Fallbuch zur Sozialen Diagnostik in der Klinischen Sozialen Arbeit - Saskia Ehrhardt - E-Book

Fallbuch zur Sozialen Diagnostik in der Klinischen Sozialen Arbeit E-Book

Saskia Ehrhardt

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Beschreibung

Aufbauend auf einer Einführung in die Grundlagen, wird anhand von 25 Fällen der sozialarbeiterischen Praxis die Anwendung der Sozialen Diagnostik vertieft. Zu jedem Fall finden sich Fragen zu sozialdiagnostischen Prinzipien, Methoden und Theorien sowie kommentierte Lösungen. Die übersichtliche Darstellung ermöglicht praxisorientiertes und theoriegeleitetes Lehren und Lernen.

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Seitenzahl: 214

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Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen National-bibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Alle Angaben in diesem Fachbuch erfolgen trotz sorgfältiger Bearbeitung ohne Gewähr, eine Haftung der Autorinnen oder des Verlages ist ausgeschlossen.

1. Auflage 2023

Copyright © 2023 Facultas Verlags- und Buchhandels AG

facultas, Universitätsverlag, Stolberggasse 26, 1050 Wien, Österreich

Alle Rechte, insbesondere das Recht der Vervielfältigung und der Verbreitung

sowie der Übersetzung, sind vorbehalten.

Einbandgestaltung: siegel konzeption | gestaltung, Stuttgart

Umschlagfoto: © Pablo Stavnichuk – iStock

Lektorat: Katharina Schindl, Wien

Satz: Wandl Multimedia Agentur, Groß Weikersdorf

Druck und Bindung: Friedrich Pustet, Regensburg

Printed in Germany

utb-Nummer 6103

ISBN 978-3-8252-6103-0 (Printausgabe)

ISBN 978-3-8385-6103-5 (Online-Leserecht)

ISBN 978-3-8463-6103-0 (E-PUB)

Online-Angebote oder elektronische Ausgaben sind erhältlich unter www.utb.de.

