaat und der Abbau bürgerlicher Rechte, 2010 München.

6Die linke TageszeitungJunge Welt wird vom ›Verfassungsschutz‹ beobachtet, weil sie behauptet, die BRD sei eine Klassengesellschaft und weil sie sich auf Marx & Engels und andere bezieht. Nun mag man sich über den Arbeiterbewegungs(rest)marxismus zu Recht streiten, der entscheidende Punkt hierbei ist aber der, dass der ›bürgerliche Rechtsstaat‹ gar nicht mehr so scheinheilig tut, als ob Konflikte und unterschiedliche Interessen im Rahmen der ›freiheitlich-demokratischen Grundordnung‹ lösbar oder überhaupt aushaltbar wären. Das Thematisieren von sozialer Ungleichheit sowie das Feststellen einer Diskrepanz zwischen Ideal und Wirklichkeit reichen offenbar aus, um als ›Verfassungsfeind‹ zu gelten. Vgl. Junge Welt vom 7.5.2021: https://www.jungewelt.de/keinmarxistillegal/de/article/402169.doppelte-standards.html.

7Vgl. Kurz, Robert: Schwarzbuch Kapitalismus – Ein Abgesang auf die Marktwirtschaft, Frankfurt 1999, 218.

8Vgl. Kurz, Robert: Das Weltkapital – Globalisierung und innere Schranken des modernen warenproduzierenden Systems, Berlin 2005, 345f.

9Wenig überraschend, dass die allgemeine Verrohung auch von den ›Eliten‹ des Gesundheitssektors propagiert wird. So etwa von Karsten Vilmar, des Präsidenten der Ärztekammer, der 1998 darüber spekulierte, ob man aus Kostengründen »das sozialverträgliche Frühableben (!) fördern« müsse, zit. n. Schui, Herbert: Politische Mythen & elitäre Menschenfeindlichkeit – Halten Ruhe und Ordnung die Gesellschaft zusammen?, Hamburg 2014, 61.

10Bisher erschienen (bei exit! und dem Ökumenischen Netz): Gemeinwohlökonomie (Dominic Kloos), Bedingungsloses Grundeinkommen (Günther Salz), Buen Vivir sowie Postwachstumsbewegung & Commons (Thomas Meyer). Weitere Artikel werden mit großer Wahrscheinlichkeit folgen.

11Vgl. dazu: Böttcher, Herbert: Kapitalismuskritik und Theologie – Versuch eines Gesprächs zwischen wert-abspaltungskritischem und theologischem Denken, in: Ökumenisches Netz Rhein-Mosel-Saar (Hg.): Nein zum Kapitalismus, aber wie? – Unterschiedliche Ansätze von Kapitalismuskritik, 2. Aufl., Koblenz 2015, 117–163.

12Zuerst erschienen in: Widerspruch – Münchner Zeitschrift für Philosophie Nr. 22, München 1992, 11–26. Nachdruck in: Kurz, Robert: Der Letzte macht das Licht aus – Zur Krise von Demokratie und Marktwirtschaft, Berlin 1993, 37–57.

13Vgl. dazu auch: Scholz, Roswitha: It’s the class, stupid? Deklassierung, Degradierung und die Renaissance des Klassenbegriffs, 2020, auf exit-online.org.

14Vgl. das Interview von Clara Navarro Ruiz mit Roswitha Scholz, 2017, auf exit-online.org.

Alternativen zum Kapitalismus

Im Check: Ökosozialismus

Thomas Meyer

1. Einleitung

Mit den Klimaprotesten der letzten Jahre und der Corona-Pandemie gerieten die Umwelt und ihre Zerstörung durch den Kapitalismus verstärkt in den ›Diskurs‹ (Wallace 2021, 25ff., 161ff., Malm 2020a, 7ff.). Die Fakten zum Klimawandel sind erdrückend (Deutsches Klima-Konsortium u. a. 2020). Alle dagegen angegangenen Maßnahmen sind, selbst bevor sie wieder aufgeweicht werden, höchst unzureichend. Naheliegend ist es, dann das Schlagwort system change – not climate change auszusprechen. Während die ›Gemeinwohlökonomie ‹ und anderes als vermeintliche Alternativen zum Kapitalismus mehr Zuspruch bekommen (Kloos 2018, Meyer 2021), steigt auch das Interesse am Ökosozialismus. Diese Verbindung zwischen Ökologie und Marx’scher Theorie entstand seit den 80er Jahren vor allem in den USA1 und stößt auch hierzulande in den letzten Jahren auf zunehmendes Interesse (Bierl 2020). Dabei spannen die Positionen, die mit ›Ökosozialismus‹ betitelt werden, ein ganzes Spektrum auf. So reicht es von Ökosozialisten, die anschließend an die Postwachstumsbewegung eine Deindustrialisierung fordern (Sarkar 2010, Kern 2019), bis hin zu ›Öko-Leninisten‹ bzw. ›Klimabolschewisten‹, die den Kriegskommunismus der Bolschewisten zum Teil als vorbildliche Praxis einstufen (Malm 2020a, 164ff.).2 Grund genug sich im Rahmen der Artikelreihe Alternativen zum Kapitalismus – Im Check mit dem Ökosozialismus zu befassen.

Im Folgenden werden die Positionen ausgewählter Ökosozialisten (nebst einiger Autoren, wie Wolfdietrich Schmied-Kowarzik, die sich nicht unbedingt dem ›Ökosozialismus‹ zurechnen) ausgebreitet und einer Kritik unterzogen.3 Dazu soll eine Skizzierung des ›ökologischen Diskurses‹ im Werke von Karl Marx & Friedrich Engels versucht und aufgezeigt werden, wie dieser von verschiedenen Marxisten und Ökosozialisten eingeschätzt wird. Insbesondere ist hier die Dialektik der Natur von Engels – eine wichtige Referenz vieler Ökosozialisten – von Interesse. Für Ökosozialisten wie John Bellamy Foster ist eine ›Natur-Gesellschafts-Dialektik‹ im Anschluss an Marx & Engels für eine ›ökosozialistische Theorie und Praxis‹ von zentraler Bedeutung. Daran anknüpfend soll deutlich werden, dass der »Widerspruch zwischen Stoff und Form« (Claus Peter Ortlieb) sich auch in der Art und Weise des Stoffwechselprozesses mit der Natur findet. Des Weiteren sollen Einwände gegen eine industrielle Gesellschaft überhaupt sowie krisentheoretische und staatstheoretische Defizite der Ökosozialisten zur Sprache kommen.

