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Er begann als Bassist in einer Wiener Underground-Band und wurde zur Nummer eins in Amerika. Falco – der einzige internationale Pop-Star Österreichs. Doch die Geschichte des Falken ist weit mehr als die Story einer außergewöhnlichen Musikkarriere mit all ihren Höhenflügen und Tiefpunkten. Es ist die Lebensgeschichte einer zwischen Kunstfigur und Mensch zerissenen Persönlichkeit. Das DoRo-Buch, eine Romanbiographie, gibt sich nicht damit zufrieden, die vielen verschiedenen Masken eines überaus charismatischen Künstlers zu beschreiben. Es erzählt, was diese Masken verbargen. So schillernd die öffentliche Figur Falco zwischen Welterfolg und Skandalen auch war, die wahre Faszination liegt unter der Oberfläche, hinter den Schutzschildern, die dem Menschen Hans Hoelzel als Versteck dienten. "Falco – Hoch wie nie" ist ein Buch voller Kontraste. Es handelt von rasantem Aufsteig und illustrem Absturz. Von der Schnellebigkeit einer verrückten Branche und von der Zeitlupe abseits der Erfolge. Vom Jubel und der Stille danach. Es erzählt von Frauen und Einsamkeit. Von gelebten Träumen und wahren Sehnsüchten. Es beschreibt das NIemandsland zwischen Selbstüberschätzung und Zweifel. Und es geht um einen tragischen Unfall, bei dem Hans Hoelzel starb, während Falco Legende wurde.
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Seitenzahl: 428
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Romanbiographie
Das DoRo-Buchvon Rudi Dolezal & Hannes Rossacher
Mit Andrea Fehringer
Die Autoren danken allen Personen, die sich für Recherchegespräche, Interviews, Statements und als Informanten für dieses Buch freundlicherweise zur Verfügung gestellt haben.
Speziellen Dank an das DoRo-Team, besonders Sandra Stromberger, Alina Wolff und Susanne Berger.
ISBN 3-218-00656-2
eISBN 978-3-218-01231-7
Copyright © 1998 by Verlag Kremayr & Scheriau, Wien
Alle Rechte vorbehalten
Schutzumschlaggestaltung: Eva Silvand
unter Verwendung eines Fotos von: DoRo
alle Fotos im Innenteil: DoRo Produktion/DoRo Print bzw. Das Medienstudio
Lektorat: Elisabeth Tschachler-Roth
Repros: Repro Wohlmuth, Wien
Satz: Zehetner Ges. m. b. H., A-2105 Oberrohrbach
„Wenn ich morgen meinem Gott gegenüberstehe,kann ich ihm sagen:‚Ich bin unschuldig.Ich habe niemanden betrogen,ich habe niemandem weh getan,außer mir selbst.‘Und das wird er mir verzeihen.“
Hans Hoelzelin einem seiner letzten Interviews
An seine Fans
Warum es dieses Buch gibt
Prolog: Sterben …
DIE ANFÄNGE: 1977–1981
1. Kapitel: Ich will Popstar werden
2. Kapitel: Wir zwei: Hans Hoelzel & Hansi Lang
3. Kapitel: Songs im Kassiber
4. Kapitel: Falco trifft Faust
5. Kapitel: Nenn mich ab heute Falco
6. Kapitel: Kein Double seiner selbst
AUFSTIEG UND FALL: 1982–1988
7. Kapitel: Einzelhaft
8. Kapitel: Falco & David Bowie
9. Kapitel: Junge Römer tanzen anders
10. Kapitel: Helden von Heute
11. Kapitel: Hoch wie nie
12. Kapitel: Humphrey Bogart & der Herr Karl
13. Kapitel: Holland, Bolland & eine Kuh
14. Kapitel: Amadeus
15. Kapitel: Die Nummer eins von Amerika
16. Kapitel: Dialog mit Oskar Werner
17. Kapitel: Ich hasse mich
18. Kapitel: Graz und die Folgen
19. Kapitel: Wundersame Vermehrung
20. Kapitel: 12 Uhr Mitternacht, Rio de Janeiro
21. Kapitel: Die Konferenz der Nazis
22. Kapitel: Jeanny
23. Kapitel: Ich bin so stolz
24. Kapitel: Emotional
25. Kapitel: Die Japan-Tour
26. Kapitel: Hochzeit in Las Vegas
OUT OF WHICH DARK? 1989 BIS HEUTE
27. Kapitel: Weltreise zu sich selbst
28. Kapitel: Der Geldkoffer
29. Kapitel: Der Umfaller
30. Kapitel: Ein Unfall ohne Folgen
31. Kapitel: Der Vaterschaftstest
32. Kapitel: Donauinsel – Ganz oben
33. Kapitel: Nitsch/Ambros/Falco/Wilfried: Was ist Kunst?
34. Kapitel: Schule für Dichtung: Meine Heroes
35. Kapitel: Out of the Dark, endgültig
36. Kapitel: Die haben mich alle vergessen
37. Kapitel: Der letzte Auftritt: Verdammt, wir leben noch
38. Kapitel: Das helle Licht
39. Kapitel: Der letzte Tag
40. Kapitel: Coming home
Epilog: … Um zu leben
Statt eines Nachwortes: Seine Weggefährten – Wie sie ihn sehen
Statements über Falco
Dieses Buch, diese Romanbiographie, ist ein Porträt sowohl meines Sohnes Hans als auch des Künstlers Falco.
Rudi Dolezal und Hannes Rossacher haben meinen Sohn seit Beginn seiner Karriere filmisch und als Freunde begleitet. Mit ihren Videos war DoRo mit dem künstlerischen Schaffen meines Sohnes stets engstens verbunden und hat einiges zu seinen Erfolgen beigetragen.
Als Mutter wünsche ich mir folgendes:
Im Gedächtnis seiner vielen Fans soll mein Sohn mit seiner Musik weiterleben, durch sie soll man ihn in guter Erinnerung behalten – als hervorragenden Musiker und Sänger, der es bis an die Spitze der amerikanischen Hitparade geschafft hat.
Ich möchte sein Werk zu Ende bringen, so wie er es vorhatte. Dieses Buch ist ein wichtiger Beitrag dazu. Es setzt ihm ein Denkmal, das er sich verdient hat.
Und noch eines wünsche ich mir:
Alle jene, die meinem Sohn nicht so wohlgesonnen waren, bitte ich, ihn in Frieden ruhen zu lassen.
Wir haben lange überlegt, ob wir dieses Buch schreiben sollen. Ist der Tod eines Freundes überhaupt eine Geschichte? Ist Schweigen angesagt? Kommt die Emotion der Profession in die Quere? Sind wir zu betroffen, um über unseren Freund Hans Hoelzel schreiben zu können, oder aber hat man eigentlich nur dann wirklich etwas zu schreiben, wenn man betroffen ist?
Wir haben uns für dieses Buch entschieden. Es ist unsere Art, mit dem Tod unseres Freundes fertig zu werden.
Immer wieder mußten wir in diesem Jahr Abschied nehmen von Hans Hoelzel alias Falco. Zuerst öffentlich. Der Tod des James Dean von Wien war natürlich eine Geschichte für die Medien. Und damit ein öffentlicher, ein lauter Abschied.
Noch schwerer aber war der persönliche Abschied von Hans. Der fand ganz allein, nur zwischen uns statt. Ohne Kameras, ohne Mikros, ohne Journalisten und ohne Publikum. Da ging es nicht um gut formulierte Grabreden und letzte Worte, da ging es nicht darum, wer er war in dieser Welt. Da ging es um uns. Um Hans und uns. Dieser Abschied war leise. Und umso schwerer.
In unserem Alter nimmt man doch noch nicht oft Abschied. Für uns war es das erste Mal, daß wir einem Freund adieu sagen mußten, mit dem uns so viel verbunden hatte und der uns so nah und so ähnlich war, mit seinen Stärken und noch mehr mit seinen Schwächen. Vieles wird einem in diesem Moment bewußt. Auch die eigene Endlichkeit. Doch wir hatten noch eine andere Art von Trauerarbeit zu leisten: Hans, unserem Freund, unserem Blutsbruder und Partner ein filmisches Denkmal zu setzen. Auch das war nicht leicht. Denn mit den Bildern, denen wir selbst das Laufen beigebracht hatten, wurde Hans wieder lebendig.