Inhaltsverzeichnis

1Soziale Diagnostik und ihre historische Entwicklung

1.1Die Anfänge: Armenfürsorge und beginnende Professionalisierung

1.2Zeit des Nationalsozialismus: Eine Zäsur

1.3Nachkriegsjahre: Diagnosekritik und Renaissance

1.4Aktuelle wissenschaftliche Einordnung

2Soziale Diagnostik und ihre Qualitätsstandards

3Funktionen Sozialer Diagnostik

4Theoretische Fundierung Sozialer Diagnostik

4.1Der Lebensbewältigungsansatz

4.1.1Grundlagen

4.1.2Einordnung der Sozialen Diagnostik

4.2Das Systemtheoretische Paradigma

4.2.1Grundlagen

4.2.2Einordnung der Sozialen Diagnostik

5Diagnostischer Prozess

5.1Einordnung Sozialer Diagnostik in den Prozess der Fallarbeit

5.1.1Anamnese

5.1.2Diagnose

5.1.3Intervention

5.1.4Evaluation

5.2Die professionelle Arbeitsbeziehung

5.3Ebenen der sozial-diagnostischen Abklärung

5.3.1Primäre Ebene sozial-diagnostischer Abklärung

5.3.2Sekundäre Ebene sozial-diagnostischer Abklärung

6Ausgewählte Verfahren der Sozialen Diagnostik

6.1Lebensweltorientierte Verfahren

6.2Klassifikatorische Verfahren

6.3Soziometrische Verfahren

6.3.1Egozentrierte Netzwerkkarten

6.3.2Soziales Atom

6.4Biografieorientierte Verfahren

6.4.1Life-Charts

6.4.2Biografischer Zeitbalken

6.5Ressourcenorientierte Verfahren

Fallgeschichten

Fall A:Psychosoziale Beratungsstelle

Fall B:Sozialamt

Fall C:Tageszentrum für Obdachlose

Fall D:Erwachsenenpsychiatrie

Fall E:Senior:innenwohnheim

Fall F:Wohngemeinschaft für fremduntergebrachte Kinder

Fall G:Psychosoziale Beratungsstelle

Fall H:Lebensmittelausgabe mit Beratungsangebot

Fall I:Haftentlassenenhilfe

Fall J:Tageszentrum für Obdachlose

Fall K:Frauenberatung

Fall L:Pflegeheim

Fall M:Berufsberatungsstelle für Jugendliche

Fall N:Pflegeheim

Fall O:Erwachsenenpsychiatrie

Fall P:Stationäre Suchteinrichtung

Fall Q:Wohngemeinschaft für fremduntergebrachte Kinder

Fall R:Familienberatung

Fall S:Sozialberatung

Fall T:Frauenberatung

Fall U:Schuldner:innenberatung

Fall V:Sozialberatung

Fall W:Sozialpsychiatrisches Ambulatorium

Fall X:Frauenhaus

Fall Y:Berufsberatungsstelle für Jugendliche

Lösungen

Aufgabenübersicht

Lösung Fall A:Psychosoziale Beratungsstelle

Lösung Fall B:Sozialamt

Lösung Fall C:Tageszentrum für Obdachlose

Lösung Fall D:Erwachsenenpsychiatrie

Lösung Fall E:Senior:innenwohnheim

Lösung Fall F:Wohngemeinschaft für fremduntergebrachte Kinder

Lösung Fall G:Psychosoziale Beratungsstelle

Lösung Fall H:Lebensmittelausgabe mit Beratungsangebot

Lösung Fall I:Haftentlassenenhilfe

Lösung Fall J:Tageszentrum für Obdachlose

Lösung Fall K:Frauenberatung

Lösung Fall L:Pflegeheim

Lösung Fall M:Berufsberatungsstelle für Jugendliche

Lösung Fall N:Pflegeheim

Lösung Fall O:Erwachsenenpsychiatrie

Lösung Fall P:Stationäre Suchteinrichtung

Lösung Fall Q:Wohngemeinschaft für fremduntergebrachte Kinder

Lösung Fall R:Familienberatung

Lösung Fall S:Sozialberatung

Lösung Fall T:Frauenberatung

Lösung Fall U:Schuldner:innenberatung

Lösung Fall V:Sozialberatung

Lösung Fall W:Sozialpsychiatrisches Ambulatorium

Lösung Fall X:Frauenhaus

Lösung Fall Y:Berufsberatungsstelle für Jugendliche

Literatur und Quellen

Stichwortverzeichnis

Über die Autorinnen

Einleitung

„Tatsächlich gibt die Ordnung der Wörter niemals streng genau die Ordnung der Dinge wieder.“ (Bourdieu, 1987, S. 750)

Soziale Diagnostik begleitet uns drei Autorinnen in unterschiedlichen Kontexten in Lehre und Praxis schon längere Zeit. Wir sind davon überzeugt, dass Soziale Diagnostik ein wesentlicher Bestandteil professioneller sozialarbeiterischer Fallarbeit ist. In den letzten Jahren stand Soziale Diagnostik zunehmend im Fokus einer Vielzahl von Publikationen und Forschungsprojekten, die eine Professionalisierung und Weiterentwicklung der Sozialen Diagnostik dokumentieren. Soziale Diagnostik ist an vielen Hochschulen bereits ein fester Bestandteil der Ausbildung zukünftiger Sozialarbeiter:innen. Unsere Erfahrung zeigt, dass in der sozialarbeiterischen Praxis Soziale Diagnostik permanent passiert, ohne dass sie immer auch explizit als solche bezeichnet wird. Mit diesem Buch möchten wir einen Beitrag zur weiteren Etablierung Sozialer Diagnostik in der Praxis sozialarbeiterischer Handlungsfelder leisten.

Im vorliegenden Fallbuch stehen Fälle im Fokus. Anhand dieser aktuellen Fallbeispiele wird die Soziale Diagnostik und ihre Anwendung vermittelt, vertieft und geübt. Alle Fallgeschichten haben einen direkten Bezug zu klinisch-sozialarbeiterischen Handlungsfeldern, d. h., sie bilden Problemlagen und Fragestellungen ab, die komplexe Verschränkungen von sozialen und gesundheitlichen Aspekten beinhalten. Daher liegt der Fokus dieses Buches auf Sozialer Diagnostik in der Klinischen Sozialen Arbeit. Da sich die Klinische Soziale Arbeit als Spezialisierung innerhalb der Sozialen Arbeit versteht, ist dieses Buch aber nicht nur für Klinische Sozialarbeiter:innen geeignet, sondern kann in allen Feldern der Sozialen Arbeit Anwendung finden, wo Klient:innen mit solchen Bedarfen Unterstützung benötigen. Die Fallgeschichten sind Beispiele für die diversen Lebensrealitäten von Klient:innen und für aktuelle sozialarbeiterische Fragestellungen. Sie zeigen auf, wo Soziale Diagnostik überall angewandt werden kann/ könnte.

