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Fachkräfte der psychosozialen Beratung stehen oft vor der Herausforderung, Beratungsgespräche online zu führen. Dieses praxisnahe Fachbuch ordnet synchrone virtuelle Beratung in die Methodenvielfalt von Beratungsformaten ein. Psychosoziale Beratung kann auch online gelingen – dieses Buch zeigt wie! Im ersten Teil des Buches wird anschaulich erklärt, worin die Besonderheiten eines synchronen virtuellen Gesprächsformats liegen. Schrittweise wird an die Durchführung der virtuellen Beratung herangeführt. Reflexionsaufgaben bieten zahlreiche Vertiefungs- und Übungsmöglichkeiten. Der zweite Teil des Buches widmet sich umfassend einer konkreten Gesprächsführungstechnik für die virtuelle Beratung. Leser:innen finden konkrete Anleitungen, Übungen zum Vertiefen und viele praktische Tipps für wirkungsvolle psychosoziale Beratung. Online persönlich beraten“ ist eine wertvolle Begleitung in der Digitalisierung der psychosozialen Versorgung.
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Seitenzahl: 152
Saskia Ehrhardt, Melanie Zeller
Online persönlich beraten
Gesprächsführungstechnik für psychosoziale Beratungen
im synchronen virtuellen Setting
Die Autorinnen
Mag.a Saskia Ehrhardt, MA, Studien der Erziehungswissenschaft, psychoanalytisch orientierte Sozialtherapie im Suchtbereich, Sozialwirtschaft und Soziale Arbeit. Lehrende am Masterstudiengang „Sozialraumorientierte und Klinische Soziale Arbeit“ an der FH Campus Wien. Vorstandsmitglied des European Centre for Clinical Social Work (ECCSW).
Mag.a Dr.in Melanie Zeller, psychosoziale Beraterin, Sozialpädagogin, systemische (Trauma-)Psychotherapeutin für jedes Alter und Gender, forschend und lehrend an diversen Bildungsinstitutionen und am Masterstudiengang „Sozialraumorientierte und Klinische Soziale Arbeit“. Klinische Mentorin des European Centre for Clinical Social Work (ECCSW).
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
Alle Angaben in diesem Fachbuch erfolgen trotz sorgfältiger Bearbeitung ohne Gewähr, eine Haftung der Autorinnen oder des Verlages ist ausgeschlossen.
1. Auflage 2023
Copyright © 2023 Facultas Verlags- und Buchhandels AG
facultas Universitätsverlag, Stolberggasse 26, 1050 Wien, Österreich
Alle Rechte, insbesondere das Recht der Vervielfältigung und der Verbreitung sowie der Übersetzung, sind vorbehalten.
Umschlagbild: © Saskia Ehrhardt, Melanie Zeller
Satz: Wandl Multimedia-Agentur, Groß Weikersdorf
ISBN 978-3-99111-822-0 (E-Pub)
