Fast perfekte Heldinnen - Adèle Bréau - E-Book

Fast perfekte Heldinnen E-Book

Adèle Bréau

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Beschreibung

Nach wilden Studienjahren, durchtanzten Nächten und unzähligen Flirts sind die Freundinnen Mathilde, Alice, Lucie und Éva vierzig und erwachsen geworden. Gerade haben sie bei Lavendelduft und kühlem Rosé herrliche gemeinsame Sommerferien in der Provence verbracht. Kaum in Paris, holt der Alltag sie jedoch schnell ein. Mathilde und Max sind zurück in ihrer Beziehungshölle. Alices Liebesleben liegt seit der Trennung von Adrien brach, sie startet als Chefköchin in einem Sternerestaurant durch. Éva trifft, als Vincent wieder einmal auf Geschäftsreise ist, auf den verführerischen Jacques. Allein die wohlhabende Lucie mit dem großen Herzen und ihrer gut sortierten Familie scheint auf einer ruhigen Welle zu reiten. Vorerst jedenfalls ...

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Das Buch

Nach wilden Studienjahren, durchtanzten Nächten und unzähligen Flirts sind die Freundinnen Mathilde, Alice, Lucie und Éva – gefühlt: sehr plötzlich – vierzig und erwachsen geworden. Gerade haben sie bei Lavendelduft und kühlem Rosé herrliche gemeinsame Sommerferien in der Provence verbracht. Kaum in Paris, holt der Alltag sie jedoch schnell ein. Mathilde und Max sind zurück in ihrer Beziehungshölle. Alices Liebesleben liegt seit der Trennung von Adrien brach, sie startet als Chefköchin in einem Sternerestaurant durch. Éva trifft, als Vincent wieder einmal auf Geschäftsreise ist, auf den verführerischen Jacques. Allein die wohlhabende Lucie mit dem großen Herzen und ihrer gutsortierten Familie scheint auf einer ruhigen Welle zu reiten. Vorerst jedenfalls …

Die Autorin

Adèle Bréau ist Journalistin, erstellt Psycho-Tests für die Frauenpresse, hat die Website Terrafemina.com mitgegründet und unterhält einen Blog, auf dem sich Frauen untereinander austauschen (adeledebrief.wordpress.com).

Adèle Bréau

Fast perfekte Heldinnen

Roman

Aus dem Französischen von Stefanie Schäfer

List Taschenbuch

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Hinweis zu Urheberrechten

Sämtliche Inhalte dieses E-Books sind urheberrechtlich geschützt. Der Käufer erwirbt lediglich eine Lizenz für den persönlichen Gebrauch auf eigenen Endgeräten.Urheberrechtsverstöße schaden den Autoren und ihren Werken, deshalb ist die Weiterverbreitung, Vervielfältigung oder öffentliche Widergabe ausdrücklich untersagt und kann zivil- und/oder strafrechtliche Folgen haben.

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ISBN 978-3-8437-1422-8

© für die deutsche Ausgabe Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin 2017Copyright © 2015 by Éditions Jean-Claude LattèsTitel der französischen Originalausgabe: La Cour des grandesUmschlaggestaltung: ZERO Media GmbH, MünchenTitelabbildung: © FinePic®, München

E-Book: Pinkuin Satz und Datentechnik, Berlin

Alle Rechte vorbehalten

Für Menita

»Ich rede nicht von euch, das Café liegt in Brooklyn, alles klar? Wie kommt ihr bloß darauf, meine Figuren hätten irgendetwas mit euch zu tun? Schließlich ist der Typ rothaarig!«

Mes Meilleurs Copains, Jean-Marie Poiré, 1989

Die Besetzung

Mathilde (verheiratet mit Max): Managerin in einem Kosmetikkonzern, Mutter von zwei kleinen Jungen, perfektionistisch, hat immer zu wenig Zeit

Alice (Exfrau von Adrien): schüchtern, aber dickköpfig, sehr engagiert in ihrem Beruf als Köchin, alleinerziehend, hofft auf eine Versöhnung mit Adrien

Lucie (verheiratet mit Christophe): Mutter einer großen Familie und Besitzerin einer Kinderboutique, elegant und schön, aber krankhaft eifersüchtig

Éva (verheiratet mit Vincent): unzufrieden mit ihrer Arbeit als Journalistin, wünscht sich sehnlichst ein Kind

Max (verheiratet mit Mathilde): arbeits- und planlos, erdrückt von Eheproblemen, steckt in einer Identitätskrise

Adrien (Exmann von Alice): Zahnarzt, zurzeit mit der jungen Juliette liiert, gerät als Erster der Gruppe in eine Midlife-Crisis

Christophe (verheiratet mit Lucie): ehrgeiziger und wohlhabender Geschäftsmann sowie treuer und ergebener Ehemann

Vincent (verheiratet mit Éva): ständig auf Dienstreise, wünscht sich mit seiner Frau ein Kind, bester Freund von Adrien

Fred (Junggeselle): harte Schale – weicher Kern, erfolgreicher Sternekoch und Restaurantbesitzer, Chef von Alice und unsterblich in diese verliebt

Jacques (Junggeselle): Musiker und romantischer Träumer voller Ideen, will nun mit dreißig endlich erwachsen und sesshaft werden

DAS ENDE DER FERIEN

1»Kennt ihr das Gleichnis von den Reiskörnern?« Mathilde war schon leicht angeheitert vom Rosé. Sie saßen wie immer unter dem großen Olivenbaum, wo sie sich morgens zum Frühstück versammelten und abends zum Kartenspielen, wenn die Kinder endlich im Bett lagen. Éva und Alice schwiegen interessiert.

»Nein. Worum geht es dabei?«

»Es heißt, wenn Paare im ersten Ehejahr jedes Mal nach dem Sex ein Reiskorn in ein Glas legen und in den folgenden Jahren jedes Mal danach eines herausnehmen, dann reicht ihr Leben nicht aus, um das Glas zu leeren.«

»Hast du das irgendwo gelesen?«

»Weiß ich nicht mehr, ist doch auch egal … Glaubt ihr, dass es stimmt?«

Sie waren alle drei verheiratet, Éva seit zwei Jahren, Mathilde seit zehn. Und Alice zumindest noch pro forma, sie hatte sich im vergangenen Jahr von Adrien getrennt. Die Freunde hatten mit ihrer Empörung über Adriens letzte Affäre nicht hinter dem Berg gehalten. Insgeheim aber vermissten sie ihn in diesen Sommerwochen, die sie wie üblich gemeinsam in der Provence verbrachten. Lucie und Christophe, die diesmal ebenfalls nicht dabei sein konnten, vermissten sie auch – Lucie, die vierte im Bunde der Freundinnen und im achten Monat schwanger, hatte es vorgezogen, in der Nähe der Entbindungsstation zu bleiben.