In diesem Text werde ich auf bestimmte Aspekte des traditionellen Marxismus, die auch viele Ökosozialisten teilen, nur am Rande eingehen. Dies betrifft vor allem den Bezug auf Klassen(-kampf) und eine soziologische Verkürzung des Kapitalverhältnisses sowie die Ontologie der Arbeit.4 Die Kritik daran muss hier nicht ausgiebig wiederholt werden, daher wird sie sich nur auf Punktuelles beschränken (ausführlich dazu: Scholz 2020 sowie Kurz 1994, 2004a, 64ff., 2005, 214ff., 2012, 192ff.).

2. Der ökologische Diskurs bei Marx & Engels

Der Begriff Ökosozialismus provoziert die Frage nach dem Verhältnis von Ökologie und Marxismus. Dabei wäre zu differenzieren zwischen der Marx’schen Theorie und dem Marxismus als »Legitimationswissenschaft« für eine nachholende Industrialisierung (Negt 2015) bzw. als »Logik der Modernisierung« (Kurz 1994). Der Realsozialismus als Projekt einer nachholenden Modernisierung, als zweites Industriesystem5 neben dem westlichen, kann wohl kaum ökologische Lorbeeren für sich verbuchen. So wurde dem Realsozialismus vorgeworfen, in ökologischer Hinsicht nichts anderes als eine Kopie des Westblocks zu sein. Der Fetisch der Produktivkraftentwicklung: »Überholen ohne Einzuholen« (Walter Ulbricht), die zahlreichen Umweltzerstörungen in der Sowjetunion legen beredtes Zeugnis dafür ab (Engert 2010, 67ff., speziell in der DDR: Beleites 2016). Die Zerstörung der Natur hatten beide Systeme gemeinsam, was den Standpunkt plausibel macht, entscheidend wären nicht die ideologischen Unterschiede, sondern vielmehr ihre gemeinsame industrielle und technische Basis. Ökologie und Sozialismus klingt daher zunächst wie ›hölzernes Eisen‹. Folglich ist der »gegen Marx erhobene Vorwurf des ›Prometheanismus‹ […] – ein unerschütterlicher Fortschrittsglaube, wonach der Mensch mithilfe technologischer Entwicklungen die Welt immer effektiver und freier zu manipulieren vermag – […] zu einem populären Stereotyp geworden« (Saito 2016, 9).6 Und in der Tat kann man Marx nicht davon freisprechen, vom Stand des 19. Jahrhunderts aus argumentierend, die Entwicklung der Produktivkräfte (Maschinen und ›allseitig‹ entwickelte Individuen) einerseits gutgeheißen zu haben, da sie die technologischen Grundlagen einer kommunistischen Gesellschaft schüfen. So argumentiert, wäre der Kapitalismus mehr oder weniger ein notwendiges historisches ›Durchgangsstadium‹ auf dem Weg zum Kommunismus. Hierbei wird deutlich, dass bei Marx sich Aspekte Hegel’scher Geschichtsphilosophie finden lassen.7 Jedoch ist Marx zugute zu halten, dass er, anders als der bornierte bürgerliche Geist, die vom Kapitalismus geschaffenen Produktivkräfte sowie »die Universalität der Entwicklung der Vermögen« nicht an die kapitalistische Produktionsweise gebunden weiß und ebenso wenig den Fehler begeht, wegen des ›Unbehagens an der Moderne‹ ein ›romantisches Zurück‹ in die Vormoderne einzufordern. So schreibt Marx in den Grundrissen: »Die universal entwickelten Individuen, deren gesellschaftliche Verhältnisse als ihre eigenen, gemeinschaftlichen Beziehungen auch ihrer eigenen gemeinschaftlichen Kontrolle unterworfen sind, sind kein Produkt der Natur, sondern der Geschichte. Der Grad der Universalität der Entwicklung der Vermögen, worin diese Individualität möglich wird, setzt eben die Produktion auf der Basis der Tauschwerte voraus, die mit der Allgemeinheit die Entwicklung des Individuums von sich und von anderen, aber auch die Allgemeinheit und Allseitigkeit seiner Beziehungen und Fähigkeiten erst produziert. Auf früheren Stufen der Entwicklung erscheint das einzelne Individuum voller, weil es eben die Fülle seiner Beziehungen noch nicht herausgearbeitet und als von ihm unabhängige gesellschaftliche Mächte und Verhältnisse sich gegenübergestellt hat. So lächerlich es ist, sich nach jener ursprünglichen Fülle zurückzusehnen, so lächerlich ist der Glaube bei jener vollen Entleerung stehnbleiben zu müssen. Über den Gegensatz gegen jene romantische Ansicht ist die bürgerliche nie herausgekommen und darum wird jene als berechtigter Gegensatz sie bis an ihr seliges Ende begleiten« (Marx 1953, 79f.).

Marx positiver Bezug auf die Produktivkraftentwicklung ist allerdings nicht gleichzusetzen mit einem naiven ›Industrialismus‹ im Sinne von ›höher‹, ›schneller‹, ›weiter‹ oder ›mehr‹. Wenn Marx »sich nur für die möglichst schnelle und vollkommene Entwicklung der Produktivkräfte eingesetzt [hätte]«, so wäre er in der Tat nicht mehr als »ein Epigone der Bourgeoisie gewesen« (Djurić 1969, 79). Marx erkannte, dass diese Entwicklung, da sie nicht an die bornierten bürgerlichen Verhältnisse gebunden bleiben müsse8, die Möglichkeit zur Freisetzung von Zeit, zur Vergrößerung des ›Reiches der Freiheit‹ (vgl. Kern 2015, 339ff.) gegenüber dem ›Reich der Notwendigkeit‹ eröffne. Oder in den Worten von Iring Fetscher: Für »Marx [ist] das wesentliche Charakteristikum einer sozialistischen Zukunftsgesellschaft nicht das grenzenlose Wachstum der Produktion und der Gütermassen, sondern die allseitige Entfaltung der Individuen und ihrerProduktivität […]. Eine Entfaltung, die zwar auch eine Steigerung der Produktion materieller Güter (pro Zeiteinheit) erlaubt, aber auf sie keineswegs reduziert werden darf. Sie besteht vielmehr gerade auch in einer ›Freisetzung‹ für Muße und ›höhere Tätigkeiten‹ – wie Kunst, Wissenschaft und Philosophie. Es wird bei Marx auch nicht von einer unendlichen Steigerung der industriellen Maschinerie gesprochen, sondern von einer industriellen Technik, die vor allem dazu dient, Arbeit zu erleichtern […] und möglichst generell solche Tätigkeiten zu ermöglichen, die ›wissenschaftlichen‹ und das heißt für Marx ›allgemeinen‹ Charakter haben – also keine partikulare, andressierte Spezialleistung verlangen« (Fetscher 1980, 122f., Hervorh. i. O.).