Hans oder Falco?
Jeden Tag schaute er uns an im Schneideraum. Zwinkerte uns zu, erinnerte uns, drängte: „Jetzt seid’s ihr dran, Burschen!“ Wir konnten und wollten uns nicht drücken.
So entstand „HOCH WIE NIE“, der filmische Tribut, den wir ihm schuldig waren. Der Dokumentarfilm über sein Leben, nicht nur über die Karriere des Stars Falco. Aber: Was war das für ein Leben? Hauptsächlich eins, das er nie hatte: Familie, Geborgenheit, Erselbst-Sein. Und im Zuge der Arbeit wurde immer deutlicher, daß die Trennung, die wir seit Jahren unbewußt vollzogen hatten, um mit ihm zurechtzukommen, immer stärker zutage trat: die Trennung in zwei „Personen“ – in Hans, den Menschen, und in Falco, die Kunstfigur. Und in vielen Gesprächen mit anderen Freunden wurde klar, daß viele sich mit Hans alias Falco leichter taten, wenn auch sie diese Trennung vollzogen.
Ein persönliches Abschiednehmen war leichter mit den Menschen, die Hans wirklich nahe gewesen waren: mit seiner Mutter, Maria Hölzel, mit Hans Mahr, Markus Spiegel, Thomas Stein, Horst Bork, den Brüdern Bolland, George Glueck, Thomas Rabitsch, seiner Band … Wir erinnerten uns auch gemeinsam mit anderen immer öfter an ihn, an Hans lieber als an Falco, obwohl er als Falco so vielen Menschen so viel gegeben hat. Über all diese Gespräche mit seinen und unseren Freunden wurden wir auch besser mit seinem Tod fertig.
Und wir begannen, gemeinsam mit Andrea Fehringer, diese Erinnerungen aufzuschreiben, festzuhalten. Aus diesen Erinnerungen wurden Szenen, aus den Szenen wurde ein Buch, dieses Buch.
Obwohl alle Menschen glauben, sich an Ereignisse so zu erinnern, wie sie tatsächlich stattgefunden haben, mag hier vieles anders dargestellt sein, als es wirklich war. Aber es hätte so sein können.
Niemand von uns konnte die Gedanken von Hans lesen, niemand wußte, wer wirklich hinter Falco steckte.
Auch mit dem Glauben an ein Weiterleben nach dem Tod ist das so eine Sache:
Wenn die Seele ewig lebt, ist dann Hans unsterblich? Oder Falco?
Dieses Buch ist Fiktion. Also erfunden.
Erfunden?
Nicht ganz. Vieles ist wahr. Sehr wahr sogar.
Und einiges ist erfunden.
Damit Sie sich leichter beim Lesen und beim Aufregen über dieses Buch tun, ein Vorschlag: Alles, was Sie nicht glauben wollen, ist erfunden. Okay?
Glauben Sie uns.
Hans und uns.
Rudi Dolezal und Hannes Rossacher
„Na, mein Freund“, sagt er und hebt die Flasche hoch, um dem Etikett ins Auge zu sehen. Viel ist nicht mehr drin, die Freundschaft mit Jack Daniels hält nie länger als ein paar Stunden.
Freundschaft, denkt er, und seine Mundwinkel zucken nach unten wie auf ein Stichwort, das noch nie was anderes ausgelöst hat als Enttäuschung. Angewidert legt er die Flasche, ohne sie zu öffnen, wieder auf den Beifahrersitz. Der Gedanke an die scharfe Spur, die der Whiskey stets durch die Kehle zieht, um dann an den Magenwänden hinunterzurinnen, zäh und heiß wie Lava, hinterläßt eine flaue Übelkeit.
Träge, wie durch einen Nebel, läßt Hans Hoelzel den Blick durch seine halbgeöffneten Lider über den staubigen Parkplatz schweifen. Eine grindige Gegend, denkt er, und sein Blick bleibt an dem Gebäude links von ihm hängen. „Tourist Disco“ steht in großen Lettern über dem Eingang. Hier hat er sich immer mit Freund Jack getroffen, wenn er sonst keine Gesellschaft mehr ertragen konnte. Jack war immer da. Vermutlich wartet er auch jetzt auf ihn.
Allein der Anblick des Lokals im gleißenden Licht des Nachmittags erregt Abscheu in Hans. Die abgefuckte Fassade erinnert ihn an tausend Nächte, nach denen ihn die Helligkeit des längst angebrochenen neuen Tages in die häßliche Realität zurückkatapultiert hat. Wie ein Puff bei Tag, denkt er. Wenn man plötzlich nicht mehr die geringste Ahnung hat, was man sich dort drinnen je erhoffen konnte. Die Vorstellung verbreitet genau den Nachgeschmack in seinem Mund, den solche Nächte zurücklassen: Ekel, Reue, den Vorsatz: nie wieder, und das tiefe Wissen, ihn das nächste Mal wieder nicht einzuhalten.
Wie in Zeitlupe tastet sich sein Blick zur Straße vor. Über die paar ausgedörrten Sträucher am Bankett, deren vor Trockenheit eingerollte Blätter von einer dicken grauen Staubschicht überzogen sind, gleiten seine Gedanken dem Horizont entgegen. Die Luft ist schwer von der Feuchtigkeit, die sie mitschleppt. Irgendwo weit hinten ertrinkt das, was sie hier Wiese nennen, im Dunst. Auf seinem Oberkörper verwandelt sich die Hitze in kleine Rinnsale aus Schweiß, die sich gelangweilt immer denselben Weg über seine Brust bahnen.
Was für eine Gegend, denkt Hans, doch unwillkürlich heben sich seine Mundwinkel wieder ein Stück. Für Ironie hat er immer schon was übriggehabt. Eine wunderbare Villa zu Hause in Gars am Kamp, eine feine Wohnung in Wien und jetzt – diese Existenz im Ferienparadies der Dominikanischen Republik. Was für eine Karriere. Und was für ein Leben.
Die Mundwinkel rasten wieder unten ein. Erneut greift er zur Flasche neben sich, wie im Reflex, bis ihm klar wird, daß von Jack Daniels heute kein Trost zu erwarten ist. Die Einsamkeit kommt wie ein kalter Platzregen. Wie zum Schutz geht ein schwarzer Vorhang über seinem Gesichtsfeld herunter. Er schließt die Augen, reißt sie aber gleich wieder auf, denn auf der Leinwand seiner Innenlider explodiert gerade die Welt in Abertausende grelle Lichtpunkte.
Na also, is’ wieder einmal soweit, meldet sich eine innere Stimme, die sich immer dann einmischt, wenn es auf der ganzen Welt keinen einzigen Menschen mehr zu geben scheint, dem er irgendwas erklären könnte. Die immer dann da ist, wenn er sich selbst nichts, aber schon gar nichts mehr vormachen kann.
Du weißt, was jetzt kommt, Alter, fährt die Stimme fort, du hast es schon so oft erlebt. Die Widerwärtigkeit von dem Gefühl, daß d’ wieder a Schlacht verloren hast. Booze fucks you. Wiss’ ma eh. Und Lady C is auch net mehr als a Schlampen, die dir vorgaukelt, wie gut du bist, und daß du eh alles schaffst. Geht das alles jetzt wieder von vorn los? Wie oft denn noch?
Instinktiv schüttelt Hans den Kopf. Eine kleine Bewegung nur, aber sie macht ihn schwindlig. Es wär’ an der Zeit, daß ich mir endlich was Neues überleg’, was ganz anderes. Was, was wirklich Sinn macht in Zukunft.
Die Vergangenheit is in jedem Fall uninteressant. Die hat mich dahin ’bracht, wo i jetzt steh. Und schau mi an, i steh auf nix mehr.
Die Oide is weg. Abgerauscht. Vor einer Woche schon. Aufgegeben. Bei der ersten kleinen Gelegenheit, wo’s drauf angekommen wär’, einen Funken Verständnis zu haben für an Typen, auch wenn man ihn net versteht.
Net, daß es so schad wär’ ausgerechnet um sie, aber es is ja ane wie die andere. Und alle sind s’ weg. Aber bitte, was macht’s für einen Unterschied? Einen einzigen: Wenn s’ dableiben, schau ich ihnen in die Augen und seh dort auch noch, daß sie nix verstanden haben. Gar nix. Und genau das bleibt von ihnen über: a Loch in mein’ Leben, voll mit nix.