»Wollen wir eine Runde Tarock spielen? Endlich sind wir mal zu fünft, und außerdem ist heute der letzte Tag«, rief Max von der Küche her.

»Sei still, wir haben doch ausgemacht, dass wir das nicht mehr erwähnen!«, flehte Alice ihn gespielt verzweifelt an, als könnte dies über das Ende des Urlaubs hinwegtäuschen. Dabei wussten alle, wie sehr sie sich danach sehnte, in ihre geliebte Restaurantküche zurückzukehren. Alice war definitiv arbeitssüchtig, vier Wochen Nichtstun waren zu viel für sie.

»Okay, okay, reden wir nicht mehr darüber.« Max lächelte, sichtlich entspannt von den langen Stunden in der Sonne, dem Ballspiel mit seinen Söhnen am Nachmittag und den zahlreichen Aperitifs, die er sich in der Zwischenzeit großzügig genehmigt hatte. »Worüber habt ihr euch gerade unterhalten?«

»Über Reis«, antwortete Éva und küsste Vincent, der sich mit einem Glas zu ihnen gesellte und sich sowohl über ihre Antwort als auch über die unerwartete Zärtlichkeit wunderte.

»Und da rätseln wir so oft, was sich die Frauen alles zu erzählen haben! Wir glauben, dass ihr über uns redet, über wilden Sex phantasiert und so … Aber nein, es geht einfach nur ums Essen!«

Die drei Freundinnen warfen sich verschwörerische Blicke zu. Natürlich würden sie ihren Männern nichts von der Sache mit dem Reisgefäß erzählen, denn sie wollten diesen letzten herrlichen Abend in vollen Zügen genießen, bevor am nächsten Morgen der Alptraum losging. Sie mussten das Haus putzen, die Schränke leer räumen, Brote schmieren, Koffer packen, unter die Sofas kriechen, um Spielzeuge, Schnuller, Lollis und alte Wurstpellen aufzusammeln, die ihre Kinder dort hinterlassen hatten.

Mathilde und Max würden bei Sonnenaufgang ihre noch schlafenden Söhne Théo und Martin in die Familienkutsche bugsieren. Alice würde sich allein auf den Weg machen und Laura abholen, ihre Tochter, die früher abgereist war, um eine Woche mit Adrien zu verbringen. Vincent und Éva, ihre Gastgeber, würden einen letzten Rundgang durch das Haus machen, bevor auch sie sich auf die überfüllte Autobahn nach Paris begaben. Und am übernächsten Tag stand allen die Rückkehr ins Büro bevor.

Ihnen blieben nur noch wenige Stunden heiterer Gelassenheit, und die sollten durch nichts getrübt werden.

»Max, gibst du?«

Die Zikaden zirpten, und der sanfte Wind strich über ihre gebräunten Gesichter – ein Ambiente, das die niederschmetternde Vorstellung des Großstadtalltags in weite Ferne rückte.

»Herzkönig!«

»Ich bin mir nicht sicher, ob der hier am Tisch sitzt«, rief Mathilde spöttisch.

»Wie reizend von dir!«, entgegnete Max und zielte mit einer Olive auf ihr Dekolleté.

»Daneben. Versager!«

»Sie beschimpft mich als Versager, ihr seid meine Zeugen!«

Alle lächelten und hofften, dass nicht in letzter Minute eine der wüsten Streitereien des Paars einen Schatten auf diese unbeschwerten Wochen warf.

»Ich jedenfalls glaube an die Geschichte mit den Reiskörnern«, zischte Mathilde Alice ins Ohr, die auf ihr Spiel konzentriert war – sie hatte den Herzkönig und knallte ihn triumphierend auf den Tisch.

»Die schon wieder!«, seufzte Éva. »Alice, warum hast du eigentlich immer die guten Karten?«

Doch Alice wandte sich zu Mathilde um und flüsterte: »Aber wenn ein Leben sowieso nicht reicht, brauchst du dir doch nicht den Kopf darüber zu zerbrechen.«

***

Es war schon spätabends, als Max und Mathilde die Kinder weckten und die großen Koffer, Taschen, Kühlboxen und Schwimmreifen ausluden. Die Kleinen blinzelten aus müden Augen, geblendet von den grellen Straßenlaternen in der Rue Saint-Lazare, und fingen an zu weinen, verstört von dieser abrupten nächtlichen Ankunft.

Während Mathilde sie ins Bett brachte, hörte sie Max im Flur stolpern und fluchen. Ihr Blick schweifte über die Kinderbilder, die mit Reißzwecken an der Wand befestigt waren, und die magnetische Weltkarte, die Théo unbedingt gleich neben seinem Kopfkissen hatte aufhängen wollen. Zwischen den beiden Betten stapelten sich Kuscheltiere, angelutschte Abenteuerbücher, Puzzles und Spielzeugautos. Mathilde öffnete das Fenster, damit den Jungs nicht zu warm wurde und sie keine Alpträume bekamen. Nächtliche Sommerluft wehte ins Zimmer, und vom Hof drangen Gesprächsfetzen herauf, das Klappern von Geschirr und die ferne Melodie eines Liedes, das sie und Max oft gehört hatten, bevor die Kinder geboren waren.

Martin schlief bereits in seinem Gitterbettchen, Théo hatte sich nach dem Zähneputzen mit seinem Lieblingsbären im Arm zusammengerollt, der seit dem Tag, an dem sie ihn für immer verloren geglaubt hatten, stets zu Hause bleiben musste. Gerührt streichelte Mathilde ihrem Älteren über das Haar und dachte seufzend an die vergangenen Urlaubswochen zurück. Ihr graute vor dem riesigen Berg Arbeit, der nun auf sie wartete: das viele Gepäck, die dreckige Wäsche, der Stapel Rechnungen … Die Wohnung kam ihr muffig vor, und sie fühlte sich eingesperrt. Kaum zu glauben, dass sie wenige Stunden zuvor noch in dem Swimmingpool gebadet hatte, der zu dem traumhaften provenzalischen Landhaus von Évas Eltern gehörte, wo sie, seit sie mit Éva befreundet war, jeden Sommer verbrachte.