Zum Reich der Notwendigkeit gehört der Stoffwechselprozess mit der Natur (der nur mit dem Tod endet). Als Vermittlung dieses Stoffwechsels bestimmt Marx die Arbeit als eine »von allen Gesellschaftsformen unabhängige Existenzbedingung des Menschen, ewige Naturnotwendigkeit, um den Stoffwechselprozess zwischen Mensch und Natur, also das menschliche Leben zu vermitteln« (Marx 2005, 57). Dagegen ist zu sagen, dass der Stoffwechselprozess mit der Natur sowie die (Re)-Produktion historische Kategorien sind und man daher nicht von einer ahistorischen Vermittlung zwischen ›Mensch und Natur‹ ausgehen kann, sondern das historisch-spezifische dieser Vermittlung, d. h. eben der Arbeit, ist deutlich zu machen. In den Worten von Robert Kurz: »Der Kapitalismus hat die negative Kategorie der ›Arbeit‹ zum ersten Mal verallgemeinert, positiv ideologisiert und auf diese Weise zu einer Inflation des Arbeitsbegriffs geführt. Den Kern dieser Verallgemeinerung und falschen Ontologisierung von ›Arbeit‹ bildet die historisch neuartige Reduktion des Produktionsprozesses auf dem Inhalt gegenüber völlig gleichgültige Verausgabung abstrakt menschlicher Energie […] schlechthin. Gesellschaftlich ›gelten‹ die Produkte nicht als Gebrauchsgüter, sondern als Repräsentanz vergangener abstrakter Arbeit. Deren allgemeiner Ausdruck ist das Geld. In diesem Sinne bildet bei Marx abstrakte Arbeit oder abstrakt menschliche Energie die ›Substanz‹ des Kapitals« (Kurz 2013a, 31, Hervorh. TM). Genau diese Gleichgültigkeit gegenüber dem Inhalt macht die Arbeit als Vermittlung des Stoffwechselprozesses mit der Natur so destruktiv. Eine Kapitalismuskritik vom Standpunkt der Arbeit (Postone 2003, 111ff.), d. h. die traditionell-marxistische, kann also keinesfalls eine radikal-ökologische sein.

Freilich hatten weder Marx noch Fetscher in ihren Ausführungen zur Freiheit & Notwendigkeit Reproduktionstätigkeiten im Blick. Nicht ›vergessen‹ werden sollte, beim Ausmalen eines Reiches der Freiheit, dass auch ›der Philosoph‹ als Kind zur Welt kommt und als Greis endet (in einer befreiten Gesellschaft wird es auch notwendig bleiben, Bettlägerigen den Arsch abwischen zu müssen – was ganz sicher nicht angenehm ist; insofern wäre es sinnvoll, mit dem ›utopischen Frohlocken‹, so wichtig es auch bleibt der ›Realität‹ den Spiegel vorzuhalten, nicht zu übertreiben).

Andererseits war für Marx klar, dass die Maschinerie und die entwickelten und entfalteten Vermögen (also auch die Wissenschaften) in einem historisch zunehmenden Ausmaße real unter das Kapital ›subsummiert‹ werden (vgl. z. B. Marx 1969, 49–64). Wenig überraschend, dass im Marxismus als Modernisierungsideologie dieser Aspekt Marx’scher Kritik keine Rolle spielte. »Es ist erstaunlich«, schreibt Wolfdietrich Schmied-Kowarzik, »wie wenig die Marxsche Kritik an Wissenschaft und Technik in ihrer kapitalistischen Formbestimmtheit überhaupt zur Kenntnis genommen worden ist. Sowohl der dogmatische als auch der kritische Marxismus – bis auf ganz wenige Ausnahmen – unterstellen bisher ganz einfach, dass Marx Wissenschaft und Technik als die vorwärtstreibenden Produktivkräfte nur positiv eingeschätzt habe; wohl vor allem deshalb, weil sie selber Anbeter der Fetische objektivistischer Wissenschaften und industrieller Maschinerie sind oder weil sie Wissenschaft und Technik für etwas Ansichseiendes halten, was außerhalb der Reichweite kritischer Gesellschaftstheorie liegt. Für Marx selber trifft aber beides nicht zu, für ihn sind Wissenschaft und Technik selbstverständlich Produkte gesellschaftlicher Praxis, die in ihrer gegenwärtigen Formbestimmtheit keineswegs von der kritischen Analyse ausgespart werden dürfen. Natürlich sind Wissenschaft und Technik Produktivkräfte der gesellschaftlichen Praxis, da aber die herrschenden Produktionsverhältnisse keinesfalls die Produktivkräfte unangetastet lassen, sind sie auch in ihrer gegenwärtigen Form entfremdet und können in dieser Form nicht kritiklos in eine solidarische Gesellschaft übernommen werden« (Schmied-Kowarzik 2018, 92). Letzteres ist heute besonders zu betonen und weiterzudenken, da »die Wissenschaft nicht nur in ihrer Anwendung dem Kapital unterworfen, sondern auch in ihrer weiteren Entwicklung durch und durch von der Logik der gegenwärtigen Produktionsweise durchdrungen [ist] « (ebd., 96, Hervorh. TM). Die technischen ›Hinterlassenschaften‹ des warenproduzierenden Patriarchats sind also nicht abstrakt zu positivieren, aber auch nicht abstrakt zu negieren, denn so »wenig die Inhalte von der gesellschaftlichen Form unabhängig sind, ebenso wenig sind sie per se und absolut nur in dieser Form darstellbar« (Kurz 2004c, 119). Eine abstrakte Negation wäre »bloß die Umkehrung des naiven arbeiterbewegungsmarxistischen Produktionskraft-Fetischismus« (ebd., 120).

