Fahrtwind - Wagnis und Wahn - Klaus Möckel - E-Book

Fahrtwind - Wagnis und Wahn E-Book

Klaus Möckel

0,0

Beschreibung

Heike, eine Dreizehnjährige, pflegt mit ihren Freunden ein außerordentlich gefährliches Hobby, das S-Bahn-Surfen. Vor allem um Thomas zu imponieren, in den sie verliebt ist, schließt sie mit einem sensationslüsternen Reporter eine Wette ab. Für etwas Geld will sie während der Fahrt aufs Wagendach klettern. Das Experiment scheint zu glücken, doch dann geschieht etwas Unerwartetes ... Ein dramatisches Szenarium, bei dem es um Tod und Leben geht.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 53

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Impressum

Klaus Möckel

Fahrtwind – Wagnis und Wahn

ISBN 978-3-68912-130-3 (E-Book)

Das Titelbild wurde mit KI erstellt.

© 2024 EDITION digital®Pekrul & Sohn GbR Godern Alte Dorfstraße 2 b 19065 Pinnow Tel.: 03860-505 788 E-Mail: [email protected] Internet: http://www.edition-digital.de

Fahrtwind – Wagnis und Wahn

In den schon kahlen Ästen der Pappel hing ein Papierdrachen. Zerschlissen und gerupft, der Wind zauste an den noch verbliebenen roten und blauen Schwanzfedern. Der Mann neben Heike, er trug eine hellgraue Lederjacke, Cargohose und eine schmale, silbern umrandete Brille auf der schmalen Nase, schaute aus dem Fenster. "Abgestürzt", sagte er. "Der bunte Vogel hat sich losgerissen und ist abgestürzt. Habt ihr keine Angst, dass euch das auch mal passieren könnte?"

Die S-Bahn sauste dahin. Der Drachen war längst aus dem Blickfeld verschwunden, Einfamilienhäuser in herbstlicher Gartenlandschaft zogen vorüber. Langsam, weil sie etwas tiefer lagen und ein Stück entfernt. Weiter hinten sah man Wiesen, abgeerntete Felder.

"Wir reißen uns nicht los, wir halten uns fest, Mann", erwiderte Kotte. Er war der Kleinste in der Clique, nur eins achtundsechzig groß, was ihn beim Surfen behinderte. Trotz dicker, luftgepolsterter Sohlen unter den Turnschuhen gelang es ihm nur schwer, nach oben aufs Dach zu steigen. Es war sein großer Kummer.

Piet, etwas dicklich, aber trotzdem gewandt, lachte. "Wenn's dich abklatscht, bist du selber schuld, hast nicht aufgepasst. Dann ist's eben vorbei, na ja, wenigstens bist du mal geflogen. Manche quatschen ihr ganzes Leben lang vom Fliegen und schaffen's nie." Er blickte den Mann in der grauen Lederjacke herausfordernd an.

Die andern nickten zustimmend. Ev, das Mädchen mit dem langen, blonden Haar, verdrehte die Augen und rutschte komisch auf ihrem Sitz zusammen, als müsste sie ihr Leben aushauchen. Günther, wegen seiner rauen Stimme Brummi genannt, imitierte mit abgespreizten Armen einen trudelnden Düsenjet und Kotte griente nur. Lediglich Thomas reagierte nicht. Für den ersten Augenblick jedenfalls. Er stand lässig da, an die Abteilwand gelehnt, mit gelangweiltem Blick. Er schaute niemanden an, auch den Mann mit der Brille nicht. Dann aber, ohne jede Hast, fasste er die Griffe der Abteiltür und schob deren Flügel auseinander. Gegen die Pneumatik, die sie geschlossen hielt. Er zwängte sich durch die Öffnung und hing im nächsten Moment draußen im brausenden Fahrtwind. Die Fußspitzen auf dem schmalen Sims des Waggons, die Hände um den oberen Rand des Fensters gekrallt, das halb offen stand. Ein fremdes, triumphierendes Lächeln auf den Lippen. Schließlich stieg er, mit den Händen übergreifend und die Puffer als Fußstütze benutzend, zum nächsten Waggon hinüber.

Heike, lang und schlaksig, was ihr den Spitznamen Stange eingebracht hatte, den sie gar nicht mochte, sah ihm bewundernd nach. Wie Tommi das wieder gemacht hatte, einmalig. Die andern quatschten, er aber handelte. Er war und blieb der Größte, nicht zu übertreffen.