Alice und Lucie kannten sich seit Kindergartenzeiten, da auch ihre Mütter befreundet waren. Das Schicksal – oder das Durchsetzungsvermögen von Lucies Mutter Françoise – hatte später bestimmt, dass sie nie wieder getrennt wurden, während ihrer ganzen Schulzeit nicht. Zu Beginn der neunten Klasse lernten sie Mathilde kennen, sie war die perfekte Ergänzung ihres Duos, und drei waren schließlich nicht zu viele, um die unzähligen Mikro-Ereignisse zu besprechen, die gewissermaßen täglich über das Leben der damals Fünfzehnjährigen hereinbrachen. Jahrelang beschäftigten sie sich beinahe ausschließlich mit der Analyse des männlichen Geschlechts. Dann verliebte sich Alice eines Tages in den schönen Adrien, er war Bassist in einer Amateur-Rockband – wer hätte gedacht, dass er sein Geld einmal als Zahnarzt verdienen würde? –, und Alice konnte ihr Glück kaum fassen, dass sich dieser Wahnsinnstyp ausgerechnet für sie interessierte. Adriens bester Freund war Vincent und dessen Freundin wiederum eine gewisse Éva. Als angehende Journalistin versorgte Éva zunächst Alice und bald auch Mathilde und Lucie mit saftigen Storys aus ihrem Metier und erweiterte damit das Spektrum der Gesprächsthemen des Trios beträchtlich.

Seit jenen Tagen waren Alice, Lucie und Éva Mathildes beste Freundinnen. Zu viert hatten sie viele bewegte und überaus fröhliche Jahre verbracht, waren Seite an Seite erwachsen geworden und schließlich in die Ehe und ins Berufsleben geschlittert. Ihre Unterhaltungen wandelten sich – anstatt von verkorksten Liebesnächten mit heißen Skilehrern sprachen sie nun über Arbeit, Kindergärten, Tagesmütter, manchmal enttäuschenden und oft nervtötenden Ehegatten. Damit fiel der Vorhang vor dem so sorglosen Jahrzehnt der Zwanziger, das sehr plötzlich zu Ende gewesen war – diesen Eindruck jedenfalls hatte Mathilde, als sie jetzt die Hand ihres älteren Sohnes hielt. Schon vier Jahre alt. Es kam ihr vor wie gestern, dass sie Théos kleine dicke Händchen festgehalten hatte, um ihm beim Laufenlernen zu helfen.

Sie holte tief Luft, als sie wieder in den Flur trat, wo sich der komplette Inhalt der Koffer türmte. Max war nirgends zu sehen, und seine genervten Seufzer waren in ein verdächtiges Schweigen übergegangen. Sie bahnte sich einen Weg durch die Berge aus Kleidungsstücken. Max lag auf dem Sofa und zappte mechanisch durch die Fernsehkanäle. In nur wenigen Minuten hatte er seine Pariser Gewohnheiten wieder angenommen, wie ein Alkoholiker, der nach Monaten der Abstinenz gedankenlos ein Glas Wein trinkt. Dennoch beschloss Mathilde, ihre Wut zu unterdrücken, denn es war schon spät, und er hatte die ganze Strecke hinterm Steuer gesessen. Und sie schwieg auch, weil sie sich während des Urlaubs auf einen Versöhnungskurs geeinigt hatten, darauf, dass sie einander »wiederfinden« wollten, wie es die einschlägigen Eheratgeber und Magazine für junge Eltern formulierten. Beherzt griff sie mit beiden Händen in einen der bunten, übelriechenden Stoffberge.

»Was machst du da?«

»Ich räume die Sachen weg.«

Max brummte. »Das ist doch blöd, geh schlafen. Sonst bist du morgen total kaputt.«

»Aber wenn ich mich jetzt ins Bett lege, schiebe ich es nur vor mir her. Morgen Abend, nach meinem ersten Arbeitstag, habe ich bestimmt noch weniger Lust dazu. Ich will diesen Krempel vom Hals haben.« Und leise fügte sie hinzu, weil sie es sich nicht verkneifen konnte: »Wer sonst sollte es erledigen?«

Max zog beinah unmerklich eine Augenbraue hoch, aber Mathilde bemerkte es trotzdem. Sie kannte ihren Mann seit zehn Jahren, und seine Unzufriedenheit wegen seiner bereits monatelangen Arbeitslosigkeit hatte seine Ticks und Macken leidlich verstärkt. Sie hasste es, wenn er so tat, als wüsste und könnte er alles besser.

Als Mathilde Max kennenlernte, war sie völlig verzaubert von diesem Mann – sie, die in der Schule und auch später immer Schwierigkeiten hatte, ihren Platz zwischen den Klassenbesten und den schönen, selbstsicheren Mädchen zu finden. Max war so cool, hatte viele Freunde in der Musikbranche, beim Film, in Kneipen und Restaurants. Er kannte Bands, bevor irgendjemand sonst von ihnen gehört hatte, kleidete sich nach den neuesten Trends, Monate, bevor sie populär wurden. Dennoch fand er an ihr, Mathilde, Gefallen, obwohl ihr Hintern ein wenig zu dick, ihr Haar langweilig glatt und ihre Art, sich zu kleiden, nicht besonders originell war. Damals fingen sie beide gerade an zu arbeiten, und im Gegensatz zu seinen Freunden hatte sich Max aus Vernunftsgründen für einen Bürojob entschieden. Er arbeitete im Vertrieb einer großen Werbefirma, setzte sein künstlerisches Talent für mittellustige Slogans ein, trug einen Anzug zu blankgeputzten Schuhen, aß in der Kantine, stempelte morgens und abends, erwarb preiswertere Kinokarten über den Betriebsrat und blickte an jedem einzelnen Arbeitstag des Jahres durch sein Fenster auf das trostlose Gelände des Geschäftsviertels La Défense. Anfangs war ihm sein Angestelltendasein peinlich, vor allem, weil seine Kumpel es nicht lassen konnten, ihn aufzuziehen, wenn er sie abends in Krawatte und wohlfrisiert zum Aperitif traf, während sie ihre trendy Cocktails in Hemd und Jeans, mit Sneakers und Dreitagebart schlürften. Doch Max lernte dieses Leben im Großraumbüro immer mehr zu schätzen, und sein Charme und seine Kreativität, durch die er sich von seinen engagierten, aber häufig phantasielosen Kollegen unterschied, ließen ihn rasch die Karriereleiter emporklettern. Bis er irgendwann, an einem kalten Märztag, zum Chef gerufen und entlassen wurde. Tut mir leid, Max. Wirklich. Ich habe das nicht gewollt. Sie sind brillant, Sie werden leicht wieder Arbeit finden. Und daran hatten weder Mathilde noch Max selbst Zweifel. Inzwischen aber waren Monate ins Land gezogen. Ihre Bekannten versprachen damals, seine Bewerbung weiterzureichen: Ich kenne jede Menge Leute, die einen wie dich suchen. Ich habe einen Freund, der … Der Onkel des Schwagers meines Cousins … Die rufen dich an, ganz sicher … Anfangs brachte Max Martin in die Krippe und Théo in den Kindergarten. Er stand jeden Morgen früh auf, machte pünktlich um neun den Computer an, loggte sich in die beruflichen Netzwerke ein und verschickte Bewerbungen.