Inhalt
Teil A
1. Beratung
2. Das synchrone virtuelle Setting
2.1 Begriffsbestimmung
2.2 Bedingungen
3. Elemente psychosozialer Beratung
3.1 Professionalität
3.2 Organisationale Rahmung
3.3 Gesellschaftliche Bedingungen
4. Besonderheiten synchroner virtueller Kommunikation
5. Schritte zur psychosozialen Beratung im synchronen virtuellen Setting
Fallbeispiel: Lu
5.1 Schritt 1: Eine Beratung wird gebraucht.
5.2 Schritt 2: Eine Beratung wird geplant.
5.3 Schritt 3: Eine Beratung wird vorbereitet.
5.4 Schritt 4: Eine Beratung wird durchgeführt.
5.5 Schritt 5: Eine Beratung wird nachbereitet.
6. Einsatzmöglichkeiten und Grenzen der Beratungsform
Teil B
7. Das Digiberth-Training im Überblick
7.1 Der virtuelle Raum – Hausbesuche versus Videokontakt
7.2 Die Kleidung
7.3 Der Blickkontakt – Blicksteuerung
7.4 Rollenerweiterung
7.5 Gesprächsphasen im synchronen virtuellen Setting
8. Checklisten und Trainingsblätter
8.1 Checklisten
8.2 Trainingsblätter
Literatur
Lösungen und Formulierungsvorschläge
Einleitung
In der psychosozialen Unterstützungslandschaft lässt sich generell eine große Methodenvielfalt feststellen, die sich über unterschiedliche Interventionen erstreckt und auch eine Vielzahl von Gesprächsführungstechniken beinhaltet. Mit dem Beginn der COVID-19-Pandemie und den ersten Lockdowns in Österreich zu Beginn des Jahres 2020 konnten wir eine dramatische Veränderung in der Gesprächsführungspraxis zwischen psychosozialen Fachkräften und deren Klient:innen beobachten. Das motivierte uns, die noch einmal an Fahrt gewinnende Vervielfältigung der Methoden der psychosozialen Unterstützung systematisch zu dokumentieren, um Erkenntnisse für Fachkräfte psychosozialer Beratung daraus ableiten zu können. Aus diesem Grund initiierten wir das Forschungsprojekt „Digiberth“, das Ende 2020 startete und als Quelle der in diesem Buch abgebildeten Erfahrungen und Erkenntnisse dient. Digiberth steht für Digitale Beratung und Therapie, wobei wir uns im Laufe des Projekts von den titelgebenden Begriffen distanzierten und in diesem Buch von psychosozialer Beratung im synchronen virtuellen Setting sprechen. Das Forschungsprojekt mündete in der Entwicklung eines speziell auf synchrone virtuelle Settings zugeschnittenen Gesprächsführungstrainings. Für dieses Training haben wir den Namen Digiberth beibehalten. Es wurde Anfang 2021 entwickelt und in unterschiedlichen psychosozialen Beratungskontexten erprobt, evaluiert und überarbeitet. In diesem Buch findet sich die letzte aktualisierte Fassung von 2023. Neben einer detaillierten Beschreibung des Trainings stehen Übungsaufgaben unterstützend zur Verfügung. Die hier vorgestellten Techniken der Gesprächsführung in synchronen virtuellen Settings können sofort in der Praxis angewendet werden.
Das bereits erwähnte Forschungsprojekt Digiberth umfasst zwei Teilprojekte. Der erste Teil, „Digiberth 1“, wurde von November 2020 bis Dezember 2021 durchgeführt. Der Schwerpunkt lag in der Klärung der Frage, welche handlungsleitenden Erfahrungen sich für die Transformation von Face-to-face-Settings in virtuelle Settings psychosozialer Beratung beschreiben lassen. Es nahmen 15 psychosoziale Berater:innen unterschiedlicher Handlungsfelder mit Beratungserfahrung sowohl im Face-to-face-Setting als auch im virtuellen Setting an „Digiberth 1“ teil. Mittels narrativer Interviews wurde das Datenmaterial erhoben. Die Auswertung der Interviews ergab, dass eine Beratung im synchronen virtuellen Setting besonderer Techniken in der Gesprächsführung im Vergleich zur Beratung im Face-to-face-Setting bedarf. Aspekte möglicher Gesprächsführungstechniken wurden 2021 bei unterschiedlichen Fachtagungen1 der Sozialen Arbeit in den DACH-Ländern diskutiert. Zusätzlich wurden erste Versionen eines eigens entwickelten Gesprächsführungstrainings im synchronen virtuellen Setting von und mit Studierenden eines Masterstudiums Klinischer Sozialer Arbeit erprobt. Aufgrund der Rückmeldungen der ersten Erprobungsphase wurde der zweite Teil des Forschungsprojekts, „Digiberth 2“, umgesetzt. Mit den Ergebnissen wurden wir von der FH Campus Wien für den Ars-Docendi-Staatspreis für exzellente Lehre an Österreichs Hochschulen nominiert. Der Beitrag ist unter Guter Lehre (https://gutelehre.at/) zu finden: https://bit.ly/486TxKV
Das Folgeprojekt „Digiberth 2“ ging der Frage nach, wie Fachkräfte der Klinischen Sozialarbeit in der digitalen Transformation psychosozialer Handlungsfelder wirksam professionell tätig werden können. Im Zeitraum 12/2021 bis 07/2022 setzten wir den zweiten Teil des Projekts um. Zehn Mitarbeiterinnen aus zehn unterschiedlichen Einrichtungen des Netzwerks Österreichischer Frauen- und Mädchenberatungsstellen nahmen an dem im Rahmen des Forschungszeitraums entwickelten Digiberth-Gesprächsführungstraining teil. Sie wendeten die Digiberth-Gesprächsführungstechnik in ihrer Beratungspraxis an. Mittels Beobachtungsprotokollen zu drei unterschiedlichen Erhebungszeitpunkten, einer Fokusgruppe und leitfadengestützten Interviews wurden im zweiten Projektzeitraum nochmals wesentliche Erkenntnisse zur Digitalisierung psychosozialer Versorgung gewonnen, die in die Überarbeitung der Digiberth-Gesprächsführungstechnik und in dieses Buch eingeflossen sind. Wir bedanken uns herzlich bei all unseren Projektpartner:innen, die das Projekt aktiv unterstützt und damit erst ermöglicht haben. Dazu gehören neben den Mitarbeiter:innen der unterschiedlichen psychosozialen Beratungsstellen auch die Studierenden des Masterstudiengangs Klinische Soziale Arbeit der FH Campus Wien sowie die FH Campus Wien, die das Forschungsprojekt Digiberth finanzierte.