Voll mit nix is mein Leben von selber. Wer bin i denn, was hab’i denn, was mach’ i denn, was red’ i denn, wer glaub’ i, wer i bin?
Falco sagen die Leut’ zu mir. Aber das bin net i. Das ist der, der mit mir in mein’ Kopf wohnt. Aber der hört beim Hals auf. Und dort hängt er mir schon seit Jahren raus.
Ja, damals, als wir gemeinsam noch was auf d’ Fiaß g’stellt haben, da hamma noch was g’habt miteinander. Er war Nummer eins in Amerika mit sein’ ‚Amadeus‘. Schon damals war er mir suspekt. Aber dann hat er mich ganz hängen lassen, das G’frast. Hat ’glaubt, er kann den Erfolg genießen, der Depp. Und is über mich drüberg’stiegen wie über a Stück Scheiße.
I hätt’ mich nie einlassen sollen mit ihm. Aber am Anfang hamma so gut z’ammpaßt, wir zwei. Er, der Herr Übernatürlich, mein Missing link zu denen da oben. Ich, sein Alter ego aus der Hacklerpartie.
Eh a gutes Team. Bis es uns a bißl ausg’hoben hat nach dem ‚Kommissar‘. Da sind wir ins Trudeln gekommen. Auf einmal war das alles ka Spiel mehr. Schneller, besser, höher hat alles gehn müssen. Nur net wieder z’ruck am Boden. Weil wir san wer. Und wir werden’s schon allen zeigen.
Er hat’s ihnen eh ’zeigt. Wie ma das Maul aufreißt, auch wenn’s kan Grund mehr dafür gibt. Aber wie’s ihm auf’prackt hat, war i dann schuld. Er, die Nummer eins. Ich, der Versager.
Und später? Da is er überhaupt nur mehr auf’taucht, wenn’s was zum Vergeigen ’geben hat. Leut’ zum Beleidigen, Chancen zum Vertuan. Das hat er ja immer gut können. Wann hab’ i denn was g’hört von ihm zum letzten Mal? Wann?
Geistesabwesend greift Hans zu der Kassette, die immer in der Mittelkonsole seines Jeeps liegt, und schiebt sie ins Autoradio. „Hörst du die Stimme, die dir sagt“, plärrt er sich selbst aus den Lautsprechern entgegen. Was willst du mir noch sagen, Alter? „Ich bin zerrissen, wann kommst du meine Wunden küssen?“
Zerrissen. Das Wort hallt in ihm nach wie der Refrain seines Songs „Out of the Dark“ aus den Lautsprechern. „… into the light …“ Die Worte umarmen sich, verschmelzen miteinander wie bei einem grandiosen Liebesakt, werden eins. „Muß ich denn sterben, um zu leben?“ hört er Falco fragen. Und plötzlich ist ihm, als wäre damit alles gesagt.
Out of the dark. Das weiße Licht kommt näher, Stück für Stück. Ja, und warum denn net?
Dann wär’ endlich Ruhe. Auf das wart’ i doch jetzt schon fast zwanzig Jahr’. Was hätt’ i denn zum Verlieren? A Oide? Die hat sich grad vertschüßt. A Karriere? Die is eh schon seit Jahren im Arsch.
A Leben? Was für ein Leben?
Auch schon was. Was is des Leben gegen an starken Abgang? 10.000 Fans am Zentralfriedhof. Der Zilk halt’ a Rede. Alle rotzen. Und am offenen Grab spielen s’ ‚It’s all over now, Baby Blue‘. Na, wunderbar. Des is a G’schicht. Halb acht, Zeit im Bild. Showtime zur Primetime. Das is Showbiz.
Das Band im Autoradio ist bei der Nummer „Egoist“ angelangt. „… damit mein Spiegelbild mir meinen Schlaf bewacht“, singt Falco. Hans lächelt.
Mein’ Schlaf bewach’ ich mir selber, lieber Freund. Von hoch oben. Hoch wie nie. Und zwar ohne dich.
Weil du mußt dann dableiben, dich werden s’ wiederentdecken und sagen, was für a leiwander Alter du eh immer warst. A Genie. Und vor allem: der einzige wirkliche Popstar in dem Land. Was für a guter Musiker. Und was für a genialer Texter. Bitte, das is ja das einzige, was net dir zusteht. G’schrieben hab’ immer no alles ich. Aber sollst sie haben, die Lorbeeren. Immerhin hast du sie ja net so schlecht über die Bühne ’bracht.
Und jetzt wird’s wieder so sein wie in unsern allerbesten Zeiten. Jetzt, bei deinem letzten Auftritt. Laß dich feiern. Und dann wirst mich nie wieder so angrinsen, so von da oben runter, wannst auf einer Bühne stehst, arrogant, präpotent, höhnisch, weil du’s g’schafft hast und i auf der Strecke ’blieben bin.
Fast bewegungslos sitzt Hans in seinem Pajero. Fasziniert von dem Szenario in seinem Hirn. Den Kopf leicht schief gelegt. Als würde er in ihn hineinhorchen. Und das weiße Licht kommt näher. Stück für Stück.
Die Kassette ist fertiggespielt. Der letzte Ton verklungen. Die Stille undurchdringlich wie eine unsichtbare Wand. Vielleicht ist auch gar nichts dahinter. Aber dieses Nichts ist so friedlich. Ein sicherer Ort. Scheinbar.
Hans startet das Auto. Er hat die Augen offen, aber er schaut nicht auf die Straße. Sieht nicht den Bus, der mit Höchstgeschwindigkeit näherkommt. Er blickt in die Zukunft. Und fährt los.
Mitten hinein. In dieses weiße Licht.
Das Licht traf ihn wie ein Blitz.
Wie ein Geschoß fuhr er in die Senkrechte und knallte mit der Stirn gegen ein Hindernis, daß es nur so durch sein Hirn prasselte. Er hatte das Gefühl, sein Schädel habe einen Sprung.
„Mutti!“ rief er entsetzt und schüttelte sich, um die Benommenheit des Aufpralls loszuwerden. „Mutti, geht’s dir gut?“
Maria Hölzel rieb sich den linken Schläfenknochen und stöhnte. „Mei, Hansi, bald wär’ die Brille hin g’wesen. Du hast vielleicht einen harten Schädel. Was mußt denn auch so in die Höh’ fahren?“
„I hab’ grad was geträumt und dann war’s plötzlich so hell. Wie bei einer Explosion, weißt?“
„Na, weil ich’s Licht auf’dreht hab’. Was du immer zusammenträumst. Jetzt komm, is ja scho halb acht vorbei. Steh auf, sonst kommst’ zu spät. Der Papa is auch scho wieder weg.“
„Der Papa war da? Wieso? Warum hast nix g’sagt, Mutti? Ich wollt’ ihm doch das neue Stückl auf der Ziehharmonika vorspielen.“
„Geh, jetzt in aller Früh. Außerdem hat er sich nur seinen grauen Mantel g’holt, weil’s Schnee ang’sagt haben im Radio. Dann hat er’s schon wieder eilig g’habt, daß er weg kommt. In die Firma, zu dieser … dieser …“ Diese … diese … blieb wieder einmal wie ein ekelerregender Gestank in der Luft hängen.
„Tu weiter, jetzt“, setzte Hansis Mutter plötzlich ziemlich gereizt nach.
Wer ist das, diese … diese …? fragte sich Hansi wie schon so oft in den vergangenen Wochen, während er unglücklich durch die ersten Schneeflocken des Jahres zur Schule stapfte. Immer, wenn von ihr die Rede ist, werden alle komisch. Die Mutti, die Oma, und mit dem Papa kann man schon gar nicht reden. Seit er so viel arbeiten muß, laßt er sich eh nur mehr alle heiligen Zeiten anschauen. Und dann streitet er immer mit der Mama und geht gleich wieder. Wollt nur seinen grauen Mantel holen, haha. Die glauben, mit zehn kann man noch nicht bis drei zählen. Ich merk doch, daß er nie mehr daheim schlaft. Dabei is doch eh genug Platz in der Wohnung. Wenn ich groß bin und Kinder hab’, werd’ ich sicher net woanders schlafen. Und die Mutti weint auch immer am Abend. Wenn er’s nächste Mal kommt, spiel ich ihm mei’ neues Stückl nicht vor.