Doch die tollen Freunde riefen niemals an, ebenso wenig wie die Empfänger seiner elektronischen Bewerbungen sich die Mühe machten, eine Antwort auf seine originell formulierten Anfragen zu senden.

Und dann lernte Max Diego kennen.

Weiß zu weiß. Farbe zu Farbe. Grau zu schwarz – Mathilde beugte sich über große sortierte Haufen, die sie einen nach dem anderen in das geöffnete Maul ihrer tapferen Waschmaschine stopfen würde. Die noch feuchten Badesachen, die sie vorsichtshalber in eine Plastiktüte gepackt hatte, trockneten über dem Handtuchständer im Badezimmer und warteten traurig darauf, in die Winterschublade gesperrt zu werden, aus der sie erst in zehn Monaten – in einem Jahrhundert! – wieder zum Vorschein kämen. Sie dachte an die wiederentdeckte Gemeinsamkeit mit Max dank mehrerer Liter Rosé unter der Sonne des Südens, an die Spaziergänge durch die Garrigue, an den Markt am Mittwochmorgen mit seinen Düften nach Lavendel, Melonen und Oliven, an den Pastis, an Éva und Vincent und an Alice und Laura, mit denen sie all diese Herrlichkeiten seit so vielen Jahren teilte.

In den letzten Wochen vor den Ferien hatte Mathilde die ernsthafte Befürchtung, Max und sie müssten sich trennen. Ihr Alltag war die Hölle und ihre sexuelle Beziehung mausetot. Doch der Sommer war gnädig, duftete nach Freiheit, voller Hoffnung und Harmonie waren sie nach Paris zurückgekehrt.

Und kaum zu Hause, spürte sie, wie die Flut der Verpflichtungen und Aufgaben gefährlich heranspülte. Théo: Passfotos machen lassen, Martin: Krippe bezahlen, Termin Haarentfernung, Geburtstag Alice, Babysitter, Sandrine Scheck für die Arbeitsverwaltung, Friseur, Anmeldung Fitnessstudio, Mail Division Asien, Spülmittel, Windeln, Arztbesuch …

Als alles ausgepackt, sortiert und wieder aufgeräumt war, fiel Mathilde endlich ins Bett. Rasch legte sie auf ihrem Smartphone noch eine ihrer berüchtigten To-do-Listen an, die sie jeden Tag vergeblich abzuarbeiten versuchte. Gut, dass sie sich im Urlaub ausgeruht hatte … Na ja, was man so Ausruhen nennt, wenn man sich den lieben langen Tag um zwei Kinder unter vier Jahren kümmern muss. Voller Neid hatte sie Alice mit ihrer Tochter Laura beobachtet, die gerade fünfzehn geworden war. Mutter und Tochter standen gegen zehn Uhr auf, nachdem Mathilde bereits zweimal Frühstück zubereitet hatte. Um sieben hatte sie ein Fläschchen gekocht, um acht eine heiße Schokolade und ein paar Brote serviert, dann mit Bauklötzen gespielt, eine DVD geschaut und geduscht.

Dennoch, sie hatte diesen Familienurlaub genossen. Die Anspannung war mit jedem Tag und jedem Sonnenstrahl mehr von ihr gewichen. Sie hatte ihren Körper gebräunt und dadurch zugleich geglättet, diesen Körper, der ihr nun nicht mehr wie ein Feind vorkam und sie von Max trennte. Sie wünschte sich nichts sehnlicher, als noch ein letztes Mal diese Versöhnung zu genießen, noch einmal die Haut des Vaters ihrer Kinder zu spüren, noch einmal Sex zu haben, um sich an die Garrigue, die Zikaden und die Sorglosigkeit der vergangenen Wochen zu erinnern. Sie glättete ihr Negligé und drehte sich zu Max um, erregt von ihren Gedanken. Max lag auf dem Rücken, sein Bauch war flach und muskulös, er hatte ja die Zeit, täglich ins Fitnessstudio zu gehen. Breitbeinig, weil es so heiß war, lag er auf der Decke, und unter seinen weißen Boxershorts malte sich sein Geschlecht ab … Doch war es zu fassen – er schlief, sein iPad auf dem Gesicht!

Mathilde seufzte, löschte das Licht, drückte ihm einen Kuss auf die Wange und schmiegte sich an ihn. Als sie kurz davor war einzuschlafen, richtete sie sich noch einmal auf, stellte den Wecker auf 6 Uhr 30, öffnete auf dem Handy ihre To-do-Liste, fügte »schöne Dessous kaufen« hinzu und sank endlich für wenige Stunden in einen unruhigen Schlaf.

2Im Badezimmerspiegel betrachtete Éva ihren elend flachen, fast schon ausgehöhlten Bauch und ihre festen, hohen Brüste, um die ihre Freundinnen sie beneideten – diejenigen, die nach mehreren Schwangerschaften ihrem jugendlichen Busen nur noch nachtrauern konnten. Was würde sie darum geben zu spüren, wie ihre Brüste anschwollen, mit jener Empfindlichkeit und dem besonderen Schmerz, der eine zukünftige Mutterschaft ankündigte.

Schon seit zwei Jahren versuchten sie und Vincent vergeblich, ein Baby zu bekommen. Dass die Zeugung eines Kindes ein Problem darstellen könnte, daran hatte sie nicht im Traum gedacht. Nach ihrer rauschenden Hochzeit im Landhaus der Familie in der Provence hatte sie die Pille abgesetzt und war davon ausgegangen, dass ihr gleich im darauffolgenden Monat eine wundervolle Schwangerschaft beschert würde. In Évas Leben war bisher immer alles glatt verlaufen.