Im ersten Teil des Buches erklären wir umfassend, was unter einem synchronen virtuellen Setting zu verstehen ist. Anschließend werden schrittweise besondere Herausforderungen in der Umsetzung eines solchen Beratungssettings beleuchtet, um differenziert Beratungsbedarfe zu identifizieren, für die ein synchrones virtuelles Setting indiziert ist. Die Inhalte werden entlang eines Fallbeispiels erklärt. Der zweite Teil des Buches beinhaltet das Gesprächsführungstraining Digiberth, das Kompetenzen in der synchronen virtuellen Beratung schult. Hier finden sich eine detaillierte Schilderung der Gesprächsführungstechnik und eine handlungsorientierte Anleitung zur Umsetzung. Mittels Trainingsaufgaben können gezielt Gesprächsführungskompetenzen geschult werden, die für das professionelle Führen von psychosozialen Beratungsgesprächen im synchronen virtuellen Setting gebraucht werden. Die Trainingsaufgaben finden sich am Ende des Buches und können separat heruntergeladen werden. Das Buch leistet damit einen Beitrag zur Anerkennung des synchronen virtuellen Beratens als vollwertige und eigenständige Beratungsmethode in psychosozialen Handlungsfeldern.
Im Buch haben wir essenzielle Aspekte übersichtlich in Infoboxen abgebildet. Zusätzlich befinden sich in den einzelnen Kapiteln immer wieder Reflexionsaufgaben, die zum Innehalten und Reflektieren einladen. So wird der Transfer der im Buch beschriebenen Erkenntnisse und Erfahrungen in den persönlichen Kompetenzbereich unterstützt. Aspekte, zu denen sich am Ende des Buches ein Trainingsbeispiel findet, sind mit dem Symbol einer schreibenden Hand gekennzeichnet und nummeriert (z. B. T 1), sodass die betreffenden Übungen gezielt gefunden werden können. Beispiele sind grau hinterlegt und setzen sich so vom erklärenden Text ab.
Wir wünschen viel Freude mit diesem Methodenbuch, dem Ausprobieren der Gesprächsführungstechnik und den Übungen dazu.
1 Bei diesen Fachtagungen wurde ein Panelbeitrag zum Forschungsprojekt präsentiert: Fachtagung des ECCSW: 20.05.2022, „Digitalisierung und neue Perspektiven der psychosozialen Arbeit“ (online); Fachtagung Klinische Sozialarbeit: 09./10.06.2022, „Wirkung“ (Olten, CH); DVSG-Bundeskongress 10./11.11.2022, „Gesellschaftlicher Wandel in Krisenzeiten – Herausforderungen für die gesundheitsbezogene Soziale Arbeit“ (Kassel, D).
Teil A
1. Beratung
Eingangs widmen wir uns zunächst der Betrachtung allgemeiner Grundlagen von Beratung in psychosozialen Handlungsfeldern, bevor wir in den folgenden Kapiteln auf die Spezialisierung der psychosozialen Beratung in synchronen virtuellen Settings eingehen.
Psychosoziale Beratung ist eine spezifische Form der zwischenmenschlichen Kommunikation von einer beratenden Person mit einer ratsuchenden Person. Diese Hilfeform wirkt „unterstützend, präventiv, rehabilitativ, kurativ, informativ, heilend und entwicklungsfördernd“ (Beushausen, 2020, S. 7).