Neben dem Vorwurf eines ›Prometheanismus‹ des technischen Fortschritts ist ein weiterer strittiger Punkt im ›ökosozialistischen Diskurs‹ der mutmaßliche Umfang oder die tatsächliche Tragweite der Thematisierung der Ökologie-Problematik im Werk von Marx & Engels. Von ›Ökologie‹ war dort nicht die Rede, auch wenn dieser Begriff von Ernst Haeckel bereits 1866 ›erfunden‹ wurde (Oechsle 1988, 12ff.). Stattdessen wurde vom ›Stoffwechselprozess mit der Natur‹ gesprochen und seine Formbestimmtheit durch das Kapital wurde zum Gegenstand der Kritik (zur »Genealogie des Stoffwechselbegriffs« vgl. Saito 2016, 74ff.). Die tatsächliche Bedeutung, die dieser ›Diskurs‹ im Werk von Marx & Engels einnimmt, wird unterschiedlich eingeschätzt. So ist, wie der marxistische Ökosozialist John Bellamy Foster betont, Kritik an der Umweltverschmutzung und Umweltzerstörung durch das Kapital quer durch das Werk von Marx & Engels nachweisbar (Foster 2014, 169ff.). Als periphere Randbemerkung ist diese Kritik daher kaum anzusehen. Dafür spricht umso mehr, zieht man nicht veröffentliche Manuskripte bzw. Exzerpthefte hinzu (Saito 2016). Die thematische Breite stützt diese Vermutung: Die Störung des Stoffwechselprozesses mit der Natur wird vor allem hinsichtlich der kapitalistischen Agrarkultur (Zerstörung der Bodenfruchtbarkeit u. a.) ausgebreitet (z. B. Marx 2005, 527ff., ders. 1973, 821), ebenso die ökologischen und klimatischen Folgen von Entwaldungen in Zeiten des Kolonialismus (Engels 1972a, 455) sowie in der Antike (ebd., 452f.). Der Anspruch, die Natur beherrschen zu können, wird von Engels als zweifelhaft moniert (ebd.). Kritisiert werden die Folgen von Umweltverschmutzung auf die Lebens- und Wohnsituation des Proletariats (Engels 1976, 324ff., Marx 2012, 548f.). Es wird »die Umweltverschmutzung durch den Normalbetrieb der kapitalistischen Industrie [angeprangert], aber die Frage selbst wird nie direkt erörtert«, wie Michael Löwy zusammenfasst (2016, 75).

Foster betont in Unterstreichung der Bedeutung des ›ökologischen Diskurses‹ in Teilen des Marxismus, dass er nach Marx und Engels keineswegs verschwand9 und im frühsowjetischen und britischen Marxismus seine Vertreter hatte (Foster 2014, 182ff., 229ff.) und daher nicht davon die Rede sein könne, der Marxismus schlechthin habe die Naturbeherrschung im Interesse des Proletariats fortführen und intensivieren wollen und sich nicht wirklich für ökologische Belange interessiert. Ökologie gehöre, so Foster (und Paul Burkett) an anderer Stelle, zum »Kern des Marxismus« (zit. n. Tanuro 2015, 175). Fosters und anderer Ökosozialisten Verdienst bestehe darin, wie der Agraringenieur und Ökosozialist Daniel Tanuro zusammenfasst, »die ›Ökologie von Marx‹ rehabilitiert zu haben, aber sie neigen dazu, den Bogen zu überspannen. Wenn die Ökologie tatsächlich zum Kern des Marxismus gehörte, müssten sie erklären, warum alle marxistischen Strömungen in den 1960er und 1970er Jahren ihr Rendezvous mit der ökologischen Frage versäumt haben« (ebd., 176). In Teilen der Ökologiebewegung wurde sich zwar auf einschlägige Passagen von Marx und Engels bezogen (so etwa: Marx 2005, 529f., Engels 1972a, 452f.), jedoch argumentieren insbesondere nicht-bzw. partiell-marxistische Ökosozialisten, dass das ökologische Denken im Werk von Marx und Engels doch überschätzt werde (was das versäumte Rendezvous plausibel macht). Bruno Kern zufolge lässt sich im Spätwerk von Marx klar eine »ökologische Wende« feststellen, jedoch konnte diese »nicht mehr richtig zur Geltung kommen und damit auch die Wirkungsgeschichte seines Werks nicht wesentlich beeinflussen« (Kern 2019, 202). Ein ›ökologisches Denken‹ könne keinesfalls für das Marx’sche Werk als Ganzes behauptet werden. So lassen sich in frühen Schriften, etwa im Manifest der kommunistischen Partei und in den Pariser Manuskripten, durchaus Passagen finden, die eine »promethische Sichtweise« (ebd., 201) nahelegen (vgl. Kern 2015, 91ff., 163ff. und Saito 2016, 201, 298ff., sowie andererseits: »Das Kommunistische Manifest und die Umwelt«: Foster 2014, 261ff.). Eine solche ›Überspannung des Bogens‹ spiele den ›Produktivismus‹ von Marx herunter. Hier sind also nach Kern gegen Marx »seine dem Positivismus des 19. Jahrhunderts entspringende Einschätzung des technischen Fortschritts und seine mangelnde Distanz zum Industrialismus hervorzuheben« (ebd., 186). Kern weiter: »Meine Hauptkritik an Marx bezieht sich also darauf, dass er im 19. Jahrhundert noch kein kritisches Verständnis zum Industrialismus insgesamt finden konnte. Heute, da zunehmend klar wird, dass aus ökologischen Gründen nicht nur das kapitalistische Wirtschaftssystem mit seinem inhärenten Wachstumszwang, sondern auch die Industriegesellschaft insgesamt zur Disposition steht, müssen wir uns an diesem entscheidenden Punkt von Marx trennen« (ebd., 197).

Über Marx hinaus stellt sich nach Kern zu Recht die Frage, ob eine nicht unter der Formbestimmtheit des Kapitals stehende technische Entwicklung und ›Entfaltung der Bedürfnisse‹ nicht auch an eine ökologische Schranke stoßen würde. Naiverweise – so Kerns Kritik an einigen Ökosozialisten – wird von einer »Grenzenlosigkeit dieser Bedürfnisse und der Möglichkeit ihrer Befriedigung« ausgegangen, wobei »die natürlichen Grenzen völlig außer Acht« (ebd., 206) gelassen werden. Daher dürfte sich die Marx’sche Vorstellung einer steten Ausdehnung des ›Reiches der Freiheit‹ gegen das ›Reich der Notwendigkeit zwecks disponibler Zeit für ›höhere‹ Zwecke als Illusion erweisen (vgl. ebenso Saito 2016, 245f.).