Mit diesem Vorsatz betrat Hansi die Schule. Obwohl er sich gerade noch eingebildet hatte, daß es eben erst geläutet hat, war die Klassentür schon zu. Mist, fluchte er in sich hinein, schon wieder zu spät. Vorsichtig öffnete er die Tür.
Die Lehrerin war gut aufgelegt und nickte ihm nur kurz zu. Leise schlich Hansi zu seinem Platz und verstaute seine Schultasche unter dem Pult. Deutsch war sein Lieblingsfach, wenn es sowas überhaupt gab. Schule gehörte für ihn eindeutig zu den Dingen, die verboten werden sollten. Und Lehrer gleich mit. Außer vielleicht der Deutsch-Profaxin. Die lobte immer seine Aufsätze, obwohl sie natürlich auch eine blöde Kuh war. Was sie prompt auch jetzt wieder bewies: „Hör auf zum Rascheln, Hansi, wenn du schon unpünktlich bist, stör wenigstens die anderen nicht.“
Bei was denn schon, dachte Hansi aufsässig. Beim Beruferaten? Im Hereinschleichen hatte er gehört, wie der Walter, dieser Oberstreber, lang und breit daherstotterte, daß er einmal Schaffner werden wolle. Na, toll. Riesenkarriere.
Was Karriere war, wußte Hansi. Monatelange hatte die Mutti das dem Papa erklärt, wie er in der Firma Werkstattleiter hätte werden können, und der Papa nicht so recht gewußt hat, ob er das kann. Karriere war seither was Knallrotes in Hansis Phantasie. Wie der Pullover, den ihm die Mutti voriges Jahr gestrickt hatte, und den alle immer so bewunderten. Er konnte es zwar überhaupt nicht leiden, wenn die Tanten und die Freundinnen von der Mutti an ihm herumzupften und er sich wie ein dressierter Tanzbär im Kreis drehen mußte, aber gleichzeitig drehte sich dann auch immer alles nur um ihn. Genauso wie beim Ziehharmonikaspielen …
Hansis Gedanken entfernten sich mit Lichtgeschwindigkeit aus dem Klassenzimmer und landeten bei dem neuen Schlager, den er gestern im Radio gehört hatte, für den er den ganzen Nachmittag gebraucht hatte, um ihn nachspielen zu können, und den er dem Papa seit heute früh auf keinen Fall mehr vorspielen wollte. Noch dazu, wo der ihm akkurat eine Ziehharmonika hatte schenken müssen, obwohl er sich doch so dringend ein Klavier gewünscht hatte. Oder eine Gitarre.
Die Ungerechtigkeit addierte sich zu den neuerdings aufgetauchten Fehlern des Vaters in einem Tempo, das Hansis Mathelehrer zu einem Tanz vor der Tafel angestachelt hätte. Doch gleich darauf war auch der Papa wieder vergessen. Überblendet von einem Bild, das schon seit einiger Zeit einen Stammplatz in Hansis Vorstellungswelt einnahm: Er auf einer Bühne, einer echten Bühne, nicht so einer wie beim Kirtag in Bad Tatzmannsdorf, wo ihn die Mutti immer zu den Kurtanzereien mit diesen Pimperl-Combos mitschleppte. Und unter ihm eine beachtliche Menschenmenge, die mit jedem Lied, das er dort oben sang und zu dem er sich selbst mit der Gitarre begleitete, größer und größer wurde. Und dann – der donnernde Applaus, die begeisterten Pfiffe …
„… Hansi, ich hab dich was gefragt“, störte ihn der geradezu schrille Sopran der Lehrerin auf dem Höhepunkt seines Triumphes. Immer noch völlig entrückt, starrte er die nun doch etwas enervierte Deutschprofessorin an. „Na, was willst du einmal werden, wenn’s nicht zuviel verlangt ist?“ spuckte sie ihm vom Rande ihrer Geduld entgegen.
„Popstar“, antwortete Hansi wie aus der Pistole geschossen. Und als würde das Bild in seinem Kopf erst jetzt einen Sinn bekommen, wiederholte er mit der ganzen Inbrunst eines Zehnjährigen: „Ich will Popstar werden.“
„Tut mir leid, Wickerl, aber no amal bring’ i des net.“ Den letzten Teil des Satzes konnte man Hans bloß noch von den Lippen ablesen. Er räusperte sich. „Können wir die Nummer nicht in den zweiten Teil der Show legen? Ich bring’ ja nachher fast keinen Ton mehr raus. Wie hat der das gemacht, der McCartney? So hoch bin i net amal vorm Stimmbruch rauf’kommen.“
„War eh super, Oida“, beruhigte ihn Hansi Lang, selbst leicht krächzend. „Seit wir das Lied singen, weiß ich, warum die Beatles den Song ‚A hard day’s night‘ genannt haben, weil nachher waren s’ genauso fertig wie wir.“
„Wollt’s Musiker sein oder net?“ warf Wickerl ein. „I hab’ euch immer g’sagt, daß das ein harter Job is, und daß man …“
„… proben muß bis zum Umfallen“, antwortete ihm ein ganzer Chor. Wickerl Adam, der Kopf der Hallucination Company und jüngst in einer Zeitung sogar zum Wiener Szenepapst befördert, war bekannt für seine Schindermethoden, wie die Truppe es bezeichnete. Unter acht Stunden Proben am Tag hatte sich bei ihm keiner eine warme Mahlzeit verdient.
„Der hat leicht reden“, ereiferte sich Hansi Lang in seinem Selbstverständnis als einer der Frontmen der Company, während er mit Hans den Proberaum im Praterstadion verließ. Seit dem Aufsehen, das die Auftritte der Hallucination Company mittlerweile in der ganzen Stadt erregten, hatte man auch im Rathaus eine progressive Ader entdeckt und diesen durchgeknallten Frank-Zappa-Freaks ein Kammerl im Praterstadion für die Proben ihres Rocktheaters zur Verfügung gestellt.
„Der Wickerl hat die Show auf die Fiaß g’stellt, er hat schon recht, wenn er uns anständig hernimmt“, lenkte Hans ein.
„Na, eh klar, is scho leiwand, so a gepflegter Achtstundentag“, ätzte Lang mit der ganzen Ironie, die ihm österreichische Beamtenmentalität stets entlockte. „Manchmal denk’ ich mir, du hättest bei der Pensionsversicherung bleiben sollen. Für was bist’n Musiker worden. Oder glaubst, daß du pragmatisiert wirst bei der Company?“
„Was regst’ dich denn heut’ so auf?“ fragte Hans, der längst überrissen hatte, daß es nicht Wickerls sonst unbestrittene Fähigkeiten waren, die Hansi so auf die Palme brachten. „Is dir a Oide deppert kommen, oder was?“
„Red’ ma über alles, nur net über die Weiber.“
Damit war vorerst alles gesagt. Jeder in seine eigenen Gedanken vertieft, erreichten die beiden den letzten der Gänge, die sie, vorbei an den Umkleidegarderoben der Sportler, zu dem Ausgang führten, durch den die Athleten immer aufs Spielfeld liefen.
„Schau dir das an“, sagte Hans und blieb irgendwie ergriffen vor der riesigen Rasenfläche stehen, „in sowas möcht’ ich auch einmal spielen, verstehst? Vor 100.000 Leut’. Und alle schreien: Zugabe!“ Er brüllte das Wort quer durchs Stadion. Das Echo war nicht so imposant, wie er es sich vorgestellt hatte.
„Und genauso wird’s sein, Oida“, ließ Lang sich plötzlich mitreißen, „dort werden wir stehen, wir zwei, und die Spots, mit denen s’ uns dann anstrahlen, sind noch gar nicht erfunden. Komm, gemma zu dir.“
Dem Haus in der Ziegelofengasse in Wien-Margareten, in dem Hans wohnte, sah man nicht unbedingt an, daß es mehr als 300 Jahre alt war. Den Wohnungen schon. Kaum weniger spartanisch ausgestattet als die Unterkünfte der Mönche, die einst in dem früheren Kloster untergebracht waren, gehörten sie großteils jener Kategorie an, die das Mietengesetz als „Substandard“ bezeichnete.