Eine Person ist im Rahmen einer Beratung einer anderen Person dabei behilflich Anforderungen um Belastungen im Alltag, schwierige Probleme oder Krisen zu bewältigen. Beratung kann Hilfen beim Abwägen von Wahlmöglichkeiten bzw. bei der „kognitiven und emotionalen Orientierung“ (Otto & Thiersch, 2011, S. 109) in schwierigen Lebenslagen umfassen. Sie unterstützt Ratsuchende dabei Wahlmöglichkeiten abzuwägen, sich bei mehreren Alternativen zu entscheiden oder Optionen bewusst offenzuhalten. Beratung ermöglicht und fördert Zukunftsüberlegungen und Planungen. Zu beratende Personen werden bei der Realisierung erster Planungsschritte unterstützt und bei ersten Handlungsversuchen mit Reflexionsangeboten begleitet (Otto & Thiersch, 2011, S. 109). Es handelt sich um einen Interaktionsprozess, der sich „spezifisch, strukturiert, klientenzentriert, problem- und lösungsorientiert“ (Widulle, 2020, S. 169) gestaltet. Wir gehen in unseren Betrachtungen von einem biopsychosozialen und lebensweltorientierten Menschenbild aus. Dabei wird die Person ganzheitlich verstanden und als Expertin für das eigene Leben angesehen. Menschen werden in belastenden Lebenssituationen mittels Beratung unterstützt, wobei ihnen die Verantwortung für ihr Handeln nicht abgenommen wird. Stattdessen ist psychosoziale Beratung ein Angebot auf Zeit, bei dem es gilt, „Prozesse der Problembewältigung, der Entscheidungs-, Erlebnis- und Handlungsfähigkeiten in einem überschaubaren zeitlichen Rahmen“ (Braches-Chyrek, 2017, S. 239) wiederherzustellen.
Der Beratungsprozess wird von der beratenden Fachkraft so arrangiert, dass er die Lebensbewältigungsprozesse der zu beratenden Person fördert. Dabei ist der wichtigste Aspekt in der Beratungssituation der Aufbau einer tragfähigen Arbeitsbeziehung zwischen der beratenden Fachkraft und der zu beratenden Person. Damit dies gelingt, werden seitens der Fachkraft methodische, fachliche und personale Kompetenzen benötigt. Die personalen Kompetenzen beinhalten neben Respekt und Wertschätzung (T 2) gegenüber der ratsuchenden Person auch Akzeptanz und „die Fähigkeit, in Kontakt, Begegnung und Beziehung professionell handeln zu können“ (Beushausen, 2020, S. 7). Zu den fachlichen und methodischen Kompetenzen gehören neben der Fähigkeit, die Probleme auf einer Sachebene zu bearbeiten, noch weitere Kompetenzen. Es würde den Rahmen dieses Buches sprengen, detailliert und umfassend darauf einzugehen. Einige Prämissen sollen jedoch hier genannt werden: Zu den fachlichen Beratungskompetenzen gehören neben der bereits erwähnten Herstellung der Arbeitsbeziehung auch das Halten und das professionelle Beenden derselben. Die aktive Steuerung des Nähe-Distanz-Verhältnisses zu Klient:innen sowie das bewusste Agieren im eigenen professionellen Zuständigkeits- und Verantwortungsbereich sind weitere Grundsätze professionellen Beratens. Die Beratungskompetenzen werden im Rahmen einer individuellen Rollenauffassung umgesetzt. Fachkräfte benötigen ein Verständnis über ihre professionelle Rolle, in der Haltungen gegenüber den Klient:innen, wie bspw. „eine Akzeptanz individueller Sinnkonstruktionen“ (Beushausen, 2020, S. 15), verankert sind. Um angemessen auf veränderliche Beratungsanliegen, Beratungskontexte und persönliche Befindlichkeiten eingehen zu können, muss das professionelle Rollenverständnis von Fachkräften flexibel sein. Wir bezeichnen diese Fähigkeit als „Rollenelastizität“. Wir werden später in diesem Buch im Kontext des synchronen virtuellen Settings noch einmal detaillierter darauf eingehen. Fachkräfte müssen zusätzlich über eine ausreichende Methodenkompetenz verfügen, die die Umsetzung dieser basalen Prinzipien erlaubt. Dazu gehört auch die Fähigkeit, einzuschätzen, welche Methoden für eine bestimmte Frage- oder Problemstellung bzw. Lebenssituation einer Unterstützung suchenden Person angemessen oder möglicherweise auch kontraindiziert sind. Fachkräfte psychosozialer Beratung benötigen die Kompetenz, vor dem Hintergrund des präsentierten Problems bewusst zu entscheiden, welche Beratungsmethoden eingesetzt werden können.