Ein weiterer Punkt, den Kern gegen einen am Marxismus orientierten Ökosozialismus aufführt, ist, dass der Bezug auf die Arbeiter/-innenklasse10 anachronistisch ist, denn die, so Kern, »gesellschaftliche Veränderung, die heute nottut, fällt keineswegs mehr automatisch mit den unmittelbaren materiellen Interessen der abhängig Beschäftigen zusammen. Sie sind in den reichen Ländern längst eingebunden in jene ›imperiale Lebensweise‹, die dafür sorgt, dass sie zu den Profiteuren eines Systems gehören, dessen brutale Kehrseite sich ganz anderswo zeigt: in den Massen von völlig ausgegrenzten Menschen im globalen Süden und in der Zerstörung unserer natürlichen Grundlagen« (ebd., 199f.). Da aber Kern zufolge historisch eine »industrielle Abrüstung« anstehe, könne nicht mehr an die »unmittelbaren materiellen Interessen« der Arbeiter/-innenklasse »angeknüpft werden« (ebd., 200).

Obgleich der esoterische Marx für eine Kapitalismuskritik auf der Höhe der Zeit unverzichtbar (vgl. Kurz 2006, 2012) und eine Aufarbeitung der ›Theorie- und Praxisgeschichte‹ unumgänglich bleiben (vgl. Schmied-Kowarzik 2018, Hanak 1976, Wallat 2012 sowie Kurz 2007), ist abschließend zu betonen, dass die Frage, ob Marx (oder Engels) sich eher als positive oder negative ›identitätsstiftende‹ Figur für eine ökologisch-radikale Kapitalismuskritik eignet, nur von sekundärem Interesse ist. Philologische Untersuchungen mögen erhellend sein, sind jedoch nicht entscheidend: »Der zentrale Gesichtspunkt ist nicht die Marx-Philologie, sondern die Anforderung einer konkret-historischen Erklärung gesellschaftlicher Prozesse« (Kurz 2012, 8). Wichtig sind daher die von Ökosozialisten angestoßenen ›Diskurs- und Problemfelder‹, um die es in folgenden Abschnitten gehen soll.

3. Zur ›Dialektik‹ des Stoffwechselprozesses mit der Natur

John Bellamy Foster und andere marxistische Ökosozialisten betonen die Notwendigkeit einer Natur-Gesellschafts-Dialektik als zentralen ›Bestandteil‹ einer radikalen Kapitalismuskritik. Eine solche wurde in dem Werk von Marx und Engels zumindest versucht, wie angedeutet, indem der Zusammenhang zwischen der kapitalistischen Verwertungslogik und der von ihm bedingten Naturzerstörung aufgezeigt wurde, insbesondere hinsichtlich der Zerstörung der Bodenfruchtbarkeit durch die kapitalistische Agrarkultur. Die kapitalistische Ausbeutung der Böden führe zu einem »metabolischen Bruch«. Der »metabolische Bruch« der bürgerlichen Gesellschaft mit der Natur besteht darin, dass die Naturgrundlagen der menschlichen Existenz untergraben werden. Foster, Clark und York fassen zusammen: »Marx koppelte seine metabolische Analyse mit seiner Kritik der politischen Ökonomie, indem er beleuchtete, wie die industrialisierte kapitalistische Landwirtschaft einen metabolischen Bruch erzeugte, der die untragbaren Praktiken des Systems als Ganzem widerspiegelte. Sich auf das Werk des großen Chemikers Justus von Liebig und anderer Wissenschaftler stützend11, bemerkt Marx, dass der Bodennährstoffkreislauf der fortlaufenden Regenerierung von Stickstoff, Phosphor und Kalium bedurfte, da diese Nährstoffe von den Pflanzen aufgenommen wurden. Pflanzen und menschliche Abfälle wurden in vorkapitalistischen Gesellschaften dem Boden im Allgemeinen als Dünger wieder zugeführt und halfen somit, die verlorenen Nährstoffe zu ersetzen. Aber die Einfriedungsbewegung und die Privatisierung von Land, die das Aufkommen des Kapitalismus begleiteten, schufen eine Trennung von Stadt und Land, wobei eine Menge der Landbevölkerung vertrieben und die städtische Bevölkerung ausgeweitet wurde. Es wurden intensive landwirtschaftliche Praktiken angewandt, um die Erträge zu erhöhen. Nahrung und Textilien wurden zusammen mit den Bodennährstoffen über Hunderte, ja sogar Tausende von Meilen auf die entferntesten städtischen Märkte transportiert. Die wesentlichen Bodennährstoffe sammelten sich im Abfall, der Städte und Flüsse verschmutzte. Diese Praktiken untergruben die natürlichen Bedingungen, die zur Reproduktion des Bodens notwendig waren. […] In der Mitte des 19. Jahrhunderts trug die intensive Landwirtschaftsproduktion in England und anderen Kernstaaten zum globalen metabolischen Bruch bei, als Millionen Tonnen von Guano12 und Nitraten […] aus Peru, Chile und von anderswo her in den Norden transportiert wurden, um die ausgelaugten Böden anzureichern. […] Das in Deutschland unmittelbar vor dem Ersten Weltkrieg entwickelte Haber-Bosch-Verfahren machte es möglich, das britische Monopol auf die chilenischen Nitrate zu überwinden und erlaubte die Bindung von Stickstoff zur Produktion von Ammoniak im industriellen Maßstab […]. Dieser Versuch einer technologischen Lösung erhöhte die Industrialisierung der Landwirtschaft, ohne sich um den Ursprung des metabolischen Bruchs zu kümmern« (Foster; Clark; York 2011, 383f., Hervorh. TM)

Es geht Foster & Co also darum auszubreiten, wie Natur durch eine historisch bedingte Produktionsweise bzw. gesellschaftliche Praxis geformt und geändert wird und wurde und wie sich das wiederum auf die Gesellschaft und ihre zukünftige Reproduktion(sfähigkeit) auswirkt(e). Der kapitalistische Verwertungsprozess unterwirft die Natur als ›Rohstoff‹ und reißt alle Naturschranken ein. Das Kapital abstrahiert von allen Qualitäten und verunmöglicht von vornherein, dass auf eine Art und Weise produziert wird, dass mit der Produktion zugleich die Naturgrundlagen erhalten blieben oder mit(re)produziert würden. Die Natur selbst wird den Verwertungsimperativen gemäß (um)geformt. Das Kapital ist etwa »bestrebt, alte Waldbestände mit all ihrer natürlichen Komplexität durch vereinfachte industrielle Baumpflanzungen zu ersetzen, die ökologisch steril sind, von einzelnen Arten beherrscht sind und in beschleunigtem Maße ›geerntet‹ werden könnten« (ebd., 192f.) Die ›Widerspenstigkeit der Natur‹ zeigt sich dann in (sozial-)ökologischen Katastrophen als Folge ihrer Zerstörung.