Sie hatte ihr Abitur mit Auszeichnung bestanden, dann an der Sciences Po studiert, einer der renommierten Eliteuniversitäten von Paris, und war anschließend übergangslos an der Journalistenschule aufgenommen worden. Obwohl sie wenig Talent zum Autofahren besaß, hatte sie den Führerschein gleich mit achtzehn und auf Anhieb bestanden – dank eines Fahrlehrers, der kurz vor der Pension stand und beide Augen zudrückte. Éva war ein Glückskind, das wusste jeder. Alles, was sie berührte, verwandelte sich in Gold, und niemand wunderte sich darüber, wenn sie morgens auf dem Weg zum Bäcker einen Fünfzigeuroschein auf der Straße fand. Aus Bescheidenheit und Aberglauben bestritt sie manchmal, außerordentlich viel Glück zu haben, doch insgeheim glaubte auch sie an ihren guten Stern. So sehr, dass sie, als sie vier Wochen nach dem Hochzeitsfest ihre Tage bekam, vor Enttäuschung einen ganzen Abend lang schmollte, bis Vincent sie damit aufzog, sie sei ein verwöhntes kleines Mädchen. In den nächsten Monaten: immer noch nichts. Als Mathilde mit Martin schwanger wurde, rang sie sich mühsam ein »Herzlichen Glückwunsch« ab. Innerlich jedoch tobte sie vor Wut über diese Ungerechtigkeit. Mathilde hatte doch schon ein Kind! Wenn eine von ihnen es verdiente, schwanger zu werden, dann sie.

Aus dem Wunsch wurde mit der Zeit eine Obsession. Deprimiert brachte Éva ihre Zeit damit zu, sich in Diskussionsforen mit anderen Frauen in der gleichen Situation auszutauschen, und dachte schließlich an nichts anderes mehr. Was katastrophale Folgen auf der sexuellen Ebene ihrer Beziehung nach sich zog. Wenn sie einen Eisprung hatte, stürzte sie sich aggressiv auf Vincent und wartete dann ungeduldig und ohne die geringste Freude darauf, dass er endlich ejakulierte und sie von dem Martyrium erlöste, das ihr das Leben auferlegte. Erst dann entspannte sie sich ein wenig und wurde für einen Moment wieder die fröhliche Éva, die ihre Freunde liebten und die ihr Mann geheiratet hatte.

Jeden Monat dasselbe Spiel.

In der Redaktion vermied sie jegliche private Unterhaltung, um nicht immer wieder dieselben Fragen der Kolleginnen ertragen zu müssen, die sie inzwischen für ihre Indiskretion hasste. Na, wollt ihr nicht auch ein Baby haben? Wann wirst du denn endlich schwanger? Ach, du isst also kein Sushi? Gibt es da vielleicht etwas, das du uns erzählen möchtest? Nein, blöde Kuh, ich esse einfach lieber Spießchen. Und ich bin übrigens unfruchtbar!, hätte sie ihnen gern entgegengeschleudert, um ihnen ein für alle Mal das Maul zu stopfen.

Nach der endlos langen Wartezeit von einem Jahr fasste sie sich ein Herz und suchte einen Spezialisten für Reproduktionsmedizin auf, trotz ihrer Scham wegen dieses offenen Eingeständnisses der Nicht-Perfektion. Ein Jahr Wartezeit sei nicht ungewöhnlich, erklärte der Arzt, und es sei selten, dass Frauen gleich nach dem Absetzen der Pille schwanger würden. Aber das war ihr egal. Sie wollte jetzt schwanger werden, basta! Sie wollte einen runden Bauch haben, Bodys, Babyschlafsäcke und Schnuller kaufen, sich um Biogemüse kümmern und im Park langweilen und überhaupt, sich über das beschwerliche Leben mit einem Baby beklagen, so wie all die anderen Frauen in ihrem Alter, die sie auf Facebook mit Bildern von ihren Blagen quälten.

Kurzum, Éva war launisch und forderte eine Sofortlösung, ein Medikament, irgendetwas! Endlich erklärte der Arzt sich dazu bereit, den Prozess zu beschleunigen. Seitdem stopfte sie sich mit Hormonen voll, war unausstehlich, brach wegen nichts und wieder nichts in Tränen aus und plünderte jeden Monat die Vorräte an Ovulations- und Schwangerschaftstests in der Apotheke. Unterdessen verbrachte Vincent zunehmend Zeit in seiner Anwaltskanzlei und hatte zuletzt sogar die Unverschämtheit besessen, genau an den Schlüsseltagen der Empfängnis eine Dienstreise anzutreten, obwohl die Daten ostentativ an der Kühlschranktür hingen. Seitdem redete Éva nicht mehr mit ihm, und er hatte im Gegenzug seinen Aufenthalt in Deutschland verlängert, aus beruflichen Gründen, wie er behauptete. Traurigerweise waren ihr die Gründe gleichgültig, so fokussiert war sie auf ihr Ziel. Sie vergaß darüber, eifersüchtig zu sein oder sich über den mangelnden Enthusiasmus ihres Ehemannes zu wundern, der sie weder anrief noch von Eile getrieben war, nach Hause zu kommen, um die Unstimmigkeiten mit ihr aus dem Weg zu räumen.

Im Spiegel entdeckte sie, wie mager sie war, übersät von den Einstichstellen der Spritzen, die sie sich setzte. Und unglücklich sah sie aus. Die gräulichen Schatten unter ihren Augen verrieten Müdigkeit und Kummer, und auch die feinen Fältchen in ihrem Gesicht hatten sich vertieft.

Das Telefon klingelte. Die Redaktion.

»Hi, bist du immer noch krankgeschrieben?«

Sabine, ihre Kollegin beim Feuilleton, hatte sie durchschaut, da war Éva sich ganz sicher. Trotzdem log sie, denn sie folgte der strengen Regel ihres Vaters, der selbst Redakteur bei einer renommierten Tageszeitung war, dass man sich in ihrem Metier niemals jemandem anvertrauen durfte.

»Ja, es geht mir nach wie vor nicht besser«, schwindelte sie. »Und, wie läuft’s? Kommt ihr klar ohne mich?«

»Geht ja wohl nicht anders. Deinen Job machen wir jetzt nebenbei noch mit … Kaum zu glauben, dass wir studiert haben, nur um jetzt diese Nonsens-AFP-Meldungen abzuschreiben. Aber Hauptsache, die Klickraten der Online-Ausgabe stimmen. Es ist sogar die Rede davon, die Printausgabe ganz abzuschaffen.« Sabine kam in Fahrt.

