Fake und Fiktion - Thomas Strässle - E-Book

Fake und Fiktion E-Book

Thomas Strässle

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Beschreibung

Schluss mit dem Starren auf die Faktenchecks! Zur Halbzeit der Präsidentschaft von Donald Trump wissen alle, dass die Fiktion im Gewande des Fakes die Vorherrschaft der Fakten abgelöst hat. Die Instanz für Fragen der Fiktion, die Literaturwissenschaft, hat sich aber bislang vornehm zurückgehalten. Nun nimmt sich der Literaturwissenschaftler Thomas Strässle der Sache an. Jeder Fake ist eine Form von Fiktion, wie auch ein Roman Fiktion ist. Aber nicht jede Fiktion ist auch ein Fake. Was muss passieren, damit eine Fiktion als Fake für wahr gehalten wird? Wie lernen wir, Lügen zu unterscheiden – die schönen Lügen der Literatur von den bösen Lügen der Fakes? Davon handelt Strässles großer Essay.

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Über das Buch

Schluss mit dem Starren auf die Faktenchecks! Zur Halbzeit der Präsidentschaft von Donald Trump wissen alle, dass die Fiktion im Gewande des Fakes die Vorherrschaft der Fakten abgelöst hat. Die Instanz für Fragen der Fiktion, die Literaturwissenschaft, hat sich aber bislang vornehm zurückgehalten. Nun nimmt sich der Literaturwissenschaftler Thomas Strässle der Sache an. Jeder Fake ist eine Form von Fiktion, wie auch ein Roman Fiktion ist. Aber nicht jede Fiktion ist auch ein Fake. Was muss passieren, damit eine Fiktion als Fake für wahr gehalten wird? Wie lernen wir, Lügen zu unterscheiden — die schönen Lügen der Literatur von den bösen Lügen der Fakes? Davon handelt Strässles großer Essay.

Thomas Strässle

Fake und Fiktion

Über die Erfindung von Wahrheit

Carl Hanser Verlag

Inhalt

I: Fake und Fiktion

II: Dunkler Ursprung

III: Amerika gibt es nicht

IV: Wie wahrscheinlich ist die Wirklichkeit?

V: Faktual oder fiktional?

VI: Faketional

VII: Schleifende Schnitte

VIII: Unheimliches Tal

IX: Autorität und Autorschaft

X: Das Märchen vom Märchen

XI: Über die Wahrheit des Fakes im außermoralischen Sinn

Anmerkungen

Die Schriftstellerin sagte an diesem Abend,

sie sei keine Lügnerin, auch nie eine gewesen,

und die Anwesenden lachten.

Dorothee Elmiger

I

Fake und Fiktion

Ausweitung des Tinder-Denkens

Im Sommer 2017 erschien im Netz ein Browserspiel mit dem Namen Factitious, das von der Journalistin Maggie Farley und dem Gamedesigner Bob Hone an der American University in Washington, D. C., entwickelt wurde. Ursprünglich für Schülerinnen und Schüler amerikanischer Middle und High Schools gedacht, wendet es sich aber angesichts der politischen und medialen Aktualität inzwischen auch an das allgemeine Publikum und ist frei verfügbar.1

Factitious funktioniert nach der Logik der Dating-App Tinder — einfach mit dem Unterschied, dass nicht über mögliche neue Bekanntschaften, sondern über den Wahrheitsgehalt von Nachrichten geurteilt wird: »Can you tell real news from fake news?« Die Geste, mit der die Entscheidung kundgetan wird, ist in beiden Fällen dieselbe: Man wischt nach links, wenn man an jemandem nicht interessiert ist beziehungsweise einer Meldung nicht traut, man wischt nach rechts, wenn das Gegenteil der Fall ist. Wahlweise kann man auch einen Button betätigen: »Swipe right or click ✓ if you think the article is real, swipe left or click × if you think the article is fake.«

Es sind knifflige Meldungen, die auf ihre Faktizität oder ›Faketizität‹ hin beurteilt werden müssen. Die Nachrichten selbst entstammen einerseits seriösen, zuverlässigen Quellen wie Reuters oder der Associated Press, andererseits satirischen Quellen wie The Onion oder der Fake-News-Website The Alabama Observer. So meldet zum Beispiel eine Nachricht bei Factitious unter dem Titel »Problematic ›President Trump‹ becomes Fake News«:

Präsident Trump wurde kastriert und ist jetzt Fake News, gemäß Angaben der südafrikanischen Pferdesportbehörde.

Präsident Trump, ein Rennpferd in Südafrika, erwies sich als nicht renntauglich, sagte sein Trainer Justin Snaith.

»Präsident Trump war sehr laut und konnte sich nicht auf seine Arbeit konzentrieren. Ich erlebte ihn als extrem störrisch. Ich erwog Scheuklappen und ein Zungenband, aber er war so unbezähmbar, dass ich keine andere Wahl hatte, als ihn zu kastrieren.«

Drei Tage, nachdem Präsident Trump kastriert worden war, entschied der Nationale Pferderennverband, eine Namensänderung zu verlangen.