Foster & Co betonen in ihrer Auseinandersetzung mit der Umweltsoziologie, dass die Natur, aufgrund einer ›Dialektik‹ zwischen Natur und Gesellschaft, nichts der Gesellschaft Äußeres sein könne, dass sowohl konstruktivistische Positionen als auch realistische gleichermaßen falsch seien: »Eine entscheidende Trennungslinie innerhalb der Umweltsoziologie […] ist die Frage ›Realismus‹ kontra ›Konstruktivismus‹. Bis zu welchem Ausmaß ist die Natur vom menschlichen Handeln selbst und von menschlichen Vorstellungen unabhängig, und bis zu welchem Ausmaß wird sie von der Gesellschaft und von menschlichen Denkprozessen gestaltet? Die Realisten […] neigen zum Materialismus und denken in Begriffen von seinsgeschichtlicher Unabhängigkeit der Natur vom menschlichen Handeln und von menschlichen Vorstellungen. Sie betonen die natürlichen Grenzen menschlichen Wirkens. Nach dieser Ansicht kann die Natur erfolgreich verändert werden, um bis zu einem gewissen Punkt menschlichen Bedürfnissen nachzukommen – aber nur dann, wenn die natürlichen Gesetze und Grenzen zuvor erkannt und befolgt werden. Diese Ansicht ist mit einer dynamischen Vorstellung von Natur vereinbar, die evolutionäre Grundvoraussetzungen einbezieht. Die Konstruktivisten dagegen neigen zum Idealismus und Skeptizismus und heben die erkenntnistheoretischen Grenzen unseres Wissens über die Natur hervor. Sie unterstreichen das Ausmaß, in dem die Natur, wie wir sie kennen, von menschlichen Handlungen und Wahrnehmungen gestaltet wird und sind misstrauisch gegenüber dem, was sie als ›essentialistische‹ oder ›positivistische‹ Annahmen über die Natur ansehen. Nach dieser Ansicht wird gesellschaftliche Entwicklung häufig […] als von natürlichen Kräften ungehindert begriffen, die deshalb in der reinen Gesellschaftsanalyse beiseitegelassen werden können« (ebd., 272). Es gelte also eine Perspektive zu gewinnen, die beide Positionen ›aufhebt‹. Es käme also darauf an, »dass es sowohl in der Naturwissenschaft wie auch in der Sozialwissenschaft (und insbesondere in der Ökologie, die in wachsendem Maße beide umfasst), grundlegend ist, einen realistisch/materialistischen Blick zu bewahren, der auch ein Verständnis der menschlich-historischen Konstruktion der Welt in Grenzen beinhaltet. Letztlich gibt es keinen Widerspruch zwischen dem Galileo-Prinzip (›Und sie bewegt sich doch‹) und dem Vico-Prinzip (›Wir können sie [die Geschichte] verstehen, weil wir sie gestaltet haben‹), wenn jedes davon richtig verstanden und begrenzt wird. In einer leichten Überarbeitung vom marxschen Prinzip des historischen Materialismus können wir sagen, dass Menschen ihre eigene Geschichte nicht vollständig unter Bedingungen ihrer Wahl gestalten, sondern eher auf der Basis von natürlichen Umwelt- und Gesellschaftsverhältnissen, die ein Erbe der Vergangenheit sind« (ebd., 274). Im Kontext der Wert-Abspaltungs-Kritik wäre diese Perspektive als »dialektischer Realismus« (Scholz 2009, 55) des Stoffwechselprozesses mit der Natur anzugehen. Dabei gelte es die »gesellschaftliche Grundform […] in den Blick zu nehmen; dies jedoch gleichfalls in ihrer Entfaltung als konkrete Totalität und in der damit verbundenen geschichtlichen Dynamik, also in der Vermittlung mit konkreten Analysen« (ebd., Hervorh. i. O.). In diesem Sinne wären von der Wert-Abspaltungs-Kritik ökosozialistische Analysen aufzugreifen.

Foster zeigt also, dass ›ökologische Diskurse‹ im Werk von Marx & Engels keineswegs unbedeutend waren und dass von Teilen des Marxismus versucht wurde, diese weiter zu entfalten. Der ›ökologische Diskurs‹ im Marxismus war allerdings nur von begrenzter Dauer: »Dennoch verschwand dieses frühe marxistische ökologische Denken […] weitgehend. Die Ökologie innerhalb des Marxismus erlitt eine Art doppelten Tod. Im Osten kam es in den 1930er Jahren durch den Stalinismus zur buchstäblichen Eliminierung der ökologischen Elemente innerhalb der sowjetischen Führung und Wissenschaftsgemeinde – und zwar keineswegs willkürlich, da in diesen Kreisen ein Teil des Widerstandes gegen die ursprüngliche sozialistische Akkumulation zu finden war.13 […] Zur selben Zeit nahm der Marxismus im Westen eine häufig extreme, heftig anti-positivistische Form an.14 Die Dialektik wurde als auf die Natur nicht anwendbar gesehen […].15 Dies betraf den größten Teil des westlichen Marxismus, der dazu neigte, den Marxismus in wachsendem Ausmaß in Hinblick auf eine menschliche Geschichte zu sehen, die größtenteils von der Natur getrennt war. Die Natur wurde in die Sphäre der Naturwissenschaften verbannt, die gerade als positivistisch angesehen wurde. Bei Lukács, Gramsci und Korsch, die die Revolte des westlichen Marxismus der 1920er Jahre markiert hatten, glänzte die Natur zunehmend durch Abwesenheit. Die Natur ging zwar in die Kritik der Aufklärung seitens der Frankfurter Schule ein, aber bei der Natur, die hier zur Diskussion stand, handelte es sich meist um die menschliche Natur […], selten um die sogenannte ›äußere Natur‹. […] Folglich waren ökologische Einsichten selten« (Foster 2014, 184f., vgl. dazu: Schmied-Kowarzik 2018, 106ff. sowie Holland-Cunz 1994, 57ff.).