Das Buch ist in drei Teile gegliedert. Im ersten Teil werden wesentliche Grundlagen der Sozialen Diagnostik erklärt. Wir stellen einen kurzen historischen Abriss Sozialer Diagnostik dar, gehen auf theoretische und konzeptionelle Hintergründe ein und erläutern Methoden, den prozesshaften Charakter und die Funktionalität Sozialer Diagnostik. Damit bietet der erste Teil des Buches die Grundlage für die Fallgeschichten, die sich im zweiten Teil befinden. Hier stellen wir 25 Fallbeispiele vor. Zu jedem Fall gibt es Aufgaben, die mithilfe der Inhalte aus dem ersten Teil des Buches bearbeitet werden können. Bei der Darstellung der Lebenslagen von Klient:innen können wir keinesfalls dem Anspruch auf eine vollständige Darlegung des Falles gerecht werden. Uns ist bewusst, dass die Fülle an fallbezogenen Daten, das subjektive Erleben der Klient:innen und die Interaktionen zwischen ihnen und den Fachkräften nur ansatzweise bzw. in unserer Lesart wiedergegeben werden können. Wir haben uns aus Rücksicht auf die Anonymität der Klient:innen und im Hinblick auf eine gender- und diversitysensible Sprache für Großbuchstaben anstatt Namen entschieden. Der dritte Teil des Buches beinhaltet den Lösungsteil. Hier bieten wir jeweils eine Möglichkeit der Beantwortung der Fragestellungen an. Das sozial-diagnostische Grundprinzip der Partizipation können wir nicht praktisch, sondern nur hypothetisch erfüllen. Wir haben nicht mit Klient:innen gesprochen, nicht ihre, sondern die Eindrücke ihrer Sozialarbeiter:innen erzählt bekommen. Letztlich zeigen wir in den Lösungen Hypothesen, die weder vollständig oder abgeschlossen noch für die Klient:innen immer relevant oder wahr sein müssen. Wir stellen also lediglich eine Interpretations- oder Lesart zur Verfügung, ohne die Sichtweise oder Einschätzung der Klient:innen im letzten Wort zu berücksichtigen. Das Buch ist daher geeignet, um Soziale Diagnostik theorie- und methodengeleitet an realen Fallbeispielen zu üben und zu vertiefen.

Auf Seite 105 befindet sich eine übersichtliche Darstellung, welcher Schwerpunkt in welchem Fall geübt werden kann. So werden ein gezieltes Ausprobieren und ein Vertiefen spezieller Themen erleichtert.

Unser herzlichster Dank gilt an dieser Stelle allen Kolleg:innen aus der Praxis, die uns ihre Fallgeschichten zur Verfügung gestellt und mit viel Begeisterung von „ihren“ Klient-:innen erzählt haben. In diesen Gesprächen haben wir nicht nur großes Interesse an Sozialer Diagnostik erlebt, sondern selbst viel über die jeweiligen Einrichtungen, die dort gelebte Praxis und deren Herausforderungen gelernt.

Wir hoffen, dieses Fallbuch motiviert, sich mit Sozialer Diagnostik zu beschäftigen und sozial-diagnostische Kompetenzen in der Praxis Sozialer Arbeit fest zu verankern.

Viel Freude bei der Bearbeitung wünschen

Saskia Ehrhardt, Anna Gamperl und Melanie Zeller

1Soziale Diagnostik und ihre historische Entwicklung

1.1Die Anfänge: Armenfürsorge und beginnende Professionalisierung

Sozial-diagnostische Elemente lassen sich bis weit in die Vergangenheit zurückverfolgen, auch wenn sie noch nicht so benannt wurden. Bei der Nachzeichnung der historischen Entwicklung Sozialer Diagnostik ist zu bedenken, dass diese immer auch im Kontext ihres jeweiligen Zeitgeistes zu verstehen ist. Beginnen wir mit der Betrachtung im 18. Jahrhundert: Die Armenfürsorge widmete sich damals vor allem bestimmten Gruppen von armen Menschen. Es fand eine Unterscheidung dahingehend statt, wer als bedürftig und unterstützungswürdig galt. Bestimmte Gruppen von Personen wurden als einer Hilfe würdig deklariert (z. B. Kinder armer Eltern), andere dagegen nicht (z. B. Trunksüchtige, siehe dazu Spode, 2013). Die Würdigkeit bzw. Unwürdigkeit hinsichtlich des Anspruchs auf Unterstützung lässt sich vor dem Hintergrund der damals herrschenden gesellschaftlichen Verhältnisse und Weltanschauung sowie dem Stand wissenschaftlicher Erkenntnisse erklären.

Bereits Ende des 18. Jahrhunderts waren Grundgedanken eines kommunalen Jugendamtes mit einer primären Leitlinie in der Hilfe für Kinder und Jugendliche durch Erziehung und Bildung vorhanden (Thole et al., 1998, S. 40). Das Rauhe Haus, das 1833 in Hamburg von Johann Hinrich Wichern gegründet wurde, ist ein Beispiel für eine religiös orientierte Fürsorge, die armen Kindern den Zugang zu einem gesellschaftlich akzeptierten Stand ermöglichen sollte. Das Rauhe Haus richtete sein Angebot an den Bedürfnissen der Armen aus (Wichern, 1833, S. 67). Kinder und Jugendliche, die aus ärmlichen Verhältnissen stammten, sollten mit einem Angebot von Erziehung, Bildung und Fürsorge unterstützt werden.

Gahleitner, Hahn und Glemser (2014, S. 7) verweisen darauf, dass das Hauptziel der Beurteilung der Unterstützungswürdigkeit im 19. Jahrhundert im Verhindern des Missbrauchs von Unterstützungsleistungen lag. Die Beurteilungskriterien seien dabei vom Hausverstand und vom moralischen Wertesystem des bürgerlichen Mittelstands geprägt gewesen. Eine beginnende Professionalisierung, bei der Soziale Diagnostik als Instrument sozialer Hilfen verstanden wird, lässt sich erst zu Beginn des 20. Jahrhunderts beschreiben.