Es gibt unterschiedliche Konzepte und Modelle des Verlaufs eines Beratungsgesprächs. Je nach Beratungskontext oder Zielsetzung lassen sich unterschiedliche Gesprächsphasen definieren. Wir greifen exemplarisch drei gängige Beschreibungen heraus: Benesch (2020, S. 89ff.) erklärt den Einsatz des Dialogs in Beratungsgesprächen anhand von drei Schritten: Analysieren – Reorganisieren – Stärken. Für Beushausen (2016, S. 126) durchläuft ein Beratungsgespräch diese Phasen: Die Beratung beginnt mit dem Gesprächseinstieg, es folgen Problembeschreibung, Ziel- und Auftragsklärung und Aktionsphase. Die Abschlussphase markiert das Gesprächsende. Nach Widulle (2020, S. 169ff.) kann ein Beratungsgespräch entlang von sieben Gesprächsphasen abgewickelt werden. Zuerst gilt es Kontakt aufzunehmen und die Situation abzuklären. Das aktuelle Thema und der Ist-Zustand sind zu eruieren. Danach werden Ziele entwickelt und die Umsetzung wird geplant. Am Ende des Beratungsgespräches erfolgt eine Zusammenfassung und die Beratungssituation wird abgeschlossen. Den drei dargestellten Modellen über Gesprächsphasen in Beratungssituationen ist gemein, dass sie eine Einstiegsphase, eine Explorations- und Bearbeitungsphase sowie eine Abschlussphase definieren. Diese drei Phasen können als fundamentale Aufteilung verstanden werden. Je nach fachlicher Ausrichtung und angewendeter Methodik werden die Phasen dann u. U. weiter differenziert und speziell gestaltet. Wir haben uns für das Gesprächsführungstraining Digiberth, dem wir uns im zweiten Teil des Buches ausführlich widmen, an dieser fundamentalen Dreiteilung eines Beratungsgesprächs orientiert. Abgeleitet davon definieren wir diese drei grundlegenden Gesprächsphasen: Eröffnungsphase – Bearbeitungsphase – Verabschiedungsphase. Damit lehnen wir uns an bestehende Modelle an, modifizieren die Gesprächsführungsphasen jedoch für den speziellen Einsatz in synchronen virtuellen Settings. Eine detaillierte Anleitung zur aktiven Gestaltung der drei Phasen sowie Trainingsaufgaben dazu finden sich in Teil B dieses Buches.
Infobox
Das Gesprächstraining Digiberth berücksichtigt drei Gesprächsphasen: Eröffnungsphase, Bearbeitungsphase und Verabschiedungsphase.