Sie ließ sich auf den Sitz neben Ev fallen und streckte die Beine aus. Bis zur nächsten Station würde nichts mehr passieren und dann war die Fahrt für heute zu Ende. Unter halb geschlossenen Lidern hervor beobachtete sie den Mann in der grauen Jacke. Er hatte sich als Rudi Enderlein bei ihnen vorgestellt – "sagt einfach Rudi zu mir" – und war das dritte oder vierte Mal mit ihnen zusammen. Angeschleppt hatte ihn vor zwei Wochen ein Schüler der 8b, ein früherer Freund von Günther.

"Da ist jemand, der was über das S-Bahn-Surfen schreiben will, er lässt einen Fünfziger springen, wenn ihr ihn mal auf die Fahrt mitnehmt."

"Was denn, will der Olle etwa mit uns aussteigen?", fragte Kotte spöttisch.

"Nein, nein, er möchte bloß einiges wissen und vielleicht auch sehn."

Nach einigem Hin und Her hatte sich die Clique schließlich auf die Sache eingelassen.

Anfangs waren sie trotzdem skeptisch gewesen: Vielleicht ein Bulle, der sich bei ihnen einschleichen wollte. Doch die Bullen kümmerten sich nicht um Surfer, sie hatten mit Bankräubern, Sexstrolchen und den Randalen der Glatzen genug zu tun. So hatten sie sich mit diesem Mann getroffen, waren handelseinig geworden. Nicht ein Fünfziger insgesamt, sondern ein Zwanziger für jeden von ihnen, auch für den Schüler von der 8b. Dafür ließen sie sich sogar fotografieren.

Es war nicht das erste Mal, dass über diese Art von Surfen geschrieben wurde, die Zeitungen hatten schon ein paar Artikel gebracht. Dass dieser "Sport", wie so vieles andere, aus den USA kam, von den Frankfurter, Hamburger und nun auch Berliner Teenies übernommen wurde. Ein gefährliches, ja irrwitziges Spiel, das immer aufs neue Schwerverletzte oder gar Tote forderte. Heike und die anderen allerdings wussten, dass es für viele Kids trotz allem das Höchste war. Für manche des "geilen Gefühls" wegen, wenn man bei Tempo siebzig oder achtzig draußen im Wind hing, für andere auf Grund der Anerkennung. Fast jeder träumte davon, auch jene, die sich nicht zu surfen trauten.

Rudi Enderlein kam nicht von der Presse, er wollte, wie er sagte, ein Buch schreiben. Über Kinder und Jugendliche, was sie heute dachten und taten, über ihr Lebensgefühl. Das S-Bahn-Surfen gehörte dazu, verdiente sogar ein besonderes Kapitel. Sie sollten einfach erzählen, ihn ein bisschen an ihrer Freizeitbeschäftigung teilhaben lassen. Na gut, das konnte er haben. Thomas berichtete von einer kürzlichen Prügelei mit den Glatzen, Günther von seinen Alten, die sich dauernd krachten, Ev vom Vater, der Lehrer gewesen war und jetzt Versicherungen verkaufte. Zwischendurch führten sie ihm ein paar Kunststücke während der Fahrt vor. Und obwohl Enderlein es eigentlich wahnwitzig fand und gegen das Draußen-Herumklettern war, wie er behauptete, fotografierte er alles.

Heike hatte dem Mann in der grauen Jacke nicht viel von sich erzählt; die Dinge, die in den letzten Jahren im Land, aber auch zu Hause und mit ihr selbst passiert waren, bildeten ein wirres Knäuel in ihrem Kopf, das sie noch nicht zu entwirren vermochte. Nur vom Ballettunterricht hatte sie berichtet, den sie abbrechen musste, weil das jetzt Geld kostete und ihre Alten jeden Pfennig in den Audi steckten.

"Anfangs war's ja schön mit dem neuen Wagen, wir haben ein paar tolle Fahrten gemacht, bis nach München und Heidelberg. Aber seit die Mieten so hoch geworden sind und bloß noch Mutter richtig verdient, unternehmen wir überhaupt nichts mehr zusammen; sie haben immer Angst, es könnte zuviel kosten." Dann hatte sie geschwiegen und die andern reden lassen, der da konnte ja auch nicht helfen.

Dennoch gab es zwischen ihr und dem Mann in der grauen Jacke ein Geheimnis, von dem niemand sonst wusste, nicht einmal Thomas. Der Junge, der auf sie als die Jüngere spöttisch herabschaute, ihre Verehrung nicht ernst nahm, durfte auch nichts wissen. Wenn sie ihn nicht überraschte und vor vollendete Tatsachen stellte, würde er sie nie auf den geplanten Hollandtrip mitnehmen. Er würde allein aufbrechen, sich ins Abenteuer stürzen, und sie blieb hier wie die andern. Mit den Eltern, die uneins waren, den blaffenden Lehrern, mit dem Rest der Clique, na gut, wenigstens etwas, doch was war der Rest ohne Tommi?