Hans’ winzige Garçonnière, die er seit den frühen siebziger Jahren bewohnte, war Subsubstandard. Denn er hatte nicht nur die obligate Toilette am Gang, sondern auch noch kein Fließwasser in der Wohnung. Wollte er sich auch nur die Hände – in einem erfrischend eisigen Strahl – waschen, mußte er zur Bassena ins Stiegenhaus, wo früher die Hausfrauen ihr frisches Wasser samt dem jüngsten Klatsch eingeholt hatten.
„Hast übrigens schon g’hört“, hob Hansi Lang in dieser guten alten Tradition an, während Hans das Kaffeewasser in ein Emailreindl fließen ließ, „der Kolbert hat schon wieder eine Neue.“
„Ich kann mir schon meine Weiber nicht merken, was soll ich da dem Kolbert seine auswendig lernen“, meinte Hans mit einer Spur zuviel Nonchalance. Peter Kolbert war der Schlagzeuger der Company und nicht nur an der Batterie ein As, er schleppte auch immer die besten Hasen ab. Mitunter auch die seiner Freunde.
„Geh, tu nicht so, wie wenn dir die Groupies die Tür einrennen würden. Kannst froh sein, daß du die Gabie hast.“
Das Stichwort war etwas ungünstig placiert. Nicht nur, daß neben allen anderen in der Band auch Hans auf Kolberts männliche Unwiderstehlichkeit etwas eifersüchtig war, ihm waren überdies die Blikke nicht entgangen, mit denen der Drummer auch bei seiner Gabie, genannt Chouchou, querzubraten versuchte. Und das ausgerechnet an jenem Tag, als sie auf diesen roten Lack-Highheels dahergetrippelt war – das erste richtige Geschenk, das er je einer Frau gemacht hatte. Der Stolz war ihm wie ein Geschoß in die Schwellkörper gefahren, als sein zartes blondes Mauserl ihren Auftritt hingelegt hatte. Mit den Waffen einer Frau, ganz wie Brigitte Bardot, der sie so ähnlich sah. Nur, daß die lang nicht so gestylt war wie seine Chouchou. Dem Kolbert waren fast die Augen rausgefallen.
„Kümmer du dich nicht so viel um die Chouchou, Oida“, schnauzte er stellvertretend für den Unmut auf Kolbert nun Lang an und drehte den Wasserhahn ab. Das Häferl war voll.
Wortlos gingen die beiden in die Wohnung zurück und beschäftigten sich mit dem winzigen Kocher, auf dem das Kaffeewasser heiß werden sollte. Hansi, jedesmal wieder verblüfft von Hans’ Ordnungsliebe, verfolgte immer noch stumm dessen häusliche Anwandlungen. Viel Geschirr besaß er ja nicht in seiner Küche, aber das wenige stand genau dort, wo es hingehörte. Bedächtig wusch Hans die ohnehin sauberen Tassen noch einmal ab, bevor er den Kaffee eingoß. Nur Milch war keine im Haus.
„Du kochst den Kaffee wie der Wouk Baß spielt“, meinte Hansi noch ganz in Gedanken.
„Was für a Wouk?“
„Na, dein Vorgänger bei der Company, der immer so müde war. Weißt nimmer? Der Kärntner, der vorher zehn Jahr’ in einem Polizeiorchester war, und genauso hat er g’spielt. Bong ga ga bong ga.“ Er legte die Parodie eines Bassisten im Koma hin.
„Ah, der. Da hab’ ich noch beim Umspannwerk auf’geigt. Kommt mir vor, wie wenn’s hundert Jahr’ her wär’.“
„Was is eigentlich aus dieser Kraxen geworden, mit der du damals herumgeglüht bist? Das war ein wildes Gefährt. A Opel Kadett, oder? Von dem Auto hat ma nix mehr g’sehen, weil riesengroß ‚Umspannwerk‘ draufg’standen is. Ich hab’ mich damals noch g’wundert in Mödling, was der Wickerl mit an Elektriker will.“
„Jessas, der Gig in Mödling. Beim Stadtfest. Na, das war eine Partie!“ Hans grinste. „Da hamma glaubt, wir sind die Obercoolen.“
„Ja! Du mit der Baskenhaube und der Inkajacke. Und Santana habt’s nachg’spielt. Vor genau dreiundzwanzig Leut’. Aber du hast dich gebärdet, wie wenn da 50.000 nur wegen dir klatschen täten.“
„Und dann hab’ ich mich fast ang’macht, wie der Wickerl sagt, ob ich vorspielen will für die Hallucination Company …“
„Kannst dich noch erinnern an unsern ersten Gig da in der Bernoullistraße? Haus der Begegnung oder was des war …“
„… a Gewerkschaftsheim …“
„… eh wurscht. Viele orange Sessel, weißt noch? Die Plastikabteilung, die’s in solche Hütt’n draufhaben, und i hab’ mir ’dacht, na servas, das wird wie wenn de ‚Kiss‘ in an Gemeindekindergarten von die Amish-People auftreten.“
„Da hamma unser erstes Solo g’sungen. Und ich war ganz fertig, weil der Dolezal für ‚Ohne Maulkorb‘ mitg’filmt hat. Bumm, hab’ ich mir ’dacht, jetzt kummst ins Fernsehen. Jetzt bist wirklich a Musiker.“
Sie versanken in die Erinnerung an ihre Anfänge, als wäre das alles im vorigen Jahrhundert passiert. Sie hatten viel gemeinsam, die beiden. Einer wie der andere typische Arbeiterkinder, stammten sie aus eher kleinen Verhältnissen, waren in derselben Gegend aufgewachsen, hier rund um den Phorus-Markt. Hans’ Mutter hatte ein paar Häuser weiter ihr Milchgeschäft, Langs Onkel verkaufte früher am Markt Fische. Beide hatten sie nichts im Sinn außer Musik. Und die jugendliche Gewißheit, es einmal ganz nach oben schaffen zu wollen.
„Wir sind wirklich Musiker, Oida, und bald werden alle anderen das auch ’checkt haben“, versicherte Hansi schließlich. „Wir haben das Zeug dazu, des hab’ i immer schon g’spürt. Bei dir wie bei mir. Mir zwa san ans, Oida, und miteinander ziehn wir das durch, wirst schon sehn.“ Überwältigt von der Aussicht klopften sie sich gegenseitig auf die Schulter. Gerade bevor sie einander auch noch um den Hals gefallen wären, siegte die Verlegenheit über dieses unmännliche Ausmaß ihrer Verbrüderung.
„Wolltest du mir nicht was vorspielen?“ fragte Hansi möglichst emotionslos, um aus der vor Gefühl triefenden Nummer rauszukommen.
„Nein“, meinte Hans und hantierte wieder mit dem Kaffee herum, als hinge seine Karriere jetzt ausschließlich davon ab. „Ich wollt’ dir nur was zeigen. A Idee, die ich mir für unser Beatles-Solo überlegt hab’. Was haltst’ davon, wenn ich bei der Stelle …“, er sang, „when I’m home, everything seems to be allright“, „… wenn i da so mach’?“ Er fuhrwerkte Hansi mit beiden Armen ruckartig vorm Gesicht herum, um ihm zuletzt mit einem seiner abgespreizten Finger fast ins Auge zu stechen.
Hansi zuckte erschrocken zurück, erholte sich aber rasch genug, um zu begreifen, was sein Freund mit der Fuchtelei rüberbringen wollte. „Weil der Wickerl g’meint hat, du sollst so irgendwie auf sophisticated machen, weil dir das liegt?“
„Genau. Und es stimmt, das liegt mir ja wirklich.“
„Mach’s noch einmal“, forderte Hansi ihn auf. Hans schob sich die Ärmel seines Pullovers bis zum Ellbogen hinauf und legte los. Er sah aus wie Michael Jackson, als er noch sein eigenes Gesicht und eben die erste Tanzstunde hinter sich hatte.
„Irgendwas stimmt da no net ganz, Oida.“ Hansi konnte sich kaum noch halten vor Lachen. Schließlich gab er auf und ließ sich brüllend zu Boden fallen. Hans starrte ihn leicht beleidigt an, konnte aber dem Lachkrampf des anderen dann doch nicht standhalten. Gemeinsam wälzten sie sich vor Lachen auf dem Teppich.