Sein neuer Name ist Fake News.2

Fake News oder Real News? Nach links oder nach rechts? So fabelhaft — im wörtlichsten Sinn — die Story klingt und so überspitzt die Pointe am Schluss: Die Meldung stammt aus einer überaus vertrauenswürdigen Quelle, die bei Factitious auch nachgewiesen wird: der Racing Post, der führenden britischen Zeitschrift für Pferderennsport, Horse Racing Cards, Results & Betting. Dort kennt man keinen Spaß, wenn es um Pferde geht. Fraglich ist höchstens, warum der südafrikanische Pferderennverband eine Namensänderung verlangt, wenn ein Pferd kastriert wird.

Andere Nachrichten dagegen wirken ganz plausibel und sind doch frei erfunden. Von der bekennenden Fake-News-Website Adobo Chronicles3 stammen beispielsweise die Ergebnisse einer landesweiten Umfrage unter 5000US-Teenagern im Alter von 13 bis 19 Jahren. Die Frage lautete: »Was weißt Du über G7?« 85 Prozent hätten geantwortet, es handle sich dabei um das neue Smartphone von Google, wohingegen nur fünf Prozent die korrekte Antwort wussten. Wer jünger ist als 13 oder älter als 19 kann auf diese Geschichte leicht hereinfallen.

So raffiniert und amüsant Factitious konzipiert ist und mit News beziehungsweise ›News‹ alimentiert wird: Das Spiel bleibt seiner Anlage nach gefangen in einem binären System von wahr und falsch (»Can you tell real news from fake news?«). Es beurteilt jede Meldung ausschließlich nach dem Kriterium ihrer Faktizität. Die Geste des Wischens kennt nur zwei Seiten: nach links oder nach rechts, fake or real.

In diesem eingeschränkten Bewegungsraum spiegelt das Spiel ein Denken in Oppositionen, wie es für die gegenwärtige Debatte über den Fake bestimmend ist: Es operiert ganz selbstverständlich mit dem Gegensatz von Fake versus Fakt.4 Was Fake ist, vergeht sich an den Fakten, und was als Fake entlarvt werden soll, muss daher auf seine Faktizität hin überprüft werden. Faktenchecks und Faktenfinder sollen Abhilfe schaffen in einem Zeitalter, das bereits mit Ausdrücken wie dem Postfaktischen oder den alternativen Fakten auf den Begriff gebracht wird.

Daran ist nichts falsch, aber es ist auch nur die halbe Wahrheit. Denn das Phänomen Fake lässt sich nicht nur in seinem Gegensatz zum Faktischen betrachten, sondern auch in Hinsicht auf Fiktion. Jeder Fake ist eine Form von Fiktion oder hat zumindest Anteil am Fiktiven. Umgekehrt gilt dieser Satz aber nicht: Nicht jede Fiktion ist auch eine Form von Fake. Es gibt viele Formen der Fiktion (Märchen, Fabeln, Parabeln, fantastische Erzählungen, symbolistische Gedichte, absurde Dramen und so weiter), die keinerlei Anspruch erheben, als faktisch zu gelten, wie der Fake es immer tut. Und das heißt: Der Fake kann auch als eine Untergattung der Fiktion verstanden werden, als eine spezifische Ausprägung von Fiktionalität. Es fragt sich nur, wie sich diese beschreiben lässt und was dies für den Fake bedeutet — für den Fake als Form von Fiktion, wie sie für die Gegenwart politisch äußerst brisant geworden ist.

Die Disziplin, die mit solchen Beschreibungen die längste Erfahrung hat, ist die Literaturwissenschaft — hat sie es doch mit einer Kunst zu tun, die seit mehr als 2000 Jahren, seit Platons wirkungsmächtiger Dichterkritik in der Politeia, dem Verdacht ausgesetzt ist, zur Wahrheit in einem problematischen Verhältnis zu stehen, wenn nicht gar eine Form der Lüge zu sein.

II

Dunkler Ursprung

Ach wie gut, dass niemand weiß …

Die Schwierigkeiten mit dem Fake beginnen damit, dass niemand weiß, wo das Wort genau herkommt. Die Etymologie kann keine gesicherte Erklärung geben, bietet aber eine interessante Auswahl an Erklärungsmöglichkeiten. Unzweideutig scheint, dass der oder das Fake ein Anglizismus ist, der es als solcher innert kürzester Zeit in den Duden geschafft hat.5 Im Deutschen wird das Wort seit Anfang der 1990er Jahre verwendet6 und ist inzwischen mehr als geläufig, auch wenn ihm seine fremdsprachige Herkunft sofort anzusehen und anzuhören ist.