1917 veröffentlichte die US-Amerikanerin Mary Richmond das Werk „Social Diagnosis“, das bald „zum Standardwerk des case work avancierte“ (Buttner et al., 2018, S. 11). Für die Feststellung sozialer Bedürfnisse müssten Fakten gesammelt, verglichen, ausgewertet und interpretiert werden. Erst den letzten Schritt des Interpretierens bezeichnete Mary Richmond als Diagnose (Buttner et al., 2018, S. 11). Die Datensammlung sollte multiperspektivisch erfolgen, indem verschiedene Aspekte und Hinweise in Bezug auf das vorliegende Problem berücksichtigt werden. Die Beziehung zwischen Fachkraft und Klient:in diente dabei ebenso als Basis für das Verständnis der Problematik wie Informationen über das familiäre und soziale Umfeld der Hilfesuchenden. Mary Richmond machte außerdem deutlich, dass ein interpretatives bzw. verstehendes Vorgehen bei der Sozialen Diagnostik wichtig ist. Ziel der Diagnose sei es, Hinweise „auf die in Angriff zu nehmenden sozialarbeiterischen Interventionen“ (Buttner et al., 2018, S. 12) zu erhalten. Gleichzeitig gab Mary Richmond aber auch zu bedenken, dass „eine vollständige und korrekte Diagnose nicht immer möglich und keine Diagnose endgültig“ sei (Buttner et al., 2018, S. 12). Die wichtigsten Aspekte zu Mary Richmonds Verständnis der Sozialen Diagnose sollen hier noch einmal zusammengefasst werden:

Die Datensammlung soll umfassend und multiperspektivisch sein. Fakten müssen im Hinblick auf die zugrunde liegende Fragestellung interpretiert werden, erst das ist der diagnostische Vorgang. Ein interpretatives bzw. verstehendes Vorgehen ist wichtig für das Planen von Interventionen und zur Vermeidung von Fehlinterpretationen. Eine Soziale Diagnose kann unvollständig sein und ist nicht endgültig.

Mit diesen Grundannahmen hat Mary Richmond bereits die wesentlichen Impulse für unser heutiges Verständnis Sozialer Diagnostik gesetzt. Alice Salomon griff die Gedanken von Mary Richmond auf und entwickelte davon ausgehend ihre Überlegungen zu einer systematischen Sozialen Diagnostik, die sie 1926 in ihrem Werk „Soziale Diagnose“ veröffentlichte (Salomon, 1926). Sie formulierte Anforderungen an eine diagnostische Zusammenfassung (Salomon, 1947, S. 38):

„1. Die Darlegung des Notstandes, der sozialen Schwierigkeit, 2. die Darlegung der besonderen Umstände und der Eigenart der Person, durch die sich der Fall von anderen unterscheidet, 3. die Darlegung der Ursachen, die den Notstand herbeigeführt haben, soweit sie in ihrer Bedeutung festzustellen sind, 4. die Möglichkeiten der Hilfe und Hemmungen, mit denen bei der Hilfstätigkeit zu rechnen ist, soweit sie in der Person des Klienten, in seiner unmittelbaren Umgebung oder in der übrigen Umwelt liegen.“

Im Ansatz von Alice Salomon werden keine sozial-diagnostischen Instrumente beschrieben. Zu betonen ist ihr Anspruch einer differenzierten Anamnese und Datensammlung sowie deren anschließende Bewertung. Alice Salomon bezieht bei ihren Überlegungen personale Ressourcen und Umweltressourcen mit ein. Das ist auch heute ein zentrales Verständnis Sozialer Diagnostik. Alice Salomon verfolgte mit ihrer Begründung der Notwendigkeit einer Sozialen Diagnose vor allem das Ziel, soziale Hilfen zu professionalisieren. Durch den Einsatz Sozialer Diagnostik sollte die „richtige Auswahl der Hilfe, die sich inzwischen nicht mehr nur in materiellen Hilfen erschöpfte“ (Heiner, 2004, S. 12), ermöglicht werden. Bereits 1933 musste Alice Salomon ihre Arbeit nach der Machtübernahme der NSDAP in Deutschland einstellen. 1937 emigrierte sie in die USA, wo sie 1948 verstarb.

1.2Zeit des Nationalsozialismus: Eine Zäsur

Mit der Machtergreifung der Nationalsozialisten und der Errichtung der NS-Diktatur wurde der Prozess der Professionalisierung der Sozialen Arbeit jäh unterbrochen. Die von Alice Salomon 1908 gegründete „Soziale Frauenschule“ wurde aufgelöst und der Name der Gründerin wurde verworfen. Bis 1945 wurde die Schule unter nationalsozialistischer Führung als „Schule für Volkspflege“ weitergeführt (ASH Berlin, 2023). Die nationalsozialistische Staatsführung beeinflusste direkt die Lehrplangestaltung der „Volkspflegeschulen“. Konzepte der Sozialhygiene wurden konsequent von der Lehre der Rassenhygiene abgelöst, welches nun „das zentrale Fach“ (Thole, 2012, S. 92) in der Ausbildung darstellte.