Als sie bei der großen Wochenzeitung angefangen hatte, war Éva zunächst für Buchrezensionen verantwortlich gewesen. Anschließend hatte sie für die Fernsehrubrik geschrieben, in der aber irgendwann alles Mögliche untergebracht wurde, vor allem die neuesten Schlagzeilen aus der Glamour- und Promi-Welt. Éva hatte gehofft, an dem stetig sinkenden Niveau etwas ändern zu können. Doch inzwischen berichtete sie hauptsächlich von den lächerlichen Starlets aus den Reality Shows und verkümmerte dabei mit jedem Tag ein wenig mehr. Morgens schwor sie sich, dass sie noch am Abend eine Bewerbung schreiben würde – aber sie tat es nie. Ihre Kinderlosigkeit hatte sie in eine Art Lähmungszustand versetzt, aus dem sie nicht mehr herausfand.

Schon wenn sie Cyril nur von weitem sah, ihren neuen Boss – wie man heute einen Vorgesetzten nannte, um ihn jünger und internationaler wirken zu lassen –, seinen kahlen Schädel und seine mürrischen kleinen Augen, wurde ihr speiübel. Dazu sein ständiges Gerede über den Tod der Printmedien … Nein, sie würde keinen Tag früher als nötig in die Redaktion zurückkehren. Und dass sie diesen ganzen Mist bis Ende der Woche wegen eines grippalen Infekts nicht ertragen musste, dafür sorgte Michèle, ihre alte Schulfreundin, die inzwischen Geburtshelferin und offiziell ihre Hausärztin war.

»Ich muss jetzt Schluss machen, Sabine, ich bin echt erledigt.«

»Gute Besserung! Und bitte komm bald wieder, die Mädels aus der Modeabteilung sind ohne dich kaum auszuhalten!«

»Ich komme am Montag wieder. Versprochen. Halt die Ohren steif!«

Éva beendete das Gespräch und überlegte, dass heute Donnerstag war, ein wunderbarer Tag zum Ausgehen. Sie könnte ihrer Gesundheit mit ein paar leckeren Cocktails ein wenig auf die Sprünge helfen.

3»Beeil dich, er ist schon seit Stunden da und hat eine Laune zum Davonlaufen! Er erwartet dich.«

Abgehetzt stürmte Alice durch das Restaurant in die Küche. Sie hatte Laura bei ihrer neuen Schule abgesetzt und war anschließend in den unvermeidlichen morgendlichen Stau geraten. Trotzdem wollte sie ihre Tochter unbedingt hinfahren, suchte ihre Nähe, denn die Ferienwoche mit Adrien hatte sie einander entfremdet. Am meisten setzte es Alice zu, wenn Laura von ihrer »Stiefmutter« erzählte, wie großzügig und verständnisvoll sie sei. Sie verfluchte ihren Ex und seine neue blutjunge Tussi.

Dabei hatten Adrien und sie sich wirklich geliebt, und niemand hätte jemals geglaubt, dass ausgerechnet sie sich einmal trennen würden. Sie hatten gemeinsam entschieden, nur ein Kind zu bekommen, und ihre Dreierbeziehung hatte nicht selten Neid erweckt. Sogar Alice selbst hatte sich manchmal bei dem Gedanken ertappt, dass eine solche Harmonie nicht ewig andauern konnte.

Obwohl sie sich also innerlich gegen einen Schicksalsschlag zu wappnen versuchte, fühlte sie sich wie vor den Kopf gestoßen, als sie eines Morgens beim Aufräumen diese verflixte Hotelquittung fand. Es war so niederschmetternd banal, aber deswegen nicht weniger wahr und schmerzhaft. Adrien hatte sich bei einem seiner wöchentlichen Männerabende einen herrlichen Seitensprung gegönnt. Das Mädchen hatte sich in ihn verliebt und ihn mit einer Flut von Facebook-Nachrichten überschwemmt, wie Alice bei ihren fieberhaften Recherchen feststellen musste. Sie hieß Juliette, posierte mit einer Chapka auf ihrem Profilbild, machte tausend Rechtschreibfehler und klebte einfach an alles Smileys. Sie hatte 857 Freunde, 1032 Fotos, davon die meisten Selfies, spielte Candy Crush und postete seit mehreren Wochen Statusnachrichten, die mysteriös sein sollten, aber im Licht von Alices Entdeckung an Deutlichkeit nichts zu wünschen übrig ließen.

Nachdem sie ihre Verzweiflung ins Klo gebrüllt hatte, dessen Brille der Dreckskerl wieder mal nicht hochgeklappt hatte, las sie die privaten Nachrichten der beiden. Es war zum Kotzen: Da kam so ein junges Ding mit makelloser Haut daher, schwärmte ihm vor, er sei der schönste, stärkste und virilste aller Männer, und mit einem Mal zählten die vielen gemeinsamen Jahre mit Alice nicht mehr, all die geteilten Freuden und überwundenen Leiden. Gab es denn wirklich keine Chance für ein Paar, glücklich zusammenzubleiben?

Nach ihrer Entdeckung fasste Alice einen Entschluss. Sie bat Adrien per SMS, sich um Laura zu kümmern, da sie drei Tage Urlaub brauche. Sie fuhr nach Deauville, nahm sich ein Zimmer mit Meerblick im Hotel Normandie und bediente sich skrupellos vom gemeinsamen Konto. Zumindest das. Stundenlang starrte sie auf das Wasser und wanderte die leere Strandpromenade entlang, wo zu dieser Jahreszeit nur noch Rentner unterwegs waren. Was sollte sie ohne Adrien nur tun? Nach all den gemeinsamen Jahren?

Sie dachte lange und gründlich nach. Würde sie ihm verzeihen können? Doch jedes Mal, wenn sie diese Entscheidung in Betracht zog, kam ihr in den Sinn, was er alles zu dieser Juliette gesagt hatte. Sie musste die Augen fest zukneifen und wurde von tiefer und stechender Eifersucht und Verzweiflung durchbohrt. »Dein Körper ist der schönste, den ich je berührt habe«, »Ich möchte meinen großen Schwanz in dir spüren. Du magst ihn doch noch, oder?«, »Ja, du hast den schönsten Schwanz auf der ganzen Welt.« Ihr wurde speiübel. Später verspielte sie das restliche Guthaben des gemeinsamen Kontos im Kasino gegen gerissene Pokerveteranen. Schließlich kehrte sie nach Paris zurück.