Nachdem wir auf grundlegende Haltungen und Beratungskompetenzen sowie auf Gesprächsphasen innerhalb eines Beratungsgespräches eingegangen sind, werfen wir noch einen Blick auf die Möglichkeiten zur Bestimmung des Beratungsendes. Es ist denkbar, ein Beratungsende im Hinblick auf das Erreichen von bestimmten Resultaten zu betrachten. Die Beratungsergebnisse sind dabei jedoch „nicht das Resultat voraus geplanter Interventionen, sondern sie entstehen in einer kommunikativen Situation als ‚Produkte‘ aller Beteiligten“ (Braches-Chyrek, 2017, S. 239). Die Kommunikation in Beratungssituationen kann als Austausch von Wissen, Erfahrungen bzw. Erkenntnissen gesehen werden. Dabei gilt es zu beachten, dass in der Vorstellung darüber, was erreicht werden kann oder soll, in der Perspektive von Fachkräften und Unterstützung suchender Person Diskrepanzen bestehen können. Die Herausforderung besteht darin, Ambivalenzen, Diskrepanzen und Zielkonflikte aufzudecken und kommunikativ zu bearbeiten. Beushausen (2016, S. 10) sieht es als notwendig an, derartigen Differenzen grundsätzlich mit wohlwollender Akzeptanz zu begegnen. Pauls und Reicherts (2013) verwenden die Begriffe „Valenz“ und „Relevanz“, um zu verdeutlichen, in welcher Hinsicht Erwartungen an das Beratungsgespräch und dessen Ergebnisse unterschieden werden können. Valenz kann als Leidensdruck der Unterstützung suchenden Person verstanden werden. Unter diesem Begriff wird gefasst, welche subjektive Wertigkeit in der Frage- oder Problemstellung der Beratung in Anspruch nehmenden Person liegt. Die Valenz muss mitnichten der Einschätzung über die Relevanz des präsentierten Problems übereinstimmen. Die Fachkraft kann bspw. sehr wohl zu dem Entschluss kommen, dass Problemaspekte, die bei der betroffenen Person keinen großen Leidensdruck verursachen, relevant für die Bearbeitung sind. Ein Beispiel aus der Beratungspraxis verdeutlicht diese Diskrepanz: Eine Person, die sich in einer Sozialberatungsstelle einfindet, hat zwei nicht beglichene Monatsmieten und eine offene Rechnung bei einem Versandhandel für Gartenmöbel. Zwischen der Beratung in Anspruch nehmenden Person und dem Vermieter herrscht bereits länger ein gespanntes Verhältnis. Die zu beratende Person sagt, dass ihr die offenen Monatsmieten egal seien, denn der Vermieter sei ein schlechter Mensch, außerdem ohnehin vermögend und auf die Miete nicht angewiesen. Die Motivation, die Mietrückstände zu begleichen, wird als sehr gering bedeutet. Dagegen verbindet die Beratung in Anspruch nehmende Person mit den Gartenmöbeln angenehme Erlebnisse und fühlt eine Art persönlicher Verpflichtung, diese Schulden zuerst zu begleichen, damit der freundliche Händler zu seinem Geld kommt. Aus fachlicher Sicht würde die Regulierung der Mietschulden zweifellos als relevanter eingeschätzt als die offene Rechnung beim Versandhandel. Die Dissonanz zwischen Valenz und Relevanz ist in einem Beratungsgespräch zunächst „wohlwollend zu akzeptieren“ (Beushausen, 2016, S. 10) und kommunikativ einer Bearbeitung zuzuführen. Für unser Beispiel hieße das, dass die zu beratende Person die aktuelle Schuldensituation vollständig erfasst hat und die Konsequenzen ihres Handelns erkennt. Dies gilt es in einem oder mehreren Beratungsgesprächen zu erreichen. Die Person hat in unserem Beispiel mindestens vier Möglichkeiten:
a) Sie begleicht zunächst die Schulden beim Versandhandel, wissend, dass die Mietschulden zu einem Wohnungsverlust führen können.
b) Sie begleicht zunächst die Schulden beim Vermieter, um einen Wohnungsverlust abzuwenden. Dafür akzeptiert sie die Konsequenz, beim Versandhandel weiterhin Schulden zu haben.
c) Die Person versucht, beide Gläubiger zu bedienen, und vereinbart jeweils Ratenzahlungen.
d) Die Person begleicht keinerlei Schulden und akzeptiert die damit verbundenen Konsequenzen.
Das Ergebnis einer Beratung kann also so verstanden werden, dass die zu beratende Person selbstständig Entscheidungen treffen und veränderte Zukunftsperspektiven entwickeln kann. Personen werden bei der Bewältigung aktueller Probleme in der Weise unterstützt, dass sie lernen, Schwierigkeiten „in eigener Regie zu beheben oder zumindest zu mildern“ (Widulle, 2020, S. 169).