Das Verständnis der „Volkspflege“ wurde fortan entsprechend der nationalsozialistischen Ideologie ausgelegt. Die sogenannte nationalsozialistische Volkswohlfahrt (NSV) verfolgte drei Hauptziele:

•Als Erstes sollte die öffentliche (materielle) Fürsorge reduziert werden. In der Zeit der Weimarer Republik sei die Fürsorge zu großzügig gewesen und die „Unterhaltsmittel“ seien „falsch verteilt“ worden. Fürsorge für die „sozial Untüchtigen“ sollte „radikal gekürzt“ werden (Schilling & Zeller, 2007, S. 45).

•Zweitens wurde die Orientierung am individuellen Verständnis des Einzelfalls, die bei Mary Richmond und Alice Salomon bereits etabliert war, aufgegeben.

•Drittens sollten nur noch „erbgesunde und wertvolle“ Familien und „förderungswürdige“ Menschen Unterstützung erhalten. Diagnostik wurde zur Unterscheidung der „arischen Rasse“ einerseits und von „ungesundem Erbgut“ und „kranken Erbströmen“ andererseits missbraucht (Schilling & Zeller, 2007, S. 45).

Mit der Unterscheidung in wertvoll und förderwürdig oder sozial untüchtig und förderungsunwürdig wurde eine Klassifizierung wiederbelebt, die mit den Professionalisierungserfolgen zu Beginn des 20. Jahrhunderts bereits überwunden war. Ein aus nationalsozialistischer Sicht wesentlicher Schritt, ihre Ideologie im Staatswesen fest zu verankern, war die Verabschiedung des Gesetzes zur Vereinheitlichung des Gesundheitswesens im Juli 1934. Damit wurden Fürsorgekräfte Mediziner:innen als Hilfskräfte unterstellt. Das amtsärztliche Gutachten wiederum entschied „nicht nur über das Wohl und Wehe einer Person, sondern über das Wohl und Wehe der deutschen Zukunft überhaupt“ (Labisch & Tennstedt, 1985, S. 327). Bei der Umsetzung der rassenhygienischen Vorgaben fanden sich in medizinisch verfassten Gutachten „in vielen Fällen wortgetreu die Verhaltensbeobachtungen und Wertungen aus den Gutachten der Fürsorgerinnen“ (Thole, 2012, S. 91). Als Folge konnte die Idee einer Sozialen Diagnose „pervertiert und für menschenverachtende, selektive und eugenische Zwecke missbraucht“ werden (Gahleitner et al., 2014, S. 8).

Die Rolle der Sozialen Diagnostik als Erfüllungsgehilfin nationalsozialistischer Rassenhygiene, durchgeführt von Fachkräften der Fürsorge, ist hauptursächlich für die langandauernde diagnosekritische Haltung in der Sozialpädagogik und Sozialen Arbeit nach dem Ende der NS-Diktatur.

1.3Nachkriegsjahre: Diagnosekritik und Renaissance

In den unmittelbaren Nachkriegsjahren wurde zunächst keine aufarbeitende Debatte geführt. Maja Heiner (2004, S. 22) beschreibt die Situation im Nachkriegsdeutschland so, dass bis in die 1960er-Jahre der Fokus auf die Bewältigung der „äußeren Notlagen“, wie bspw. Verwaisung, Verwitwung, Wohnungsnot und Arbeitslosigkeit, gesetzt wurde. Es herrschten in den Jahren nach Kriegsende noch ähnliche Unterscheidungsmuster wie in der NS-Zeit. Menschen mit unangepasstem Verhalten wurden weiterhin als „arbeitsscheu“, „sittlich verwahrlost“ oder „unerziehbar“ bezeichnet, so Heiner (2004, S. 22). Erst mit dem Beginn der sozialen Bewegungen (z. B. die Friedensbewegung) in den 1960er-Jahren kam es zu einer anderen Deutung unangepassten Verhaltens. Es wurde gleichsam als Ausdruck einer gesellschaftskritischen Haltung gewertet und „viele junge Professionelle der Sozialen Arbeit sahen ihre Aufgabe darin, diesen Widerstand zu unterstützen“ (Heiner, 2004, S. 22).

In den 1960er- und 1970er-Jahren richtete sich die diagnosekritische Haltung nicht nur gegen Soziale Diagnosen. Diagnosekritik umfasste ebenso die Bereiche Psychologie und Medizin. Buttner et al. (2018, S. 15) verstehen die kritische Sicht auf Diagnosen zum einen als „Reflex auf die politische Instrumentalisierung von Diagnosen im eugenischen und rassenhygienischen Diskurs“, zum anderen aber auch gleichzeitig als Indiz für die emanzipatorischen gesellschaftspolitischen Tendenzen in dieser Zeit. Die starke Ablehnung Sozialer Diagnostik in der Sozialen Arbeit in dieser Zeit hatte zur Folge, dass diagnostische Tätigkeiten vor allem an Medizin und Psychologie delegiert wurden. An professionelle sozial-diagnostische Anschauungen aus Vorkriegszeiten konnte nicht angeknüpft werden und im Handlungsrepertoire der Sozialen Arbeit lagen die diagnostischen Kompetenzen brach. Die Delegation Sozialer Diagnostik an andere Disziplinen bewirkte, dass diagnostische Methoden und Instrumentarien mit dem spezifischen Blick der Psychologie bzw. Medizin entwickelt wurden. Die für die Soziale Arbeit wichtigen Perspektiven, wie z. B. die Lebensweltorientierung, fanden in den psychologischen bzw. medizinischen Diagnosen verständlicherweise kaum Berücksichtigung.