Was folgte, war eine Szene wie aus einem B-Movie. Anfangs stritt Adrien alles ab, dann schrie er sie an, weil sie in seinen Sachen herumgeschnüffelt hatte – »Bist du vollkommen bescheuert, auf meinen Facebook-Account zu gehen, du warst schon immer krankhaft eifersüchtig, du solltest mal zum Arzt gehen!« Sie redeten die ganze Nacht, weinten, tranken, rauchten, bis ihnen fast die Lungen platzten, und liebten sich ein letztes Mal. Am nächsten Morgen bat sie ihn zu gehen. Und er ließ sie widerspruchslos allein in der Stille dieser Wohnung zurück, die sie gemeinsam ausgesucht, gemeinsam renoviert, gemeinsam eingerichtet und gemeinsam bewohnt hatten. Sie fanden noch einen Moment, um mit Laura zu sprechen. Danach herrschte Schweigen.

Der Job war ihre Rettung gewesen. Hier fand sie ihr inneres Gleichgewicht und ihren Stolz wieder. Die hohe Konzentration und die erforderliche Präzision ließen sie ihr Schicksal vergessen: sitzengelassen für eine Jüngere. Sie stürzte sich in fast unvernünftigem Maße in ihre Arbeit, so dass Fred sie bald zur zweiten Küchenchefin seines exquisiten, nach den Sternen greifenden Restaurants ernannte, das in Paris immer populärer wurde.

Alice eilte an den Herd und band sich rasch die Schürze um.

»Verdammte Scheiße, wo bleibst du denn?« Freds Gesicht war knallrot angelaufen vor Aufregung, aber sie wusste, dass er sich in der Regel schnell wieder einfing.

»Sorry, hab im Stau gesteckt. Es war einfach ätzend, in Lauras neuer Schule hatten sie die Anmeldung verschlampt. Deswegen musste ich plötzlich zum zweiten Mal tausend Formulare ausfüllen und die Leute anflehen, sie dazubehalten. Übrigens habe ich der Sekretärin einen Tisch für sie und ihren Freund an einem Datum ihrer Wahl versprochen.«

»Na schön, darüber reden wir später«, brummte Fred, und Alice begrüßte ihre Mannschaft, die bereits eifrig an den blitzblanken Herden köchelte, krempelte die Ärmel hoch, schaltete ihr Handy auf stumm und begann mit ihrer Runde. Kleiner, die Würfel. Gib die Tomaten in Eiswasser, wenn du sie blanchiert hast, dann lassen sie sich leichter kleinschneiden … Sie erteilte ihre Anweisungen eher wie Ratschläge, ohne je die Stimme zu erheben, dennoch konsequent, was sie zu einer allseits beliebten Chefin machte.

In seinem verglasten Büro sortierte Fred derweil einige Papiere, als das Telefon klingelte. Nach ein paar Minuten kam er heraus und brüllte mit lauter Stimme: »Alice, für dich! Das Fernsehen … Was soll dieser Blödsinn jetzt wieder?«

4Mit tiefen Ringen unter den Augen und den Kenzo-Morgenmantel halb geöffnet über ihren vom Milcheinschuss grotesk angeschwollenen Brüsten, beugte sich Lucie über Lou, ihr jüngstes, vor einer Woche geborenes Kind. Obwohl sie bereits zwei Töchter hatte, sie waren vier und sechs Jahre alt, schien sie alles über die Rituale der Babyzeit vergessen zu haben und fühlte sich unsicher, was die Handhabung dieses kleinen roten Püppchens anging, das erst vor kurzem aus ihrem malträtierten Körper geschlüpft war und sich in der neuen Umgebung bei zwanzig Grad offenbar nicht besonders wohlfühlte. Lucie hatte das Baby gerade gebadet und vorher trocken eingeseift, wie die Hebamme im amerikanischen Krankenhaus es ihr gezeigt hatte – merkwürdige Idee, dachte sie, hatte aber nicht gewagt, den autoritären Matronen zu widersprechen, obwohl sie sonst nicht dafür bekannt war, ihre Zunge hüten zu können. Nach dem Einseifen hatte sie das Kind ängstlich in die Faltwanne im Kinderzimmer getaucht, dabei das weiche Köpfchen unterstützt und sich zu einem Lächeln gezwungen, als die Kleine mit unglücklich verzogenen Gesichtszügen und hochrotem Köpfchen einen Weinkrampf ankündigte. Schnell hüllte sie das Baby in ein wunderhübsches Kapuzenhandtuch mit Bärenöhrchen, das ihr weiß Gott wer geschenkt hatte. Immerhin gelang es ihr, das Kind nicht zu ertränken. Kaum war Winnie, die Haushälterin und gute Fee der Familie, einmal abwesend, lief alles aus dem Ruder. Winnie hatte schon die Erziehung der beiden älteren Töchter mehr oder weniger allein übernommen und sich dabei zugleich um den mondänen Haushalt der Zweihundertfünfzig-Quadratmeter-Wohnung gekümmert, dafür gesorgt, dass immer ein warmes Mahl auf den Tisch kam. Es war Lucie vollkommen schleierhaft, wie Winnie das alles schaffte. Schon wieder pinkelte die Kleine ausgiebig auf das frische und gebügelte Handtuch, seufzend wickelte Lucie sie. Erschöpft legte sie das schläfrige Neugeborene schließlich in den Tragekorb und griff nach ihrem Handy. Es war höchste Zeit, Marion anzurufen, um in Erfahrung zu bringen, wie es im Geschäft lief.

»Charlotte et Marguerite, was kann ich für Sie tun?«

»Hallo, Marion, ich bin’s, Lucie!«

»Hallo, Lucie. Wie geht es dir? Bist du schon wieder zu Hause? Und der Kleinen, geht es ihr gut?«

»Ja, ja, alles in bester Ordnung! Na ja, bis auf … Winnie hat mich heute im Stich gelassen! Ihre Schwester ist krank, oder ihre Tante, das habe ich nicht so ganz verstanden. Jedenfalls ist sie heute nicht da, und die Wohnung sieht aus, als hätte eine Bombe eingeschlagen, ein einziges Chaos! Davon abgesehen hat die Kleine die ganze Nacht gebrüllt wie am Spieß … Ich frage mich immer, wie andere Leute das hinkriegen. Und du, bei dir alles in Ordnung? Ist im Laden viel zu tun?«

»Ich habe eben erst geöffnet. Aber die Leute kommen ja auch alle gerade erst aus dem Urlaub zurück, da rennen sie uns bestimmt nicht gleich die Tür ein.«

»Schön. Heute kann ich nicht, aber morgen komme ich mal vorbei. Sind die neuen Schnullerbänder schon eingetroffen?«

»Ja, das Paket ist vor ein paar Minuten geliefert worden.«

»Perfekt. Leg ein Dutzend davon in einen Weidenkorb, neben die kleinen Windelhöschen-Taschen von Olympia. Was nehmen wir jetzt dafür?«