Ein vollständiger Beratungserfolg wäre erst gegeben, wenn die zu beratende Person „selbstständig (autonom) ihre Situationen spiegeln bzw. ihre Problemlagen formulieren, die Bedingungen ihrer Entscheidungen überblicken und die Folgen ihres Handelns abwägen [kann]“ (Braches-Chyrek, 2017, S. 239). Hier wird ein idealtypischer Zustand eines Beratungsergebnisses sichtbar. In der Regel werden eher Teilergebnisse zu erzielen sein, vor allem dann, wenn die Problemlagen der zu beratenden Personen komplex und vielschichtig sind. Jedenfalls ist auch in einem Beratungsverlauf kommunikativ zu klären, wann die erzielten (Teil-)Ergebnisse für die Beratung in Anspruch nehmende Person als ausreichend angesehen werden. Je nach Beratungskontext werden Fachkräfte ihre professionelle Einschätzung zum Beratungserfolg geben. Im Abgleich der Beurteilung des Beratungsergebnisses kann es zu neuerlichen Verwerfungen und Diskrepanzen kommen, die wiederum zunächst akzeptierend und wohlwollend festzuhalten sind, um in einem weiteren kommunikativen Aushandlungsprozess zu münden. Das Ende eines Beratungsprozesses sollte idealerweise transparent und explizit erfolgen.
Psychosoziale Beratungen können auf zwei unterschiedlichen Ebenen betrachtet werden. Einerseits ist es sinnvoll, eine Beratungseinheit, d. h. ein Beratungsgespräch, in unterschiedliche Gesprächsphasen zu unterteilen. Wie wir oben bereits dargestellt haben, kann von einer fundamentalen Dreiteilung ausgegangen werden, die ein Beratungsgespräch in eine Einstiegs-, eine Explorations- und Bearbeitungs- sowie eine Abschlussphase unterteilt. Auch wenn ein Beratungsprozess mehrere Beratungseinheiten, d. h. mehrere Gespräche umfasst, sollte jedes einzelne Beratungsgespräch dieser fundamentalen Gliederung unterliegen. Eine zweite Betrachtungsebene nimmt den Beratungsprozess, der aus mehreren Beratungseinheiten besteht, in den Blick. Je nachdem, ob es sich bspw. um ein Erstgespräch oder ein Abschlussgespräch handelt, werden unterschiedliche Beratungsschwerpunkte innerhalb des Beratungsprozesses deutlich. Ein Modell zur Abbildung von Beratungsabläufen beginnend mit der initialen Herstellung einer Arbeitsbeziehung bis hin zu einer Vernetzung mit weiterführenden Unterstützungsstellen bieten Pauls und Reicherts (2013) an. Es eignet sich gut, um den Verlauf eines Beratungsprozesses darzustellen und konzeptionell zu nutzen. Wir kommen in Bezug auf die Durchführung psychosozialer Beratung im synchronen virtuellen Setting in Kapitel 3 auf dieses Modell zurück.
Infobox
Beratungen können hinsichtlich einzelner Beratungseinheiten, aber auch hinsichtlich des aus mehreren Beratungseinheiten bestehenden Beratungsprozesses analysiert werden.
2. Das synchrone virtuelle Setting
2.1. Begriffsbestimmung
Die meisten Beratungsmodelle und -konzepte, die vor der COVID-19-Pandemie veröffentlicht wurden, gingen von einem Begegnungsszenario zwischen psychosozial beratender Fachkraft und zu beratender Person aus, das face to face, also von Angesicht zu Angesicht, stattfindet. Entsprechend sind auch Hinweise, Anleitungen und Techniken vielerorts so konzipiert, dass die Anwesenheit aller an der Beratung beteiligten Personen zur selben Zeit und am selben Ort angenommen wird. Mit der COVID-19-Pandemie kam es zu einer zunächst in vielen Fällen erzwungenen Erweiterung des bestehenden Repertoires an Durchführungsarten für psychosoziale Beratungen.
Viele Organisationen und Einrichtungen starteten in einem Improvisationsmodus und probierten unterschiedliche Arten zu beraten aus. Ein Modus, der seit den letzten drei Jahren in der Praxis regelmäßig zu Anwendung kommt, ist die Konstellation, dass die zu beratende Person und die professionell beratende Fachkraft sich zur selben Zeit, aber nicht am selben Ort in einem Beratungsprozess befinden bzw. in diesen eintreten. Wichtig ist an dieser Stelle anzumerken, dass die regelmäßige Anwendung dieser Praxis nicht automatisch mit einer Implementierung in Beratungskonzepte gleichgesetzt werden darf. Dies ist vielmehr ein Entwicklungsschritt, den viele Organisationen noch umsetzen müssen. Dazu kommen wir aber später noch.