Ein wesentlicher Kritikpunkt Fosters am westlichen Marxismus besteht also darin, die Natur in das ›dialektische Denken‹ nicht miteinbezogen zu haben.16 Hintergrund war die Auseinandersetzung von Lukács u. a. mit Friedrich Engels und seiner Dialektik der Natur. Diese berge »zahlreiche ökologische Einsichten« (Foster 2014, 182) und daher ist sie eine wichtige Referenz für viele marxistische Ökosozialisten. Fosters Kritik besteht nun darin, dass der westliche Marxismus in seiner Kritik an Engels Dialektik der Natur es versäumt habe, das ›dialektische Zusammenwirken‹ von bürgerlicher Gesellschaft und Natur weiterzudenken. Mit einer durchaus berechtigten Kritik wurde das Kind gleichsam mit dem Bade ausgeschüttet.

Kritisiert vom westlichen Marxismus wurde nämlich u. a., dass Engels die Dialektik bzw. was Engels darunter verstand (zur ›Begriffsgeschichte‹ der Dialektik vgl. Brodbeck 2012, 131ff.) auf das Naturgeschehen übertragen hätte. Schmied-Kowarzik, der sich ausführlich mit der »Aporie der Naturfrage im Marxismus« beschäftigt, geht es dagegen darum zu zeigen, »dass Engels nicht deshalb zu einem objektivistischen Naturverständnis kommt, weil er die Dialektik auf die Natur ausweitet, sondern Engels hat von vornherein ein positivistisches Wissenschaftsverständnis, das ihm die Natur als auch die Gesellschaftsgeschichte zu einem objektiven Gesetzesgeschehen gerinnen lässt. Dies haben jene Kritiker des dogmatischen Marxismus – beginnend mit Georg Lukács bis hin zu Jean Paul Sartre verkannt, die glaubten, nur dadurch die Marxsche Dialektik retten zu können, dass sie diese auf die Geschichte eingrenzen, während sie die Natur den positiven Wissenschaften überlassen können […] « (Schmied-Kowarzik 2018, 116, Hervorh. TM).17 »Dadurch, dass Engels nicht etwa in Analogie zur Marxschen Kritik der politischen Ökonomie eine Kritik der naturwissenschaftlichen Naturerkenntnis vornimmt […], sondern lediglich jenen naturwissenschaftlichen Aussagen affirmativ nachgeht, die die Bewegungs- und Gestaltungsprozesse der Natur […] beschreiben, erliegt Engels natürlich selber dem Gesetzesobjektivismus der neuzeitlichen Wissenschaften« (ebd., 110f., Hervorh. i. O.).

Engels Dialektik der Natur liest sich in der Tat wie ein »cartesische[s] Wissenschaftsprogramm« (Brodbeck 2012, 137). Der Begriff ›Dialektik‹, wie er von Engels verwendet wird, meint oft das, was man heute mit dem Begriff Emergenz18auszudrücken versucht (dazu: Kangal 2020). Mit ›Dialektik‹ versucht Engels die ›Eigenheit‹ der Natur zu erfassen, dass sie ›nicht mit sich identisch‹ bleibt und auf multiplen Ebenen permanenter Veränderung ausgesetzt ist (Engels 1973, 202ff.) Darüber hinaus ist, wie Karl-Heinz Brodbeck anmerkt, mit ›Dialektik‹ (also nach Engels den drei ›Gesetzen‹: Umschlagen von Quantität in Qualität und umgekehrt, Durchdringung der Gegensätze und Negation der Negation, vgl. Engels 1972a, 348) nichts erklärt oder verstanden: »Natürlich kann man das Kochen von Wasser als einen dialektischen Umschlag von Quantität (Temperaturerhöhung) in Qualität (Wasser wird zu Dampf) beschreiben. Doch was ist damit sachlich gewonnen? […] Erklärt oder verstanden ist damit gar nichts. Als wirkliche Einsicht steckt darin nur, dass Naturformen offenbar nicht von ihrer Seite her mit sich identisch sind. Der Grund für ihre Nichtidentität ist aber konkret, und das heißt immer auch technisch aufzudecken. Einige Techniken sind uns gleichsam in die Wiege gelegt: Jeder kann durch die Wärme seiner Hände Eis schmelzen und die ›Nicht-Identität‹ von Eis über alle Situationen hinweg sinnlich erfahren. Doch derartige Erfahrungen führen gerade dazu, dass man den Satz der Identität für das Handeln durchsetzt. Und das gelingt dadurch, dass man hinter jedem Wandel doch eine ›Identität‹ als Substanz behauptet, die sich dann nicht ändert (H2O). Tauchen dann neue Phänomene durch neue Techniken auf, dann sucht man tiefer liegende, mit sich identische Elemente (H, O), die später wiederum in tiefer liegende identische Entitäten aufgelöst werden. Daran ist nichts ›dialektisch‹, sondern es ist exakt das cartesische Wissenschaftsprogramm« (ebd., Hervorh. i. O.).

Auch für Schmied-Kowarzik enthält die Dialektik der Natur wichtige ökologische Erkenntnisse. Jedoch so »großartig und weitsichtig diese Ausführungen von Engels auch sind und wie grundlegend sie unsere lebensnotwendige Einbezogenheit in die Natur auszusprechen vermögen, sie können doch nicht darüber hinwegtäuschen, dass auch hier Engels im Gegensatz zu Marx gerade nicht mit einer Kritik an der wertökonomischen Formbestimmtheit der gegenwärtigen Wissenschaft und industrieller Naturbeherrschung ansetzt, sondern ganz naiv wissenschafts- und industriegläubig auf noch mehr objektivistisches Wissen und technologische Planung baut – ganz ähnlich übrigens, wie er dies auch für den gesellschaftlichen Bereich fordert. Denn bei Engels erwächst diese Aufgabe nicht aus einer naturphilosophischen Grundlegung, die dialektisch begreift, wie wir Menschen in unserer gesellschaftlichen Praxis die Natur beherrschend übergreifen und gleichwohl von dieser zugleich lebendig umgriffen werden, sondern Engels spricht hier seine positivistisch-materialistische Wissenschaftsgläubigkeit aus: Die Wissenschaften decken fortschreitend die Entwicklungsgesetze von Natur und Geschichte auf, denen wir uns zunehmend einzufügen und unterzuordnen haben« (Schmied-Kowarzik 2018, 111, 114f.).19 Positivistisches Denken kann die Wirklichkeit nur nachzeichnen, sie aber nicht als falsche oder entfremdete Wirklichkeit kritisieren. Es lässt »die bestehende Wirklichkeit als einzig mögliche und historisch notwendige erscheinen« (Zivotić 1972, 39).