Für das Wiedererstarken der Sozialen Diagnostik können mehrere Gründe als ursächlich angeführt werden. Zunächst wurde mit der Akademisierung der Sozialen Arbeit ab den 1970er-Jahren und der aufhommenden Debatte um eine Wissenschaft der Sozialen Arbeit ab den 1980er-Jahren immer wieder auch die Rolle Sozialer Diagnosen im Professionalisierungsdiskurs aufgegriffen. Zusätzlich entstand im Handlungsfeld der Jugendhilfe ein zunehmender Legitimationsdruck für „konkrete Entscheidungen im Kinderschutz“ (Buttner et al., 2018, S. 17) und dieser befeuerte die Debatte um die Diagnostik in der Sozialen Arbeit. Aus dem Bereich der Sozialpsychiatrie, wo seit den 1970er-Jahren seitens der Medizin die Mitbehandlung des sozialen Umfelds von Patient:innen diskutiert wurde, warfen Vorstellungen der „Enthospitalisierung chronisch psychisch Kranker“ (Buttner et al., 2018, S. 17) Fragen nach einem sozialen Netzwerk und nach Teilhabe auf, die durch die Soziale Arbeit professionell aufgegriffen werden könnten. Schließlich gab es seit den 1990er-Jahren einen verstärkten ökonomischen Druck in Richtung der Sozialen Arbeit. Der Wechsel von der Inputzu einer Output-Steuerung hatte einen „gestiegenen Anspruch an die Wirtschaftlichkeit Sozialer Arbeit“ (Buttner et al., 2018, S. 17) zur Folge. Der Diskurs um die Qualität, Effektivität und Effizienz sozialarbeiterischer Interventionen unterstützte eine Debatte darüber, inwiefern Soziale Diagnostik plausibilisierend und interventionsplanend verstanden werden kann. Seit Mitte der 1990er-Jahre ist bei der Fachdebatte um die Soziale Diagnostik ein deutlicher Aufschwung zu konstatieren. Zahlreiche Publikationen erschienen, Fachtagungen wurden etabliert und der Gegenstand der Sozialen Diagnostik wurde in Ausbildungscurricula integriert. Es gibt bereits eine Vielzahl von sozial-diagnostischen Methoden und Instrumentarien, die stetig erweitert und überarbeitet werden.

1.4Aktuelle wissenschaftliche Einordnung

Gegenwärtig sehen Buttner et al. (2018, S. 18) einen Konsens in der professionellen Debatte über Soziale Diagnostik darin, dass Soziale Arbeit „verlässliche, methodisch und empirisch fundierte Ausgangspunkte für ihre Interventionen braucht“. Dabei sei die Soziale Diagnostik in der Lage, diese Ausgangspunkte unter den genannten Kriterien zu bestimmen. Die Durchführung Sozialer Diagnostik durch Fachkräfte der Sozialen Arbeit wird mittlerweile wieder als professioneller Standard betrachtet, der bestimmten Qualitätsmerkmalen entsprechen soll (Staub-Bernasconi, 2007; Nauerth, 2016; Buttner et al., 2018). Mehr dazu findet sich im Kapitel „Soziale Diagnostik und ihre Qualitätsstandards“ in diesem Buch (siehe S. 17ff.). In vielen Curricula der Sozialen Arbeit wird die Soziale Diagnostik berücksichtigt. Die plausibilisierende und interventionsvorbereitende Funktion Sozialer Diagnostik wird übereinstimmend angenommen. Im aktuellen Verständnis Sozialer Diagnostik wird betont, dass die Vorstellung eines methodischen und prozesshaften Geschehens im Vordergrund steht und nicht das Ergebnis. Sozialen Diagnosen wird ein Hypothesencharakter zugesprochen. Die Situation oder das Problem soll systematisch erfasst, analytisch durchdrungen und interpretiert werden. Zu dieser objektivierend-interventionsgerichteten Seite gehört als Komplementär eine interpretierend-verstehende Seite. Was als zu lösendes Problem oder als zu klärende Fragestellung definiert wird, sollte nach Möglichkeit stets in einem kooperativen Prozess zwischen Klient:in und Fachkraft bestimmt werden (Buttner et al., 2018, S. 23).

Der jüngere Diskurs Sozialer Diagnostik ist unter anderem dahingehend geprägt, dass Folgendes zu hinterfragen ist:

•Welche strukturellen Durchführungsbedingungen finden sich in der Praxis (vgl. dazu Röh, 2018)?