„Gnade, Oida, I halt’s net aus“, brachte Hansi immer noch kudernd heraus, „komm, gemma ins ‚Voom‘ und check ma uns was zum Rauchen.“
Das „Voom Voom“, neben der legendären „Camera“ eine der ersten progressiven Discos Wiens, war nicht nur das Stammlokal sämtlicher ansässiger Musiker, es war sowas wie die Vorratskammer für die rasch wachsende Gemeinde der Freunde bewußtseinserweiternder Substanzen. Ein Hort des kollektiven Friedens, stets untermalt von psychodelischen Klängen zum Beispiel von Pink Floyd, Iron Butterfly und vor allem den Doors. Dröhnland vom Feinsten eben.
„Geh du“, winkte Hans, der sich auch langsam wieder erholte, ab, „i hab’ jetzt kan Bock auf die ganzen G’sichter dort.“
Als Hansi wieder in die Ziegelofengasse zurückkam, fand er seinen Freund in doppelter Ausfertigung. Völlig vertieft in sein Spiegelbild probierte Hans unermüdlich immer noch dieselbe Pose, die er Lang zuvor vorgeführt hatte. Doch jetzt bereits in fast schon perfekter Abfolge seiner abgehackten Bewegungen.
„Mach a Pause, Oida“, unterbrach ihn Hansi, „schau lieber, was i aufg’stellt hab’.“ Er hielt ein ansehnliches Stück Haschisch in die Höhe. „Schwarzer Afghane, okay? … Fix no amal, wo sind denn jetzt die Papers – ah, da.“
Andächtig widmete sich Hansi der Arbeit an dem Joint. Hans sah ihm geistesabwesend zu. Er war in Gedanken noch immer bei seiner Performance.
„Das mit den Hüften pack i net“, verkündete er schließlich.
„Deine Sorgen möcht’ ich haben“, meinte Hansi, doch als er Hans’ konzentrierte Miene sah, hatte er nicht das Herz, so einfach über dessen Probleme hinwegzugehen, und erkundigte sich doch noch: „Was is mit deine Hüften?“
„Die sind so unbeweglich wie a Stückl Holz.“
„Na und? Für die Hapfen wird’s scho reichen.“ Hansi vollführte ein paar eindeutige Beckenbewegungen zum besseren Verständnis.
„Nein, im Ernst. Ich stelz’ daher wie der Pinocchio. Schau her.“ Wie in einem Luftgitarren-Wettbewerb versuchte Hans, sein Becken zu einem imaginären Rhythmus zu schwingen. Es wirkte, als hätte man ihn um die Mitte herum eingemauert. „Na, bitte. Wann si a Frau so bewegt, stehst auf und gehst.“
„Stimmt“, kicherte Hansi, der sich längst über den imposanten Ofen hergemacht hatte. „Jetzt erinner’ ich mich. Der Wickerl hat mir amal erzählt, daß du so steif bist …“, heftiges Gekicher, „… aber mit den Händen, hat er g’sagt, kannst die achtarmige Kali geben.“ Noch heftigeres Gekicher. „Scheiß aufs Becken, Oida, solang du zwei g’sunde Händ’ hast …“
Unglaublich heftiges Gekicher. Da Hans wußte, daß die nächste halbe Stunde mit seinem Freund kaum was anzufangen sein würde, zog auch er an dem Joint. Levelunterschiede beim Kiffen haben schließlich wenig Unterhaltungswert. Dann holte er seinen Baß.
„A Nummer, die dazupaßt, so in der Art, horch.“ Eher ziellos spielte er an den Saiten herum.
„A Nummer übers Rauchen?“ fragte Hansi erstaunt.
„Nicht übers Rauchen, wir sind ja harmlos unterwegs gegen die andern. Über das ganze Zeug. Kodein, Mozambin, Kokain, Heroin. Ganz Wien is auf irgendwas drauf. Der letzte, der’s net dapackt hat, war der Hannes. Und brauchst nicht glauben, daß die Musiker da die einzigen sind. I sag’ dir ja, ganz Wien …“
„Das war gut, spiel’ das noch amal“, unterbrach ihn Hansi und griff selbst zur Gitarre. Hans, eigentlich kein Freund von Jam-Sessions, kippte sofort wieder in den eben gespielten Rhythmus, da da da dap – da da da dap – da da da dap … Hansi ihm nach.
„Halt du die Einser-Groove, Oida“, meinte Hansi, „i probier was …“, und er probierte einen Backing-Chor in verschiedenen Harmonien. „Ganz Wien“, sang Hans nun improvisierend dazu, „is heute auf Heroin …“ … ja, paß auf, und jetzt … genau … und no amal … super …“
Als die Welt um sie herum wieder zu existieren begann, war es bereits hell draußen. Ein häßlicher Moment. Plötzlich unsagbar müde, legte Hans den Baß beiseite und sagte: „Scheiße.“
„Was is, Oida, das kann eine richtig gute Nummer werden.“
„Ich mein’ was anderes“, erklärte Hans, während er hektisch das Zimmer durchkramte.
„Was suchst denn?“ wollte Hansi wissen, den die Hektik völlig aus seiner Groove herausriß.
„Meinen Hausmantel“, erwiderte Hans.
„Geht des wieder los“, stöhnte Hansi, richtete sich aber in seinem Fauteuil auf, um das Morgenritual des Freundes in allen Details verfolgen zu können. Es war jedesmal wieder ein Erlebnis.
„Du sitzt drauf“, sagte Hans und zog an dem Zipfel des gesuchten Kleidungsstücks. Lang hob den Hintern, bis das Ding in seiner ganzen Pracht zum Vorschein kam. Allein das Muster des Stoffes war sehenswert. Kleine verschnörkelte Karos in dunklem Blau und Weinrot. Darüber ein einfärbiger Kragen aus echter Seide und an der Taille eine in sich gedrehte Seidenkordel mit Fransen. Hansi hätte den Fetzen nicht für viel Geld angezogen.
Hans schlüpfte in die antiquierte Kluft und band die endlos lange Kordel sorgfältig zu einer Masche. Er sah aus wie der jugendliche Liebhaber in einem billigen Boulevardstück, der sich nach der Ehefrau auch den Hausmantel des Gatten aneignete und jetzt auf Sir machte.
Er ist ein Sir, dachte Hansi, jedesmal aufs neue überrascht von dieser Erscheinung. „Abgesehen von dein’ altvatterischen G’schmack beim G’wand sind wir echt a guates Team“, meinte er und war im Geist wieder mitten in der nächtlichen Session. „Wenn ich nicht in’ Häfen müßt, hätt’ ma wirklich a Zukunft.“
„Jessas, der Häfen. Den hab’ i ja ganz verdrängt“, sagte Hans. „Ist das schon ganz sicher? So eine blöde G’schicht. Meier gehn wegen solche Deppen. Wieviel hast ausg’faßt?“
„Herst bitte, i will gar net dran denken.“
„Weilst auch so ein guter Trottel bist! Hätten sich die ihr Zeug net selber besorgen können, die Wappler?“
„Kömma jetzt über was anderes reden, bitte?“
„Nein, weil wenn du im Landl bist, können wir das mit’n Berühmtwerden eine Zeitlang vergessen. So kann ma ja net arbeiten. Außer …“ Der Rest des Satzes brauchte Zeit.
Hansi konnte richtig sehen, wie sich hinter Hans’ Stirn eine Idee zusammenbraute. „Außer was?“ fragte er ungeduldig.
„Außer, wir gehn’s g’schickt an.“
„Von was redest denn da?“
„Na, Oida, du hast doch im Bau mehr Zeit als jemals heraußen. Da kannst dich endlich einmal in Ruhe hinsetzen und Lieder schreiben.“ Hansi schaute ihn an, als hätte er ihm vorgeschlagen, sich in die Kapuzinergruft zu legen, um ihre Karriere vorzubereiten. Dann begann es ihm zu dämmern.
„Herst, ja“, packte ihn plötzlich die Aussicht, aus der bisher schlimmsten Misere seines Lebens doch noch etwas Sinnvolles machen zu können. „I schreib’ die Nummern …“
„… schmuggelst sie raus, ich mach’ den Text dazu und melde sie bei der AKM an.“
Der Geruch der Verschwörung, der auf einmal im Raum lag, stieg den beiden ins Hirn wie das berauschende Aroma eines uralten sündteuren Cognacs, den sie verbotenerweise geöffnet hatten.