Mit Engels ist also nicht »die Überwindung der ›zweiten Natur‹ […] angesagt, sondern die ›Anwendung ihrer Gesetze‹, nicht die Kritik der Objektivierung, sondern deren ›Beherrschung‹ durch positive ›Sachkenntnis‹. […] Zumindest der Marx des Fetischkapitels lässt durchblicken, dass es im Gegenteil darauf ankommt, diese Gesetze und damit die objektivierte ›Gesetzlichkeit‹ von Gesellschaft überhaupt zu durchbrechen, denn deren ›Entdeckung‹ sollte in Wirklichkeit zusammenfallen mit der Kritik eines solchen Zustands, der dadurch gekennzeichnet ist, dass die Menschen ihren eigenen sozialen Zusammenhang nicht ›bemeistern‹« (Kurz 2007, 46f., Hervorh. i. O.).

Eine zentrale Schwierigkeit, die sich in der Auseinandersetzung mit ›gesellschaftlichen Naturverhältnissen‹ (Vico & Galileo, s. o.) ergeben kann, vor der Foster & Co warnen, ist die »doppelte Übertragung« (Foster; Clark; York 2011, 292ff.): »Dies bedeute […] Vorstellungen aus der Gesellschaft zur Erklärung von Natur heranzuziehen und diese Konzepte dann in naturalisiertem Gewand aus der Natur in die Gesellschaft zurück zu extrapolieren« (ebd., 294). Das wird beispielsweise in der Evolutionstheorie Charles Darwins deutlich, der »bereitwillig zugestand, einen Teil seiner Inspirationen aus der bürgerlichen Politökonomie von Smith und Malthus bezogen [zu haben]« (ebd., 292).

Bei Engels kann aufgrund des ›Positivismus‹ in seiner Dialektik der Natur (und in anderen seiner Werke) durchaus auch eine »doppelte Übertragung« festgestellt werden. Die doppelte Übertragung bei Engels liegt darin, die Pseudonaturgesetzlichkeit des kapitalistischen Verwertungsprozesses, d. h. die ›historischen Bewegungsgesetze‹ der Geschichte in der Natur ›vorzufinden‹ und damit das Erkennen und Anwenden eben dieser Gesetze zu parallelisieren mit dem Erkennen und Anwenden der ›Gesetze der Ökonomie‹ (vgl. Engels 1973, 222f.). Die »Dialektik des Kopfs«, d. h. die Dialektik Hegels, wäre »nur Widerschein der Bewegungsformen der realen Welt, der Natur wie der Geschichte« (Engels 1972a, 475). Dadurch, dass man Einsicht in diese Gesetze hat und sie rationell anwendet, könne man sowohl die Gesellschaftsentwicklung als auch die Natur beherrschen (Engels 1972b, 264): »So sieht Engels das Ziel des Sozialismus nicht wie Marx in der Befreiung der arbeitenden Menschen aus den verselbstständigten wertbestimmten Produktionsprozessen, sondern in der Einfügung der Individuen in die von den Wissenschaften erkannten objektiven Gesetzmäßigkeiten der Natur und der Gesellschaftsentwicklung sowie deren planvollen Anwendung zur Steigerung der Industrieproduktion und zur Errichtung eines organisierten Sozialismus« (Schmied-Kowarzik 2018, 116). Obgleich die Engels’sche Dialektik durch den stalinistischen Marxismus-Leninismus weiter vulgarisiert und dogmatisiert wurde (ebd., 116ff., zum sowjetrussischen ›dialektischen Materialismus‹ vgl. Hanak 1976, 105ff., Bocheński 1950 sowie Stalin 1956), kann sich Stalin in seiner Parallelisierung der Naturgesetze mit denen der Warenproduktion durchaus zu Recht auf Engels berufen (Stalin 1972, 6f.).20

Trotzdem ist das noch nicht das Ende der Fahnenstange. Unterschlagen wird in der ›Positivismuskritik‹21 der Dialektik der Natur, dass Marx & Engels das ›Erkennen der Naturgesetze‹ und die entsprechende ›Anwendung‹ auch im Zusammenhang mit der kapitalistischen Agrarkultur ausbreiteten (etwa in: Marx 1973, 828, ausführlich: Saito 2016 sowie Engels 1972a, 452f.). Diese untergrabe die Naturgrundlagen der menschlichen (Re-)Produktion) und führe dazu, dass der Stoffwechselprozess des Menschen mit der Natur destruktive Formen annehme (Zerstörung der Bodenfruchtbarkeit, Bodenerosion durch Entwaldung usw.). Der »Widerspruch zwischen Stoff und Form« (Ortlieb 2009) zeigt sich damit auch im Stoffwechselprozess mit der Natur. Ein Erkennen und Anwenden der ›Naturgesetze‹ kann also auch darin bestehen, die Produktion, d. h. den Stoffwechselprozess mit der Natur so zu organisieren, dass mit ihr zugleich die Naturgrundlagen mit(re)produziert statt dass sie sukzessive zerstört werden (Saito 2016, 243ff.). ›Naturgesetze‹ würden hier also nicht in einem ›mechanistischen‹ oder ›ontologischen‹ Sinne verstanden, sondern eher im Sinne eines Begriffes, der Eigenheiten der Natur ›festhält‹, über die Menschen nicht beliebig verfügen und sie schon gar nicht ›nachbauen‹ können, was sich dann in Tatsachen ausdrückt, wie ›Wald speichert Wasser‹ oder ›Humusbildung dauert lange‹. »Es ist«, wie Foster & Co betonen, »von allerhöchster Bedeutung, dass die Natur unter ihren eigenen Konditionen verstanden wird.