»Fünfzehn Euro.«

»Weißt du was, stell sie doch an die Kasse neben die Stirnbänder von Liberty und biete sie für neunzehn an, die werden weggehen wie warme Semmeln.«

»Mach ich, Lucie! Ist praktisch schon erledigt.«

»Danke, Marion. Wie geht es denn eigentlich deiner Schwester?«

»Sehr gut! Der Kleine ist einfach nur süß, er schläft schon durch, kaum zu glauben, oder? Dabei sind sie gerade erst aus dem Krankenhaus gekommen!«

»Das ist ja toll … Also, ich mach jetzt mal Schluss, ich habe noch eine Menge zu erledigen und bin zum Essen verabredet. Wenn es irgendein Problem gibt, ruf mich bitte an, ja?«

»Mach ich. Danke, Lucie, bis morgen dann. Und gönn dir ein bisschen Ruhe.«

Bevor Marion auflegte, hörte Lucie noch das melodische Klingeln der Ladentür. Eine Kundin, dachte sie erleichtert und entspannte sich ein wenig.

Charlotte et Marguerite gehörte zu jenen kleinen Boutiquen, die im IX. Arrondissement wie Pilze aus dem Boden schossen, besonders in der »South Pigalle«, wie die jungen Alternativen die Gegend nannten, die nach und nach der Gentrifizierung zum Opfer gefallen war. In den Läden wurden Babysachen aus Filz oder recycelter Baumwolle angeboten, natürlich teuer wie Gold, und dazu haufenweise Kleinkram und Spielsachen für wohlhabende Familien, die lieber 100 Euro für ein Laufrad aus Holz ausgaben als 25 Euro für ein herkömmliches Rad, das vielleicht etwas uneleganter wirkte. In Lucies Laden fand man Rucksäcke für Vierjährige zu 49 Euro, pastellfarbene Brummkreisel mit Sternenmotiv zu 185 Euro das Stück, bemalte Holzmöbel zu 1000 Euro und natürlich Vintage-Spielzeug, für das diese Eltern in Chinohosen und Stiefeln von Isabel Marant irrsinnige Summen hinzublättern bereit waren.

Morgens versammelten sich im Viertel immer einige Mütter, die irgendwie berufstätig waren, wobei Lucie unklar blieb, womit sie ihr Geld verdienten. Meistens trafen sie sich, nachdem sie ihre Kinder in die Kita gebracht hatten, erst mal auf ein Tässchen in einem der umliegenden Cafés, um sich über den Karateunterricht des Großen, den Sportlehrer des Kleinen, die Koliken des Babys oder ihren letzten Urlaub auf Formentera zu unterhalten. Danach stöberten sie gern ein wenig in der Boutique von Lucie, die ein besonderes Talent besaß, interessiert zuzuhören, und jede Form von gepflegtem Tratsch liebte. Ein Besuch bei Lucie, und man war wieder auf dem Laufenden, wusste, wer mit wem schlief, wer gerade ein Baby bekommen hatte oder erwartete, wer neu hinzugezogen war. Lucie führte ihre Boutique mit Hingabe – und mit glücklicher Hand. Und dass sie das tun konnte, verdankte sie Christophe, seinem Einfühlungsvermögen und seinen finanziellen Mitteln. Er hatte ihr damals, ein Jahr nach der Geburt von Marguerite, als ihr Babyblues nicht aufhören wollte und sie in eine ernsthafte Anorexie hineinzurutschen drohte, vorgeschlagen, ein Geschäft zu eröffnen. Nach und nach war es ihr dank dieses Projekts gelungen, ihr Tief zu überwinden und ihr verlorenes Selbstbewusstsein wiederzugewinnen. Drei Jahre nach der Eröffnung, als sie voller Stolz feststellte, dass der Laden umsatzmäßig weit über den Erwartungen lag, fühlte sie sich für eine erneute Schwangerschaft bereit, von der sie sich insgeheim den Sohn erhoffte, den sie ihrem Ehemann so gern geschenkt hätte.

Während sie die Ankunft des Babysitters der Agentur Mary Poppins erwartete, rief sie Mathilde an, mit der sie zum Essen verabredet war.

»Ja?«, wisperte Mathilde.

»Warum flüsterst du?«

»Ich bin im Büro«, erwiderte die Freundin in einem Ton, der bedeutete, dass dies nicht der Moment für ein Plauderstündchen war.

»Schön, dann antworte mir einfach nur mit Ja oder Nein.«

»Ja.«

»Hast du Zeit, heute Mittag mit mir essen zu gehen?«

»Oooooh ja, unbedingt!«

»Ist es schon wieder so weit? Du hattest doch gerade erst Urlaub … Also, schaffst du es bis zu Alice, oder sollen wir uns in diesem finsteren Laden bei euch im Keller drei Wochen Depressionen einfangen?«

»Hmmm … Ich habe später sowieso einen Termin in der Innenstadt … nachmittags … Ja!«

»Sehr gut, dann rufe ich Alice an! Dreizehn Uhr?«

»Ja. Bis später!«

»Bis später.«

Lucie beendete das Gespräch und schickte eine SMS an Alice. Es war sinnlos, sie anzurufen, da sie niemals ans Handy ging. Anschließend rief sie in dem Restaurant an, um offiziell einen Tisch zu reservieren. Normalerweise klappte es nie so kurzfristig, doch die Angestellte wusste, dass sie der besten Freundin von Alice nichts abschlagen konnte, zumal Lucie eine treue und äußerst großzügige Kundin war.

»Ist notiert, Madame. Dreizehn Uhr, ein Tisch für zwei.«

»Geben Sie uns bitte den kleinen Tisch in der Mitte, Sophie?«

Ein Seufzen. »Ich werde es versuchen … Aber wir haben bereits eine Gesellschaft von TF1 da, ich kann Ihnen nichts versprechen.«

»Tun Sie Ihr Bestes«, schloss Lucie energisch, womit sie zu verstehen gab, dass es im Grunde keine Alternative gab.

»Bis nachher, Madame Chevreux. Übrigens hat Ihr Gatte ebenfalls für dreizehn Uhr einen Tisch reserviert, soll ich Sie bei ihm platzieren?«

»Nein, nicht nötig … Vielen Dank, Sophie. Bis nachher.«

Sie hoffte, dass es ihr gelungen war, ihre Überraschung zu verbergen. Die Erkenntnis, dass sie im Grunde keine Ahnung hatte, wie ihr Ehemann seine Zeit verbrachte, verunsicherte sie mit einem Mal. Mit wem er wohl essen ging? Mit einem Kunden? Einer Frau?

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