›Fremd‹ und ›eigen‹ sind allerdings nicht so leicht unterscheidbar: Womöglich stammt der englische Begriff wiederum aus dem Deutschen. So behauptet es jedenfalls der Oxford English Dictionary. Auch er, selbst er, kann die Frage nach der Herkunft des Wortes nicht beantworten, wartet aber mit einer erstaunlichen Vermutung auf. Zum Verb fake, aus dem sich das gleichlautende Substantiv herleitet, schreibt er:

Of obscure origin. There appears to be some ground for regarding it as a variant of the older FEAK, FEAGUE, which are prob. ad. Ger. fegen (or the equivalent Du. or LG.) to furbish up, clean, sweep.7

[Dunklen Ursprungs. Es scheint einigen Grund dafür zu geben, es als eine Variante der älteren FEAK, FEAGUE zu betrachten, die vermutlich auf das deutsche fegen zurückgehen (oder das niederländische oder niederdeutsche Äquivalent), herrichten, reinigen, kehren.]

Faken kommt von fegen: Das ist, auch wenn sie nicht auf sicherem Grund steht, eine ebenso überraschende wie anregende etymologische Erläuterung, da sie viele Richtungen andeutet, in die der Fake gedacht werden kann. Das deutsche Verb fegen hat, sprachgeschichtlich gesehen, selbst einen Bedeutungshorizont, der uns nur noch teilweise gegenwärtig ist. Das Grimm’sche Wörterbuch schreibt dazu:

Gegenstand des Fegens können zum Beispiel Waffen sein: Ein Schwert wird gefegt, damit es scharf sei, wenn es schlachten soll, und es wird gefegt, damit es blinke, wenn es Eindruck machen soll. Man kann aber auch Gold fegen, es also reinigen und läutern, Hirsche fegen ihr Geweih, indem sie es an Bäumen wetzen, wenn sie brünstig sind, mit einem Gläschen Rum kann man den Magen fegen, ihn durchputzen, oder man kann, das ist die heute gebräuchlichste Verwendung des Worts, den Staub oder Unrat fegen, ihn wegmachen, oder umgekehrt den Herd oder den Ofen, um sie von allem zu befreien, was ihre Sauberkeit stört. Ein anderes Wort für fegen in diesem Sinne wäre wischen — ein Wischen, das in seinem Bewegungsraum frei ist und nicht notwendigerweise nur zwei Richtungen kennt. Swipe or sweep, that’s the question.

Gemeinsam ist all diesen Verwendungen, dass die Tätigkeit des Fegens darauf abzielt, etwas zu schärfen oder zu reinigen, um es den eigenen Vorstellungen und Zielen gemäß zu machen. Was gefegt wird, soll danach im doppelten Wortsinn besser wirken, im Interesse dessen, der fegt. Im Hinblick auf die Absichten des Fegens ist besonders der Hinweis interessant, es sei »nah verwandt mit fügen, aptare«. Denn darin wird eine Absicht, die über fegen qua fügen auch in faken steckt, geradezu technisch ausbuchstabiert: Der Grimm umschreibt sie mit den Wendungen »passend verbinden, wolanschlieszend verbinden, wolanschlieszend fest machen, in verbindung bringen«, »genau und fest aufeinander- oder anpassen«, »passlich gestalten« oder »ordnend gestalten«.9 Die Absicht ist klar: Fügen heißt, etwas so zu bearbeiten, dass es passt — möglichst so wohlanschließend, dass man es nachher nicht mehr bemerkt.

Es gibt jedoch auch ganz anders lautende etymologische Herleitungen. In seinem Buch über den Fake in Mythos, Literatur und Wissenschaft zitiert Manfred Geier die folgende Variante:

FAKE, amerik. Slang: Täuschung, Schwindel; so tun, als ob. Abgeleitet aus »factitious« (unecht, künstlich), in dem »factual« (tatsächlich, wirklich) und »fictitious« (eingebildet, erfunden) verbunden sind. Von lat. »facere« (machen) bzw. »fingere« (erdichten); indogerm. »fakli«: was sich machen lässt.10

Am geläufigsten ist factitious im Englischen zur Beschreibung eines psychopathologischen Syndroms: der Factitious Disorder (Münchhausen-Syndrom). Damit ist eine artifizielle Störung gemeint, in der sich eine Person aus innerem Zwang verhält, als ob sie eine körperliche oder geistige Krankheit hätte. Sie tut dies durch absichtliches Erzeugen oder Vortäuschen von physischen oder psychischen Symptomen. Abzüglich seiner medizinischen Implikationen findet sich dieser Aspekt auch in der Definition von Fake, wenn er beschrieben wird mit »so tun, als ob«. Der Fake ist somit auch eine Form der Verstellungskunst, die nach antiker rhetorischer Lehre grundsätzlich zwei Spielarten kennt: die simulatio, also zum Beispiel die vorgebliche Übernahme einer anderen Position, oder die dissimulatio, also zum Beispiel das Verschleiern der eigenen Position. Man kann nicht nur so tun, als ob, man kann auch so tun, als ob nicht.