„Ich hab’ da eh schon was im Sinn, kein Kommerz, weißt, aber trotzdem a Groove, die hundertprozentig einegeht“, ereiferte sich Hansi, „wie nennt ma die Dinger, in denen immer die Sachen g’schmuggelt werden?“ fiel er sich selbst ins Wort, „Kassierer? Irgendwas mit Kassa … Kassa …“
„Kassiber!“
„Genau. Sowas besorg’ ma uns, da drin versteck’ i das Lied und schick’ dir’s.“
Die Idee hatte ihn sichtlich beeindruckt. Die beiden verstiegen sich in immer neue Pläne, wie man den kreativen Unterbau ihres sagenhaften Aufstiegs in der Popszene aus dem Gefängnis heraus und möglichst schnell an eine Plattenfirma bringen könnte.
Besonders Hans, der fraglos den bequemeren Part der Operation erwischt hatte, erschien Hansis Mißgeschick mittlerweile wie ein echtes Omen. Während der sich immer deutlicher zwischen einer dürftigen Holzpritsche und dem sogenannten Rettich, wie das Klo in Wiens Landesstrafanstalt genannt wurde, sitzen sah, erging sich Hans bereits in der pressemäßigen Ausschlachtung des PR-Gags, mit dem er den Haftaufenthalt des Freundes nun schon verwechselte.
„Wann geht’s denn los?“ fragte er schließlich ungeduldig.
„Weiß noch nicht, in a paar Wochen, hat der Richter g’sagt“, sagte Hansi weit weniger enthusiastisch.
Als sähe er die Schlagzeilen schon vor sich, rief Hans: „Songs im Kassiber geschmuggelt – Hits aus dem Gefängnis! Das klingt net schlecht.“
„Laaaang! B’suach! Adfakat!“
Vor ein paar Wochen hatte Hansi gerade seinen eigenen Namen verstanden. Nun, da er sich einigermaßen in der abgeschiedenen Welt hinter Gittern eingelebt hatte, wußte er, was ihm der ältliche Wachebeamte mit diesen Worten sagen wollte: Sein Anwalt war da.
Kommt wie aufs Stichwort, dachte Hansi, wuchtete sich von der Pritsche und damit heraus aus seinem Tagtraum. Er war wieder bei Hans in der Ziegelofengasse gewesen, der sich der romantischen Vorstellung hingab, welche Meisterwerke Hansi im Gefängnis verfassen könnte, und ihm eben erklärte, was ein Kassiber ist. Hansi grinste. Mittlerweile wußte er noch ganz andere Sachen. K’siberln wollt’ ma ausseschmuggeln, wir Trotteln!
„Was grinst’ so g’feanzt, Blunzenstricker?“ wollte der Wächter wissen.
„Ich heiß’ Hansi“, berichtigte der Häftling zum wiederholten Mal.
„Vornamen gibt’s nicht“, informierte der Beamte wie immer.
Die Häßlichkeit des Besuchsraumes verlieh dem Anwalt etwas ungewohnt Edles. Ein Anblick, der Hansi zu Beginn seines Aufenthaltes hier noch mehr deprimiert hatte. Jetzt amüsierte ihn der Kontrast. Im Häfen lernt man, die kleinen Dinge des Lebens zu schätzen.
„Ich hab’ nicht viel Zeit“, verbreitete der Jurist die Hektik der Außenwelt, „ich bin überhaupt nur da, weil mich der Hans schickt, wegen eurem G’sangl.“ Sein Tonfall verriet unmißverständlich, wie unnötig die zeitraubende Aktion seiner Meinung nach war. Im Grunde seines Paragraphengemüts hielt er Musik an und für sich für ein Strafdelikt. Und in die heimische Popszene war er bloß hineingerutscht, weil er sich gesetzestechnisch mit Drogen auskannte.
„Ja?“ fragte Hansi erwartungsvoll. Beim letzten Besuch hatte ihm der Rechtsanwalt die Nachricht übermittelt, daß Hans den Studiobesitzer René Reiz überredet hatte, den ersten seiner in der Zelle komponierten Songs aufzunehmen. „Be my love“ hatte er ihn genannt – nach den ersten paar Wochen im Abseits der Gesellschaft etwas zu sehnsüchtig. Jetzt hieß er „No modern love“ und sollte vorige Woche Peter Vieweger, einem gemeinsamen Freund aus der Underground-Band Drahdiwaberl, vorgelegt werden. „Und? Was hat er g’sagt?“ drängte Hansi den Anwalt.
„Leiwande Nummer, hat er g’sagt“, erwiderte der, als hätte er Hansi das Ableben seiner Mutter mitzuteilen.
„Na bitte, i hab’s ja g’wußt“, freute sich Hansi umso mehr, „und was g’schieht jetzt damit?“
„Ab ins Archiv zu den Akten“, gestand der Rechtsbeistand plötzlich nicht unfröhlich.
„Ab in die Zelle“, bellte der Wachebeamte wie ein Echo nach.
„Herst, Oida, du hast keine Ahnung, wie oft ich in den letzten Monaten da g’sessen bin.“
Hansi sah sich in Hans’ winziger Zimmer-Küche-Wohnung um, als befinde er sich in den Prunkgemächern der Hofburg. Sein eigenes Domizil, eine düstere Angelegenheit in Wien-Währing, deprimierte ihn mehr als seine Zelle. Zu allem Überfluß hatte er gestern entdecken müssen, daß seine Freundin hinterrücks zu einem anderen übergelaufen war. Die ersten Tage nach seiner Enthaftung waren durchaus geeignet, ihn heftig an der Institution Freiheit zweifeln zu lassen. Umgehend hatte er sich auf den Weg ins „Voom Voom“ gemacht.
Es war alles beim alten dort. Dieselben Typen, dieselben Gespräche, derselbe Sound, dieselben Drogen. Hansi bestellte ein Bier und konnte sich kaum entscheiden, ob er es trinken oder ob er hineinweinen sollte. Da klopfte ihm Chouchou auf die Schulter.
Hans’ putzige Freundin kam ihm vor wie eine Erscheinung, und plötzlich war es viel heller im „Voom“. Chou versprühte dezente Begeisterung darüber, daß er wieder da war. Sie trug die hochhackigen roten Lackpumps, die Hans ihr geschenkt hatte, und sah aus, als hätte sie gleich noch einen Termin beim Steuerberater. Sogar ihre Art zuzuhören war irgendwie gestylt. Sie nippte an ihrem pinkfarbenen Drink, er redete.
Irgendwann an diesem fortgeschrittenen Abend tänzelte eine andere Erscheinung in Hansis nun schon etwas gemilderte Depression. Sie nippte an einem türkisfarbenen Drink und redete selber. Als er ihr in einer ihrer raren Atempausen von der Bruchbude erzählte, die ihn in sein altes Stammlokal getrieben hatte, stand sie auf und sagte: „Na gut, dann geh’n wir halt zu mir.“ Im Hinausgehen nickte er Chouchou kurz zu. Ihr Blick folgte ihm wie ein Laserstrahl.
„Willst einen Kaffee?“ riß ihn Hans, der schon mit seinem Wasserküberl in der Hand im Türrahmen stand, aus seinen Gedanken. Hansi nickte. Fast ergriffen beobachtete er die Zeremonie, lauschte verträumt dem Rauschen des Wassers an der Bassena, verfolgte stumm jeden Handgriff, mit dem Hans den Kocher anwarf und den Kaffee aufbrühte. Nur der groteske Morgenmantel fehlte. Hans reichte ihm die Tasse. Das ist Freundschaft, dachte Hansi, heute besonders anfällig für rührselige Stimmungen. In diesem Fall aber hatte er durchaus recht. Hans hatte ihm eine halbe Garderobe geschenkt, ihm Geld gegeben und das Gefühl, daß alles wieder gut werden würde.
Mitten in diese männliche Eintracht hinein stand Chouchou plötzlich im Raum, als wäre sie lautlos aus dem Parkettboden gewachsen. „Servas, Schatzl“, sagte Hans, drückte ihr einen Kuß auf die Wange und eine Tasse Kaffee in die Hand. Offenbar hatte er sie erwartet.