•Worauf beziehen sich Interpretationen und wo sollten sie begrenzt werden? Wie weit werden Einzelfälle abstrahiert? Wie soll bzw. soll überhaupt der Einfluss anderer Disziplinen zugelassen werden? Inwiefern kann die soziale Dimension fokussiert werden (vgl. dazu Buttner et al., 2018, S. 18)?

•Wie können komplexe Gegenstandsbereiche so erfasst werden, dass sie eine individuelle Bewältigung ermöglichen und Teilhabesicherung erlauben (vgl. dazu Nauerth, 2018)?

•Wie können die Herausforderungen der Sozialen Diagnostik in der Lehre umfassend berücksichtigt werden (vgl. dazu Rademaker, 2018)?

•Wie können Qualitätskriterien implementiert und Wirksamkeitsindikatoren definiert werden (vgl. dazu Forschungsprojekt „QuaSoDia“, Rademaker, 2023)?

Die Liste der Fragen, die die aktuelle fachliche Auseinandersetzung skizzieren, ist hierbei keinesfalls als vollständig zu verstehen. Sie dokumentiert aber die Spanne des Diskurses, der von der Praxis über konzeptionelle/theoretische bis hin zu wissenschaftlichen/forschungsbezogenen Themen reicht.

2Soziale Diagnostik und ihre Qualitätsstandards

Von Maja Heiner (2014, S. 28) wurden vier professionsbegründete Prinzipien eines diagnostischen Fallverstehens herausgearbeitet (Abb. 1). Diese fußen auf fundamentalen Grundsätzen des Professionsverständnisses der Sozialen Arbeit. Hier sind professionelle Ansprüche zusammengefasst, die als Qualitätskriterien dafür herangezogen werden können, wie Soziale Diagnostik durchgeführt wird, welche Funktion sie erfüllen und wie sie in die sozialarbeiterische Praxis eingebettet sein soll. Diese Prinzipien bilden das professionelle Selbstverständnis der Sozialen Arbeit über diagnostisches Fallverstehen ab und legen somit gleichsam Qualitätsstandards für Soziale Diagnostik fest. Im Folgenden werden die vier Prinzipien genauer erklärt.

•Partizipativ: Soziale Diagnostik soll partizipativ ausgerichtet sein. Das heißt, das Verständnis einer Problemlage, Fragestellung oder ein zu klärendes Problem ist im Dialog zwischen Klient:innen und Fachkräften zu erheben und Ziele sind gemeinsam auszuhandeln. Dieses koproduktive, aushandlungsorientierte und beteiligungsfördernde Vorgehen ist auch dann beizubehalten, wenn abweichende Auffassungen zwischen Fachkraft und Klient:innen bestehen.

•Sozialökologisch: Unter sozialökologischer Ausrichtung wird verstanden, dass Individuen und deren aktuelle Situation immer im Kontext ihres Lebensumfeldes zu sehen sind. Die sozialökologische Orientierung bildet einen grundlegenden Auftrag Sozialer Arbeit ab: „zwischen Individuum und Gesellschaft zu vermitteln“ (Heiner, 2014, S. 28).

•Multi- und mehrperspektivisch: Multiperspektivisch bedeutet, dass unterschiedliche Aspekte innerhalb einer Problemlage berücksichtigt werden. So können komplexe Konstellationen erkannt und in die Bearbeitung einbezogen werden. Wichtig ist hier zu betonen, dass in der multiperspektivischen Betrachtung in einem Fall nicht nur defizitäre Aspekte bestimmt, sondern auch Ressourcen als Teilaspekte festgehalten werden sollen.

Mehrperspektivisch bezieht sich auf die Betrachtung des präsentierten Problems bzw. der Fragestellung aus verschiedenen Blickwinkeln. Diese können von unterschiedlichen Quellen bezogen werden (andere Professionen, Personen aus dem Umfeld), es können aber auch unterschiedliche Zeitbezüge erfasst werden (aktuelle und historisch-biografische Darstellung).

•Reflexiv: Mit der Einhaltung der reflexiven Orientierung wird sichergestellt, dass Soziale Diagnosen immer einen Hypothesencharakter tragen, revidierbar und veränderlich sind. Hier wird der Prozesscharakter Sozialer Diagnostik deutlich. Es hängt von der aktuellen Situation, von Beziehungskonstellation und vom Zugang zu Informationen ab, wie eine bestimmte Situation im Hinblick auf eine Fragestellung bewertet werden kann. Das heißt, sozial-diagnostische Einschätzungen sollen immer wieder neu hinterfragt und überprüft und bei Bedarf verändert werden.