„Hallo, Hansi“, sagte Chou. „Na, ausgeschlafen?“
„Danke“, murmelte der reichlich verlegen.
Was red’ ich denn da? fragte er sich gleich darauf verwundert. Abrupt richtete er sich im Fauteuil auf und fand seine Haltung wieder. Bin ich schon völlig deppert seit dem Häfen? Ich tu ja, wie wenn ich ihr Rechenschaft schuldig wär’, das ist doch die Freundin vom Hans, was soll das eigentlich alles?
Hans schien von der Spannung zwischen den beiden nichts zu merken. Der unüblich seichte Smalltalk tröpfelte vor sich hin wie der Wasserhahn über der Bassena. Irgendwas stimmte heute nicht.
Irgendwas stimmt heute nicht, dachte Hans, während er weiterhin Banalitäten absonderte, irgendwas hat sie vor, die Chou, das kenn’ ich am Blick, das flatterhafte G’schau haben’s immer alle, wenn’s nix sagen und alles schon wissen. Sie is’ gestern schon so komisch g’wesen. Zwei Jahr’ bin ich jetzt mit ihr z’amm … lang eigentlich, aber fad is’ mir net ’worden mit ihr. Bitte! Ich will jetzt kein Kopfweh, tu mir das net an, Chou, ich kann mich noch erinnern an die G’schicht mit’n Kolbert … war net mehr als schöne Augen, aber ich weiß noch, die Angst, die mir da eing’fahren is, daß ich sie verlieren könnt’. Ich will sie net verlieren! Ich will überhaupt net verlieren. Und was, um Gottes willen, hat der Hansi damit zu tun?
Hansi, der des Umgangs mit anderen Menschen derzeit entwöhnt war und sich eigentlich auf einen Nachmittag unter Männern gefreut hatte, entwickelte Fluchtgedanken. Wir wollten doch über unsere Songs reden, dachte er, vielleicht a bißl spiel’n, wozu hab’ ich denn meine Klampfen mit’bracht, was mach’ ich überhaupt da? Unvermittelt wuchtete er sich aus dem Sessel und verkündete: „I geh jetzt.“
Als hätte sie nur aufs Stichwort gewartet, sprang auch Chou auf. „Ich geh mit’n Hansi“, erklärte sie mit einer unheilvollen Schärfe in der Stimme. Die paar Worte hingen wie ein Todesurteil im Raum. Und Hans war der Delinquent. Fassungslos starrten die beiden Freunde das Mädchen an. Kampflustig starrte sie zurück. Doch es fiel kein einziges Wort. Sogar der Wasserhahn war verstummt.
Hans reagierte als erster. Und zwar so, als wär’ nichts passiert. „Na gut, dann pfüat euch“, sagte er freundlich. Wäre da nicht ein leicht belegter Unterton in seiner Stimme mitgeschwungen, hätte man glauben können, es sei nichts passiert. Langsam bekam auch Hansi mit, was sich hier abspielte. Chouchou hatte offenbar beschlossen, die Beziehung zu Hans zu beenden. Und ihn benutzte sie als Schlüsselfigur. Hansi spürte das Ausmaß der Verletzung, das Hans hier niederkämpfte, fast körperlich. Er wollte was sagen, erklären, daß das nicht seine Schuld sei, hierbleiben. Aber für Erklärungen war es zu spät. Das Knistern zwischen ihm und Chou war zu laut gewesen. Und ihr letztes Wort an Hans zu leise. Etwas, das gar nicht ausgesprochen worden war, war auch nicht richtigzustellen.
Hansi machte einen Schritt auf den Freund zu. Hans wich zurück, wie ein Magnet, der vom gleichen Pol eines anderen Magneten zurückgeschoben wird. Plus und Plus ergab plötzlich Minus.
Schweigend gingen Chou und Hansi die Ziegelofengasse entlang. „Es ging nicht mehr“, sagte sie, „ich weiß es schon länger.“
„Leiwand, daß d’ auf mich g’wartet hast, bis du’s ihm sagst“, gab Hansi zurück. „Was kommt als nächstes?“
„Ich komm’ mit zu dir“, sagte sie, irritiert über die Frage. Genausogut hätte sie sagen können: Mein Fingernagel ist abgebrochen.
Weiber, dachte Hansi. Es war ihm, als hätte ihm gerade jemand gesagt, daß es kein Christkind gibt. Raffinierte Luder, eiskalte Hexen … In dem Sinn ging es weiter bis zur nächsten Straßenecke. Chouchou immer dicht neben ihm. Ich darf sie net mitnehmen, war ihm plötzlich klar, net nach dem, was sie dem Hans grad an’tan hat. Aber genauso klar war ihm: Er würde sie mitnehmen. Beim Gedanken an das schwarze Loch, das im 18. Bezirk auf ihn wartete, stieg ihm die Übelkeit auf. Hätte der Teufel gesagt, er kommt mit, er hätte ihn mitgenommen. Er hätte heute jede mitgenommen. Warum nicht sie?
Wer zuletzt geht, dreht in der Stadt das Licht ab. Das schien im München der ausklingenden 70er Jahre die einzig gültige Regel zu sein. Und auch sie wurde nicht eingehalten. München war die Hauptstadt des guten Tons in der Popbranche. Namhafte internationale Bands von den Stones bis zu Queen kamen her, um hier zu arbeiten. Was mit dem gesellschaftsrelevanten guten Ton dieses zutiefst frömmelnden Landstrichs naturgemäß nichts, aber auch gar nichts gemein hatte. Im Gegenteil. Damals gab es in München garantiert mehr Soundstudios als Kirchen, mehr Discos als Bierlokale, mehr Rock- als Pfadfindergruppen und mehr Abtreibungen als Aufgebote. In früheren Zeiten hatte man in solchen Fällen die Wäsche weggesperrt und gleich darauf die Töchter.
Musikanten waren in der Stadt. Darunter auch die Hallucination Company. Adam Wickerls ausgeflipptes Rocktheater, in Wien längst so berühmt wie berüchtigt, war hier auf Anhieb ein Sensationserfolg. Das Gastspiel im „Marienkäfer“ fand höchsten Anklang bei der Kritik und war allabendlich bis auf den letzten Platz ausverkauft. Eine Tatsache, die den Protagonisten aus Wien eine Stammloge im ausgeflipptesten aller In-Lokale der City sicherte: dem „Sugar Shack“.
Auch heute schien wieder ganz München auf Einlaß zu warten. Und die Bodyguards kosteten jeden Millimeter ihrer Macht aus. Wer kein bekanntes Gesicht hatte, wurde nicht einmal ignoriert. Ein Etablissement, das Gäste von Keith Richards abwärts beherbergte und Leute wie die Queen-Stars Brian May oder Roger Taylor zur Stammkundschaft zählte, brauchte sich nicht mit halbseidenen Schwabinger Lokalmatadoren abzugeben. Es war genau das Umfeld, das Hans rund um sich immer vorgeschwebt war. Als er sich dem Lokal näherte, teilte sich die wartende Menge auf einen Wink des Türlstehers wie das Rote Meer vor Moses. Hans durchschritt die Schneise, als hätte er sein Lebtag nichts anderes getan, klopfte dem Typen am Eingang jovial auf die Schulter und schlenderte betont lässig ins Halbdunkel des Allerheiligsten. Drinnen scherte sich kein Hund um ihn, aber das machte nichts, er war bereits auf seine Kosten gekommen. Trotz des Aufruhrs draußen war im Lokal kaum noch was los. Hans fand ohne Schwierigkeiten einen Platz an der Bar. Er bestellte einen doppelten Espresso und ein Mineralwasser. Sein übliches Frühstück um die Zeit, sofern die Company einen spielfreien Abend hatte.
Eigentlich führe ich ein putziges Leben, dachte er. Den Satz hatte er in einem Episodenfilm von Neil Simon gehört, in dem Michael Caine einen britischen Antiquitätenhändler mit Schauspielvergangenheit spielt, der seine für den Oscar nominierte Ehefrau nach Los Angeles begleitet. Der Unterschied is nur, sinnierte Hans, daß ich noch keine Vergangenheit hab’ und nicht einmal wen kenn’, der wen kennt, den ich, sagen wir, zur Grammyverleihung nach New York begleiten könnt’. Er nahm einen Schluck Kaffee. Macht nix, wird schon werden. Du bist jung und knusprig.