Abb. 1:Professionsbegründete Prinzipien diagnostischen Fallverstehens (eigene Darstellung nach Heiner, 2014, S. 28)

Bei allen Konzepten, Methoden und Techniken, die in der Sozialen Diagnostik zum Einsatz kommen, sollen diese vier grundlegenden Prinzipien beachtet und realisiert werden. Somit ist gewährleistet, dass die aus der Profession der Sozialen Arbeit begründeten Prinzipien als Qualitätsstandards in sozial-diagnostische Praxen einfließen. Das heißt konkret, dass diagnostisches Arbeiten in der Sozialen Arbeit immer partizipativ, sozialökologisch, multi- und mehrperspektivisch sowie reflexiv angelegt werden muss, um den Qualitätsstandards Sozialer Diagnostik zu entsprechen.

3Funktionen Sozialer Diagnostik

Wird auf das aktuelle Verständnis Sozialer Diagnostik zurückgegriffen, können zwei grundlegende Funktionen beschrieben werden: eine interventionsvorbereitende und eine interventionsplausibilisierende.

Interventionsvorbereitung:

Blicken wir zunächst auf die Ebene der Interventionsvorbereitung. Die Durchführung von Sozialer Diagnostik ermöglicht es Fachkräften, individuelle Bedarfe und Bedürfnisse lebenswelt- und lebenslagenbezogen zu analysieren und zu verstehen (Pauls, 2013; Nauerth, 2018; Pantucek-Eisenbacher, 2019b). Wird durch eine sozialarbeiterische Fachkraft ein Unterstützungsbedürfnis oder ein Bedarf erkannt, werden Entscheidungen dahingehend notwendig, wie in diesem speziellen Fall interveniert werden soll. Pantucek-Eisenbacher (2019b, S. 112) formuliert dies als „fallbezogene Entscheidungen“, die getroffen werden müssen. Darauf fußend werden Interventionen angebahnt, die zur Bewältigung der identifizierten Fragestellung führen sollen. D. h., die Soziale Diagnostik wird vorbereitend für die Interventionsplanung eingesetzt.

Interventionsplausibilisierung:

Die zweite Funktion Sozialer Diagnostik besteht in der Plausibilisierung von getroffenen Entscheidungen für fallbezogene Interventionen. Dabei sind unterschiedliche Richtungen der Begründung fallbezogener Interventionen zu unterscheiden. Einerseits kann es innerhalb der eigenen Profession notwendig werden, fallbezogen zu veranschaulichen, weshalb in einer bestimmten Weise vorgegangen werden soll. Pantucek-Eisenbacher (2019b, S. 113) sieht dies etwa als erforderlich an, wenn geplante Interventionen von „Traditionen der Organisation“ abweichen und innerhalb der eigenen Profession somit als „nonkonform“ begriffen würden. Eine Plausibilisierung von Interventionen ist gegenüber Finanziers sozialer Dienstleistungen relevant. Mithilfe einer gründlichen Darlegung von Problemstellung und geplanter interventioneller Entgegnung können Dauer, Umfang und Art von notwendigen Maßnahmen erklärt und begründet werden. Eine dritte Seite, die bei der Plausibilisierung von Interventionen berücksichtigt werden muss, sind die Unterstützung suchenden Personen selbst. Dieser Anspruch liegt einerseits in den professionsbezogenen Prinzipien diagnostischen Fallverstehens, die wir bereits erläutert haben. Soziale Diagnostik soll partizipativ sein. Das schließt mit ein, dass geplante Interventionen für Klient:innen plausibel sind. Es ist mit einer erfolgreicheren Umsetzung geplanter Interventionen zu rechnen, wenn die Personen, die von den Interventionen betroffen sind, von deren Sinnhaftigkeit überzeugt sind. Die Plausibilisierung von Interventionen ist noch in weitere Richtungen denkbar. So können bspw. auch Angehörige von Unterstützung suchenden Personen ein fallbezogenes Interesse an geplanten Interventionen haben. Es ist aber auch ein Einfluss auf der Makroebene vorstellbar, etwa, wenn es um die Umsetzung von Unterstützungsprogrammen oder die Implementierung von Konzepten in bestimmten Handlungsfeldern geht.

Neben den beiden grundlegenden Funktionen der Vorbereitung und Plausibilisierung von Interventionen lassen sich noch fallverlaufsspezifische Funktionen Sozialer Diagnostik unterscheiden. Heiner (2014) orientiert sich dabei am Grad der Standardisierung von fallbezogenen Informationen. Darunter wird erstens die „Zahl der kategorisierten Phänomene“ (Heiner, 2014, S. 25) verstanden. Dies wird auch als „Reichweite der Aussagen“ bezeichnet. Zweitens wird der Präzisionsgrad der kategorisierten Phänomene bestimmt. Heiner nennt dies die „Präzision der Kategorien“ (Heiner, 2014, S. 25). Beide Standardisierungsgrößen (Reichweite und Präzision) können in eine geringe, eine mittlere und eine hohe Ausprägung differenziert werden. Nach Heiner (2014) lassen sich vier unterschiedliche Funktionen Sozialer Diagnostik in einem Fallverlauf bestimmen (Abb. 2).

Abb. 2:Standardisierungsgrad diagnostischer Verfahren, eigene Darstellung nach Heiner, 2014, S. 26

•Orientierungsdiagnostik: